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Sonderdruck aus MEMORIA Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter *_ v. K. Schmid u. J. Wollasch MÜNSTERSCHE MITTELALTER-SCHRIFTEN Band 48 Wilhelm Fink Verlag München ", l48iK

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Sonderdruck aus

MEMORIA

Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter

*_ v. K. Schmid u. J. Wollasch

MÜNSTERSCHE MITTELALTER-SCHRIFTEN

Band 48

Wilhelm Fink Verlag München ", l48iK

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JOACHIM WOLLASCH

Die mittelalterliche Lebensform der Verbrüderung

Memoria als liturgisches Gedenken umfaßte im Mittelalter Lebende und Verstorbene, war allumfassend. So wurde in der von Alcuin aufgezeichneten Votivmesse pro salute uiuorunn et mortuorum in der Collecte für alle gebetet, quorum commemorationenn agimus, et quorum corpora in -hoc monasterio 1 requiescunt, uel quorum nomina ante 2 sanctum altare tuum scripta . adesse uidentur 3.

Memoria als liturgisches Gedenken war daher gemeinschaftsstiftend. Man erkennt es besonders scharf dort, wo einer aus der Gemeinschaft aus- geschlossen wurde. Ein schon in den Briefen Cyprians auftauchender Gedanke4 ist 798 in der Salzburger Kirchenprovinz so gefaßt worden: Im Hinblick auf einen Exkommunizierten, der hartnäckig in seiner Schuld verharren wollte, wurde Bischöfen, Klerikern und Laien auferlegt, nec post mortem in memoria eins nec scriptum nec oblationes pro illo offerre in aecclesia catholica non debeant nec suas elemosinas recipere 5. Schriftlichkeit und Opfergabe in der Liturgie stellten die Pfeiler der memoria dar; diese dokumentierte und garantierte die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, und zwar über den Tod hinaus. Welche zentrale Bedeutung der gemeinschaftsstiftenden memoria in scriptum und oblationes von den Zeitgenossen zugemessen wurde, vermögen wir daran zu ermessen, daß Papst Gregor III. in dem Sendungsschreiben an Bonifatius, mit dem er ihn ca. 732 zum Missions- erzbischof ernannte, auf dessen Anfrage mitteilte: Sancta sic tenet ecclesia, ntt quisque pro suis mortuis vere christianis offerat oblationes atque presbiter eorum facial memoriam 6.

Der Vorgang aber, in dem man solche memoria erlangte, ist im Mittelalter immer wieder die Verbrüderung gewesen, die 'ohne den Ausblick auf das Totengedenken nicht vorstellbar erschien. Davon zeugt der Brief des Bo- nifatius, in dem er den Abt Optatus und dessen Konvent von Monte Cassino bat, in unitate fraternae dilectionis et societatis spiritalis eingeschlossen zu werden 7. Ausdrücklich unterschied Bonifatius die Vertrautheit brüderlicher

1 Handschriftenvarianten: hic und in cunctis cimiteriis omnium sanctorum. 2 Handschriftenvariante: super. 3 JEAN DESHUSSES, Les Messes d'Alcuin (Archiv für Liturgiewissenschaft 14,1972, S. 7-41) Nr.

14, S. 27. Zu den zeitlich vor Alkuin liegenden und den römischen Meßritus voraussetzenden gallikanischen Post nomina-Gebeten s. ARNOLD ANGENENDT, in diesem Band. Ep. 1,2 (Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum 3,2) S. 466; dazu LEO KoEP, Das himmlische Buch in Antike und Christentum (Theophaneia 8) Bonn 1952, S. 110.

5 Synode von Reisbach, Cap. (XVI): MGH Conc. 2,1, Nr. 22, S. 201. 6 Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, hg. von MICHAEL TANGL (MGH Epp. sel. 1)

Berlin 21955, Nr. 28, S. 50f. 7 Ebd. Nr. 106, S. 231f.

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Liebe für die Lebenden und für die Verstorbenen, deren Namen zwischen Monte Cassino und dem Kreis um Bonifatius ausgetauscht werden sollten B.

Schon Jahrzehnte vor diesem Brief hatte Beda den Bischof von Lindisfarne daran erinnert, daß dieser ihm - über das Gebetsgedenken für ihn hinaus - versprochen hätte, seinen Namen nach seinem Tod unter die Namen der Gemeinschaft von Lindisfarne einzuschreiben, damit für sein Seelenheil Gebete und Messen dargebracht würden. In cuius etiam testimonium future conscriptionis, schrieb Beda dem Bischof, religioso fratri nostro Gudfrido mansionario praecepisti, ut in albo uestrae sanctae congregationis meum nunc quoque nomen apponeret 9. Der Liber Vitae, der in Lindisfarne damals schon offenbar geführt und von Beda album genannt wurde, kehrt dann unter demselben Namen album in den Briefen Alcuins wieder, in denen dieser sich mit der Gemeinschaft von Lindisfarne verbrüderte 10.

Nun hat es aber die liturgische memoria über den Tod hinaus als Schriftlichkeit und Opfergabe, wie sie im Mittelalter ungezählte Male durch Verbrüderung erlangt wurde, schon vor den mittelalterlichen Jahrhunderten gegeben. Man kennt sie beispielsweise aus der vormittelalterlichen Ver- wendung der Diptychen in der Liturgie 11. Zweifellos haben also für die im Mittelalter entstandenen Libri Vitae, Martyrologien, Necrologien, Kapitel- offiziumsbücher und ihren liturgischen Gebrauch Formelemente bereitge-

standen, die aus der Antike stammten. Ja, im Blick auf das Totengedenken, ohne das Verbrüderungen im Mittelalter nicht denkbar waren, stoßen wir sogar auf vorchristliche antike Gebräuche, sei es die Praxis der cara cognatio oder seien es der 3., 7. oder 30. Tag nach dem Tod als bevorzugte Tage des Totengedenkens 12. Vor diesem Hintergrund kann die Frage aufkommen, mit welcher Berechtigung in dieser Skizze von der mittelalterlichen Lebensform der Verbrüderung gesprochen wird.

Nun, die aus der vorchristlichen Antike und die aus der frühen Kirche bereitgestellten Formelemente der liturgischen memoria waren, wenn sie Dauerhaftigkeit erhalten sollten, mit Leben zu erfüllen und immerzu zu erneuern. Zu beobachten, wie dies geschah, macht die historische Fra- gestellung aus, um die es in dieser Studie geht. Es war während des Memoria-Colloquiums immer wieder festzustellen, daß der Charakter der memoria die gesamte mittelalterliche Überlieferung in Text und Bild durch- tränkt hat. Sollte dementsprechend die Verbrüderung nicht einfach ein klerikal-monastisch klösterlicher Brauch gewesen sein, sondern alle Le-

8 Ebd. S. 232. 9 Prologus beati Bedae presbiteri in uitam Sancti Cuthberti (an Bischof Eadfrid von Lindisfarne);

Two Lives of Saint Cuthbert, hg. von BERTRAM COLGRAVE, Cambridge 1940, S. 146. 10 MGH Epp. 4, Nrn. 21,22 und 24; vgl. dazu Nr. 285- 11 Vgl. OTTO STEGMÜLLER, Diptychon (Reallexikon für Antike und Christentum 3, Stuttgart 1957,

Sp. 1138-1149) und JOHANNES KOLL%VITZ, Elfenbein (ebd. 4, Stuttgart 1959, Sp. 1106-1141) Sp. 1109ff. und 1113ff. Wie sich diese Tradition nahtlos in das Mittelalter fortsetzte, zeigen etwa die Bestimmungen der Regula Magistri zur Abtsbestellung: ADALBERT DE VoGÜE, La Regle du Mattre 2 (Sources chrEtiennes 106) Paris 1964, S. 424 und 434, dazu S. 436f.

12 THEODOR KLAUBER, Die Cathedra im Totenkult der heidnischen und christlichen Antike (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 21) Münster 21971, S. 173ff. und EMIL FREISTEDT, Altchristliche Totengedächtnistage und ihre Beziehung zum Jenseitsglauben und Totenkultus der Antike (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 24) Münster 1928 sowie KURT LATTE, Römische Religionsgeschichte (Handbuch der Altertumswissenschaft 5,4) München 21967, S. 274 Anm. 3 und S. 339 Anm. 2.

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bensbereiche des Mittelalters durchdrungen haben, dann erst dürfte man die Verbrüderung als eine mittelalterliche Lebensform bezeichnen.

Um von vorneherein mögliche Mißverständnisse in der Begrifflichkeit auszuschließen - das Wort Lebensform soll in den folgenden Bemerkungen in dem Sinn gebraucht werden, wie es Arno Borst in seinen Lebensformen im Mittelalter' getan hat. Er beschrieb sie als �geschichtlich eingeübte soziale Verhaltensweisen" 13, und �geschichtlich bedingte Verhaltensregeln" 14, als Gebilde, die

�im Kern geschichtlich" 15 seien. Sie seien �von Grund auf gesellig und gestalt(et)en das Miteinanderleben in Gemeinschaften" 16. In der Kirchengeschichte hätten sie sich seit der

�Societas der Apostel" 17

�stets als Gemeinschaften" 18 konkretisiert. Borst nannte das Mittelalter insgesamt ein �Zeitalter verwirklichter und wirksamer Lebensformen" 19.

Verfolgen wir also die mittelalterliche Lebensform der Verbrüderung. Denn sie ist in Borsts Buch nicht dargestellt worden. Was unter diesem Aspekt besonders interessieren könnte, findet sich dort unter der Überschrift

, Mensch und Gemeinschaft` 20 und da wieder unter dem Stichwort Bünde` 21. Die Beispiele jedoch, die Borst anführte, betreffen erst die 1182 vom Generalkapitel der Johanniter in Jerusalem beschlossene Hospitalordnung 22 sowie die Selbstdarstellung der Schneidergilde von Lincoln in ihrem Bericht des Jahres 1389 an den englischen König 23.

Zwischen dem ausgehenden 12. und dem ausgehenden 14. Jahrhundert indes hatte die mittelalterliche Verbrüderungsbewegung ihre höchste Höhe längst überschritten.

Deshalb wohl gilt, was wir bei Borst über die mittelalterlichen Bünde lesen, die nach seinen Worten �schwer greifbar und schlecht erforscht" sind 24, nur in ganz begrenztem Umfang für die mittelalterliche Lebensform der Ver- brüderung. Auf diese weist Borsts Formulierung hin:

�... wo im Mittelalter Gemeinschaften dem Einzelmenschen über Abhängigkeit und Unfreiheit hinaushelfen, tragen sie Züge der Bruderschaft" 25. Wenn aber Borst schrieb: �Bünde sind stationär. Aber exklusiv sind sie nicht; sie siedeln sich zwischen kleinen Gruppen und großen Verbänden an, als überschaubare, freiwillige Einungen" 26, so trifft diese Beurteilung mit Sicherheit nicht die mittel- alterliche Lebensform der Verbrüderung.

Wir waren vor diesen Bemerkungen zur Begrifflichkeit von der Frage ausgegangen, wie die seit der Antike und der frühen Kirche bereitgestellten Formelemente der auf Schriftlichkeit und Opfergabe aufbauenden, gemein-

13 ARNo BoRST, Lebensformen im Mittelalter (Ullstein Sachbuch, Ullstein Buch Nr. 34004) Fankfurt/M: Berlin-Wien 1979, S. 14.

14 Ebd. S. 18. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 1a Ebd. 19 Ebd. S. 20. 20 Ebd. S. 229-331. 21 Ebd. S. 255-268. 22 Ebd. S. 255ff. 23 Ebd. S. 261 ff. 24 Ebd. S. 268. 25 Ebd. 26 Ebd. S. 267.

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schaftsstiftenden Memoria in der Liturgie während des Mittelalters mit Leben gefüllt worden seien. Diese Frage stellen heißt zugleich, nach der Ver- brüderung des Mittelalters zu fragen. Verbrüderung scheint uns als eine alle Lebensbereiche durchwirkende und umfaßende Größe, da sie zwischen Personen, zwischen Personen und Gemeinschaften und zwischen Gemein- schaften geschlossen werden konnte.

Dies bezeugt bereits Beda, dessen Beispiel schon zu erwähnen war, ebenso wie die Briefe des Bonifatius und seines Nachfolgers Lul. Gerade diese vermögen etwas von den ursprünglichen Antriebskräften zu einer Verbrü- derung sichtbar zu machen, die eine den Tod überdauernde Memoria schafft. In der Heimatferne der peregrinatio, welche die frühmittelalterlichen Mönchsmissionare erlebten, entstand besonders stark der Ruf nach Ver- brüderung 27.

So ist Leobgydas Bitte an Bonifatius zu verstehen, er möge sich der früheren amicitia mit ihrem Vater erinnern, der vor 8 Jahren in occiduis regionibus gestorben sei, und für sein Seelenheil beten 28. Er solle auch immer die memoria für ihre noch lebende, schwer arbeitende und von der Krankheit niedergedrückte Mutter bewahren, der er verwandtschaftlich verbunden sei; und sie, Leobgyda, als einzige Tochter ihrer Eltern, möchte Bonifatius in fratris locum erfahren. Um seine memoria zu erhalten, sandte sie ihm ein Geschenk. Eine vergleichbare Lage war es, wenn Denehard, Lul und Burchard der Äbtissin Cuniburga auf der

�Britannischen Erde" schrieben, sie

seien wegen des Todes der Eltern und weiterer Verwandter zu den Ger- manenvölkern hinübergegangen und bäten um die commonio und Ge- betshilfe der von Cuniburga geleiteten Gemeinschaft 29. Aus solcher Ver- brüderung über den Kanal hinweg ergab sich für deren Dauerhaftigkeit der Austausch der Namen der Verstorbenen, die auf einem Rotulus übermittelt wurden. Ein Totenrotulus aus der Zeit vor dem Concilium Germanicum hat sich im Corpus der Bonifatiusbriefe auch erhalten 30. Ein weiterer findet sich in Luls Briefen erwähnt 31. Und das Königspaar von Northumbrien teilte Lul mit, sein Name und die von ihm übersandten Namen seien in sämtlichen Klöstern, die dem König unterstanden, perpends litteranum monumentis und orationum subsidiis übergeben worden 32.

Das Fremdsein in der Welt um der Verkündigung des Evangeliums willen forderte Verbindung und Rückbindung zu den leiblichen Verwandten auf der Insel heraus, zu den dortigen geistlichen Gemeinschaften und zum kö- niglichen Repräsentanten der dort geltenden politischen Ordnung. In der Verbrüderung, die das über den Tod hinaus währende Gedenken in den Mittelpunkt stellte, wurden solche elementaren Verbindungen geknüpft oder gesichert. Obwohl die genannten Verbrüderungen oft in persönlicher und

27 Auf das Motiv der Buße, vor allem im iroschottisch geprägten Mönchtum, verweist ANGENENDT (wie Anm. 3).

28 Hierzu und zum folgenden Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus (wie Anm. 6) Nr. 29, S. 52f.

29 Ebd. Nr. 49, S. 78ff. 30 Ebd. Nr. 55, S. 97f. 31 Ebd. Nr. 150, S. 289, dazu mehrfach Erwähnungen von Rotuli in den Briefen des Bonifatius

und Luls; vgl. Anm. 32. 32 Ebd. Nr. 121, S. 257.

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verwandtschaftlicher Beziehung ihren Ausgangspunkt hatten, waren sie raumüberbrückend. Bald nach dem Tod des Bonifatius zeigte sich dies besonders eindrucksvoll beim Totenbund von Attigny. Nach seiner Er- forschung durch Karl Schmid und Otto Gerhard Oexle 33 braucht hier darüber nicht viel gesagt zu werden. Auch die Integrationskraft, die der Verbrüderung im Aufbau des fränkischen Reiches zukam, und die Tatsache, daß Mitte des B. Jahrhunderts schon eine Verbrüderungspraxis im Frankenreich bekannt gewesen ist, die bereits westfränkische Punkte mit solchen in Thüringen verband - wiederum zeugen davon die Briefe Luls -, wurde von den beiden Autoren angesprochen.

Was freilich dem Totenbund von Attigny und seinen Nachfolgern des B. Jahrhunderts in Bayern, vor allem 770 in Dingolfing, * noch fehlte, waren materielle Opfer, die in Form von Armenspeisungen den verstorbenen Partnern der Verbrüderung außer den liturgischen Leistungen für diese versprochen worden wären 34 Daß Abt-Bischof Virgil 784 ins Salzburger Verbrüderungsbuch auch die Reihe der Äbte des Klosters Iona seit dessen Gründung eintragen ließ 35, gibt nochmals den Charakter der Verbrüderung als einer Überbrückung von Raum und Ferne bei der peregrinatio zu erkennen. Vor allem jedoch veranschaulichen die ordines, nach denen Lebende und Verstorbene im Salzburger Verbrüderungsbuch und während des 9. Jahrhunderts in jenem von Durham eingeschrieben worden sind, daß im Selbstverständnis der Zeitgenossen die Verbrüderung alle Lebenden und Verstorbenen der Christenheit umfassen sollte 36.

_ Können demnach die Mönchsmissionare des B. Jahrhunderts als erster Motor für die Verbrüderung angesprochen werden 37, welche die von der Antike und von der frühen Kirche und - was amicitia und Schwurbru- derschaft anlangt38 - auch von der germanischen Kultur bereitgestellten Formen mit Leben erfüllt hat, so zeichnete sich während des B. Jahrhunderts zunehmend auch ein Anteil der Kirche des fränkischen Reiches an der Verbrüderungsbewegung ab.

Ein beredtes Zeugnis davon legen die Briefe Alcuins ab. So persönlich darin die Bitte um Gebetshilfe gefärbt ist - ich erinnere an Alcuins Brief an den Patriarchen Paulinus von Aquileja, in dem er den Empfänger bittet, er solle den Namen seines Freundes nicht vergessen, vielmehr in aliquo memoriae gazofilacio bergen und tempore oportuno, nämlich während der

33 KARL SCHMID - Orro GERHARD OEXLE, Voraussetzungen und Wirkung des Gebetsbundes von Attigny (Francia 2,1974, S. 71-122).

34 JOACHIM WOLLASCH, Geschichtliche Hintergründe der Dortmunder Versammlung von 1005 (Westfalen 58,1980 [Festschrift für Nilhelm Kohl] S. 55-69).

35 Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift A1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg hg. von KARL FoRSTNER (Codices Selecti 51) Graz 1974, Tafel 20 C. Dazu nach den Forschungen von Paul Grosjean zuletzt FORSTNER S. 30 und 32.

36 Ebd. S. 30f. und KARL SCHMID - JOACHIM WOLLASCH, Societas et Fraternitas, Berlin-New York 1975, S. 14 mit Anm. 36.

37 Vgl. auch ANGENENDT (wie Anm. 3). 38 Zu dieser Problematik Orro GERHARD OEXLE, Gilden als soziale Gruppen in der Ka-

rolingerzeit (Das Handwerk in Mittel- und Nordeuropa in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, hg. von HERBERT JANKUHN [Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen]) Göttingen 1980.

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Messe bei der Wandlung, aussprechen 39 -, Alcuins Verbrüderungsbezie- hungen spiegeln gleichzeitig die Wirklichkeit des Reiches und der Reichs- kirche Karls des Großen wider, so, wenn er 790 seinem Lehrer auf der Insel nicht nur das dort seltene Öl, zum Beispiel für den, Gebrauch des Bischofs, sandte, nicht nur Geldgeschenke, sondern auch solche de elemosina Karli regis und dafür Gebete für sich ei pro domno rege Karolo erbat 40. Würde man die Personen und Gemeinschaften, deren Verbrüderung Alcuin suchte, auf eine Karte übertragen, so sähe man auf ihr die Reichweite des Reiches Karls des Großen einschließlich der Beziehungen Karls nach Jerusalem, die für Alcuin Verbrüderungsbeziehungen waren 41.

Vollends bei der Beobachtung des 9. Jahrhunderts wird der Einfluß von karolingischem Reich, karolingischer Reichskirche und karolingischem Reichsmönchtum auf die Verbrüderungen greifbar. Die Entstehung des Reichenauer Gedenkbuches fügt sich zeitlich, darauf wurde längst hin- gewiesen, organisch den Reformbestrebungen des karolingischen Reichs- mönchtums unter Benedikt von Aniane an, so wie die Neuanlage der Fuldaer Totenannalen 875 einer Initiative Ludwigs des Deutschen entsprach, der 874 selbst Fulda aufgesucht hat 42.

Doch wäre es vordergründig, wollten wir die Entstehung solcher Do- kumentation von Verbrüderungen einfach auf herrscherliche Einflußnahme oder auf diejenige eines Reichsabtes zurückführen. Selten eindringlich vermochte dies vor kurzem Karl Schmid darzulegen. Danach gab es ja 823/824 auf der Reichenau längst eine bis auf Attigny und die Pirminsklöster zurückweisende Verbrüderungstradition 43. Daß diese gerade zu dem von Schmid neuerdings ermittelten Anlagedatum des Reichenauer Verbrüderungs- buches erneut aufgegriffen wurde, ist durch akute Not, Naturereignisse, Epidemie und Hunger, wie in den Reichsannalen verzeichnet 44, bewegt worden. Dazu fügte sich auf der Reichenau die Resignation des Abt-Bischofs Heito und die von diesem verfaßte Visio Wettini, die ihrerseits die Not- wendigkeit des Totengedenkens in den Mittelpunkt gestellt hat 45, und auch 874, als Ludwig der Deutsche in Fulda eine Wiederaufnahme der alten Memorialtradition hervorrief, war ein Jahr, das durch Kälte, Hunger und Tod

39 MGH Epp. 4, Nr. 28. 40 Ebd. Nr. 7. 41 MICHAEL BORGOLTE, Der Gesandtenaustausch der Karolinger mit den Abbasiden und den

Patriarchen von Jerusalem (Münchener Beiträge zur Mediaevistik und Renaissanceforschung 25) München 1976, S. 63f. und 75 und MGH Epp. 4, Nr. 210 und 272.

42 KARL SCHMID - JOACHIM WOLLASCH, Die Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen in Zeugnissen des Mittelalters (Frühmittelalterliche Studien 1,1967, S. 365-405) S. 373ff.; KARL SCHMID, Bemerkungen zur Anlage des Reichenauer Verbrüderungsbuches (Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift für Otto Herding, hg. von KASPAR Et. TI - EBERHARD GÖNNER - EUGEN HILLENBRAND [Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Forschungen 92] Stuttgart 1977, S. 24-41); Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Einleitung, Register, Faksimile), hg. von JOHANNE AUTENRIETH - DIETER GEUENICH - KARL SCHMID (MGH Libri mein. et necr., Nova Series 1) Hannover 1979, bes. S. LXVff. Vgl. zuletzt JOHANNE AUTENRIETH, in diesem Bande.

43 Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 42) S. LXIIIff. Über Vorlagen und Vorstufen des Verbrüderungsbuches.

44 Annales regni Francorum ad a. 823 et 824 (MGH SS rer. Germ., hg. von FRIEDRICH KURZE, Hannover 1895, Neudruck 1950, S. 163f. ); dazu SCHMID, Bemerkungen (wie Anm. 42) S. 32.

45 SCHMID, Bemerkungen (wie Anm. 42) S. 32ff.

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gekennzeichnet wurde und Ludwig den Deutschen für eine Vision prä- disponierte, in der ihm sein verstorbener Vater, Ludwig der Fromme, nahelegte, seinen Qualen durch Bittbriefe an cuncta regni sui monasteria um Gebetshilfe ein Ende zu bereiten 46.

Als mit der Herrschaft der Karolinger im Reich auch das karolingische Reichsmönchtum weithin zerfiel, sind es im 10. Jahrhundert aufs neue Kräfte des Mönchtums, diesmal des sogenannten Reformmönchtums, gewesen, die als Antriebskräfte für Verbrüderung wirkten. Östlich des Rheins, wo Reichs- abteien wie die Reichenau, St. Gallen oder Fulda ihre Bedeutung während des Überganges von den Karolingern zu den Ottonen bewahren konnten, entstanden wiederum großräumige Verbrüderungen 47. Darauf verweisen schon die Necrologien und Totenannalen der genannten Gemeinschaften 48. Im Westen, wo von Cluny aus in königsfernem Raum, in einem Herr- schaftsvakuum eine monastische Reformbewegung andere Klöster ergriff und aus Cluny das Haupt einer ganzen Klöstergruppe wurde, ging diese Reform zugleich als Verbrüderung vor sich 49.

Als Odo, der erste Reformabt von Cluny, als Abt in S. Benolt-sur-Loire die Gemeinschaft dieses Königsklosters reformierte, schickte er von dort aus vier namentlich genannte Mönche als seine Stellvertreter religionis gratia zu Abt Aimo von S. Martial de Limoges, wohin Odo schon Beziehungen unterhielt, um Verbrüderung zu erbitten - genauer quatinus ... societatis suae sortirentur commune compendium, ita ut ab ea die in reliquum aevum nulla esset differentia inter monachos ejusdem loci et beati Benedicti Floriacensisfamulos, sed utrique dunz ad se invicem transirent, communis agnosceretur in omnibus conversatio et quasi una haberetur congregatio, 50,

Der hier erwähnte gleiche Lebenswandel und die Verschmelzung zweier Gemeinschaften miteinander deuten scharf auf den Akzent der monastischen Reform Clunys, der über dieser Verbrüderung stand. Es ist ja bekannt, daß ein Jahrhundert später S. Martial de Limoges in die Cluniacensis Ecclesia eingegliedert wurde 51. In derselben, eben zitierten Urkunde wird berichtet, die von Odo ausgesandten Mönche hätten dasselbe Ziel in Solignac er- reicht 52. Jedenfalls berief sich dort noch im 17. Jahrhundert eine Chronik auf

46 Ebd. S,. 39f., den Text der Vision s. in: Annales Fuldenses ad`a. 874 (MGH SS rer. Germ., hg. von FRIEDRICH KURZE, Hannover-1891, S. 82).

47 Zu den Gedenkverbindungen zwischen Reichenau und Fulda im 10. Jahrhundert vgl. zuletzt JOACHIM WOLLASCH, Reichenauer Spuren im Scaliger-Codex 49 der Universitätsbibliothek Leiden (Alemannisches Jahrbuch 1973/75 [Alemannica. Landeskundliche Beiträge. Fest-

schrift für Bruno Boesch] erschienen 1976, S. 533-544) bes. S. 540-544. Vgl. zu den Verbrüderungsbüchern der Bodenseeklöster AUTENRIETH (wie Anm. 42).

48 Zum St. Galler Necrolog des 10. Jahrhunderts vgl. AUTENRIETH (wie Anm. 42) und DIES., Der Codex Sangallensis 915 (Landesgeschichte und Geistesgeschichte [wie Anm. 421 S. 42-55); zuletzt JOACHIM WOLLASCH, Zu den Anfängen liturgischen Gedenkens an Personen und Personengruppen in den Bodenseeklöstern (Freiburger Diözesan-Archiv 100,1980 [Kirche am Oberrhein. Festschrift für Wolfgang Müller] S. 59-78) bes. S. 73ff.; zu den "Fuldaer Totenannalen zuletzt ECKHARD FREI5E, in diesem Bande.

49 JOACHIM Wot uscH, Mönchtum des Mittelalters zwischen Kirche und Welt (Münstersche Mittelalter-Schriften 7) München 1973, S. 145-156.

50 MAURICE PROU - ALEXANDRE VIDIER, Recueil des chartes de I'abbaye de S. Benolt-sur-Loire 1, Paris 1900, Nr. XLIX vom Februar 942, S. 124f.

Si HERBERT EDWARD JOHN COWDREY, The Cluniacs and the Gregorian Reform, Oxford 1970, S. 90ff.

52 PROU - VIDIER (wie Anm. 50) S. 125.

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ein altes Martyrolog mit dem Eintrag commemoratio fratrum defunctorum sancti Benedicti Fleuriaci zum 30. Januar 53. Von den beiden Verbrüderungen, die Odo von Cluny hier hat schließen lassen, heißt es in der Urkunde, diese conscriptio mutuae agnicionis ei societatis sei in den Konventen beider Klöster rezitiert und in memoria futurorum in libello Regulae, also im KapiteIsbuch, aufgezeichnet worden 54. Schreiber dieser Verbrüderungsurkunde war Vulfald, Mönch von S. Benoit-sur-Loire, danach Bischof von Chartres 55.

Schon im 10. Jahrhundert begann Cluny auch, sich mit Bischöfen und Domkapiteln zu verbrüdern, deren Wohlwollen für die clüniacensische Reform von Bedeutung sein mußte 56. Diese Verbrüderungen führten bis dorthin, daß Cluny an einer Kathedrale eine Domherrenpfründe eingeräumt wurde, während die Cluniacenser dem betreffenden Domkapitel die Rechte der cluniacensischen Professen, eingeschlossen dasjenige des Totengeden- kens, zugestanden 57. Könnte man also die Verbrüderung als ein Vehikel cluniacensischer Klosterreform ansprechen, so wäre doch nichts falscher, als in dieser Sichtweise zu verharren. Denn so wie die cluniacensische Reform sich keineswegs auf die Reform von Mönchen und Klöstern beschränkte, sondern auch die verantwortlichen Großen in Kirche und Welt ansprach und sich an die Laien insgesamt wandte 58, so sprach es sich rasch herum, daß sich gerade die Cluniacenser, um stellvertretend für ihre verstorbenen Brüder vor Gott Gutes zu tun, aufs intensivste und extensivste um das Seelenheil aller Christen mühten.

Daher erfand man ja in Cluny für den Tag nach Allerheiligen die commemoratio omnium defunctorum, Allerseelen, da omnes supervenientes pauperes im Gedenken an die Töten gespeist werden sollten 59. Es nimmt daher nicht wunder, wenn die Societas et fraternitas der Cluniacenser nicht allein von Herrschern und Großen der Kirche, sondern auch von ungezählten Laien, von Armen und Reichen erbeten und von Cluny im Kapitelssaal vom Konvent gewährt worden ist, manchmal so, daß die liturgischen und sozialcaritativen Verpflichtungen der Verbrüderung in der Abtei Cluny erfüllt wurden, manchmal so, daß die Leistungen der Verbrüderung in Cluny ei omnibus locis suis übernommen wurden. Vielen galt als Unterpfand solcher Hineinnahme in die Gemeinschaft der Cluniacenser das Begräbnis auf dem Laienfriedhof in Cluny oder auf einem der Friedhöfe cluniacensischer

53 Ebd. S. 123 Anm. 2 (S. 124). 54 Ebd. S. 125. 55 Ebd.; zu Vulfald vgl. JOACHIM WOLLASCH, Königtum, Adel und Klöster im Berry (Neue

Forschungen über Cluny und die Cluniacenser, hg. von GERD TELLENBACH, Freiburg i. Br. 1959, S. 17-165) S. 108.

56 Über das Verhältnis Clunys zu den Bischöfen vgl. JOACHIM MEHNE, Cluniacenserbischöfe (Frühmittelalterliche Studien 11,1977, S. 241-287).

57 Vgl. AUGUSTE BERNARD - ALEXANDRE BRUEL, Recueil des chartes de l'abbaye de Cluny 4, Paris 1888, Nrn. 3364 und 3365 oder 3427.

58 JOACHIM WOLLASCH, Reform und Adel in Burgund (Vorträge und Forschungen 17: In- vestiturstreit und Reichsverfassung, hg. von JOSEF FLECKENSTEIN, Sigmaringen 1973, S. 277-293).

59 Hierzu und zum folgenden JOACHIM WOLLASCH, Neue Methoden der Erforschung des Mönchtums im Mittelalter (Historische Zeitschrift 225,1977, S. 529-57! ) bes. S. 561ff.; DERS., Les obituaires, ttmoins de la vie clunisienne (Cahiers de civilisation mtditvale 22,1979, S. 139-17 I) bes. S. 145ff. und S. 159ff.

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Die mittelalterliche Lebensform der Verbrüderung 223

Klöster 60. Die vom Reformmönchtum des 10. und 11. Jahrhunderts ausgegangenen

Impulse für die Verbrüderungsbewegung bewirkten, daß mönchische Vor- bilder auch außerhalb der monastisch-klösterlichen Sphäre Eigenkraft her- ausforderten. In der sogenannten ottonisch-salischen Reichskirche machte man sich die Verbindung von liturgischen mit sozial-caritativen Leistungen des Totengedenkens im Rahmen von Verbrüderungen zu eigen. Erwähnt sei die Regensburger Synode von 932, die uns in der Handschrift überliefert ist, die das von Erzbischof Tagino von Magdeburg benutzte Sakramentar und Necrolog enthält 61. Damals hatten die versammelten Bischöfe zur Durch- führung der liturgischen Verpflichtungen materielle Leistungen, möglicher- weise als materielles Substrat für die Gemeinschaft, welche die liturgischen Leistungen gewährleistete, zu liefern.

Heinrich II., der die Verbrüderung der Cluniacenser erbeten und emp- fangen hat 62, ist der erste Herrscher gewesen, von dem bekannt ist, daß er selbst mit seiner Gattin an Verbrüderungen der Reichskirche teilnahm, ja selbst die Initiative zu ihnen ergriff 63. Mit 15 Erzbischöfen und Bischöfen, aber auch mit dem Sachsenherzog schloß sich das Königspaar 1005 im Dortmunder Totenbund zusammen, dem umfangreichsten, den wir seit jenem von Attigny kennen 64. Die Gedenkleistungen, welche die Verbrüderten einander für den Todesfall zusicherten, sind im liturgischen Bereich auch vom Klerus der versammelten Erzbischöfe und Bischöfe zu erfüllen gewesen, so wie auch nach der Darstellung Thietmars von Merseburg der Klerus der in Dortmund 1005 anwesenden Erzbischöfe und Bischöfe in den Totenbund mit hineingenommen wurde. König und Königin, der Herzog und die Kir- chenfürsten versprachen einander jedoch zusätzlich noch Geldzahlungen, Armenspeisungen: 1500 durch das Königspaar, 300 durch jeden der Bischöfe, 500 durch den Herzog. Stand dieser Totenbund in unmittelbarem Zusam- menhang mit einer politischen Vereinbarung des Herrschers mit der säch- sischen Opposition bei der Vorbereitung eines Polenfeldzuges, so hat er mit seinen verschärften Fastenbestimmungen, die zur mentoria und den damit verbundenen Armenspeisungen hinzutraten, eine Antwort auf inconvenientia, Mißstände der Kirche geben wollen - so Thietmars Bericht - und auf die von den Zeitgenossen als Folge der Sünden aufgefaßte Hungersnot. Das Jahr 1005 hat eine der größten Hungersnöte des Mittelalters gebracht, die damals gerade im Bereich der Kirchenprovinz Köln, deren Erzbischof und Suffragane beim Dortmunder Totenbund vollzählig vertreten waren, besonders gewütet hat.

Tatsächlich kennt man seit dem frühen Mittelalter den Brauch, Vo- tivmessen, Fasten und memoria gegen drohende Not einzusetzen. Dazu forderte Lul von Mainz nach 755 fünf genannte Priester in Thüringen auf, als

60 Dazu DiErRicH POECK, Laienbegräbnisse in Cluny (Frühmittelalterliche Studien 15,1981, S. 68-179).

61 Der Text ist ediert in: MGH LdL 3, S. 482. 62 JOAcw%t WoLLAscu, Kaiser Heinrich 11. in Cluny (Frühmittelalterliche Studien 3,1969, S.

327-342). Dieses Factum hat auch KARL JOSEF BENz, Heinrich 11. in Cluny? (Frühmit- telalterliche Studien 8,1974, S. 155-178) S. 169 nicht bestritten.

63 Vgl. dazu die Untersuchungen der unveröffentlichten Namengruppen des Sacramentarium Udalricianum aus Trient: GERD ALTHOFF, Gebetsgedenken für Teilnehmer an Italienzügen. Ein bisher unbeachtetes Trienter Diptychon (Frühmittelalterliche Studien 15,1981 S. 36-67).

64 Hierzu und zum folgenden WOLLASCH (wie Anm. 34).

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dort verheerende Regenfälle das Land bedrohten 65. Die genannten Priester sollten Luls Forderung an alle Knechte und Mägde Christi in Thüringen und an das ganze Volk weitergeben. Und ein Capitular einer fränkischen Synode von 779/80 teilt uns mit, daß die versammelten Bischöfe eine Messe für den König, eine für das Heer der Franken und eine pro praesent tribulatione zu zelebrieren versprachen. Priester, Mönche, Nonnen und Kanoniker wurden mit Meßfeiern bzw. Psaltern beteiligt. Außerdem hatten alle, gestaffelt nach sozialem Rang, abgestufte Geldleistungen für die pauperes famelicos, die vom Hunger gequälten Armen, zu erbringen, die Laien von den conrites fortiores über die mediocres bis zu den minores eingeschlossen 66. Tatsächlich bestand damals die praesens tribulatio nicht nur in einem Sachsenfeldzug Karls des Großen, sondern auch in einer Hungersnot 67. Und Fastengebote, ersatzweise Armenspeisungen kehrten wieder, als es um die Abwendung von Hungersnot und die Errichtung des Gottesfriedens ging. Der cluniacensisch geprägte urkundliche Bericht über die Synode von Anse 68 aus dem endenden 10. Jahrhundert kann das ebenso bezeugen wie Rodulf Glabers bekannter Bericht 69.

Die Erwähnung des Dortmunder Totenbundes von 1005 gab Anlaß zu dieser Erinnerung. Heinrich II. ist aber nicht nur dort als Partner und Initiator einer Verbrüderung mit Reichsbischöfen aufgetreten. Neueste Forschungen zum Trienter Sacramentarium Udalricianum zeigen auch, wie der Kaiser mit den Getreuen, die ihm auf dem Zug nach Italien folgten, eine Verbrüderung eingegangen ist 70.

Überhaupt hat das 11. Jahrhundert mit Sicherheit die Verbrüderung als Lebensform mehr und mehr verbreitet und vertraut gemacht. Denn nicht allein die Quellen zu Verbrüderungen zwischen geistlichen Gemeinschaften, zwischen diesen und einzelnen Personen oder zu Verbrüderungen in der Reichskirche - mit oder ohne Anwesenheit des Herrschers - nahmen im 11. Jahrhundert zu, sondern man erfährt häufiger und mit zunehmender Deut- lichkeit von Verbrüderungen, die wesentlich von Laien getragen worden sind. Wohl dürfen wir schon im Blick auf das frühere Mittelalter damit rechnen, daß neben Pilgergruppen auch Priesterbruderschaften und Gilden nach Art der von Hincmar von Reims erwähnten geldoniae in die karolingerzeitlichen Gedenkbücher eingegangen sind 71. Im 11. Jahrhundert hingegen treten uns in so klaren Konturen, wie Bernold die vita communis der Laien im Herzogtum Schwaben adformam primitivae ecclesiae schilderte, fraternitates von Laien aus zeitgenössischen Texten entgegen.

Hatte Bernold hervorgehoben, daß gerade auch Adelige und hohe

65 Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus (wie Anm. 6) Nr. 113, S. 245. 66 MGH Conc. 1, Nr. 18, S. 109. 67 Dies hielt bereits fest FRiTz CURSCHNIANN, Hungersnöte im Mittelalter (Leipziger Studien aus

dem Gebiet der Geschichte 6,1) Leipzig 1900, Neudruck Aalen 1970, S. 89f. 68 AUGUSTE BERNARD - ALEXANDRE BRUEL, Recuell des chartes de l'abbaye de Cluny 3, Paris

1884, Nr. 2255, bes. S. 388. 69 MAURICE PROU, Raoul Glaber. Les cinq livres de ses histoires, Paris 1886, S. 103ff.; dazu

GEORGES Duay, Hommes et structures du moyen-age, Paris-La Haye 1973, S. 235f. 70 ALTHOFF (wie Anm. 63). 71 OTTO GERHARD OEXLE, Die mittelalterlichen Gilden: Ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur

Formung sozialer Strukturen (Miscellanea Mediaevalia 12/1: Soziale Ordnungen im Selbst- verständnis des Mittelalters 1, Berlin-New York 1979, S. 203-226).

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Amtsträger freiwillig zu Viehhütern und Handwerkern im Dienst einer klösterlichen Gemeinschaft convertierten 72, so gibt es auch Verbrüderungs- verzeichnisse jenes Jahrhunderts, die erkennen lassen, daß diese Verbrü- derungen überwiegend von Angehörigen der, wie man heute zu sagen gewohnt ist, Unterschichten getragen worden sind. In Meerssemans drei- bändigem Werk Ordo Fraternitatis' sind aufschlußreiche Beispiele zusam- mengetragen, die, zusammengesehen, auch die Reichweite bezeichnen kön- nen, die damals von der Verbrüderungsbewegung in die Laienbevölkerung hinein erreicht worden ist 73.

Hier sei ein einziges Beispiel gestattet, das bei Meersseman und auch sonst in der neuesten Forschung unberücksichtigt blieb, obwohl der Handschrift I 132 im Staatsarchiv Münster, die das Beispiel enthält, eine stattliche Be- nutzerliste beiliegt. In dieser Sakramentarhandschrift des 11. /12. Jahrhunderts steht zusammen, was von der Forschung auseinandergerissen wurde. Auf den ersten beiden Blättern des Codex finden sich Texte, die Ph. Jaffe als Notae Corbeienses' herausgegeben hat 74. Die mehr als 1350 Personennamen, die sich in der Handschrift unmittelbar an die erwähnten Texte anschließen 75, ließ er kommentarlos weg. Sie begegnen im Buch eines niederländischen Germanisten von 1894 unter der Überschrift

�Namen von Hörigen von Korvey" - dies, obwohl der Editor die Handschrift und die von Jaffo edierten Texte kannte 76.

Die Handschrift kommt mit Sicherheit aus Corvey. Über den langen Namenkolumnen trug eine späte Hand ein: Liber beati Viti martins in Corbeya 77. Die Texte, welche die Handschrift eröffnen, - berichten von der Gründung mehrerer fraterizitates 78.

Die erste sei von Gläubigen eingeführt worden, die bei der von den Corveyer Äbten Marcward und Erkenbert, also zwischen 1087 und 1107, in regali villa Goslaria erbauten Vituskirche gewohnt hätten. Dafür, daß sich hier Laien, einfache Handwerker aus dem Umkreis von Corvey in der Ver- brüderungsbewegung zu einer eigenen Bruderschaft verselbständigten, spricht folgendes: In den Namenlisten tauchen Männer- und Frauennamen auf, Namen, denen die Kennzeichnung als Eltern und Kinder beigegeben wurde, die also Familien bezeichnen 79; in wenigen Fällen Berufsbezeichnungen:

72 Bernoldi Chronicon ad a. 1083 (MGH SS 5, S. 439) und ad a. 1091 (MGH SS 5, S. 452). 73 GIU. F. S GERARD 11IEERSSE. MMAN, Ordo fratemitatis. Confraternite e pieta dei laici nel medioevo, 3

Bde. (Italia Sacra 24-26) Rom 1977, bes. 1, S. 98f, und 101ff. 74 Staatsarchiv Münster, Msc. I 132, fol. Ir-Iv; PHILIPP JAFFE, Bibliotheca rerum Germanicarum

1: Monumenta Corbeiensia, Berlin 1864, Neudruck Aalen 1964, S. 72f. Der von JAFFE S. 72 mitgeteilte computistische Text zu 1133 steht in der Handschrift auf fol. 2r, von anderer Hand eingetragen; der von JAFFE S. 73 mitgeteilte computistische Text zu 1241 steht in der Handschrift, von anderer Hand eingetragen, auf fol. I nach den Worten studiose cantabimus und vor den Worten Tempore domni Folcmari.

75 Staatsarchiv Münster Msc. I 132, fol. 2r-9v jeweils in zwei nebeneinander geschriebenen Kolumnen.

76 JOHAN HENDRIK GALLEE, Altsächsische Sprachdenkmäler, Leiden 1894, S. 192ff. 77 Staatsarchiv Münster Msc. 1 132, fol. 2r. Zur Corveyer Herkunft dieser Handschrift vgl.

neuerdings die paläographischen Beobachtungen von EKKEHARD KRÜGER, Die Schreib- und Malwerkstatt der Abtei Helmarshausen bis in die Zeit Heinrichs des Löwen 1 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 21) Darmstadt und Marburg 1972, S. 155ff.

78 Hierzu und zum folgenden JAFFE (wie Anm. 74) S. 72f. 79 GALLEE (wie Anm. 76) z. B. bes. deutlich S. 201.

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eine Incluse 80, ein Ochsentreiber81, ein Müller82 und ein cytharista, ein Zitherspieler83; manchen der Namen wurde ein Kreuz oder Sterbevermerk zugefügt 84. Da die Bruderschaft gerade bei der von den Corveyer Äbten für den Corveyer Patron Vitus in Goslar gebauten Kirche eingerichtet wurde, und da ihre Mitglieder sich, wie in der Handschrift verlautet, den Gebeten der Mönche von Corvey anvertrauten, die ihnen für Lebende und Verstorbene die memoria, an der Vigil des Klosterpatrons eine Gedächtnismesse und den verstorbenen Mitgliedern der Bruderschaft das 30-Tage-Gedächtnis in luminariis et elemosinis leisteten, erkennen wir soviel mit Sicherheit: Die Bruderschaft bestand aus Laien, die sich zwar mit dem Konvent von Corvey verbrüderten, als Orientierungspunkt jedoch eine Kirche, einen Altar und sicher auch einen Priester besaßen 85, der in der königlichen Stadt Goslar, also außerhalb der Grundherrschaft von Corvey, stationiert war.

Die in den Namenlisten erwähnten Berufe lassen es als naheliegend erscheinen, daß sich die Bruderschaftsmitglieder aus Leuten der Grund- herrschaft des Klosters Corvey rekrutierten. Sie gaben sich ein Statut, eine observantia. Jeder zahlte beim Eintritt einen solidus, sie kamen am Vitustag zusammen, speisten reichlich die Armen, und beim Tod eines Mitgliedes schickten sie einen solidus für eine während des 30-Tage-Gedächtnisses anzuzündende Kerze, die anderen für die Armenspeisung, die als elemosina beim Begräbnis galt, was vom Geld für die Beleuchtung übrigblieb, für die Erhaltung der Vituskirche. Was sie taten, war den Mönchen nachgeahmt. Während sie in der Goslarer Vituskirche vor dem Kloster als Grundherrn sicher sein konnten, verbrüderten sie sich zugleich mit diesem. Somit zeigten sie sich als gleichberechtigte Partner Corveys wie der Konvent irgendeines Klosters, das sich mit Corvey verbrüderte.

Im Hinblick darauf, daß die Bruderschaften des Spätmittelalters in den Städten anzutreffen sind 86, mag es unser Interesse beanspruchen, daß hier von einer klösterlichen Grundherrschaft aus eine Bruderschaft in der Stadt zustandekam. Jede aus Laien bestehende Bruderschaft bedurfte bei jedem Todesfall für das liturgische Gedenken in der Meßfeier eines Priesters und eines Altars, an dem dieser zelebrieren konnte. Ob der Priester an der Goslarer Vituskirche ein Mönch von Corvey oder ein vom Kloster eingesetzter Weltpriester war, wissen wir nicht. Aber der Standort in der Stadt bei der Kaiserpfalz und die Verbrüderung der Bruderschaft mit dem Corveyer Konvent erweisen beide die Selbständigkeit der Bruderschaft.

80 Ebd. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Ebd. S. 203. 84 Ebd. S. 196,199,200,201. 85 Die Bindung einer Bruderschaft an einen Altar und an einen Priester gehört neben den von

OEXLE (wie Anm. 71) genannten zweifellos zu den konstitutiven Elementen einer Bru- derschaft, sollte sie ihre auch von OEXLE ebd. angesprochenen Hauptfunktionen erfüllen können. Diese Bindung brauchte, solange die Bruderschaften und Gilden sich kaum eine eigene Überlieferung schufen, sondern für uns durch klösterliche Gedenküberlieferung vor allem faßbar werden, nicht äußerlich in den Vordergrund rücken. Spätestens seit der Verselbständigung des Laienelements aus der Verflechtung mit dem Gedenken klösterlicher und geistlicher Gemeinschaften überhaupt mußte jedoch die Bindung einer Bruderschaft an einen Altar und an einen Priester geradezu von zentraler Bedeutung werden.

86 MEERSSEMAN (wie Anm. 73) passim.

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Eine weitere Bruderschaft bildete sich 1133, ohne daß wir erführen, wo, zu Ehren des hl. Stephanus, des zweiten Patrons von Corvey 87. Die Gläubigen, die ihr angehörten, brachten zum Stephanstag jährlich eine Wachskerze und gaben den Armen reichliche Speisung. Den Eintrittszins zur Bruderschaft, den sie bezahlten, bewahrten sie in usunz monasterii. Denn dessen Mönche sorgten für die Totenvigilien und -messen für die verstorbenen Bruder- schaftsmitglieder. Diese Bruderschaft hatte sich also vom Kloster weniger als die Vitusbruderschaft verselbständigen können.

Zwei weitere Vitusbruderschaften entstanden auf der Grundherrschaft der Abtgi, eine an der Corveyer Kurie Wulfelade nördlich von Wunstorf, die andere zu Beginn des 12. Jahrhunderts in Corvey selbst auf Initiative des Abtes Erkanbert und des Konvents. Diese Bruderschaft traf sich in Corvey an Pfingsten zur Armenspeisung. Schon im 11. Jahrhundert, vorab in Cluny, hatte monastischer Brauch diese an der Urkirche von Jerusalem orientierte Praxis erkannt 88. Außerdem verpflichteten sich die Mönche von Corvey, an der Vigil des Vitustages für alle Verstorbenen der Bruderschaft eine Messe zu feiern, während die Bruderschaft für die Kerzenbeleuchtung sorgte. Und sie garantierten die Armenspeisung zum Seelenheil der verstorbenen Bruder- schaftsmitglieder in der gleichen Weise bis zum 30. Tag nach dem Tod wie für einen verstorbenen Mönch von Corvey. Dafür stellte die Bruderschaft gesparte Geldbeträge ad decens ornamentum monasterii zur Verfügung. Der handschriftliche Text schließt im Hinblick auf die Angehörigen dieser Vitusbruderschaft mit der grundsätzlichen Feststellung: Ut eorum memoria sit continua, nomina surrt super altare conscripta 89.

Mit diesem Zusammenschreiben der Namen auf dem Altar wird man weniger die Vorstellung von der jüngst in Reichenau/Niederzell aufge- fundenen Mensapiatte und deren Nameneinritzungen verbinden 90, eher die Vermutung, die Namen seien in einem Buch auf den Altar niedergelegt worden. Die liturgische Handschrift 1 132 des Staatsarchivs Münster stellt ein solches Buch dar.

Das Corveyer Beispiel veranschaulicht, wie die von Klöstern ausgehende Verbrüderungsbewegung im 11. Jahrhundert bereits in die Laienwelt hin- einreichte. Die Bruderschaften, die daraus entstanden, verdichteten sich freilich zu örtlich gebundenen Größen. Dabei wies der Weg von der klösterlichen Grundherrschaft in Richtung zur Stadt.

Im 12. Jahrhundert entstanden zahlreiche Zeugnisse dafür, daß die Netze klösterlicher Verbrüderungen. ganz Europa umspannten, während sie sich selbst vielfältig miteinander verknüpften. Von Dijon liefen Verbrüderungs-

87 Hierzu und zum folgenden JAFFE (wie Anm. 74) S. 72f. 88 Vgl. die Jahrgedächtnis-Stiftung des Abtes Hugo von Cluny für die auf den Friedhöfen der

Cluniacenser Begrabenen; JOHANNES RAMtACKERS, Analekten zur Geschichte des Reform- papsttums und der Cluniazenser (Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 23,1931/32, S. 22-52) Beilagen, Nr. XVI, S. 47f.; vgl. dazu JOACHIM WOLLASCH, Gemeinschaftsbewußtsein und soziale Leistung im Mittelalter (Frühmittelalterliche Studien 9, 1975, S. 268-286) bes. S. 281.

89 JAFFE (wie Anm. 74) S. 73. 90 WOLFGANG ERDMANN - KARL SCHMID - JOHANNE AUTENRIETH - DIETER GEUENICH

- HEINZ

RoosEN-RUNGE, Zur beschrifteten Altarplatte aus St. Peter und Paul, Reichenau-Niederzell (Freiburger Diözesan-Archiv 98,1978, S. 555-565). Das hochinteressante Zeugnis soll als Supplementheft zum Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 42) ediert werden.

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verbindungen nach Fruttuaria 91 ebenso wie zum Kloster Battle 92, das zum Andenken an die Gefallenen der Schlacht von Hastings gegründet worden ist. Canterbury und Siegburg verbrüderten sich miteinander 93. Wiederum nach Fruttuaria, aber auch bis Köln und zum thüringischen Reinhardsbrunn, nach Bamberg, Salzburg und Göttweig, Cluny und Marseille reichten die Ver- brüderungsbeziehungen der Schwarzwaldabtei St. Blasien 94. Reinhardsbrunn erneuerte seine im 11. Jahrhundert mit Cluny und Hirsau geschlossene Verbrüderung 95. Mit mehr als 100 geistlichen Gemeinschaften hatte S. Remi de Reims Verbrüderungsverträge geschlossen 96. In Clunys Verbrüderungen begegnen sogar das Kloster auf dem Berg Thabor und der Bischof von Bethlehem 97. Verbrüderungskontakte bestanden zwischen S. Martial de Limoges und Sizilien 98, zwischen Monte Cassino und S. Benolt-sur-Loire 99.

Die Fülle der überlieferten Beispiele kann nicht einmal andeutungsweise wiedergegeben werden. In allen genannten und nicht genannten Verbrü- derungen stellten die Leistungen des Totengedenkens einen unverzichtbaren Inhalt dar. Während also im 12. Jahrhundert die von klösterlichen Ge- meinschaften getragene Verbrüdrungsbewegung größte Reichweite erlangte, kam es doch gleichzeitig, je weiter das Jahrhundert fortschritt, zu wesentlichen Wandlungen in der Verbrüderungspraxis.

Zum einen sollten nun Verbrüderungen den Rechtsgrund dafür liefern, daß Äbte Interessen ihrer Klöster von anderen befriedigen ließen. Die 1131 in Reims versammelten und verbrüderten Benediktineräbte bezogen in ihre Verbrüderung auch gemeinsame Vorschriften der Hausordnung bis hin zu Eßgewohnheiten ein sowie die Möglichkeit, daß von Kloster zu Kloster geschickte mönchische Boten je nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten vom aussendenden oder vom empfangenden Abt mit Kleidung versorgt wurden Zoo,

Der Abt von Reinhardsbrunn berief sich gegenüber demjenigen von

91 Vgl. den Verbrüderungsvertrag beider Klöster miteinander in: Bibliotheque de la ville de Dijon ms. 634, fol. 123v.

92 Ebd. fol. 124v. 93 WILHELM WILBRAND, Ungedruckte Urkunden zur Geschichte der Abtei Siegburg (Annalen des

Historischen Vereinsfür den Niederrhein 137,1940, S. 73-97) S. 73ff.; ein Facsimile des von Siegburg nach Canterbury gesandten Totenrotulus in: Monumenta Annonis. Ausstellungs- katalog des Schnütgen-Museums der Stadt Köln hg. von ANTON LEGNER, Köln 1975, Nr. A28, S. 72; vgl. auch ERICH WISPLINGHOFF, Die Benediktinerabtei Siegburg (Germania Sacra, Neue Folge 9) Berlin-New York 1975, S. 175 und öfters, wo versehentlich immer statt Canterbury Cambridge steht.

94 Vgl. JoACIIIM WOLLASCII, Muri und St. Blasien (Deutsches Archiv 17,1961, S. 420-446) bes. S. 429ff.

95 Die Reinhardsbrunner Briefsammlung, hg. von FRIEDEL PEECK (MGH Epp. sel. 5) Weimar 1952, Nr. 54, S. 50.

96 Vgl. ScuniID - WOLLASCH (wie Anm. 36) S. 29; zuletzt JEAN-Loup LEMAITRE, Repertoire des documents necrologiques francais (Recueil des Historiens des Gaules et de la France, Obituaires 7) Paris 1980, Nr. 1699.

97 GILES CONSTABLE (Hg. ), The Letters of Peter the Venerable I und 2 (Harvard Historical Studies 78) Cambridge/Massachusetts 1967,1, Nr. 31, S. 105f. und Nr. 80, S. 214ff. und 2, S. 291f.

98 Paris, Bibl. Nat. ms. lat. 5257, fol. 69v; Facsimile in: Prosopographie als Sozialgeschichte? Methoden personengeschichtlicher Erforschung des Mittelalters. Sektionsbeiträge zum 32. Deutschen Historikertag Hamburg 1978, München 1978, Abb. 4.

99 PROD - VIDIER (wie Anm. 50) Nr. XCIII, S. 243ff. 100 URSMER BERLIERE, Documents inedits pour servir a l'histoire ecclesiastique de la Belgique 1,

Maredsous 1894, Appendice I, S. 92f.

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Bursfelde auf die lange bestehende Verbrüderung beider Klöster und auf den daher praktizierten Austausch der Namen verstorbener Mönche, um vom Bursfelder Abt zu erreichen, daß dieser einen seiner Mönche, einen Spe- zialisten für den Einbau von Wehren in einen Wasserlauf, nach Rein- hardsbrunn sandte 101.

Und das größte Geschenk in einer Verbrüderung, das 30-Tage-Gedächtnis wie für einen Verstorbenen des eigenen Konvents, konnte nun Abt Petrus Venerabilis der Äbtissin Heloise bei einem Besuch im Paraclet-Kloster als persönliche Gabe machen. HC-loise erbat sich und erhielt Schriftlichkeit und Besiegelung dieses singulare priuilegium und donum

... de tricenario 102,

obwohl sie der Einladung des Abtes, als Nonne im Cluniacenserinnenkloster Marcigny-sur-Loire einzutreten, nicht gefolgt war 103. Mit dem tricenarius erhielt sie den Leichnam ihres als Cluniacensermönchs gestorbenen Petrus Abaelard, den Absolutionstext für diesen, und entsprechend ihrer Bitte die Zusicherung des Abtes, er werde trotz der zu erwartenden Schwierigkeiten seitens der Bischöfe versuchen, Astralabius, dem Sohn Abaelards und der Heloise, eine Praebende in aliqua nobilium aecclesiarum zu verschaffen 104. Heloise hatte wohl an eine Domherrenpfründe an der Kathedrale Paris gedacht 105,

Petrus Venerabilis hatte auch seinem Hausarzt Bartholomaeus neben anderen Geschenken dasjenige der fraternitas zukommen lassen 106. Hier entstand Verbrüderung nicht aus der Lebendigkeit einer ausstrahlenden Gemeinschaft, sondern auf deren Kosten aus persönlichen Motiven; eine Praxis, die wieder auf Karls des Großen Zeit und Alcuins Verbrüderung z. B. zurückverweist.

Zum andern aber hat die von den Cisterciensern begonnene, das 12. Jahrhundert mit kennzeichnende Entstehung der Mönchsorden einen schar- fen Einschnitt in die Geschichte der Verbrüderungsbewegung gebracht. Wohl haben auch die Cistercienser Verbrüderungen mit Klöstern verschiedenster Orden aufgenommen, nach England, der iberischen Halbinsel, nach Italien oder Palästina, mit Ritterorden ebenso wie mit Mönchsorden - nur, daß man in solcher Verbrüderung nicht mehr wie früher das Totengedenken mit liturgischen und sozial-caritativen Leistungen für jedes einzelne Mitglied einer verbrüderten Gemeinschaft beging 107. Stattdessen hat man, so wie die

101 Reinhardsbrunner Briefsammlung (wie Anm. 95) Nr. 81, S. 68. 102 CONSTABLE (wie Anm. 97) 1, Nr. 167f., S. 400f. 103 Ebd. Nr. 115, S. 306. 104 Ebd. Nr. 167, S. 400f. 105 HeloTse an Petrus Venerabilis: Afemineritis... Abstralabii... zit aliquam ei ziel a Parisiensi, uel ab

alio quolibet episcopopraebendam adquiratis. CONSTABLE (wie Anm. 97) I, Nr. 167, S. 401. 106 Ebd. Nr. 158 b, S. 382- 107 Hierzu und zum folgenden JOACHIM WOLLASCH, Neue Quellen zur Geschichte der Ci-

stercienser (Zeitschrift für Kirchengeschichte 84,1973, S. "188-232). Zur Meinung ARNO BoRsrs, Mönche am Bodensee 610-1525, Sigmaringen 1978, S. 550f.: �Die allgemeinen Schlüsse von Joachim Wollasch, Neue Quellen zur Geschichte der Cistercienser in: ZRG 84 (1973) S. 188-232, über das Totengedenken der Zisterzienser sind für Salem zu modifizieren durch: Franz Ludwig Baumann, Das Totenbuch von Salem, in: ZGO 53 (1899) S. 351-380, S. 511-548; Friedrich von Weech, Fürbitten für die lebenden und verstorbenen Wohltäter des Klosters Salem, in: ZGO 49 (1895) S. 279-286" ist festzustellen: Eberhard von Rohrdorf war nicht einfach �Zisterzienser

in Salem" (BoRsT, S. 191) wie irgendein uns heute unbekannter Mönch oder Converse der Cistercienserabtei, sondern Abt von Salem und, wie BORST selbst S. 190-209 überzeugend dargestellt hat, ein besonders großer Wohltäter seiner Abtei. Solcher

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230 Joachim Wollasch

Cistercienser einmal im Jahr summarisch der verstorbenen Wohltäter ihres Ordens gedachten, einmal im Jahr, am 20. November, die pauschale commemoratio der verbrüderten, in einer Liste festgehaltenen Gemeinschaf- ten begangen. Die Listen, die in allen Cistercen geführt werden sollten, wurden bis zum 13. Jahrhundert so lange abgeschrieben, bis die Schreiber Klösternamen oft so verballhornten, weil ihnen diese nicht mehr gegenwärtig waren, daß die heutige Forschung nur in methodischem Listenvergleich die hinter verballhornten Namenformen gemeinten Klöster noch feststellen kann. Die Necrologien des Ordens, in denen schließlich nicht mehr die Namen aller eigenen Mönche und aller Wohltäter für eine entsprechende Gedenkpraxis gesammelt und mit anderen Gemeinschaften ausgetauscht wurden, gerieten zu Anniversarverzeichnissen, welche die bedeutendsten Angehörigen und Freunde des jeweiligen Klosters sowie deren Pitanzien festhielten. Im Mönchtum wurde so mehr Abgrenzung von Orden zu Orden, nach außen zur Laienwelt eine starke Abschließung erreicht. Offenbar war nun nicht mehr gewährleistet, was noch Stephan von Thiers, der Gründer des Grammon- tenserordens, den Laien entgegnet hatte, die an seinem Standort pro re- dentptione animarum et utilitate paupenun ein convivium fratrum einmal im Jahr einrichten wollten 108. Was die einmal im Jahr wünschten, geschähe im Kloster auf Dauer tagtäglich. Quid enim aliud agimus quotidie nisi opera publica? 109. Totengedenken und Armensorge der klösterlichen Gemeinschaft als Werke für die Öffentlichkeit: Bona nostra si qua sunt, communia sunt omnibus 110. Die guten Taten der klösterlichen Gemeinschaft kamen in der Verbrüderung allen zugute. Jetzt aber könnten die Mönche ihren Gebeten nicht noch längere anhängen, und die Laien merkten nicht, so wurde es Stephan von Thiers in den Mund gelegt, daß sie sub specie bonitatis fieri Simoniacos 111. Schenkungen für das Officium zu geben bedeutete, dieses zu verkaufen. - Man dürfe doch nicht beten, solange etwas gegeben würde und von den Fürbitten ablassen, wenn nichts mehr gegeben würde 112.

Hatte bis dahin die Verbrüderung wie selbstverständlich auch Mönchtum und Laienwelt miteinander verbunden, und hatten seit dem 11. Jahrhundert die sich verselbständigenden Laien sich die vom Mönchtum bereitgestellte Form der Verbrüderung mehr und mehr angeeignet und eigene Bruder- schaften gebildet, so entstand bis 1200, wie auch der Zulauf zu den Wanderpredigern und das Aufkommen von Ketzerbewegungen anzeigen 113, eine zunehmende Entfernung der Laien vom Mönchtum, das sich mehr und

Persönlichkeiten gedachten die Cistercienser namentlich (WOLLASCtt S. 230). Es geht jedoch um die Frage, warum die Cistercienser die alte Gewohnheit, jedem verstorbenen Bruder einen Eintrag ins Kapitelsnecrolog - mit allen Folgen - zu geben, nicht fortgeführt haben. Unbeschadet der von BoRST S. 5501. zitierten, von Baumann und v. Weech edierten Quellen müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß aus Salem kein Kapitelsnecrolog mit den Namen aller Salemer Konventualen (wenigstens aus einer Generation) vom Mittelalter auf uns gekommen ist.

108 S. Stephani Dicta et Facta IX (MIGNE PL 204, Sp. 1077). 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Über Stephan von Thiers s. JEAN BECQuET, Etienne de Thiers (Dictionnaire d'Histoire et de

Geographie ecclesiastiques 15, Paris 1963, Sp. 1252f. ). 113 HERBERT GRUNDMANN, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, Darmstadt 31970.

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Die mittelalterliche Lebensform der Verbrüderung 231

mehr abzukapseln drohte. Zwar hat die mittelalterliche Lebensform der Verbrüderung, in der Totengedenken und Armensorge zu den tragenden Pfeilern geworden waren, die Zeit der Ordensbildungen, die Zeit, von der an Europa zu einer Städtelandschaft wurde, überlebt. Die mit Klerikern. und Laien gemischten und die reinen Laienbruderschaften entfalteten im Spät- mittelalter und in der frühen Neuzeit eine neue Blüte der alten Verbrü- derungspraxis. Doch tendierte diese, da sie nun in den Städten beheimatet war, nicht mehr zu grenzenüberspringender, raumumspannender Einheit, sondern wurde stationär, an die jeweilige Stadt gebunden 114.

Was die Verbrüderung früher in europäischer Weite bewirkt hatte, bewegte sie nun im städtischen Leben. Und wieder wurden Totengedenken und Sorge für die lebenden Armen miteinander verbunden, besonders eindruckvoll bei den Spitalbruderschaften. Kaum eine Stadt, die nicht ein Heiliggeist-Spital besaß. Ut ergo hunc ipsum Spiritum hospitem, immo in nobis habitatorem, cooperatorem, doctoreni et conservatorem nostre confraternitatis habere me- reamur, richtete man schon zum Beginn des 12. Jahrhunderts im spanischen Tudela die Bruderschaft der hl. Christina ein, wie es in deren Statut eindrucksvoll festgelegt ist 115. Die Berufung auf den Hl. Geist entsprach durchaus früherer monastischer Bindung von Totengedenken und Armen- sorge an das Pfingstfest, anders gesagt, an das Vorbild der Urkirche in Jerusalem 116.

Wie sehr auch die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bruder- schaften in den Städten Europas trotz zahlreicher Untersuchungen noch systematischer Erforschung bedürfen - das Problem beginnt schon mit der Frage nach der Edition der Quellen (Matrikeln, Anniversarbücher, Testa- mente, Rechnungen usw. ) 117 -, soviel kann gesagt werden: daß die Ver- brüderung, wie sie vor allem vom Mönchtum seit der frühmittelalterlichen Christianisierung entwickelt worden ist, nicht nur die Krise des coeno- bitischen Mönchtums im 12. Jahrhundert überdauert hat, sondern daß sie sogar, durch die Verwandlung in städtische Bruderschaften, die Verwandlung Europas von einer Klöster- zu einer Städtelandschaft, 'von der Natural- zur Finanzwirtschaft, von einer adelig/ bäuerlich geprägten zu einer bürgerlich geprägten Gesellschaft zu überleben und zu übergreifen vermochte. Dies erlaubte es, von der mittelalterlichen Lebensform der Verbrüderung zu sprechen.

Welche Einwirkung auf die neuzeitliche Geschichte sie besaß, ist eine Frage, die noch von den Kollegen der neueren und neuesten Geschichte zu beantworten sein wird. Jedenfalls hätte Luther - unbeschadet der Tatsache, daß er in einer sehr alten kirchlichen Tradition gegen Bruderschaften und

114 Dies kann erklärend zu BoRSTS (wie Anm. 13) S. 267 wiedergegebener, tendenziell zutreffender Meinung von Bünden hinzugefügt werden.

113 MEERSSENAN (wie Anm. 73). 116 S. oben Anm. 88. 117 Darauf hob zu Recht ab LuDwtc REIILING, Bruderschaften als Forschungsgegenstand

(Jahrbuch für Volkskunde, Neue Folge 3,1980, S. 89-112) bes. S. 107ff. Gleichzeitig erkannte er den sachlichen Zusammenhang zwischen der monastisch-klösterlich geprägten Über- lieferung der früh- und hochmittelalterlichen Verbrüderungsbewegung und der Überlieferung der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bruderschaften kaum in der notwendigen Klarheit.

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232 Joachim Wollasch

Gilden stand 118 - wohl nicht eigens seinen �Sermon von dem Hochwirdigen Sacrament des Heyligen Waren Leychnams Christi Und von den Bru- derschafften" verfaßt 119 und deren �Luderey" und �heydenisch,

ja eyn sewisch" (säuisches),

�vom boßen geyst" nicht vom HI. Geist eingetragenes Wesen verurteilt 120, wenn nicht die Bruderschaft die Bevölkerung in ihrer ganzen Breite und alle Schichten umgreifend erfaßt hätte, nicht die mit- telalterliche Lebensform der Verbrüderung von den Bruderschaften in den Städten neu belebt und zweifellos in örtlicher Bechränktheit auch immer wieder deformiert worden wäre.

118 OEXLE (wie Anm. 71) S. 213. 119 D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe 2, Weimar 1884, S. 742ff. 120 Ebd. S. 754.

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