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Soziale Ausschließung – Stadtreportagen aus Bielefeld

Susanne Karstedt Melanie Ahlemeier Elisabeth Aram Nadine Bals Sibel Dalman Christian Flotho Alexander Haarmann Christoph Hohage Milena Kärtner Gerhard Prade

Universität Bielefeld, 2000

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Die Reihe „Soziale Probleme, Gesundheit und Sozialpolitik. Materialien und Forschungs-berichte“ wird herausgegeben von der Wissenschaftlichen Einheit „Soziale Probleme, Ge-sundheit und Sozialpolitik“ an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. http://www.uni-bielefeld.de/soz/w_einhei/we7/we_vii.html

Redaktion für dieses Heft:

Axel Groenemeyer

Universität Bielefeld Fakultät für Soziologie Universitätsstr. Postfach 101 131 33501 Bielefeld [email protected]

ISSN-Nr.: 1616-3710 Umschlaggestaltung: Doris Voss, Universität Bielefeld Druck: Universität Bielefeld

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Inhalt

Vorwort

Susanne Karstedt ........................................................................................................ 5 I. Arm und reich Die Freiheit, reich zu sein!?

Christian Flotho und Alexander Haarmann ............................................................. 11

Das Sozialamt als Schauplatz für Ausschließung Melanie Ahlemeier und Milena Kärtner ................................................................... 30

II. Die Fremden Als Kundin in Nobelgeschäften

Sibel Dalman ............................................................................................................. 43 „Du kannst sie in eine Reihe stellen und sagen, der und der ist aggressiv“ – Wie Ausländer aus Diskotheken ausgeschlossen werden

Elisabeth Aram und Nadine Bals .............................................................................. 54 „Neuland” – Soziale und kulturelle Ausschließungsprozesse zwischen Ost- und Westdeutschen in den neuen Bundesländern

Christoph Hohage ..................................................................................................... 62

III. Konflikte Sozialer Ausschluss von Jugendarbeit? – Das Jugendzentrum Niedermühlenkamp im Konflikt mit den Anwohnern

Gerhard Prade unter Mitarbeit von Yvonne Voßmann und Timo Koch................... 75

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Vorwort

Susanne Karstedt

„Soziale Ausschließung“ oder „Exklusion“ ist in den letzten Jahren zu einem der wich-tigsten Konzepte in der Soziologie geworden. Untersuchungen zur Armut im Wohl-fahrtsstaat, zur Lage ethnischer Minoritäten und von Immigranten, zur sozialen Kontrol-le und zu abweichendem Verhalten haben es aufgegriffen und in empirischen Studien fruchtbar gemacht. Eine herausragende Rolle spielt es in der Stadtforschung und Stadtsoziologie. Das liegt keineswegs nur daran, dass die ersten und weltweit Aufsehen erregenden Studien zur „new underclass“ z.B. von Anderson und Wacquant soziale Ausschließung im städtischen Raum, vor allem in den innerstädtischen Ghettos der Großstädte der USA und den Vororten französischer Großstädte thematisierten. Viel-mehr ist - ebenso wie zu Beginn dieses Jahrhunderts - der städtische Raum das Zentrum, in dem sich die Prozesse der Globalisierung und die Verwerfungen des gesellschaftli-chen Lebens am unmittelbarsten und auch am sichtbarsten niederschlagen. Wie zu Zei-ten von Robert E. Park gilt die Stadt als pars pro toto des gesellschaftlichen Lebens und seiner rapiden Wandlungsprozesse. Symptomatisch ist, dass derzeit die „Krise der Städ-te“ im Vordergrund steht, und Exklusion offensichtlich eine entscheidende Manifestati-on dieser Krise ist.

Großstädte sind daher auch in Deutschland das Feld, um das Konzept der Ausschlie-ßung auf seine Tragfähigkeit zu überprüfen. Freilich ist keineswegs ausgemacht, dass sich hier Entwicklungen wie in den amerikanischen Großstädten anbahnen und durch-setzen. Das gilt erst recht für die vielen mittelgroßen Städte, die das Bild des städtischen Raumes in Deutschland bestimmen. Und ausgerechnet Bielefeld! Die in der Eigenwer-bung als „freundliche Stadt“ bezeichnete Kommune, die auch in der Einschätzung ihrer Einwohner eher als etwas verschlafen und zurückgeblieben gilt, vermittelt zumindest äußerlich kein Bild, das auch nur im entferntesten denen aus den innerstädtischen Be-zirken der US-Großstädte oder den Vororten französischer Städte ähnelte, ebenso wenig allerdings Großstädten wie Hamburg, Berlin, Köln oder Leipzig.

Macht es also überhaupt Sinn, hier den Prozessen sozialer Exklusion nachzuspüren? Ein Blick in die städtische Berichterstattung und die vielfältigen Statistiken zeigt, dass es in Bielefeld durchaus Zonen und Gebiete mit einer erheblichen Problemkumulation gibt. Das ergibt sich auch aus Gesprächen mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, ebenso jedoch auch in der Selbstwahrnehmung der Bewohner. Wenn Jugendliche ihrer Gruppe und ihrem Gebiet den Namen „Conti-Bronx“ geben, so mag dem zwar eine missverstandene Überidentifikation zugrunde liegen, jedoch ist nicht auszuschließen, dass sich hier durchaus auch Exklusions-Prozesse manifestieren.

In dem Seminar „Soziale Ausschließungsprozesse in der Stadt“, das im Sommerse-mester 1999 an der Fakultät für Soziologie durchgeführt wurde, gingen wir davon aus, dass wir diesen Prozessen in Bielefeld nachspüren konnten. Dabei knüpften wir bewusst

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6 Vorwort

an die frühen Arbeiten der Chicagoer Schule an, jene bis heute kaum wieder erreichte Mischung aus Reportage und Feldforschung. Wichtigste Voraussetzung war – damals wie heute –, etwas „zu entdecken“, sich das Leben anzusehen („to see life“), zu recher-chieren und ein wenig „herumzuschnüffeln“ („nosing around“) (vgl. Lindner 1990). Grundlage für unsere Methode war daher Gerhard Kleinings „Lehrbuch entdeckende Sozialforschung“ (1995), das uns die verschiedenen Möglichkeiten der systematisierten sozialwissenschaftlichen Recherche eröffnete.

Die Idee war, eine solche Recherche innerhalb eines Semesters durchzuführen und zum Abschluss zu bringen. Wir begannen daher mit einer sehr komprimierten Erarbei-tung des Konzeptes der sozialen Ausschließung, wobei sich die Texte von Kronauer und Elias und Scotson als die wichtigsten erwiesen. Anschließend entwickelten die Teilnehmer einzeln oder in Gruppen ihre „Recherche-Idee“ und stellten sie im Seminar vor. Alle steuerten Ideen, Vorschläge bis hin zu konkreten Hilfen für die Kontaktauf-nahme oder weitere Literatur bei. In Einzelgesprächen wurden dann die Details festge-legt. Nach ca. vier Wochen trafen sich die Teilnehmer zu einer Blocksitzung, auf der sie über den Stand des Projektes berichteten und ihr Vorgehen und ihre Ergebnisse mit den anderen diskutierten.

Die hier vorgestellten Arbeiten sind überarbeitete Fassungen einer Auswahl der End-berichte. Sie demonstrieren nicht nur eine außerordentliche Breite der Themen, sondern vor allem eine Vielfalt an Methoden. Von der Auswertung von Statistiken bis hin zur Beobachtung per Fahrrad und zu Fuß (Christian Flotho und Alexander Haarmann), vom Experiment bis hin zum Interview präsentieren sich die Standardverfahren der So-zialforschung in ausgesprochen kreativer und auch innovativer Weise, ohne dabei an Überzeugungskraft einzubüßen. Besonders hervorzuheben ist der kritische Umgang der Forscherinnen und Forscher mit ihren eigenen Instrumenten: Sehr genau analysieren sie, warum ihnen bestimmte Dinge entgangen sind. Entsprechend lassen sie Vorsicht bei der Interpretation ihrer Ergebnisse walten.

Im ersten Kapitel geht es um die Rolle der Armut in Ausschließungsprozessen. Chri-stian Flotho und Alexander Haarmann wollten in einem Vergleich eines „reichen“ und „armen“ Stadtteils feststellen, wie sich Ausschließungsprozesse im städtischen Raum manifestieren. Ihr Vorgehen darf als geradezu idealtypisch im Sinne der Chicagoer Schule gelten. Sie beginnen mit einer Analyse vorliegender Statistiken, um die zwei „Kontrastgebiete“ auszuwählen, und setzen zunächst die Analyse anhand der vorliegen-den Informationsmöglichkeiten aus zahlreichen Quellen fort. Anschließend führen sie eine Beobachtung in den Gebieten durch - zu Fuß und mit dem Fahrrad, tagsüber und nachts. Ihr – überraschendes – Fazit: Während das „arme“ Gebiet den Eindruck hoher Kommunikationsdichte und daher auch von Integration und Sicherheit vermittelt, ist das „reiche“ Gebiet durch selbstgewählte Aus- und Abschließung gekennzeichnet. Gerade dort fühlt man sich unsicher. Eine Umkehrung des Exklusionskonzeptes?

Melanie Ahlemeier und Milena Kärtner wollten feststellen, inwieweit die Institutio-nen des Wohlfahrtsstaates selbst an den Ausschließungsprozessen beteiligt sind, und vor allem, wie dies von den Betroffenen wahrgenommen wird. Im Sozialamt führten sie Ge-spräche mit den dort wartenden Klienten und Mitarbeitern und beobachteten den Ab-lauf. Stigmatisierungs- und Ausschließungsprozesse, wie sie sie erwartet hatten, konn-

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Susanne Karstedt 7

ten sie so nicht feststellen. Das Sozialamt fungiert als modernes Dienstleitungszentrum, allerdings mit subtilen Abhängigkeitsverhältnissen.

Im folgenden Kapitel geht es um die Ausschließung des und der Fremden. Sibel Dalman hatte die Idee zu einem Selbst- und Feldexperiment. Im Abstand einer Woche besuchte sie vier Bielefelder Bekleidungsgeschäfte, die alle zur Luxus- und Hochpreis-kategorie gehörten, und zwar zunächst in der Kleidung einer muslimischen Frau mit Kopftuch, anschließend als moderne junge Frau gekleidet. Sibel Dalman traf nicht auf krasse Formen der Zurückweisung und Ausschließung. Im Gegenteil war sie nach ihrem ersten Gang durch die Geschäfte positiv überrascht. Erst nachdem sie die Geschäfte oh-ne Kopftuch aufgesucht hatte, wurden ihr die subtilen Zurückweisungsprozesse in der Interaktion mit den Verkäuferinnen deutlich. Sie arbeitet ihre Ergebnisse in den weite-ren Rahmen einer Analyse zur Stellung muslimischer Frauen in dieser Gesellschaft ein.

Elisabeth Aram und Nadine Bals konnten zeigen, dass auch Soziologinnen die Nase ganz vorne haben können. In die Feldphase ihrer Untersuchung zum Ausschluss von jungen Ausländern aus Diskotheken platzte die Nachricht, dass einer der Zurückgewie-senen auf einen Türsteher geschossen und ihn lebensgefährlich verletzt hatte. Der von ihnen untersuchte Ausschließungsprozess zentriert sich auf die Frage, wie Ausländern gewalttätiges Verhalten zugeschrieben wird und wie auf diese Weise Ausschließungs-prozesse legitimiert werden. Sie sehen in diesen Prozessen der Ausschließung im Frei-zeitbereich ein erhebliches und langfristiges Desintegrationspotential, das möglicher-weise genau die Gewalt produziert, die man verhindern möchte.

Christoph Hohage führte seine Recherche nicht in Bielefeld, sondern in den neuen Bundesländern durch. Der Text von Elias und Scotson hatte ihn angeregt, Ausschlie-ßung von Westdeutschen in den neuen Bundesländern zu untersuchen. Dass er mit die-sem Thema ebenfalls ganz aktuell war, wurde deutlich, als das Buch „Neuland“ veröf-fentlicht wurde. Ausschließungsprozesse sind vor allem im Arbeitsbereich virulent, so sein Ergebnis, und weniger im täglichen Leben und im städtischen Miteinander. Ent-scheidend ist jedoch, dass sie kaum offen zutage treten, sondern tabuisiert sind und „gemeinsam beschwiegen werden“.

Im letzten Abschnitt geht es um Konflikte, an denen sich Ausschließungsprozesse manifestieren können. Gerhard Prade hat in Zusammenarbeit mit Yvonne Voßmann und Timo Koch den Konflikt zwischen einem Jugendzentrum und den Anwohnern in Biele-feld untersucht. Dabei wurden möglichst alle Beteiligten einbezogen, auch die städti-schen Behörden. Diese Recherche macht vor allem die verschiedenen, auch vermitteln-den Positionen in einem solchen Ausschließungskonflikt deutlich, der keinesfalls als Manifestation eines Generationenkonfliktes gedeutet werden kann.

Versucht man ein Fazit zu ziehen, dann zeigt sich vor allem, dass Ausschließungs-prozesse keinesfalls so eindeutig sind, sondern vielschichtig und subtil, und vor allem nicht in den Formen erscheinen, die häufig erwartet werden. Als Ergebnis bleibt daher festzuhalten, dass es sich immer lohnt, genau hinzuschauen und sich das Leben eben anzusehen, wie Park es Soziologinnen und Soziologen ja nahegelegt hatte.

Mein Dank gilt in erster Linie den Studentinnen und Studenten, die das Seminar durch ihr Engagement, ihre Ideen und Kreativität zu einem Erfolg gemacht haben. Sie haben ein außerordentliches Potenzial an soziologischer Imagination unter Beweis ge-stellt. Axel Groenemeyer hatte die Idee zu dieser Veröffentlichung, er hat die Vorausset-

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8 Vorwort

zungen geschaffen und vor allem die Manuskripte zu diesem Band zusammengefasst. Ihm gilt mein ganz besonders herzlicher Dank für die ideelle und materielle Unterstüt-zung. Schließlich möchte ich Nadine Bals für ihre Unterstützung bei der Korrektur der Manuskripte danken.

Literatur

Kleining, Gerhard, 1995: Lehrbuch entdeckende Sozialforschung. Bd. 1: Von der Her-meneutik zur qualitativen Heuristik. Weinheim: Psychologie Verlags Union

Lindner, Rolf, 1990: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage. Frankfurt: Suhrkamp

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I. Arm und Reich

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Die Freiheit, reich zu sein!?

Christian Flotho und Alexander Haarmann

1. Einleitung

In der vorliegenden Untersuchung wird der Frage nachgegangen, ob und auf welche Art und Weise sich Polarisierungen in Form sozialer Ausschließungsprozesse nicht nur in „Global Cities“, sondern auch im mittelstädtischen Raum zeigen. Dazu wurden anhand bestimmter Merkmale zwei statistische Bezirke Bielefelds ausgewählt und diese mit Hilfe einer unstrukturierten Beobachtung einem Kontrastvergleich unterzogen. Der De-finition von Kronauer folgend, konzentrieren wir uns hierbei vor allem auf die Ausgren-zung in ökonomischer, räumlicher und institutioneller Hinsicht.

Die Analyse unserer Untersuchung bestätigte einige unserer Annahmen; sie führte aber auch zu neuen Erkenntnissen, die eine differenziertere Sicht der Dinge verlangen.

Ob sich unsere Ergebnisse mit anderen theoretischen Perspektiven im Einklang be-finden, wird abschließend erörtert.

2. Theoretischer Rahmen

In der Literatur werden mehrere Arten von sozialer Ausgrenzung genannt. Nach Wilson ist soziale Ausgrenzung gegeben, wenn „social isolation“ sowie eine „marginal econo-mic position“ vorliegen (Wilson 1991, S. 475). „Social Isolation“ gliedert sich lt. Kronauer (Kronauer 1997, S. 39ff.) in folgende Di-mensionen: • Ausgrenzung am Arbeitsmarkt tritt auf, wenn Personen der Eintritt oder Wiederein-

tritt in den Arbeitsmarkt verwehrt wird. Dabei gilt es zum einen zu berücksichtigen, wie lange der Zeitraum zwischen Erwerbslosigkeitsbeginn und erneuter oder erstma-liger Berufstätigkeit andauert. Zum anderen ist die Ausgrenzung abhängig vom Grad gesellschaftlicher Anerkennung. So ist erzwungene Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt in Form von Frühverrentung als legitime Alternative zur Berufstätigkeit anerkannt, während Dauerarbeitslosigkeit negativ bewertet und der Prozeß sozialer Isolation in Verbindung mit den folgenden Dimensionen unterstützt wird.

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12 Die Freiheit, reich zu sein!?

• Ökonomische Ausgrenzung liegt vor, wenn die finanzielle Absicherung eines kultu-rell angemessenen Lebensstandards nicht über das reguläre Erwerbssystem gelingt. In der Regel ist damit eine finanzielle Abhängigkeit von staatlichen Institutionen („welfare dependence“) in Form von Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, -unterstützung oder sonstigen Versicherungssystemen verbunden.

• Kulturelle Ausgrenzung ist gegeben, wenn eine Unterwerfung unter allgemein gel-tende Werte und Normen aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist. Um kulturel-len Anforderungen nachzukommen, greifen die Betroffenen mitunter zu illegalen Mitteln, wodurch sie folglich stärker gesellschaftlichen Sanktionen ausgesetzt sind.

• Ausgrenzung durch gesellschaftliche Isolation bezieht sich auf die Beschränkung so-zialer Kontakte auf einen bestimmten Personenkreis, kann aber auch absolute Ver-einsamung bedeuten mit unterschiedlichen Folgen für die Identitätsbildung. Das erste kann zur Übernahme subkultureller Wertvorstellungen, das zweite zu Entfremdung führen.

• Räumliche Ausgrenzung meint einerseits die Ansammlung benachteiligter Schichten in gewissen Stadtgebieten, andererseits in bestimmten Bereichen eines Stadtviertels. Aufgrund fehlender Möglichkeiten ist man gezwungen, sich mit einem eingeengten Umfeld zu arrangieren.

• Institutionelle Ausgrenzung drückt sich in bestimmten Lebensphasen und -bereichen in der Benachteiligung durch Institutionen und deren unzureichender sozialräumli-chen Verfügbarkeit aus. Zu solchen Institutionen zählen u.a. Ausbildungseinrichtun-gen, Arbeits- und Sozialämter sowie öffentliche und private Dienstleistungen.

In Deutschland kommt der Dimension „Ausgrenzung am Arbeitsmarkt“ besondere Be-deutung zu, da sich gesellschaftliche Integration nach wie vor in erheblichem Umfang über die berufliche Stellung vollzieht. In den gerade genannten Dimensionen kann man daher in gewisser Weise eine hierarchische Abfolge erkennen, so dass bei Ausschluss von Erwerbstätigkeit den darauf folgenden Punkten sukzessive Gewicht verliehen wer-den kann. Den oben genannten Definitionen entsprechend richteten wir unser Hauptau-genmerk auf die Punkte „ökonomische Ausgrenzung“, „räumliche Ausgrenzung“ und „institutionelle Ausgrenzung“ im weiteren Sinne. Durch die von uns gewählte Untersu-chungsmethode, welche weiter unten näher beschrieben wird, versuchen wir jedoch, die anderen erwähnten Dimensionen unterstützend einfließen zu lassen.

3. Auswahl der beiden statistischen Bezirke

In diesem Forschungsbericht wollen wir Ausschließungsprozesse durch den Vergleich zweier ausgewählter Stadtbezirke in Bielefeld darstellen. Wir versuchen uns dem Pro-blem der sozialen Ausschließung im wesentlichen mit der Fragestellung zu nähern, ob es zwischen zwei Bezirken Ähnlichkeiten, vor allem aber beträchtliche Unterschiede gibt, was die Wohn- und Lebensqualität betrifft.

Bei der Suche nach der Auswahl der beiden Gebiete einigten wir uns auf statistische Bezirke. Zum einen stellen diese die kleinsten Einheiten dar, für die noch Datenmaterial

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Christian Flotho und Alexander Haarmann 13

unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten erhältlich ist. Zum anderen bietet sich damit eine vom Arbeitsaufwand her praktikable Größe an.

Alle statistischen Bezirke Bielefelds wurden sowohl auf Ähnlichkeiten als auch auf Unterschiede hin überprüft. Dazu wurden verschiedene Informationsquellen herangezo-gen. Anhand der Daten des „Amts für Stadtforschung und Statistik“ sollte unter dem Gesichtspunkt der „maximalen strukturellen Variation der Perspektiven“ (Kleining 1995, S. 228) nach Bezirken gesucht werden, die

1a) eine ungefähr gleich große Entfernung zum Stadtzentrum, 1b) ungefähr die gleiche Flächengröße und 1c) eine in etwa gleich hohe Einwohnerzahl aufweisen.

Mit Hilfe des Bielefelder „Armuts- und Sozialberichts 1997“ wurden die statistischen Bezirke auf ihre Unterschiede hin verglichen. Dabei wurden folgende Kriterien berück-sichtigt:

2a) Anteil der Arbeitslosen, 2b) Anteil von Sozialhilfeempfängern, 2c) Ausländeranteil unter der Wohnbevölkerung.

Tabelle 1: Einwohnerzahl und Problemmerkmale der Stadtviertel

Stadtwerke Brands Busch

Bielefeld insgesamt

Einwohnerzahla 2574 2874 –

Anteil Arbeitsloserb 12,5 % 8,0 % 12,5 %

Anteil Sozialhilfeempfängerb 9,7 % 3,5 % 5,9 %

Ausländeranteilb 34,2 % 7,2 % 12,6 %

Index (Bewertung der besonderen sozialen Risiken)c

hoch niedrig –

a Quelle: Daten vom „Amt für Stadtforschung und Statistik“; Stichtag: 31.12.1998; b Quelle: Daten vom „Amt für Stadtforschung und Statistik“; Stichtag: 31.12.1997; c Quelle: „Armuts- und Sozialbericht“ der Stadt Bielefeld 1998; Daten bezogen auf 1997

Diese drei Kriterien dienten als Indikatoren, mittels derer im genannten Armutsbe-richt ein Index berechnet wurde, der die einzelnen Bezirke mit ihren Bevölkerungsgrup-pen in fünf Kategorien einteilte: Bezirke mit sehr geringen, geringen, mittleren, hohen und sehr hohen sozialen Risiken.

Aufgrund der Auswahlmerkmale fiel die Entscheidung im Rahmen eines Kon-trastvergleichs auf die statistischen Bezirke „Stadtwerke“ (09) und „Brands Busch“ (13).

4. Operationalisierung der Wohn- und Lebensqualität

Nachdem die beiden Bezirke bestimmt worden waren, wurde nach Merkmalen für die Wohn- und Lebensqualität gesucht.

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14 Die Freiheit, reich zu sein!?

Dabei kristallisierten sich erstens die Versorgungsstrukturen bzw. die Konsummög-lichkeiten zur Deckung des alltäglichen Bedarfs heraus. Darunter fallen die Quantität und Qualität (äußere Beschaffenheit) von Einrichtungen und Geschäften, das Angebot an Produkten und Dienstleistungen sowie deren Erreichbarkeit einschließlich des Öf-fentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Unter Einrichtungen des täglichen Bedarfs verstehen wir Ärzte, Apotheken, Bäckereien/ Cafés, Banken und Sparkassen sowie Postfilialen, Friseure, Gaststätten und Restaurants, Kindergärten und -tagesstätten, Mo-de- und Textilgeschäfte, Schulen und Supermärkte.

Um Aufschluss über die quantitative Verteilung in den beiden Bezirken zu erhalten, wurden folgende Stellen kontaktiert: Industrie- und Handelskammer (IHK), Hotel- und Gaststättenverband, Einzelhandelsverband und Ärztekammer. Da aber die meisten An-gaben nur auf Postleitzahlenebene vorhanden sind, konnten wir sie den einzelnen stati-stischen Bezirken nicht zuordnen1.

Somit wurden das örtliche Telefonbuch und die Gelben Seiten für Bielefeld als In-formationsquellen herangezogen.

Als zweites Merkmal für Wohn- und Lebensqualität dienten uns vorhandene Frei-zeit- und Erholungsangebote. Unser besonderes Interesse lag dabei auf der Nutzungs-möglichkeit von natürlichen und künstlichen Grünflächen, Spiel- und Sportplätzen, Ju-gendzentren und anderen Begegnungsstätten. Leider konnten wir hierzu keine statisti-schen Daten erhalten, da die Einteilung des Grünflächenamts nicht mit den statistischen Bezirken der Stadtverwaltung übereinstimmt.

Weitere Indikatoren für die Wohn- und Lebensqualität sahen wir drittens im Zustand der Häuser, in der Art der Bebauung sowie den Besitzverhältnissen (Eigentum vs. Mietwohnungen). Auch hier konnten wir keine statistischen, auf die relevanten Bezirke bezogenen Daten erhalten – weder vom Planungsamt noch vom Mieterbund.

5. Untersuchungsmethode

Aufgrund der unzureichenden Datenlage wählten wir als Untersuchungsmethode die unstrukturierte Beobachtung, um zunächst die vorliegenden Angaben zu Einrichtungen und Geschäften zu überprüfen und ggf. zu ergänzen. In einem weiteren Schritt sollten Lage, Qualität und Erreichbarkeit sowohl der Versorgungsstruktur als auch der Freizeit- und Erholungsangebote erfasst werden. Wie der Zustand der Häuser und die Art der Bebauung aussieht, sollte ebenfalls aufgrund der Beobachtung festgestellt werden.

Die Methode der unstrukturierten Beobachtung bietet sich an, weil sie es ermöglicht, in einem relativ überschaubaren Zeitrahmen einen recht umfassenden Überblick über die beschriebenen Kriterien der Wohn- und Lebensqualität zu liefern.

Gemäß der qualitativ-heuristischen Methodologie sind dabei bestimmte Regeln zu beachten, die „[...] Handlungsanleitungen für die Forschungsperson im gesamten For-schungsprozeß“ darstellen (Kleining 1995, S. 228). Danach sollen neben einer größt-möglichen Objektivität/ Offenheit von Forschungsperson und -gegenstand vor allem ei-

1 Von der Ärztekammer sowie dem Hotel- und Gaststättenverband standen uns keine Daten zur Verfü-

gung.

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Christian Flotho und Alexander Haarmann 15

ne „maximale strukturelle Variation der Perspektiven“ (ebd.) gegeben sein, an deren Ende die Untersuchung auf Gemeinsamkeiten steht.

Aus diesem Grund variierten wir die Beobachtung in den beiden Stadtbezirken sy-stematisch im Hinblick auf Beobachterperspektive (als Fahrradfahrer bzw. als Fußgän-ger), Uhrzeit und Größe des Untersuchungsgebietes. Zwecks höherer Reliabilität und um unsere Erkenntnisse und Interpretationen zu vervollständigen, führten wir alle Be-obachtungen jeweils zu zweit durch. Parallel dazu wurde mit Hilfe weiterer Daten ver-sucht, genauere Informationen über die statistischen Bezirke „Brands Busch“ und „Stadtwerke“ zu erhalten.

6. Erste Begehung

6.1 Beobachtungen zur Versorgungsstruktur

Die erste Beobachtung im Bezirk „Stadtwerke“ fand – wie überhaupt alle Beobachtun-gen in beiden Stadtbezirken – an einem Werktag statt, und zwar per Fahrrad zwischen 14.30 Uhr und 18.30 Uhr im gesamten Bezirksgebiet. Für die Beobachtung an einem Werktag spricht die dadurch ermöglichte Betrachtung alltäglicher Handlungs- und In-teraktionsprozesse. An einem anderen Tag folgte die „Befahrung“ zwischen 9.30 Uhr und 12.30 Uhr im gesamten Bezirk „Brands Busch“.

Aufgrund des uns vorliegenden Datenmaterials ergeben sich größere quantitative Un-terschiede in der Versorgungsstruktur nur für einige wenige Einrichtungen: Wie der Tabelle 2 zu entnehmen ist, lässt die quantitative Verteilung daher nur begrenzt Rückschlüsse auf die tatsächliche Versorgungsstruktur zu und liefert keine Anhalts-punkte für deren Lage, Qualität und Angebot. Bei den ersten Beobachtungen reflektier-ten wir deshalb drei wesentliche Punkte:

Tabelle 2: Versorgungsstruktur in den Stadtvierteln

Stadtwerke Brands Busch

Ärzte 1 13

Apotheken 0 2

Bäckereien/Cafés/Konditoreien 2 0

Banken/Sparkassen/Postfilialen 0 2

Gaststätten und Restaurants 17 10

Lebensmittelgeschäfte 6 0

Kindergärten und -tagesstätten 3 0

Quelle: „Gelbe Seiten 1998/1999“, „Telefonbuch 1998/1999“, eigene Daten

• Wie sieht die direkte Umgebung des jeweiligen Bezirkes aus? Finden sich hier ent-lang einzelner Straße bestimmte Stellen oder Einrichtungen, die die ansonsten vor-liegende Unterversorgung ausgleichen?

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Im Bezirk „Brands Busch“ kommt diese „Funktion“ der Detmolder Straße, im Bezirk „Stadtwerke“ der Jöllenbecker Straße zu.

• Gibt es natürliche und künstliche Grenzen, die nicht statistischen Anforderungen ge-horchen? Sind irgendwelche „Barrieren“ vorhanden, die die Zugänglichkeit bestimmter Gebiete innerhalb der Bezirke erschweren (vgl. Hamm 1998, S. 176)?

So entsprechen Promenade und Detmolder Straße einer oberen natürlichen und der un-teren statistischen Grenze des Bezirkes „Brands Busch“, die die Zugänglichkeit von „unten“ und von „oben“ her einschränken. Die Fläche dazwischen zeichnet sich durch eine überwiegend hohe Homogenität der dort wohnenden Bevölkerung aus. Dieses Phä-nomen ist für den Bezirk „Stadtwerke“ auf den ersten Blick nicht offensichtlich. Zahl-reiche „Hindernisse“ innerhalb dieses Bezirkes – wie Durchgangsstraßen, Bahntrasse, Industriegebiete – teilen ihn aber in mehrere, in sich mehr oder weniger homogene Ge-bietsabschnitte ein. Einen solchen Unterbezirk entdeckt man z.B. östlich der Beckhaus-straße. Gerade deswegen erscheint es ratsam, genauer auf Qualität, Angebot und Lage der versorgenden Einrichtungen zu achten.

• Stimmen die lebensweltlichen Sozialräume mit dem Wohnumfeld überein?

Wenn man die eingeschränktere Mobilität und das speziell auf die Bewohner zuge-schnittene Angebot berücksichtigt, lässt sich diese Frage für den Bezirk „Stadtwerke“ eher bejahen. Der hohe Ausländeranteil etwa spiegelt sich auch in einer Reihe von aus-ländischen Geschäften mit entsprechendem Angebot wider. Im Gegensatz dazu er-scheint die Angebotssituation in „Brands Busch“ mit ebenfalls zahlreichen ausländi-schen Geschäften der Mehrheit der dort wohnenden Bevölkerung nicht angemessen, da hier wahrscheinlich höhere Konsumansprüche geltend gemacht werden wollen. Deshalb ist zu vermuten, dass der lebensweltliche Sozialraum nicht nur mit dem Wohnumfeld gleichgesetzt werden kann.

6.2 Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten

Ein klares Ungleichgewicht ergibt sich bei der Überprüfung auf vorhandene Freizeit- und Erholungsangebote. Während „Brands Busch“ sehr stark von natürlichen Grünflä-chen gekennzeichnet ist, sind derartige wie auch künstliche Grünanlagen im Bezirk „Stadtwerke“ rar gesät. Allerdings nutzen hier gerade Kinder und Jugendliche freie Flä-chen, Straßen und Spielplätze für ihre Freizeitaktivitäten. Diese Spielplätze sind zwar in „Brands Busch“ nicht so zahlreich vorhanden; angesichts der besonderen Wohnverhält-nisse (mehrheitlich eigene Häuser) spielt sich das meiste Leben aber wohl innerhalb der jeweiligen Grundstücke samt Gärten ab.

6.3 Wohnverhältnisse und Bevölkerung

Überhaupt lassen sich hinsichtlich der Wohnverhältnisse sowie der Bevölkerung einige Unterschiede festhalten, die neben der Beobachtung auch durch statistisches Datenmate-rial belegt werden können. So zeigen die Abbildungen 1 und 2, dass z.B. der Anteil der Personen, die 70 Jahre und älter sind, im Bezirk „Brands Busch“ mehr als doppelt so hoch ist wie im Bezirk „Stadtwerke“ (22,9 % gegenüber 10,3 %).

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Christian Flotho und Alexander Haarmann 17

Abbildung 1

Anzahl der Einwohner

0 bis unter 10 Jahre

10 bis unter 20 Jahre

20 bis unter 30 Jahre

30 bis unter 40 Jahre

40 bis unter 50 Jahre

50 bis unter 60 Jahre

60 bis unter 70 Jahre

70 Jahre und älter

Alte

rska

tego

rien

Altersverteilung für den statistischen Bezirk "Stadtwerke" (09)

deutsch männlich

ausländisch männlich

deutsch weiblich

ausländisch weiblich

Frauen Männer

0 100100200 200 300300

Abbildung 2

Anzahl der Einwohner

0 bis unter 10 Jahre

10 bis unter 20 Jahre

20 bis unter 30 Jahre

30 bis unter 40 Jahre

40 bis unter 50 Jahre

50 bis unter 60 Jahre

60 bis unter 70 Jahre

70 Jahre und älter

Alte

rska

tego

rien

Altersverteilung für den statistischen Bezirk "Brands Busch" (13)

deutsch weiblich

ausländisch weiblich

deutsch männlich

ausländisch männlich

Frauen Männer

0 100100200 200 300300400500600

Quelle: „Amt für Stadtforschung und Statistik“; Stichtag: 31.12.1998

Eine andere Schieflage erhält man bei näherer Betrachtung der jüngeren Alterskategori-en. Während der Anteil der Personen, die jünger als 20 Jahre sind, im Bezirk „Stadt-werke“ 20,6 % beträgt, beläuft er sich auf 14,5 % in „Brands Busch“. Noch offensichtli-

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18 Die Freiheit, reich zu sein!?

cher wird diese Diskrepanz beim Vergleich der Alterskategorien „20 Jahre bis unter 30 Jahre“ und „30 Jahre bis unter 40 Jahre“ (38,7 % im Bezirk „Stadtwerke“ vs. 27,6 % im Bezirk „Brands Busch“). Die Abbildungen geben darüber hinaus Auskunft über den An-teil von ausländischen Einwohnern, bezogen auf die jeweiligen Alterskategorien. Dabei zeigt sich, dass der insgesamt hohe Ausländeranteil im Bezirk „Stadtwerke“ in erhebli-chem Maße zu einer Reduzierung des Altersdurchschnittes der Bevölkerung beiträgt.

Während der proportionale Anteil im Bezirk „Brands Busch“ über alle Altersschich-ten hinweg auf niedrigem Niveau pendelt und sein höchstes Ausmaß in der Alterskate-gorie „10 Jahre bis unter 20 Jahre“ erreicht (13,8 %), findet man stärkere Schwankun-gen für den Bezirk „Stadtwerke“. Auffällig dabei ist der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung für die Alterskategorie „10 Jahre bis unter 20 Jahre“; er beträgt 50,2 %. Nicht zuletzt sollte man beachten, dass der ohnehin geringe Ausländeranteil in „Brands Busch“ im wesentlichen durch die Bewohner in der Detmolder Straße zustande kommt.

Im Rahmen der Beobachtung entdeckten wir weiter, dass eine annähernd gleiche Einwohnerzahl in beiden Bezirken und sich nicht stark unterscheidende Zahlen bezüg-lich der Einwohnerdichte (2093 Einw. im Bezirk 09 vs. 2375 Einw. im Bezirk 13) kei-nen Aufschluss über die tatsächliche Verteilung der Wohnbevölkerung geben. So ist die Wohnfläche im Bezirk „Stadtwerke“ häufig durch Industriekomplexe, Straßen oder die Bahntrasse „belegt“, weshalb die tatsächliche Einwohnerdichte in den Wohngebieten weit über der durchschnittlichen Einwohnerdichte liegt. Im Bezirk „Brands Busch“ ver-teilen sich die Einwohner dagegen auf eine größere Gebietsfläche. In Bezug auf die Art der Bebauung lässt sich konstatieren, dass die Mehrzahl der Häuser in „Brands Busch“ Eigentum der Bewohner oder deren Familien zu sein scheinen und selten mehr als zwei Etagen aufweisen – abgesehen von den Wohnungen an der Detmolder Straße. Konträr dazu überwiegen im Bezirk „Stadtwerke“ mehrgeschossige Mietshäuser.

Unterschiede können ebenfalls festgestellt werden, was den äußeren Zustand der Häuser betrifft. Neben verfallenen oder leerstehenden Häusern und Fabrikgebäuden stößt man bei der Begehung im Bezirk „Stadtwerke“ auch ständig auf beschmierte Häu-serfassaden. Zusätzlich wahrgenommener Schmutz und häufig vorkommender Müll im Gelände verstärken nachhaltig den Eindruck, sich in einem eher unordentlichen und un-gepflegten Bezirk zu befinden.

Die unterschiedliche Frequentierung der Straßen mit Personen in den beiden Bezir-ken erschien uns aufgrund der verschiedenen Beobachtungszeiten zunächst nachvoll-ziehbar. Im Bezirk „Stadtwerke“ trafen wir alle Bevölkerungsgruppen hinsichtlich Ge-schlecht, Alter und Nationalität an. Die Straßen wirkten in der Regel belebt, während in „Brands Busch“ kaum Leute zu Fuß oder mit Fahrrad unterwegs waren. Jedoch sah man sich hier häufig mit durchfahrenden Autos konfrontiert.

7. Zweite Begehung

Um unsere ersten Eindrücke abzusichern, noch nicht kommentierte Beobachtungen wei-ter zu verfolgen und die Beobachtungsperspektive zu variieren, führten wir eine zweite

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Begehung durch. Dabei beobachteten wir zu Fuß ausgewählte Straßen im Bezirk „Stadtwerke“ zwischen 9.45 Uhr und 12.15 Uhr. Ebenfalls zu Fuß beobachteten wir wiederum ausgesuchte Straßenzüge in „Brands Busch“ zwischen 15.30 Uhr und 18 Uhr1. Damit haben wir in beiden Bezirken, zumindest in den uns besonders interessie-renden Gebieten, sowohl am Morgen als auch am Abend einen Eindruck gewonnen, so dass eine Verzerrung bedingt durch unterschiedliche Tageszeiten weitgehend ausge-schlossen werden kann. Wir bechränkten uns auf ausgewählte Gebiete in den einzelnen Bezirken, weil wir diese für aussagekräftiger im Hinblick auf einen Kontrastvergleich hielten.

7.1 Weitere Beobachtungen zur Wohn- und Lebensqualität

Bei der erneuten Beobachtung bestätigten sich weitestgehend unsere Eindrücke der er-sten Begehung. Der Umstand, dass im Bezirk „Stadtwerke“ mehrere Straßen stark be-fahren werden und diese insgesamt belebter wirken, sorgt für einen höheren Lärmpegel im Bezirk „Stadtwerke“. Die höhere Verkehrs- und Industriebelastung schlägt sich hier auch in einer schlechteren Luftqualität nieder. Der Bezirk „Brands Busch“ ist dagegen durch seine Hanglage, seine zahlreichen Grünflächen und die Anordnung der Straßen und Art der Bebauung begünstigt.

Weil abseits der Detmolder Straße Geschäfte und Freizeiteinrichtungen weitestge-hend fehlen, nahmen wir auch in der nachmittäglichen Begehung nur eine geringe Zahl von Passanten wahr. Ein wesentlicher Grund der nicht motorisierten Fortbewegung scheint deshalb das Ausführen von Hunden zu sein. Mehrheitlich kann man die ange-troffenen Spaziergänger wahrscheinlich als Ausflügler bezeichnen, die nicht im Bezirk „Brands Busch“ wohnen, da insbesondere beliebte Ausflugsziele (Sparrenburg, Prome-nade, Café-Restaurant „Schöne Aussicht“) gut besucht gewesen sind.

Bei der Begehung im Bezirk „Stadtwerke“ begegneten uns wieder in gleichem Maße Ausländer und Deutsche, wohingegegen erwartungsgemäß z.B. Schüler nicht darunter waren. Viele Personen trafen wir in den großen Einkaufsmärkten in der Beckhausstraße und so gut wie gar nicht in den kleineren Läden an.

8. Auswertung beider Beobachtungen

8.1 Kommunikation und Interaktion

Fasst man beide Begehungen zusammen, so war zudem auffällig, dass man in den Stra-ßen im Bezirk „Stadtwerke“ Interaktionen und Kommunikationen häufiger bemerken konnte. Ziemlich oft unterhielten sich mehrere Personen auf der Straße oder kamen uns gemeinsam entgegen. Außerdem konnten wir nachmittags in Hinterhöfen und auf den Spielplätzen zahlreiche Kinder miteinander spielen sehen.

Man kann verschiedene Gründe annehmen, warum die Interaktion der Bewohner in „Brands Busch“ untereinander erschwert sein könnte. Geht man davon aus, dass Ge-

1 Die Gebiete der zweiten Begehung sind auf der Karte im Anhang markiert.

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schäfte als Interaktionsmittelpunkte in einem Bezirk fungieren, eine gleichmäßige Ver-teilung auf das gesamte Gebiet und eine weitgehende Übereinstimmung zwischen An-gebot und Nachfrage kommunikationsfördernd ist, lassen sich einige Unterschiede zwi-schen den Bezirken hervorheben. Wie bereits erwähnt, sind die Läden und Einrichtun-gen in „Brands Busch“ ausschließlich entlang der Detmolder Straße angesiedelt und auf eine Konsumentenzielgruppe ausgerichtet, die wahrscheinlich nicht dem „typischen“ Einwohner hier entsprechen dürfte.

Damit kommt dem Auto als Fortbewegungsmittel eine gegenüber Fahrrad und ÖPNV übergeordnete Funktion zu, wobei Fußgänger, wie erwähnt, eine verschwindend geringe Anzahl darstellen. Zum einen könnte das Auto dazu benutzt werden, die Ein-kaufsbedürfnisse in anderen Gebieten zu befriedigen. Andererseits müssen die verlän-gerten Kommunikationswege – da oben genannte Begegnungsstätten fehlen – zwangs-läufig mit dem Auto bewältigt werden. Im negativen Sinne wirkt sich diese Art von Mobilität auf die nachbarschaftliche Interaktion aus, wenn die meisten Besorgungen oder andere Erledigungen nur mit dem Auto durchgeführt werden und die Chance auf ein persönliches Gespräch auf der Straße oder vor der Haustür eingeschränkt wird.

Zusätzlich beeinträchtigt die Art der Bebauung und Bepflanzung der Grundstücke die Wahrscheinlichkeit, miteinander in Kontakt zu treten. Hohe Hecken, Zäune, über-haupt schwer zugängliche und kaum einsehbare Areale sind quasi kommunikations-hemmend. Eine distanzierende und vielleicht sogar abschreckende Wirkung geht z.B. auch von Alarm- und Sprechanlagen oder Kameras aus. Wir vermuten deshalb, dass die Kontaktnetzwerke in „Brands Busch“ aus den genannten Gründen eher nicht innerhalb der Nachbarschaft, sondern überregional bestehen, worauf auch die große Anzahl aus-wärtiger Autos im Bezirk deuten könnte.

Schaut man sich die Altersverteilung in „Brands Busch“ an (s. Abbildung 2), so er-kennt man, dass der Anteil derjenigen, die 60 Jahre und älter sind, fast 1/3 der gesamten Bevölkerung in diesem Bezirk ausmacht. Für diese Bevölkerungsgruppen entfällt somit oftmals die integrationsstiftende Wirkung von Arbeitswelt und Familienleben.

8.2 Status und Statussymbole

In unserer zweiten Begehung stießen wir auf einige Normen und Bewertungsmaßstäbe, die uns angesichts unterschiedlich ausgeprägter Merkmale in den beiden Bezirken auf-fielen.

Ein Beispiel für das Vorhandensein derartiger Normen liegt in der Betonung des je-weiligen Status. Um diesen zu unterstreichen, greifen die Bewohner in „Brands Busch“ zu anderen Symbolen als die Menschen im Bezirk „Stadtwerke“. Dies zeigt sich bei-spielsweise anhand der vorbeifahrenden oder parkenden Autos, die im Bezirk „Brands Busch“ von höherer Qualität, Preisklasse und Neuwertigkeit sind. Auch äußere Merk-male der Wohnungen und ihre Gestaltung spiegeln den Versuch wider, sich nach außen hin und voneinander materiell abzuheben. Beispiele dafür sind kunstvoll gefertigte schmiedeeiserne Eingangstüren, angebrachte Messingschilder, kurvenreiche Zufahrten und unterschiedlichste Baustile.

Im Gegensatz dazu fanden wir derart plakative Statussymbole im Bezirk „Stadtwer-ke“ nicht vor. Öffentlich sichtbar wird eine abgemilderte Form materiellen Status hier

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z.B. durch neue Gardinen, diverse Exponate in den Fenstern oder einige wenige neuere und größere Automodelle. Fehlende finanzielle Möglichkeiten zur Manifestierung eines materiellen Status legen den Verdacht nahe, dass andere, nicht direkt beobachtbare Formen benutzt werden, um den individuellen Status zu betonen. Gegenüber diesen po-sitiven Ausnahmen im Bezirk „Stadtwerke“ existieren eine Reihe negativer Auffällig-keiten in „Brands Busch“. Ein paar ältere und kleinere Fahrzeuge etwa durchbrechen das allgemeine Erscheinungsbild genauso wie „ungepflegte“ bzw. unangepaßte Vorgär-ten und Häuserfassaden. Zusammenfassend betrachtet, definiert sich der für uns sichtba-re Status in „Brands Busch“ anscheinend eher über materielle Werte, im Bezirk „Stadtwerke“ dagegen vermehrt über Ausdrucksformen, die weniger materiellen Cha-rakter haben, aber zeigen, dass Zeit, Mühe und Gedanken investiert worden sind. Insge-samt kann man aufgrund unserer Beobachtungen sagen, dass sich Status hier subtiler als in „Brands Busch“ zeigt. Dies kann sich beispielsweise auch durch einen großen Freun-des- und Bekanntenkreis im Viertel oder in einer sauberen und gefällig gestalteten Fen-sterfront zur Straße hin ausdrücken, weshalb wir im Bezirk „Stadtwerke“ eher von ei-nem „ideellen“ Status ausgehen.

Geht man diesen Gedankengang weiter, drängt sich folgende Interpretation auf: Das Streben nach Individualität ist demnach in beiden Bezirken vorhanden. Doch bleibt die individuelle Gestaltung in „Brands Busch“ nach außen hin auf Statussymbole be-schränkt. Ein stark ausgeprägter sozialer Vergleich innerhalb der Bewohnerschaft er-schwert die Umsetzung von kreativen Entscheidungen außerhalb vorgegebener Normen und Handlungsspielräume. Damit wird eine gewisse Nivellierung erreicht, und der Wunsch nach Individualität kehrt sich geradezu in sein Gegenteil um.

8.3 Räumliches Erleben

Abhängig von der jeweiligen räumlichen Lage, stellte sich bei der Begehung in den bei-den Bezirken auch ein wechselndes Raumempfinden ein. Aufgrund topographischer Ge-gebenheiten weist „Brands Busch“ eine ansteigende bzw. abfallende Geländeform auf. Die Hanglage, kurze Straßen und eine große bewaldete Fläche grenzen das Blickfeld des Betrachters nach vorn und zur Seite erheblich ein. Hohe Bäume oder sonstige Pflan-zen, große Einfahrtstore und sich hochschlängelnde Zufahrtswege verstärken das Gefühl der Einengung. Einen zusätzlichen Beitrag leisten außerdem schmale Straßen und Bür-gersteige, die oft zugeparkt sind. Sie wirken sich nicht nur restriktiv auf den Gesichts-kreis des Beobachters aus, sondern verlangen ihm auch eine erhöhte Aufmerksamkeit ab. Da es nämlich unmöglich ist, auf dem Gehweg nebeneinander zu laufen, keine Radwege vorhanden sind und die Straßen regelmäßig von Autos befahren werden, ist man als Verkehrsteilnehmer gezwungen, auf den Verkehr besonders zu achten.

Eine andere Perspektive erhält man hingegen bei der Durchquerung des Bezirkes „Stadtwerke“. Längere Straßen, eine übersichtlich angeordnete Bebauung und die zu-meist ebene Fläche lassen einen geräumigeren Blickwinkel zu. Zwar sind die Straßen auch hier ziemlich befahren; breitere Straßen und Bürgersteige und vorhandene Radwe-ge entlang der Hauptverkehrsstraßen lenken die Aufmerksamkeit aber nicht so stark auf den Verkehr wie in „Brands Busch“.

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8.4 Lärmempfinden

Beide Bezirke unterscheiden sich neben ihrem differenzierten räumlichen Erleben auch in ihren verschieden ausgeprägten Graden des Lärmempfindens. Obwohl die Geräusch-kulisse im Bezirk „Stadtwerke“ insgesamt höher ist und niemals völlig versiegt, wird die eigentlich ruhige Lage in „Brands Busch“ (abgesehen von der Detmolder Straße) durch einzelne Autofahrer immer wieder massiv gestört. Während man sich hier also auf jede neue Störung irgendwie vorbereiten muss, mag der permanent gegebene Lärm-pegel und eine annähernd gleichbleibende Verkehrsbelastung im Bezirk „Stadtwerke“ dazu beitragen, dass man sich an beide Beeinträchtigungen mehr oder weniger „ge-wöhnt“.

Lärmbelästigung und eingeschränktes Raumempfinden zusammen genommen sind zwar zwei Faktoren, die man als streßauslösend bezeichnen kann, doch lässt sich unter Berücksichtigung von Gewöhnungseffekten nicht endgültig entscheiden, in welchem Bezirk eine stärkere Streßbelastung vorliegt.

8.5 (Wohlstands-) Gefälle

Eine weitere Überlegung, die sich aus unseren Beobachtungen herausbildete und unsere bisherigen Ausführungen zum Raumempfinden um einen neuen wichtigen Aspekt kom-plettiert, bezog sich auf das festgestellte Vorhandensein sowohl eines physikalischen als auch eines parallel dazu verlaufenden Wohlstandsgefälles im Bezirk „Brands Busch“. Dieses Gefälle vollzieht sich über mehrere Abstufungen, wobei die Häuser an der obe-ren Hangseite (z.B. Furtwänglerstr., Händelstr.) elitären Charakter haben. In den Stra-ßen unterhalb dieser Ebene findet man Wohnungen, die dieses Niveau zwar nicht errei-chen, aber dennoch als gut situiert zu beschreiben sind (Lessingstr., Beethovenstr., Jo-seph-Haydn-Str.). Größe und Qualität der Grundstücke nehmen in den Straßen hinunter zur Detmolder Straße (z.B. Regerstr., Mozartstr., Lortzingstr.) schnell ab und erreichen entlang der Detmolder Str. schließlich ihr unterstes Niveau in diesem Bezirk. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass hier überwiegend Mietwohnungen den Bestand ausmachen.

Eine ähnliche soziogeographische Verteilung lässt sich auch auf das erweiterte Stadt-zentrum von Bielefeld übertragen. Betrachtet man die Bielefelder Entwicklung im historischen Zeitverlauf, fällt auf, dass die Grundstücke im nördlichen Gebiet der alten Altstadt entlang der Stadtmauer seit jeher kleiner waren und von sozial schwächeren Schichten bewohnt wurden als die südlichen Parzellen und die der „Neustadt“ (neue Altstadt südlich der Obernstraße). Während der Industrialisierung hat sich diese sozial-räumliche Verteilung in ihrer Tendenz auch außerhalb der Stadtmauer fortgesetzt. Ver-antwortlich dafür waren zum Teil topographische und meteorologische Einflüsse. Da man östlich der Altstadt flaches Gelände und mit Rücksicht auf die Windrichtung eine günstige Lage vorfand, gründete man hier die ersten Industrieanlagen. Im Umfeld dieser Betriebe sowie des später hinzukommenden und heutigen Hauptbahnhofes ließen sich vor allem Arbeiterfamilien nieder, während die reicheren Schichten die Gebiete west-lich der Bahntrasse und die sich südlich der jetzigen Altstadt erstreckende Hanglage be-

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vorzugten. Dieser Umstand hat sich bis heute erhalten, wenn man von dem Areal nord-östlich der Stapenhorststraße absieht.

8.6 Sicherheitsbedürfnis und Unsicherheitsgefühl

8.6.1 Rückzug in die Privatheit

Genauso wie sich die beiden Bezirke bezüglich ihres Wohlstandes unterscheiden, schei-nen auch Differenzen mit Blick auf das jeweilige Sicherheits- bzw. Unsicherheitsgefühl zu existieren. Obwohl sich in „Brands Busch“ eine recht homogene Wohlstandsdistribu-tion zeigt (die Bevölkerung der Detmolder Straße ausgenommen), was z.B. in der Grundstücksgröße oder dem Luxus der Bebauung zum Ausdruck kommt, gibt es hier ein offensichtlich starkes Streben nach Sicherheit bzw. ein großes Unsicherheitsgefühl. Belege dafür sind die schon erwähnten hohen Zäune, Mauern und Hecken bzw. sonstige Bepflanzungen, die kaum einen Einblick in die Grundstücke gewähren. Desweiteren sind die Eingänge zumeist durch Pforten oder Tore versperrt; das Anwesen selbst ist oft nur über einen längeren Fußweg erreichbar. Spezifische Vorsichtsmaßnahmen wie das Halten eines Hundes (vor dem z.B. auch mittels Hinweisschilder gewarnt wird), die In-stallation von Alarmanlagen oder Überwachungskameras oder häufig verschlossene Ga-ragen unterstreichen das Bedürfnis nach Sicherheit.

Wie bereits erwähnt, tragen solche Maßnahmen nicht gerade zu einem ausgeprägten kommunikativen Klima bei. Die Abschottung nach außen hin wirkt sich folglich auch negativ auf die soziale Kontrolle zwischen den Bewohnern des Bezirkes aus. Es ist eher unwahrscheinlich, dass z.B. intensive Kontakte der Nachbarn untereinander bestehen, da die Grundstücke oftmals undurchdringbar voneinander getrennt sind. Wenn man zu-dem die wenigen Menschen auf den Straßen in „Brands Busch“ berücksichtigt, setzt sich dieses Muster unzureichender sozialer Kontrolle auch hier fort. Gerade weil kaum Leute unterwegs und die Straßen in vielen Fällen von den Häusern aus nicht einzusehen sind, muss man davon ausgehen, dass eventuelle Vorfälle auf der Straße wahrscheinlich unbemerkt bleiben bzw. ignoriert werden.

Dieser Eindruck verstärkte sich bei unserer dritten Begehung, die zwischen 22 Uhr und 0 Uhr durchgeführt wurde. Bedingt durch die Art der Bebauung und Bepflanzung waren die Straßen meist ungenügend ausgeleuchtet, einige Fußwege sind überhaupt nicht erhellt. Hinzu kommt, dass viele dunkle und nicht einsehbare Nischen (geparkte Autos, Hauseingänge und -vorsprünge und das angrenzende Waldgebiet) und ein insge-samt fast menschenleer wirkendes Gebiet einen gewissen Grad an Bedrohung in sich bergen.

In Folge dessen kann man behaupten, dass wiederum ein Rückzug in die Privatheit stattfindet, der individuell mit Maßnahmen abzusichern gesucht wird – weil man nur noch sich selbst vertrauen kann. Dieses Mißtrauen schlug uns z.B. bei einer unserer Be-gehungen entgegen. So versteckte sich etwa eine Frau in ihrem Vorgarten hinter einem Busch und beäugte uns argwöhnisch, als wir das Grundstück passierten.

Eine weitere Erklärung für solche Abschirmungsversuche könnte auch in der starken Diskrepanz liegen, die zur Grenze des Bezirkes (Detmolder Straße) besteht. Möglicher-weise wird die Gefahr gesehen, dass die dort wohnenden Schichten im Laufe der Zeit

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ihren Wohnsitz hangaufwärts verlegen könnten und sich das „physisch manifestierte“ Wohlstandsgefälle nach oben hin verschiebt.

Die schon mehrfach angesprochene Altersverteilung liefert sicherlich ein zusätzli-ches, nicht unwesentliches Argument für die Tendenz, sich zurückzuziehen. Ein hoher Anteil von Personen mittleren und vor allem höheren Alters fürchtet sich vermutlich mehr vor Kriminalität, weil die eigene Unversehrtheit eher in Frage gestellt wird. Die statistischen Daten zum Familienstand (Tabelle 3) zeigen außerdem, dass wahrschein-lich ein hoher Anteil der Bevölkerung alleine lebt.

Tabelle 3: Familienstand

Stadtwerke (N=2574)

Brands Busch (N=2874)

männlich weiblich insgesamt männlich weiblich insgesamt

ledig 26,5 % 21,0 % 47,5 % 19,8 % 21,1 % 40,9 %

verheiratet 18,7 % 18,3 % 37,0 % 17,8 % 17,6 % 35,4 %

verwitwet 1,2 % 6,5 % 7,7 % 1,7 % 12,9 % 14,6 %

geschieden 2,6 % 3,3 % 5,9 % 3,3 % 4,2 % 7,6 %

getrennt lebend 1,1 % 0,9 % 1,9 % 0,6 % 0,9 % 1,5 %

insgesamt 50,0 % 50,0 % 100 % 43,2 % 56,8 % 100 %

Quelle: „Amt für Stadtforschung und Statistik“; Stichtag: 31.12.1998; eigene Berechnungen

8.6.2 Merkmale sozialer Desorganisation

Konform mit den vorigen Überlegungen zur Kommunikations- und Interaktionsdichte in den beiden Stadtgebieten weist die Tabelle 3 mit Rückgriff auf die Theorie sozialer Desorganisation für „Brands Busch“ einen ungefähr gleich hohen Anteil geschiedener und getrennt lebender Personen im Vergleich zum Bezirk „Stadtwerke“ auf – Merkma-le, welche durchweg häufig als Symptome für soziale Desorganisation angesehen wer-den. Unterstellt man die Richtigkeit der Theorie, so lässt sich daraus ableiten, dass, be-dingt durch die höhere Interaktionsdichte im Bezirk „Stadtwerke“ einerseits und durch eine geringere soziale Kontrolle im Bezirk „Brands Busch“ andererseits, insgesamt in beiden Gebieten zwar ein gewisses Ausmaß an sozialer Desorganisation vorliegen müß-te, qualitativ jedoch in sehr unterschiedlicher Ausprägung. In „Brands Busch“ dürfte daher die Isolation zunächst durch den höheren Wohlstand teilweise kompensiert wer-den. Sie kommt jedoch im unmittelbaren Wohnumfeld durch eine geringere soziale Kontrolle und ein höheres Bedrohungsgefühl zum Tragen.

Während sich im Bezirk „Brands Busch“ soziale Desorganisation erst auf den zwei-ten Blick zu erschließen vermag, nimmt man im Bezirk „Stadtwerke“ sog. „signs of in-civility“ recht schnell wahr. Dazu gehören leerstehende und verfallene (Fabrik-)Gebäu-de bzw. heruntergekommene Wohnungen und Gaststätten, Anzeichen von Vandalismus (defekte Telefonzellen, „broken windows“), zahllose Graffiti und Müll im Gelände.

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Hinzu kommen weitere Indikatoren: hohe ethnische Heterogenität oder ein bedeutsamer Anteil von Jugendlichen unter der Bevölkerung.

8.6.3 Zugänglichkeit und Offenheit

Dennoch scheinen die Bewohner im Bezirk „Stadtwerke“ dem Sicherheitsgedanken nicht so viel Bedeutung zu schenken. Dafür spricht die häufig zu beobachtende Unver-schlossenheit bzw. leichte Zugänglichkeit von Eigentum. Zu nennen sind beispielsweise oft unverschlossene Garagen, auf der Straße herumliegendes Spielzeug, meist unpro-blematisches Erreichen der Hauseingänge, teilweise geöffnete Türen oder (häufig un-verhangene) Fenster, so dass man in die Häuser hineinschauen kann, frei zugänglich aufgehängte Wäsche und wenig offensichtliche Kontrolle in den kleinen Geschäften.

Überhaupt hatten wir den Eindruck, dass vermehrt informelle Kontrollmechanismen zur Anwendung kommen (z.B. haben wir mehrere kleine Gruppen auf der Straße gese-hen, die sich unterhielten, oder lasen per Aushang in einem Fenster die Aufforderung, dass ein „entlarvter“ Fahrraddieb sich bis zu einer bestimmten Frist stellen solle).

Ebenso wie die räumliche Verteilung verschiedener Einrichtungen des alltäglichen Lebens über den gesamten Bezirk „Stadtwerke“ hinweg wahrscheinlich eher soziale Netzwerke ermöglichen wird, lässt die Beschränktheit der finanziellen Mittel eine völli-ge Abschottung der Privatsphäre auch gar nicht zu. Man ist also gezwungen, sich mit der Situation und mit den Leuten zu arrangieren, wenn man ihnen nicht „entfliehen“ kann. Der scheinbar sorglose Umgang mit Eigentum mag außerdem auf die Vordring-lichkeit anderer Probleme verweisen.

Auch hier haben wir das eigene Sicherheitsempfinden in einer Begehung von 22 Uhr bis 0.30 Uhr „getestet“. Vergleicht man beide nächtlichen Beobachtungen miteinander, fällt auf, dass zwar auch im Bezirk „Stadtwerke“ eine Vielzahl dunkler Nischen gege-ben ist; durch die direkt an der Straße liegenden Hausfassaden wird jedoch ein größerer Teil der Straßenbeleuchtung reflektiert, was einen insgesamt helleren Eindruck hinter-lässt. Darüber hinaus sind die Straßen wesentlich länger und stärker belebt; offene und beleuchtete Fenster erweckten den Anschein, nicht alleine unterwegs zu sein.

Die Sicherung des Besitzes und/ oder die Kriminalitätsfurcht stellt unserer Meinung nach neben der Einengung im Raum und Lärmbelästigung einen weiteren Streßfaktor dar, der ebenfalls die Wohn- und Lebensqualität einschränkt.

9. Diskussion

Ausgehend vom Konzept der Inklusion bzw. Exklusion, das sich für uns in einem ersten Schritt im Vorhandensein von Einrichtungen zur Deckung des täglichen Bedarfes ding-fest machte, mussten wir alsbald erkennen, dass sich Ausgrenzung anhand dieser ge-wählten Kategorien nicht bzw. nicht in der erwarteten Weise zeigte.

In einem zweiten Schritt zogen wir als einen weiteren Indikator für die Wohn- und Lebensqualität Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten heran. Hierbei zeigten sich inso-fern beträchtliche Unterschiede, als dass beispielsweise Grünflächen im Bezirk

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„Stadtwerke“ rar gesät sind, die Luftqualität in „Brands Busch“ hingegen deutlich bes-ser ist.

Als dritte Dimension nahmen wir den Zustand der Häuser und die Art der Bebauung hinzu, welche sich als konform mit unseren Erwartungen herausstellte: der Zustand in „Brands Busch“ ist besser, die Bebauung dünner.

Entgegen unseren Erwartungen stellt also eine auf den ersten Blick gegebene anspre-chende Wohnqualität nicht unbedingt auch eine allgemein zufriedenstellende Lebens-qualität dar. Ohne Zweifel sind die Bewohner in „Brands Busch“ aufgrund ihrer finan-ziellen Ressourcen eher in der Lage, in einem angemessenen Rahmen ihre Privatheit zu pflegen; andererseits gehen damit auch einige Nachteile einher. So sind z.B. die Mög-lichkeiten, gehobenere Konsumansprüche in der näheren Umgebung zu befriedigen, durch das Vorhandensein der Läden an der Detmolder Straße begrenzt, da deren Ange-bot auf eine andere Kundschaft ausgerichtet ist. Derartige Defizite werden durch eine erhöhte Mobilität auszugleichen versucht, welche sich in einem erhöhten Gebrauch des Automobils zeigt. Dagegen sind zumindest die Lebensmittelgeschäfte im Bezirk „Stadtwerke“ relativ bequem zu Fuß erreichbar – andere Institutionen, wie z.B. Ärzte, allerdings weniger.

Bei näherem Hinsehen hat die Wahl der Fortbewegung nicht zuletzt auch Auswir-kungen auf die mehr oder weniger stark zu beobachtende Interaktionsdichte in beiden Stadtvierteln1. Die ausgeprägte Betonung des Privaten sowie das Fehlen öffentlicher Treffpunkte hat in „Brands Busch“ zur Folge, dass die einzelnen Grundstücke sozusa-gen einen autonomen Inselstatus innehaben, wohingegen nicht zuletzt die höhere Dichte der Bebauung im Bezirk „Stadtwerke“ auch einen stärkeren Grad an Kommunikation nach sich zieht2.

Ähnliche Folgen ergeben sich auch im Hinblick auf soziale Kontrolle, die dort einge-schränkt zum Tragen kommt, „[...] wo ein Haushalt sich das leisten kann, engeren Nachbarschaftsbeziehungen auszuweichen, die erforderlichen Leistungen von anony-men Dienstleistern [...] beschafft werden und der weitere Verkehrskreis gegenüber der Nachbarschaft aufgewertet wird [...]“ (Hamm 1998, S. 175).

Die Vermeidung sozialer Kontrolle, die mit einem Rückzug in die Privatheit verbun-den ist, sorgt unserer Meinung nach aber auch für ein höheres Unsicherheitsgefühl unter den Bewohnern, da man sich nicht sicher sein kann, in Notfällen nachbarschaftliche Hil-fe zu erhalten.

Unsere Beobachtungen ergaben unterschiedlich starke Frequentierungen der Straßen in den jeweiligen Bezirken, welche sich mit einer milieuabhängigen Straßenbenutzung erklären ließen: „Ist sie für Gruppen von Besitz und Bildung überwiegend eine Fläche

1 „Wer arm ist, ist auch weniger mobil, für den wird Nachbarschaft ein zunehmend wichtiger Bezugs-

punkt“ (Hamm 1998, S. 177). 2 „Das Angebot von individuell und kollektiv zu nutzenden Einrichtungen schafft Gelegenheiten zu Akti-

vitäten und Kommunikation der Quartiersbewohner. Die räumliche Verteilung und Organisation dieser Nutzungsangebote ermöglicht oder verhindert sog. „passive Kontakte“ (Festinger) also unbeabsichtigte Begegnungen unter den Bewohnern, die aufgrund ihrer sozialen Situation und kulturellen Hintergrunds diese Kontakte ausfüllen“ (Herlyn 1998, S. 155). „Die größte Chance zu dauerhaften Sozialbeziehungen ist dann gegeben, wenn über ähnliche Interessen- und Lebenslagen hinaus die Mobilität gering bzw. wenn die Bindung an das Stadtviertelmilieu hoch ist“ (ebd.).

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zur Repräsentation und Demonstration des Erreichten, so stellt sich für arme Bevölke-rungsschichten der Straßenraum eher als Möglichkeit dar, den spezifischen Lebenszu-sammenhang immer wieder sichtbar zu erneuern“ (Herlyn 1998, S. 157). Während in „Brands Busch“ wahrnehmbarer Status vorwiegend auf materieller Ebene zum Aus-druck kommt, unterstreichen die Bewohner im Bezirk „Stadtwerke“ denselben auf sub-tilere Weise und eher über die oben angesprochenen „ideellen“ Werte, die die persönli-che Involviertheit sowie die Investition von Zeit und Mühe erkennen lassen.

Materieller Status ist nicht denkbar ohne das Vorhandensein von Kapital und den Wunsch, Macht zur Schau zu stellen. An dieser Stelle sei auf Bourdieu verwiesen, der den angeeigneten Raum als einen der Orte betrachtet, „[...] an denen Macht sich bestä-tigt und vollzieht, und zwar in ihrer sicher subtilsten Form: der symbolischen Gewalt als nicht wahrgenommener Gewalt [...], deren stumme Gebote sich unmittelbar an den Körper richten und von diesem [...] Respekt erhalten, der [...] aus der Distanz erwächst [...]“ (Bourdieu 1991, S. 27f.). Macht drückt sich damit sowohl in sozialer als auch phy-sischer Distanz der Einwohner untereinander, aber auch zu Besuchern aus, wobei etwa eine geringe physische Entfernung nicht unbedingt mit sozialer Nähe einhergehen muss. Daher wird durch die Art der Bebauung sowohl Faszination hervorgerufen als auch Ab-wehr alles Fremden: „Kapital – in seinen grundlegenden Formen: ökonomisches, kultu-relles, soziales – ermöglicht gleichermaßen, sich die unerwünschten Personen und Din-ge vom Leib zu halten wie sich den begehrten Personen und Dingen zu nähern und da-mit die zu ihrer Aneignung notwendigen Aufwendungen (zumal an Zeit) so gering wie möglich zu halten. Umgekehrt werden die Personen ohne Kapital physisch oder symbo-lisch von den sozial als selten eingestuften Gütern ferngehalten und dazu gezwungen, mit den unerwünschtesten Personen und am wenigsten seltenen Gütern zu verkehren“ (Bourdieu 1991, S. 30). Damit sind die Einwohner in bestimmten Bezirken in der Lage, mit ihrer zur Schau gestellten Exklusivität gleichzeitig eine (erwünschte) Exklusion zu erwirken. Es ist andererseits aber fraglich, ob eine zu beobachtende räumliche Nähe auch unausweichlich unerwünschten Kontakt bedeuten muss. Schließlich kann aufgrund verschiedener Merkmale im Bezirk „Stadtwerke“ nicht unbedingt von einer homogenen Bevölkerung ausgegangen werden. Zwar zeigen sich die Abgrenzungen voneinander hier nicht so deutlich, doch lassen subtile Äußerungen eines „ideellen“ Status oder die Beobachtung von nationalitätsspezifischen Gruppen auf der Straße den Schluss auf eine in sich differenzierte Bewohnerschaft zu.

Die Vorteile, die eine hervorgehobene Position mit sich bringt, werden von Bourdieu als Situationsrenditen bezeichnet, „[...] die sich ergeben aus der Ferne zu unerwünschten Dingen und Personen beziehungsweise durch die Nähe zu seltenen und begehrten Din-gen (Gütern und Dienstleistungen wie schulische, kulturelle und sanitäre Einrichtungen) und Personen (eine bestimmte Nachbarschaft impliziert Zuwachs an Ruhe, Sicherheit und so weiter)“ (Bourdieu 1991, S. 31). Die im letzten Absatz angeführte Sichtweise stimmt mit unseren Beobachtungen jedoch nicht überein, wenn man noch einmal an das unangemessene Angebot in den Läden entlang der Detmolder Straße und das aufkei-mende Unsicherheitsgefühl in „Brands Busch“ denkt.

Zu der Durchführung unserer Studie und ihren Ergebnissen ist sicherlich anzumer-ken, dass mittels einer anderen methodischen Herangehensweise andere Interpretationen als die hier beschriebenen denkbar sind. So hätte eine Befragung vielleicht den Befund

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erbracht, dass eine hohe Kommunikationsdichte auch ein großes Konfliktpotential in sich bergen kann und nicht schlechthin als positiv einzustufen ist. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass die Bewohner des Bezirkes „Brands Busch“ mit ihrer Wohnlage durchweg zufrieden sind und sich die sozialen Kontakte auf einer Ebene abspielen, die mit unserer Untersuchungsmethode nicht einsehbar waren. Unserer eventuell romanti-sierenden Sichtweise mag es zu verdanken sein, dass wir die offenkundig vorliegenden Nachteile der Wohnsituation im Bezirk „Stadtwerke“ verklärt haben. Ein negativer Im-puls für die weitere Entwicklung und das Leben in diesem Stadtteil könnte beispielswei-se von den relativ häufig beobachteten Geschäftsaufgaben ausgehen, da somit unserer Meinung nach wichtige kommunikative Mittelpunkte wegfallen, wodurch das Klima nachhaltig beeinträchtigt werden könnte.

Insgesamt betrachtet gehen wir aber davon aus, dass die auf den ersten Blick vorhan-denen Vorzüge und Nachteile in Bezug auf die Wohn- und Lebensqualität und damit Teile der Ein- und Ausschließungsmechanismen in den beiden Stadtbezirken bei nähe-rer Betrachtung sich vielschichtiger darstellen als zunächst vermutet.

Es ist daher fraglich, ob die ohne Zweifel gegebene gute Wohnlage in „Brands Busch“ auch mit einer uneingeschränkt zufriedenstellenden Lebensqualität gleichzuset-zen ist. Umgekehrt sind im Bezirk „Stadtwerke“ zahlreiche positive Faktoren beobacht-bar, die die zunächst ins Auge springenden Nachteile aufwiegen.

Literaturverzeichnis

Bourdieu, Pierre, 1991: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In: Wentz, Martin (Hrsg.): Stadt-Räume. Frankfurt a.M.: Campus: 25-34.

Hamm, Bernd, 1998: Nachbarschaft. In: Häußermann, H. (Hrsg.), Großstadt. Opladen: Leske + Budrich.

Herlyn, Ulfert, 1998: Milieus. In: Häußermann, H. (Hrsg.), Großstadt. Opladen: Leske + Budrich.

Kleining, Gerhard, 1995: Lehrbuch Entdeckende Sozialforschung, Bd. 1. Von der Her-meneutik zur qualitativen Heuristik. Beltz.

Kronauer, Martin, 1997: „Soziale Ausgrenzung” und „Underclass”: Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung. Leviathan, 25: 28-49.

Wilson, W. J., 1991: Public Policy Research and the Truly Disadvantaged. S. 460-481 in: Jencks, Ch./Peterson, P. (Hrsg.): The Urban Underclass. Washington D.C.

Anhang

Quellenverzeichnis:

• Amt für Stadtforschung und Statistik.

• Armuts- und Sozialbericht der Stadt Bielefeld 1998.

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Christian Flotho und Alexander Haarmann 29

• Gelbe Seiten regional für Bielefeld 1998/1999.

• Telefonbuch der Deutschen Telekom „Das Örtliche 1998/1999 für Bielefeld.

Lage der ausgewählten Stadtbezirke

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Das Sozialamt als Schauplatz für Ausschließung

Melanie Ahlemeier und Milena Kärtner

1. Problemstellung

„Der Kunde ist König“ entspricht einem altgedienten Sprichwort. Auf den Sozialämtern der Bundesrepublik Deutschland gibt es viele Kunden – ob sie sich von den einzelnen Sachbearbeitern jedoch wie kleine Könige behandelt fühlen, ist fraglich. Denn: „Mir kommt es so vor, als ob die auf dem Geld sitzen“, fasste ein junger Mann in Lederfran-senjacke, Jeans und Stiefeletten seine Meinung zum Thema Sozialamt, Sachbearbeiter und Service markant-prägnant zusammen.

Ähnlich wie diesem jungen Mann ging es während unserer Recherche im Sozialamt der Stadt Bielefeld weiteren Wartenden. „Man muss selbst sagen, was man braucht. Ex-tratips gibt’s hier nicht“, gewährte eine junge Frau mit einem vielleicht zweijährigen Kind im Arm Einblicke in die Realität des Sozialamts.

Blieben die Türen während der Gespräche zwischen den Sachbearbeitern und den Klienten für uns auch verschlossen, so hoffen wir dennoch, mit Hilfe der Kurzinter-views, welche wir nach einem Leitfadeninterview im weitesten Sinne führten, dem So-zialamt als potenziellem Ort für Ausschließungsprozesse ein wenig auf die Spur zu kommen. Zum Hintergrund: In der Literatur, beispielsweise bei Martin Kronauer, wird das Sozialamt als ein möglicher Ort beschrieben, in dem Ausschließungsprozesse statt-finden (Kronauer 1997).

Im folgenden werden wir zunächst die Aufgaben des Sozialamts vorstellen. Dabei werden wir auch auf die möglichen Angebote des Sozialamts eingehen.

Nach der Vorstellung eines theoretischen Konzepts von Ausschluss werden wir unse-re Methode erläutern. Anschließend stellen wir unsere Recherche vor. Danach gehen wir auf Ergebnisse, Besonderheiten und Probleme ein.

2. Sozialhilfe: Das Stichwort

Der historische Vorläufer der Sozialhilfe ist unter dem Begriff der Armenfürsorge be-kannt. Die gesetzliche Fürsorgepflicht wurde 1924 eingeführt (Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht von 1924), die am 30. Juni 1961 durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) abgelöst wurde. Während bis Ende Mai 1962 die Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts im Mittelpunkt des Fürsorgerechts stand, wandelte sich mit Einfüh-rung des BSHG auch der Schwerpunkt der staatlichen Unterstützung. Denn: Mit dem

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BSHG wurde der Schwerpunkt der Fürsorge von der Sicherung des reinen Existenzmi-nimums auf die Hilfe in besonders qualifizierten Bedarfssituationen verlagert. Ziel ist die persönliche Hilfe als umfassende, gezielte individuelle Betreuung und Beratung des Hilfeempfängers.

Der Individualisierungsgrundsatz sowie die freie Wahlentscheidung kennzeichnen die persönliche Hilfe. Laut Individualisierungsgrundsatz soll Sozialhilfe nicht nur eine Leistung sein, die nach unpersönlichen und abstrakten Maßstäben bemessen wird. Art, Form und Maß der Sozialhilfe richten sich nach der Besonderheit des Einzelfalls. In en-ger Verbindung zum Individualisierungsgrundsatz tritt auch die freie Wahlentschei-dung. Demnach soll unter besonderer Berücksichtigung des Sozialhilfeempfängers / der Sozialhilfeempfängerin auf deren Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfen ein-gegangen werden – solange diese „angemessen sind und keinen unvertretbaren Mehr-aufwand verursachen“ (Wenzel 1984, S. 3). Sozialhilfe soll möglichst nur vorüberge-hend gewährt werden.

Jedoch sind die Hilfeempfänger/innen laut Wenzel „nicht mehr Bittsteller“ (ebenda). Vielmehr wird den Hilfeempfängern/innen „ein klagbarer Rechtsanspruch auf Hilfe eingeräumt“ (ebenda).

Bei Wenzel (1984) findet sich eine gängige Bestimmung zur Funktion der Sozialhil-fe. Danach ist es Aufgabe der Sozialhilfe, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Menschenwürde entspricht. Die Sozialhilfe umfasst Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen. Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen individuellen Bedarf entspricht, vor allem ihn möglichst zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschlichen Lebens sichert. Dort indessen, wo Krankheit, Gebrechlich-keit, Alter und sonstige Behinderung nicht oder nicht mehr ausreichend die Aktivierung der Eigenkräfte ermöglichen, bleibt der Hilfeempfänger oft für die Dauer seines Lebens auf die Sozialhilfe angewiesen. Doch auch diese Hilfe soll nicht nur auf einzelne Lei-stungen und Verrichtungen zur Befriedigung materieller und pflegerischer Bedürfnisse bezogen sein, sondern zugleich auf die Überwindung der Isolation und die möglichst große Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft.

Laut BSHG erhält nur der Unterstützung, der die Pflichten des Hilfeempfängers – wie beispielsweise die Auskunfts- und Arbeitspflicht – akzeptiert. Genau an diesem Punkt versuchen wir anzusetzen. Die Auskunftspflicht schränkt die Bürger/innen in ih-rer Freiheit ein – und gerade das bildet ein wesentliches Element von Exklusion.

Andererseits bemüht sich die Sozialhilfe aber auch, den Ausschluss der Bürger/innen vom gesellschaftlichen Leben auszugleichen. Folgende Leistungen sind innerhalb der Sozialhilfe möglich: • Hilfe zum Lebensunterhalt (Regelsatz, Heizkosten, Krankenversicherung, etc.) • Sozialhilfe zur Ausbildung • Sozialleistungen für Schwangere, Alleinerziehende und arme Eltern • Leistungen für Flüchtlinge • Hilfe bei Schulden • Hilfe in besonderen Lebenslagen (Krankenhilfe, Hilfe im Haushalt)

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Ein besonders anschauliches Angebot ist unserer Meinung nach der sogenannte „Biele-feld-Pass“. Passinhaber/innen haben Anspruch auf Ermäßigung im öffentlichen Nah-verkehr, in Hallen- und Freibädern, Museen, Theatern etc. (aus der Broschüre „Wie komme ich an meine Sozialhilfe?, 1997).

Im folgenden Abschnitt gehen wir ausführlicher auf unser theoretisches Konzept von Ausschluss ein.

3. Konzeption von Ausschluss und Fragestellung

Für die Ausschließungsprozesse, denen wir mit unserer Recherche auf die Spur kom-men wollten, bilden Martin Kronauers Überlegungen und Definitionen den theoreti-schen Hintergrund (Kronauer 1997, S. 23-27). Sein Modell sieht drei Dimensionen so-zialer Ausgrenzung vor. Neben der ökonomischen wird die kulturelle Ausgrenzung an-gesprochen. Als dritte Dimension nennt er die Stigmatisierung.

In modernen Industriegesellschaften wird der Ausgrenzungsprozess vor allem durch Armut in Gang gesetzt. Die Zahl der auf diese Weise Ausgeschlossenen wächst, da in der heutigen Gesellschaft ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit existiert. Darunter sind immer mehr Langzeitarbeitslose, dauerhaft vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossene, und vermehrt Menschen, die nur einmal oder mehrere Male kurz in Armut und Arbeitslosig-keit geraten. Arbeitslosigkeit und Armut werden immer häufiger Bestandteil von Bio-graphien. Hier trifft der Begriff der Bastelbiographie von Beck-Gernsheim zu: Es gibt einen Ein- und Ausstieg in die Arbeitswelt, verschiedene Berufe wie auch Abschnitte von Arbeitslosigkeit können vorkommen (Beck-Gernsheim 1993).

Dies gilt auch für Bielefeld. Zur Verdeutlichung werden wir im folgenden Abschnitt vier ausgewählte Daten aus dem Bielefelder Armuts- und Sozialbericht vom 21. Okto-ber 1998 vorstellen.

Arbeitslosigkeit und Armut setzen eine Dynamik der Ausschließung in Gang. Das beginnt damit, dass Arbeit ein zentraler Integrationsmechanismus unserer Gesellschaft ist. Weitere Dimensionen, die sich daran anschließen, sind: • räumliche Ausgrenzung, d.h. das Leben in sozial weniger anerkannten Vorstädten

oder regelrechten Ghettos; • kulturelle Ausgrenzung, d.h. abgeschnitten zu sein von gesellschaftlich anerkannten

Verhaltensmustern und dadurch gesellschaftlichen Sanktionen unterworfen zu sein; • gesellschaftliche Isolation, d.h. entweder zu vereinzeln oder in einem bestimmten Mi-

lieu gefangen zu sein; • institutionelle Ausgrenzung, d. h. von Schulen, Vereinen etc.; • institutionelle Abhängigkeit von Arbeitsämter, Sozialämtern etc.

Arbeitslosigkeit allein führt nicht zur Ausgrenzung, da es die Möglichkeit gibt, sich in gesellschaftlich anerkannte Rollen wie Rentner/in oder Hausfrau zurückzuziehen. Je-doch ist sie – wie bereits oben erwähnt – Ausgangspunkt für eine Reihe von Ausschlie-ßungsprozessen.

Die für uns entscheidende Dimension ist die der institutionellen Abhängigkeit, da wir das Sozialamt als Ort unserer Recherche gewählt haben. Martin Kronauer bezeichnet

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Arbeits- und Sozialämter als Institutionen sozialer Kontrolle, die immer mehr über ge-sellschaftliche Einschließung und Ausschließung von Personen bestimmen. Integrierte Bürger/innen fürchten Sozialhilfebezug als ein Zeichen ihres sozialen Abstiegs und ih-rer sozialen Ausgrenzung (Kronauer 1997).

Uns interessierte, inwieweit die von uns vermutete soziale Ausgrenzung von Sozial-hilfeempfänger/innen im Sozialamt selbst sichtbar wird, hergestellt wird oder hörbar, spürbar ist. Unsere Indikatoren waren: • feindselige, abwertende Äußerungen über Sozialhilfeempfänger/innen; • Scham darüber, Sozialhilfe zu beziehen bei den Beziehenden selbst; • Klagen der Beziehenden über die Nachteile des Sozialhilfebezugs bzw. Klagen der

im Sozialamt Arbeitenden über den Kontakt mit den Beziehenden; • Hinweise darauf, ob die Räumlichkeiten des Sozialamts in irgendeiner Weise durch

Lage, Atmosphäre oder Ausstattung darauf hindeuten, dass hier Personen zusam-menkommen, die von der Gesellschaft als ausgegrenzt oder so gut wie ausgegrenzt betrachtet werden.

Unser Ziel war es herauszufinden, wie die Sozialhilfeempfänger/innen ihre Betreuung einschätzen und wie sie tatsächlich betreut werden. Dazu haben wir Interviews mit So-zialhilfeempfänger/innen und Sachbearbeiter/innen geführt sowie Beobachtungen des Geschehens auf den Fluren des Sozialamts angestellt. Die Sachbearbeiter/innen als die-jenigen, die im direkten Kontakt mit den Antragsteller/innen stehen, schienen uns be-sonders wichtige Akteure/innen gegenüber den Sozialhilfeempfänger/innen zu sein.

4. Operationalisierung der Variablen und Durchführung der Befragung und Beobachtung

Wir beschlossen, mehrere Beobachtungen im Sozialamt vorzunehmen, um dann ein bis zwei Sachbearbeiter/innen und mehrere möglichst verschiedene Personen (Alter, Art des Sozialhilfebezugs), die wir auf den Fluren des Sozialamtes als Wartende ausmachen konnten, zu interviewen.

Nachdem wir uns durch protokollierte Beobachtungen einen Überblick über die Räumlichkeiten sowie das System der Dienstleistungen im Sozialamt verschafft hatten, organisierten wir uns den Bielefelder Armuts- und Sozialbericht, um einen Überblick über generelle statistische Daten zum Sozialhilfebezug zu erhalten. Die Zahl der Sozial-hilfeempfänger steigt im Einzugsgebiet der Stadt Bielefeld seit Anfang der 90er Jahre kontinuierlich. Während im Jahr 1993 insgesamt 6.198 Personen bzw. Haushalte Sozial-hilfe erhielten, gewährte das Sozialamt im Jahr 1995 bereits 8.490 Personen/Haushalten Unterstützung. Zwei Jahre später, 1997, war die Zahl auf 9.398 gestiegen (Bielefelder Armuts- und Sozialbericht 1998: 21).

Auf dieser Grundlage bereiteten wir Fragen für die verschiedenen Interviews vor. Die Fragen für die Wartenden mussten darauf zugeschnitten sein, schnell beantwortet werden zu können, da wir keine andere Möglichkeit sahen, als die Leute während des Wartens anzusprechen bzw. nachdem sie aus den Zimmern der Sachbearbeiter/innen kamen. Dabei bestand im ersten Fall die Gefahr der Unterbrechung dadurch, dass War-

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tende aufgerufen wurden, im zweiten die, dass Leute genug Zeit beim Warten verloren hatten und nicht gewillt waren, sich noch länger als nötig im Amt aufzuhalten.

Wir wollten die Fragen in Bezug auf Ausschließung keinesfalls zu direkt stellen. Bei den Sachbearbeiter/innen rechneten wir mit viel Loyalität dem Sozialamt gegenüber, bei den Wartenden mit Unwillen, über Gefühle wie Scham und Ausgrenzung zu sprechen. Unsere Hoffnung war, dass einige Leute nach Fragen von uns, die erst formale Abläufe und dann vorsichtig persönliche Einschätzungen, Belange ansprachen, ins Reden kom-men bzw. „zwischen den Zeilen“ von Ausgrenzungserfahrungen berichten würden.

Die Fragen an die Sachbearbeiter/innen enthielten: Typisierung von Antragstel-ler/innen, Typisierung von Kollegen/innen, Nachteile durch Arbeit im Sozialamt (er-kennbar z.B. am Ruf des Sozialamts, Ausgaben für die Ausstattung der Abteilung), die Kenntnis der Sachbearbeiter/innen über die von ihnen bearbeiteten Stadtteile. Zwei Bei-spiele für unsere Fragen: „Denken Sie, dass Sie und ihre Kollegen/innen verschiedene Umgangsarten mit den Kunden/innen haben?“, „Wie kommen die Kunden zu ihrem Recht – helfen Sie mit Ihrem Fachwissen nach und zeigen Sie den Klienten alle ihnen zustehenden Möglichkeiten auf?“.

Die Fragen an die Wartenden beinhalteten: Die Einordnung des Gangs zum Amt und des Wartens als lästig, erniedrigend (die Wartezeiten betragen zwischen 30 Minuten und zwei Stunden) o.ä.; die Einschätzung, ob Sachbearbeiter/innen sich genügend Zeit neh-men, gut informieren etc., und schließlich, ob und welche Form von Kontakt es mit an-deren Wartenden gibt, um zu erfahren, wie andere Personen in ähnlicher Lage beurteilt werden. Beispiele: „Wie fühlen Sie sich von den Sachbearbeiter/innen betreut?“, „Wie schätzen Sie deren fachliche Kompetenzen ein?“.

Eine kurze Erklärung zu unserer Vorgehensweise: Während die eine die Fragen stell-te, protokollierte die andere. Bei den Beobachtungen haben wir uns beide Notizen ge-macht. Anschließend werteten wir die Protokolle und Beobachtungsnotizen systema-tisch aus.

5. Ergebnisse: Rechercheprotokoll

Seit der Umorganisation im Jahr 1998 sieht sich das Sozialamt der Stadt Bielefeld nach Aussage von Sozialamtsmitarbeiter Peter Kämper „als ein modernes Dienstleistungs-zentrum“. Transparenz vermittle zugleich mehr Bürgernähe, meint Kämper. Von der Transparenz geschweige denn von der Bürgernähe haben wir während unserer Recher-che nur wenig bemerkt. Vielmehr erweckt das von uns erforschte Dienstleistungszen-trum Mitte-West (Kesselbrink, Dürkopp, Siegfriedsplatz) den Eindruck, als sei das Sy-stem Sozialhilfe so leicht nicht zu durchschauen.

5.1 Beobachtungen und Gespräche mit den Wartenden

Am 11. Mai, dem Tag unserer ersten Beobachtungseinheit, mussten wir feststellen, dass sich die Geschäftigkeit im Sozialamt Bielefeld so einfach nicht erfassen und greifen lässt. Von der einfachen Sachbearbeiterin wurden wir zur Teamleiterin geordert, die kommandierte uns – nach einem zeitintensiven Suchen in ihren verstreuten Unterlagen

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– zum Datenexperten Peter Kämper, der sich – laut Aussage der Teamleiterin – „lange Jahre mit irgendwelchen Statistiken zum Thema Sozialhilfe beschäftigt hat“. Wirklich weiter kamen wir mit Kämpers Aussagen jedoch nicht. Zwar erhielten wir jeweils ein Exemplar des Armuts- und Sozialberichts der Stadt Bielefeld. Neue und zugleich nen-nenswerte Erkenntnisse gewannen wir hingegen nicht.

Wir stützten uns auf unsere Beobachtungen und versuchten, aus dem Agieren der Wartenden Rückschlüsse auf die Gewährung von Sozialhilfe zu ziehen. Ein schwieriges Unterfangen. Denn: Gespräche unter den Wartenden fanden während unserer mehrma-lig angesetzten Beobachtungstermine nur marginal statt, und selbst bei einer direkten Ansprache der Wartenden („Dauert das Warten hier immer so lange?“) wurden uns nur knappe Antworten entgegengebracht. Das geschäftige Treiben der Sachbearbeiter auf den Fluren des Sozialamts, was möglicherweise als ein engagiertes Bemühen der zu-ständigen Beamten um die Sozialhilfeempfänger/innen gedeutet werden könnte, ließ keine eindeutigen Rückschlüsse zu.

Dazu ein Beispiel. Während unserer Beobachtungen konnten wir feststellen, dass ei-nige Sachbearbeiter/innen häufig und zumeist sehr schnell den Flur mit dessen acht Wartezonen durchquerten. Unsere Vermutung, der schnelle Gang über den Flur könne ein Zeichen des intensiven Bemühens um die Kunden/innen sein, bewies sich als nicht haltbar. Denn: Anstatt wichtige Unterlagen für den jeweiligen Kunden zu sammeln, hat-ten die einzelnen Sachbearbeiter nur ein Ziel vor Augen – den Kopierer im gesicherten Glashäuschen im Empfangsvorraum.

Der zweite mehrstündige Aufenthalt im Sozialamt ermöglichte uns am 18. Mai zwar viele neue Beobachtungen. Wahre Erkenntnisse blieben uns allerdings auch bei den Be-obachtungen an diesem Vormittag verborgen. Wir konnten sehen, dass sich die Warten-den artig anstellten und sich niemand vordrängelte, um möglichst schnell einen Sachbe-arbeiter sprechen zu können. Unsere Fragen, wer berechtigt ist, mit einer Spezialkarte Geld aus dem Geldautomaten in der Eingangshalle des Sozialamts abzuheben, konnten an dieser Stelle mittels der einfachen Beobachtung nicht beantwortet werden. Den Vor-mittag des 8. Juni nutzten wir, um Wartende direkt „vor Ort“ zu befragen. Dabei stießen wir auf unterschiedlichste Typen. Von der jungen Familie bis hin zum Lkw-Fahrer, der mit zu viel Alkohol im Blut am Steuer erwischt wurde und daraufhin seinen Führer-schein verloren hatte, lernten wir Menschen kennen, die auf unterschiedlichste Weise auf unsere direkten Ansprachen und damit verbundenen Fragen reagierten.

In den Wartezonen konnten wir ungestört unsere Recherche vornehmen. Die War-tenden sprachen uns gelegentlich an, ob wir vor bestimmten Zimmern warteten. Wir verneinten. An unserer Arbeit gehindert wurden wir nicht. Die Wartenden waren uns gegenüber relativ aufgeschlossen. Sie antworteten zum Teil recht freundlich, wobei sie sich in ihren Antworten kurz hielten. Es schien, als ob sie auf weitere Fragen gerne ge-antwortet hätten, allerdings wurden sie von sich aus nicht sehr ausführlich.

5.2 Gespräch mit der Sachbearbeiterin

Wir mussten kreativer werden, um den Ausschlussprozessen im Sozialamt auf die Spur zu kommen. Also formulierten wir im nächsten Schritt Fragen für die Sachbearbei-ter/innen. Parallel versuchten wir, vom verantwortlichen Leiter die Erlaubnis für Inter-

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views mit Sachbearbeiter/innen zu bekommen. Nach einem kurzen Telefonat mit dem Betriebsleiter stand fest, dass er vorab die Fragen, die wir seinen Mitarbeitern stellen wollten, in schriftlicher Form sehen wollte. Aufgrund einiger sensibler Fragen erhielt er von uns ein formloses Schreiben mit dem Inhalt, wir würden allgemeine Fragen zum Thema „Soziale Arbeit“ stellen. Die Genehmigung wurde uns – nach Zusicherung der Anonymität – erteilt.

Nach der Genehmigung durch den Leiter haben wir Kontakt zu einer Sachbearbeite-rin aufgenommen, die übrigens auch unsere einzige Interviewpartnerin geblieben ist. Wir hatten sie bereits während unserer ersten Beobachtung kurz angesprochen. Sie war schon vom Betriebsleiter über unsere Befragung informiert worden. Wir vereinbarten einen Gesprächstermin für Mittwoch, 9. Juni, 8 Uhr.

Der Druck von oben in Gestalt des Betriebsleiters wirkte sich während unserer Re-cherche natürlich auch auf die von uns interviewte Sachbearbeiterin aus. Die junge Frau gab sich während des Gesprächs zwar – entgegen unseren Erwartungen – relativ locker. Dennoch wurde sehr schnell klar, dass wir uns mit einer Sachbearbeiterin verabredet hatten, die sehr gewissenhaft ihrer Arbeit nachgeht. Denn: Die von uns gestellten sensi-blen Fragen beantwortete die Sachbearbeiterin ebenso neutral wie die von uns formu-lierten allgemeinen Fragen. Dass die Identifikation der jungen Frau mit ihrer Arbeits-stätte vorhanden ist, verdeutlicht das im Gespräch immer wieder gesagte „wir“. Statt einer Antwort aus der Sicht ihrer Person erhielten wir also Antworten aus Sicht des So-zialamts.

Rein inhaltlich waren die Antworten der Sachbearbeiterin nicht ergiebig. Ein Bei-spiel: Auf unsere Frage „Denken Sie, dass Sie und Ihre Kollegen verschiedene Um-gangsarten mit den Kunden/innen haben?“, erhielten wir lediglich die kurze Antwort „Ja, die haben wir.“ Auch unsere weiteren Fragen wurden entweder abgeschmettert oder nur auf der Ebene formaler Kriterien beantwortet. Ein Beispiel dafür: Auf unsere Frage nach unterschiedlichen Typen unter den Kunden/innen teilte sie uns lediglich die für das Gesetz relevante Unterscheidung zwischen Alleinerziehenden und Familien mit.

Unsere Recherche gestaltete sich damit an einigen Punkten bürokratischer als erwar-tet. Allein die Tatsache, dass das Gespräch mit der Sachbearbeiterin vom zuständigen Betriebsleiter „abgesegnet“ werden musste, spricht für sich.

5.3 Ergebnis: Wieviel Ausschließung findet tatsächlich statt ?

Wir müssen festhalten: Im Sozialamt lassen sich Ausschließungsprozesse nicht so deut-lich feststellen. Wir haben keine Antworten bekommen wie zum Beispiel: „Ja, ich schäme mich wegen meines Sozialhilfebezugs, fühle mich an den Rand der Gesellschaft gedrängt“ oder „Ja, manche von denen, die hier hinkommen, sind wirklich asozial“ oder, „Ja, ich kann nicht alle Dinge tun, die ein normaler Mensch tun sollte.“

Es ist keinesfalls so, dass im Sozialamt eine kalte, völlig ungemütliche Atmosphäre herrschen würde, so dass also sozusagen den Leuten, die sich als Sozialhilfeempfänger am Rand der Gesellschaft befinden oder in Gefahr sind, dorthin abgedrängt zu werden, ein hoffnungsloses, abwertendes oder sonst irgendwie sehr negatives Umfeld zugemutet würde.

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Es scheint eher so zu sein, dass sich die im Sozialamt Arbeitenden bemühen, eine halbwegs freundliche und persönliche Atmosphäre herzustellen. Wir schlossen dies aus Gesprächsteilen, Blicken und den Auskünften der Befragten. Die Wartenden zum Bei-spiel formulierten selbst, dass sich die Sachbearbeiter/innen „schon bemühen“ würden; und so etwas wie Feindseligkeit von einer der beiden Seiten gegen die andere ist uns während unserer Befragung nicht aufgefallen. Auch die Art, wie neu hinzukommende Personen sich bei bereits Wartenden erkundigen, wo z. B. welche Dienstleistung zu fin-den ist, scheint geprägt von gegenseitiger Rücksichtnahme, ab und zu auch mal von ge-genseitigem Interesse, was uns die Befragten auch – immerhin – teilweise bestätigten.

Andererseits gab es aber auch die Äußerung einer Befragten: „Hier interessiert sich keiner für den anderen“. Dies könnte für die Anonymität einer großen, bürokratisch ge-prägten Institution sprechen oder dafür, dass Personen sich selbst als isoliert, vereinzelt von anderen und übertragen, auch isoliert von der Gesellschaft, empfinden, wenn sie auf diesem Amt sind.

Weitere Äußerungen sprechen fast für sich: „ Nee, man muss selbst sagen, was man braucht“, „Am besten haste ’n Buch dabei, wo alles drinsteht“. Daraus schließen wir, dass die Situation, als Bittsteller zu den Sachbearbeiter/innen zu kommen und von die-sen anfänglich keine Unterstützung zu erhalten, durchaus eine Ausschlusserfahrung sein kann.

Fazit: Das Sozialamt begreift sich also einerseits als „modernes Dienstleistungszen-trum“. Dies zeigt sich u.a. in dem geschäftigen Eilen der Sachbearbeiter/innen auf den Fluren für die Kunden/innen.

Andererseits werden die Kunden/innen nicht zur Selbstständigkeit ermutigt, sondern bewusst in der institutionellen Abhängigkeit gehalten. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Äußerung: „Am besten haste ‘n Buch dabei, wo alles drinsteht.“ Die Kunden/innen werden nicht erschöpfend aufgeklärt, sondern nur über das Nötigste informiert. Außer-dem bindet die oben erwähnte Auskunftspflicht die Sozialhilfeempfänger/innen zusätz-lich an die Institution. Entgegen dem eigentlichen Anliegen des Sozialamts, Menschen bei ihrer aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu unterstützen, produziert die Institution Sozialamt leider auch eine gehörige Portion Ausschluss.

6. Kritische Betrachtung unserer Vorgehensweise

Unsere Fragen wurden zwar beantwortet, aber tatsächlich nur sehr knapp. Dabei blieben die Sachbearbeiter/innen wie auch die Wartenden hauptsächlich auf der formalen Ebe-ne. Unsere Fragen deckten im Wesentlichen diese formelle, technische Ebene ab.

Ein weiteres Ergebnis unserer Recherche ist, dass auf der von uns hauptsächlich ab-gefragten formal-technischen Ebene kein Ausschluss festgestellt werden kann bzw. die Brisanz des Themas Sozialhilfe nicht zu erfassen ist. Entweder verhindert Loyalität Be-richte von Ausschließungen, oder die Leute kommen nicht darauf, neben den formalen Anforderungen dieser großen Institution etwas über ihre persönlichen Gefühle und Wahrnehmungen zu berichten. Über die Gründe können wir nichts Endgültiges sagen.

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Es ist aber deutlich geworden, dass man zuerst andere Fragen stellen müsste. Zum Bei-spiel solche, die deutlicher auf negative Gefühle, Belastungen und ähnliches eingehen.

Im Zusammenhang mit der eventuellen Loyalitätsproblematik wäre zu überlegen, ob nicht Personen im Amt befragt werden sollten, die in der Hierarchie höher stehen. Unter Umständen wären diese bereit, etwas freier über ihre Arbeitsbedingungen und die Kundschaft zu sprechen.

Sicherlich waren die Befragungssituationen insgesamt nicht sehr günstig. Die An-tragsteller/innen standen häufig unter Zeitdruck oder waren – wie schon erwähnt – von der Warterei sehr angestrengt. Das bedeutet, wir konnten manche Befragung nicht zu Ende führen oder erhielten deswegen sehr kurze Antworten. Die Sachbearbeiterin wur-de unserem Eindruck nach vermutlich durch die vertraute Arbeitsumgebung gehemmt. Es würde eventuell Sinn machen, diese Befragungen möglichst außerhalb des Arbeit-sumfeldes vorzunehmen.

Die zunächst geplante Typisierung der Sozialhilfeempfänger/innen mussten wir auf-geben, da die Gruppe der Kunden/innen zu heterogen ist. Mit Hilfe der Aussagen der Sachbearbeiterin können die Kunden/innen nach alt, jung, mit und ohne Kinder etc. ein-geteilt werden. Diese Einteilung bringt uns aber in unserer Fragestellung nicht weiter.

Wir haben mit unserer Recherche vor allem Anhaltspunkte gewonnen, an welchen Punkten man ansetzen könnte, um auch auf anderen Ebenen oder in anderen Dimensio-nen Ausschluss zu erfassen. Außerdem ist deutlich geworden, dass es im Sozialamt ebenso bürokratisch zugeht wie in anderen Ämtern, was die Menschen und ihre Kom-munikation unserer Meinung nach immer mitbeeinflusst. Unsere Schwierigkeiten beim Zugang sowie die Zurückhaltung der Befragten dabei, Persönliches in ihre Antworten einfließen zu lassen, hängen hiermit zusammen.

Literatur

Bücher:

Beck-Gernsheim, Elisabeth; Beck, Ulrich, 1993: „Nicht Autonomie, sondern Bastelbio-graphie“. Zeitschrift für Soziologie 3: 178-187.

Bielefelder Armuts- und Sozialbericht, 1998: „Ausgewählte Daten zur Vorbereitung auf die Fachkonferenz. Perspektiven der Sozialen Stadt“. Stadtverwaltung Bielefeld.

Häußermann, Hartmut (Hrsg.), 1998: „Großstadt – Soziologische Stichworte“. Leske und Budrich, Opladen.

Kronauer, Martin, 1997: „Soziale Ausgrenzung“ und „Underclass“: Über neue Formen der Gesellschaftlichen Spaltung. Leviathan 25: 28-49.

SGB, Sozialgesetzbuch, Hrsg.: Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Berlin, 28.Auflage: 1999.

Wenzel, Angelika, 1984: „Verstehen und Verständigung in Gesprächen am Sozialamt“ – Eine empirische Untersuchung. Reihe Germanistische Linguistik.

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Broschüren:

„Wie komme ich an meine Sozialhilfe?“, 1997: Bündnis 90 / Die Grünen (Hrsg.), Selbstverlag.

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II. Die Fremden

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Als Kundin in Nobelgeschäften

Sibel Dalman

Nasreddin Hodscha wird beim Bürgermeister zu einem Festessen eingeladen. Der Hodscha denkt an das leckere Essen und an die Festlichkeiten nach dem Essen und freut sich über die Einladung. Die Tage vergehen und der große Abend ist da. Hodscha geht gut gelaunt zum Haus des Bürgermeisters. Er wird vom Bedienste-ten zum Salon geführt, in dem sich die anderen Gäste aufhalten. Hodscha merkt sofort, dass er zu leger für so eine Festlichkeit angezogen ist, aber bevor er han-deln kann, wird er von den anderen bemerkt. Hodscha, der sich unter die Gäste mischt, wird von diesen und dem Gastgeber entweder gar nicht beachtet oder ge-mieden. Beim Essen wird diese Haltung ihm gegenüber fortgeführt. So endet der Abend für den Hodscha vorzeitig, weil er sich gezwungen sieht, die Festlichkeit zu verlassen. Nach einiger Zeit wird der Hodscha wieder zu einem Festessen beim Bürgermeister eingeladen. Diesmal ist der Hodscha vorbereitet. Er zieht seinen schönsten Pelzmantel an und besucht den Bürgermeister zum zweiten Mal. In dem Salon angekommen, kommen die anderen Gäste auf ihn zu und begrüßen ihn herz-lich. Beim Essen wird er vom Bürgermeister auf dem Ehrenplatz platziert. Als das Essen serviert wird, tupft der Hodscha sein Mantelsaum in das Essen und sagt dabei: ‚Iss Mantel, iss, das alles gebührt nur dir’.

Nasreddin Hodscha

(türkischer Satiriker, lebte im 13. Jahrhundert)

1. Vorwort

Nicht nur in dieser türkischen Volkssatire wird die sachliche Feststellung klar, dass sehr oft Menschen nach dem äußeren Anschein behandelt werden, sondern auch in vielen anderen Nationalitäten wird davon gesprochen, dass „Kleider Leute machen“.

Meine Untersuchung beschäftigt sich mit Ausschließungsprozessen im Konsumbe-reich. Konkret ging es darum, wieweit eine bestimmte Kleidung, aufgrund derer ein Mensch einer bestimmten Gruppe zugeordnet wird, Ausschließungsprozesse in Gang setzt.

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2. Einleitung

Im Alltag lassen sich verstärkt Situationen beobachten, die auf zunehmende Ausschlies-sungsprozesse zurückzuführen sind. In den alltäglichen Interaktionen, wie z.B. im Ge-schäft, auf der Straße, im Park oder in der Kneipe kommt es zu konkreten Diskriminie-rungen. Der Alltag bietet eine besondere Projektionsfläche, weil er Eigentümlichkeiten offenbart, die in institutionellen Interaktionen nicht sichtbar werden können. Wie schla-gen sich solche Prozesse beim alltäglichen Einkaufen nieder? Wie reagieren Verkäufe-rinnen/Verkäufer, wenn sie mit einer „ausländischen“ Käuferin konfrontiert werden?

Hier berichte ich von einem Selbstexperiment in der Bielefelder Innenstadt, das ich in vier Nobelboutiquen durchführte. Es ist klar, wer in solchen Nobeleinrichtungen von sozialer Ausgrenzung betroffen sein könnte, denn solche Geschäfte sind durch eine ei-gene kulturelle Ordnung gekennzeichnet. Sie sind auf eine sehr zahlungsfähige Kund-schaft eingestellt und werden dazu tendieren, solche Personen auszugrenzen, die dieses Kriterium nicht erfüllen. Solche Einrichtungen bleiben meist in ihrem eigenen idyl-lischen Rahmen und selektieren ihre Kunden nach einem eigenen System von Bewer-tungen und Einschätzungen. Natürlich gelten die Selektionsmaßstäbe in solchen Ge-schäften nicht nur für muslimische Frauen oder überhaupt für Fremde. Es sind vor allem auch weitere soziale Schichten von diesen Selektionskriterien betroffen, wie z.B. die „sozial Schwächeren“. Daher ist es wichtig, die Zugehörigkeit zur Schicht oder zu einer weniger bemittelten Gruppe im Experiment weitgehend zu kontrollieren. In meinem Experiment ging es viel mehr darum, wie Kundinnen, die sich durch das Aussehen von dem westlichen Frauenbild unterscheiden, bedient werden. Zwei Fragen standen im Vordergrund: erstens, signalisiert ein Kopftuch, dass die Trägerin „nur“ zu einem ande-ren Kulturkreis gehört oder zweitens auch gleichzeitig, dass sie deutlich über ein gerin-geres Einkommen verfügt? Man kann eine bekennende und praktizierende muslimische Frau sein, ein Kopftuch tragen und trotzdem einen akademischen Beruf mit einem ho-hen Einkommen ausüben. Auch wenn es heißt: „Die Türken tun die Arbeit, die Deut-schen studieren Innenarchitektur oder Soziologie.“ (Esser 1993).

3. Theoretischer Rahmen

Prestigedifferenzierungen und Vorurteile sind die wichtigsten Konzepte in dem zur Un-tersuchung ausgewählten Kontext der Ausschließung. Hier geht es um die Rolle der Einschätzung des äußeren Anscheins und den Zusammenhang zwischen Vorurteilen und Diskriminierung von Fremdgruppen, die sich in einer ethnozentrischen Gesellschaft ergeben.

In den westeuropäischen Ländern gilt das Kopftuch als zentrales Symbol traditionali-stischer, nicht-europäischer und unaufgeklärter Geistes- und Lebenshaltung. So wird ein Mädchen, das irgendwann ein Kopftuch trägt, als „Opfer der religiösen Vorstellungen der Eltern“ angesehen. Das Kopftuch gilt somit auch als Zeichen des Fremden und Be-fremdenden. Diese herrschende Meinung hat ihre Ursachen vorwiegend in der abwer-

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tenden Einstellung gegenüber fremden Gruppen, insbesondere auch dem Islam gegen-über, die in den Vorurteilen über diese zumeist zum Ausdruck kommt.

Westlicher Ethnozentrismus, Kulturrassismus und Fortschrittsglaube prallen auf fremde Kulturen und Religionen. Es wird geforscht, geschrieben, in den Medien berich-tet und somit wird ein Bild vom Fremden entworfen, von seinen Sitten, Gepflogenhei-ten, Eigenarten. Anschließend weiß man, wie sie sind. „Als Fremde“ steht man dann vor diesem Bild und versucht, sich darin wiederzufinden. Es gelingt aber nicht. Mir zumin-dest nicht. Dann heißt es: „Du bist keine richtige Türkin“ oder weil ich kein Kopftuch trage und ein Piercing habe, heißt es: „Du bist aber ziemlich modern für eine Türkin“1.

Eine türkische Soziologin hat das einmal folgendermaßen zusammengefasst: „Sie muss unterdrückt sein, Kopftuch tragen, dick sein, aber im Einklang mit ihrem Körper leben, viele Kinder haben, einen total autoritären Vater haben, schwarze Haare und keine Berufsausbildung...“

Dieses Vorurteil stimmt mit der Realität nicht überein. Das kann ich aufgrund meiner Erfahrung in meinem persönlichen Lebensbereich und in meinem Umfeld bestätigen.

In einer Publikation von Baumgartner und Landesberger (1978, S.20) wird die Klei-dung der türkischen Frauen wie folgt beschrieben: „Die Kleidung der Frauen, die in der Bundesrepublik Deutschland auf Ablehnung und Spott stößt und als Grad für ihre Nichtanpassung gewertet wird, erscheint hier [in der Türkei] anders. Die Frauen sehen sehr schön aus in ihren weißen Kopftüchern, ihren bunten geblümten Blusen und ihren Plunderhosen[...]“

Obwohl die Aussagen der Autorinnen der Veranschaulichung dienen sollen, könnte ihre Darlegungsform als Deklassierung angesehen werden. So wie ich es verstehe, möchte die Autorin klarstellen, dass das, was die „zivilisierte“ Gesellschaft als ge-schmacklos empfindet, in der Türkei als schön empfunden wird. Die Eigenart der Klei-dung jeder Nation ist, soweit ich weiß, in den Fachlexika als Folklore bezeichnet und nicht als „geschmacklos“.

Eine andere Autorin schreibt (Franger 1984, S.102): „Wir empfinden Kopftuch und Verhüllung vieler türkischer Frauen als fremdbestimmt B sie dagegen sind entsetzt über die zum Sexualobjekt degradierte, enthüllte westliche Frau, wie sie sich in Film, Wer-bung und Illustrierten darstellt“. Gaby Franger stellt in diesem Aufsatz ihr Frauenbild von der deutschen Frau dem der türkischen Frau gegenüber. Jedoch nicht nur in Deutschland oder in der Türkei, fast überall wird die Frau auf ihr Geschlecht reduziert, wenn es darum geht, mit ihrem Körper Seife, Klatsch oder Pornos zu verkaufen. Damit ist die „Degradierung der Frau zum Sexualobjekt“ (Franger 1984) eine der Gemeinsam-keiten, die wir haben. Eine sehr interessante Untersuchung wurde von Metzger und He-rold über die Sexualität und die Rolle der Frau in der türkischen Gesellschaft durchge-führt. In dieser Untersuchung wird auch der Geburtsverlauf bei türkischen Frauen be-schrieben. Dabei kategorisierten sie die Frauen danach, ob sie eher der modernen west-lichen Zivilisation angepasst waren oder eher dem traditionellen Bild der türkischen Landfrau entsprachen.

Merkmal der „türkischen Landfrau“ war für das Autorenpaar das Kopftuch, denn es dient als Maßstab für die Kategorisierung, „traditionell“ und „modern und angepasst“.

1 So ein Professor der Soziologie in Bielefeld

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Das Kopftuch ist keineswegs eine Tradition der türkischen Frau. Vielmehr ist das Kopf-tuch ein Bestandteil der Kleidung einer muslimischen Frau und nicht ihr Statussymbol. Die ethnozentrische Sichtweise, von der hier die Rede ist, definiert eine Eigengruppe, die sich von der Fremdgruppe unterscheidet. Was die Grenzziehung zwischen Eigen-gruppe und Fremdgruppe, zwischen „Wir“ und den „Anderen“ betrifft, kann als eine „kognitive Grenzdefinition“ und eine „evaluative Grenzdefinition“ bezeichnet werden. Das bedeutet, dass die „Anderen“ nicht nur andersartig (kognitiv) sind, sondern gering-wertiger (evaluativ) als die Eigengruppe sind. Es handelt sich hier also um eine kogniti-ve und evaluative Konstruktion von „Wir“ und „Anderen“. D.h. durch die Trennung von Deutschen hier und dem Fremden da werden „die Anderen“ ausgegrenzt und gleichzeitig als „nicht-dazugehörig“ abgewertet.

Deutsche Migranten

modern traditionell

Christentum Islam

fortschrittlich primitiv

demokratische Einstellungen autoritäre Einstellungen

gleichberechtigt patriarchalisch organisiert

weltoffen provinziell

handlungsfähig handlungsunfähig

Muslime stoßen in der deutschen Bevölkerung im Vergleich zu Angehörigen anderer großer Weltreligionen auf die stärksten Vorbehalte. Von diesem Standpunkt aus be-trachtet, symbolisieren die „Anderen“, denen man „Fremdheit“ zuschreibt, „abweichen-des“ Verhalten. In der folgende Abbildung werden die positiven und negativen Ausprä-gungen dargestellt.

Der Fremde wird nicht selbst gefragt, sondern seine Lebenswelt wird interpretiert. Die finanziellen Lebensumstände der deutschen Bevölkerung werden türkischen Fami-lien nicht zugetraut. MigrantInnen werden als defizitär typisiert und definiert.

4. Aufbau und Durchführung des Experiments

Das Einkaufen für eine moslemische Frau in der Bielefelder Altstadt in vier Nobelge-schäften war die Ausgangssituation. Ich besuchte die vier Geschäfte im Abstand von einer Woche. Das erste Mal kleidete ich mich als Versuchsperson wie eine muslimische Frau mit Kopftuch und langem Mantel. Das zweite Mal besuchte ich diese Geschäfte wie eine moderne junge Frau, die hohe Ansprüche an ihrer Kleidung hat. Jedoch achtete ich beim ersten Mal darauf, dass ich unter meinem Mantel auch hochwertige und mo-derne westliche Kleidung trug. Auf diese Weise wollte ich ausschließen, dass ich sofort als weniger kaufkräftig identifiziert und abgewertet werden konnte. Die vier aufgesuch-te Boutiquen lassen sich folgendermaßen klassifizieren:

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Geschäft Nr.1: Nur hochklassige, ausgesuchte in- und ausländische Designermode, höchstes Preisniveau.

Geschäft Nr. 2: Hochwertiges Angebot von in- und ausländischen Marken einschließ-lich einiger Marken mit sehr hohen Preisen, Preisniveau unter Ge-schäft Nr. 1.

Geschäft Nr. 3: Geschäft einer deutschen Designerin, Preisniveau wie Geschäft Nr. 2 Geschäft Nr. 4: Hochwertiges Angebot verschiedener bekannter Bekleidungsfirmen,

höhere Preislage. Preisniveau im ganzen am niedrigsten.

Auf diese Weise wurden alle Nobelgeschäfte von Bielefeld besucht, aber auch ihre Unterschiede beachtet. In allen Geschäften steht genügend Verkaufspersonal zur Verfü-gung, Selbstbedienung ist in der Regel ausgeschlossen. Wichtig war es, die Verkäufe-rinnen in ein Verkaufsgespräch zu verwickeln, das von ihnen ein relativ hohes Ausmaß an Eigeninitiative erforderte. Nur so konnte sicher gestellt werden, dass Diskriminie-rungen deutlich wurden, z.B. wenn sie etwas nicht taten. Aus diesem Grund fragte ich die Verkäuferinnen nach „etwas zum Ausgehen für den Abend“. Das machte klar, dass ich gewillt war, auch mehr Geld auszugeben und ermöglichte der Verkäuferin, lange oder kurze Abendkleider, tiefe Dekolletés oder Hosenanzüge vorzuschlagen.

Die Kriterien für Formen der Ausschließung und Diskriminierung waren die Merk-male des Verkaufsgespräches. Analyseeinheiten waren: - das unmittelbare sprachliche Verhalten – nonverbales Verhalten, wie z.B. Begrüßung durch die Verkäuferinnen - wie lange ich auf eine Bedienung warten musste - der Aktivitätsgrad - die Freundlichkeit der Verkäuferinnen – die Reaktion der Verkäuferinnen auf mein Kopftuch, ob offen oder verdeckt.

Meine Methode in dieser Arbeit war die teilnehmende und verdeckte Beobachtung in einem natürlichen sozialen Arrangement, wobei ich eine bestimmte Situation simulierte. Ich war die Beobachterin und führte gleichzeitig das Experiment durch. Nach Abschluss der jeweiligen Tour protokollierte ich die Erlebnisse. Dabei bezog ich meine eigenen Gefühle und Reaktionen ebenso mit ein.

5. Verlauf des Experiments

Ich, in der Rolle der Fremden, begann meine erste Tour mit Kopftuch und langem schwarzen Mantel bekleidet, am Dienstag, den 08. 06. 1999 in der Altstadt Bielefelds. Die Geschäfte, die ich aufsuchte, waren in der Reihenfolge: Nr. 4, Nr. 2, Nr. 3, Nr. 1.

Ich wurde in allen Boutiquen außer in dem teuersten Geschäft Nr. 1 sehr freundlich begrüßt. Am zuvorkommendsten wurde ich im Geschäft Nr. 2 bedient. Die Verkäuferin bemühte sich, ein passendes Abendkleid für mich zu finden. Allerdings waren die Klei-der, die sie mir zum Anprobieren gab, im Preis heruntergesetzt worden. Die Aussagen in den anderen beiden Geschäften Nr. 3 und Nr. 4 lauteten freundlich: „Leider haben wir keine Abendkleider“.

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In dem Geschäft Nr. 3 schlug man mir vor, in der Bahnhofstraße1 nach dem Kleid zu suchen. Die Verkäuferinnen in diesen beiden Geschäften waren nicht bereit, ausführli-che Informationen zu geben, beziehungsweise mich zu bedienen. In der teuersten Bou-tique Nr. 1 wurde mir gleich beim Betreten des Ladens klar gemacht, dass ich in dem Laden nichts für mich finden könnte und dort auch nichts zu suchen hätte. Die Verkäu-ferin war sehr unhöflich und schien sich durch mein Auftreten unwohl zu fühlen. Ich wurde in dem Geschäft nicht begrüßt und die Verkäuferin schaute mich beim Reden nicht richtig an.

Abschließend ist zu sagen, dass ich an dem Tag nur in einem Laden angemessen und ausreichend bedient wurde, wie ich allerdings aber erst bei meiner zweiten Tour fest-stellen konnte.

Meine zweite Tour, genau eine Woche später am 15. 06. 1999 absolvierte ich in der-selben Reihenfolge der Geschäfte an. Außer in dem Geschäft Nr. 2, bei dem ich das er-ste Mal ausführlich bedient wurde, wurde ich diesmal in allen Geschäften sehr höflich bedient und vor allem ausführlich informiert. Bei der Suche nach einem Kleid waren alle Verkäuferinnen darum bemüht, mir zu helfen und ich merkte, dass sie sich teilweise Zeit für mich nahmen, obwohl noch andere Kunden auf eine Bedienung warteten. In dem Geschäft Nr. 3 bot mir die Verkäuferin an, mir einen Katalog zuzuschicken. In dem Geschäft Nr. 4 habe ich mir ein Kleid zurücklegen lassen. Hier hatte man mir bei mei-ner ersten Tour gesagt, dass sie keine Abendkleider hätten und ich mich in der Bahn-hofstraße umschauen sollte.

Die Freundlichkeit bei der Begrüßung war in den Geschäften Nr. 2, Nr. 3 und Nr. 4 beide Male ungefähr identisch. In der zweiten Phase meines Versuchs stellte ich fest, dass der Unterschied wesentlich in der Ausführlichkeit der Bedienung lag. Insgesamt war der erste Besuch, mit Kopftuch, für mich eine unerwartete, positive Überraschung, mit Ausnahme von Geschäft Nr. 1. Während ich mit bestimmten Reaktionen von Ver-käuferinnen gerechnet hatte, die ihren Unmut aufrichtig und geradeheraus zeigen wür-den, waren sie bis auf das eine Geschäft eher distanziert und höflich. Sie ließen mich nie länger als eine Minute auf die Bedienung warten, und in den Gesichtern der Verkäufe-rinnen konnte ich auch keine Abneigung bemerken. Sie taten so, als ob sie mein Kopf-tuch nicht wahrnahmen. Das Kopftuch wurde äußerlich als etwas ganz Natürliches hin-genommen. Im Geschäft Nr. 4 sagte ich der Verkäuferin, dass das Kopftuch beim An-probieren der Kleider lästig sei. Daraufhin nickte sie ganz selbstverständlich, als ob ihr das Problem bekannt wäre. Dieselbe Verkäuferin suchte mir Kleider heraus, wobei sie die sehr kurzen und dekolletierten Kleider aussortierte: „Die sind zu sommerlich“ war dabei ihre Aussage. Sie konnte nicht offen aussprechen, dass diese Kleider, die sie aus-sortiert hatte, nach ihrer Meinung für eine muslimische Frau zu gewagt waren. Aber die Behauptung, dass die Kleider zu sommerlich wären, war einfach lächerlich, weil wir zu der Zeit, im Juni, sehr schönes und warmes Sommerwetter hatten.

Bei der zweiten Tour war die Bedienung sehr ausführlich und wirkte professioneller. Zum Beispiel wurde ich in der Boutique Nr. 1, mit Kopftuch, schroff gefragt, welche Größe ich hätte, ohne richtig begrüßt zu werden. Beim zweiten Mal wusste die Verkäu-ferin sofort, welche Größe ich brauchte. Sie hielt mir ein Kleid an, um meine Größe zu

1 Bahnhofsstraße: Einkaufsstraße in Bielefeld, wo es Geschäfte mit deutlich billigerem Angeboten gibt.

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taxieren. Danach suchte sie mir die Kleider eigenhändig aus und brachte sie mir zur Anprobe. Während mich eine Verkäuferin in Geschäft Nr. 3 beim ersten Mal mit der Begründung wegschickte: „wir haben keine Abendkleider“, wollte sie mir beim zweiten Besuch den neuen Katalog zuschicken, weil sie zur Zeit keine Abendkleider hätten. Sie fragte nach meiner Adresse.

6. Ergebnisse

a) Ausschließung

„Jemanden an etwas nicht teilnehmen lassen, in etwas nicht einbeziehen“1: So lautet die allgemein akzeptierte Definition von „Ausschließung“. In diesem Fall bedeutet Aus-schließung, dass die möglichen Interessenten im Beobachtungsfeld ausgewählter Ge-schäfte selektiert werden. Die Selektion erfolgt äußerlich, meistens auch durch die räumliche Ausgrenzung, durch den architektonischen Stil (Boutique vs. Kaufhaus), durch die Schaufenstergestaltung und durch den Preisunterschied.

Geschäfte sind natürlich für jedermann zugänglich, doch gibt es spezifische Merkma-le, wenn es um die Auswahl der Geschäfte geht. Außer, dass große Einkaufshäuser sich von den kleineren Geschäften äußerlich differenzieren, weiß man, dass man in größeren Einkaufshäusern mehr Auswahl an Waren hat und dass man in solchen Häusern viel günstiger einkaufen kann als in einer Boutique. Die Käuferinnen und Käufer unter-scheiden meistens nach diesen Kriterien des äußeren Erscheinungsbildes. Der Passant kann in sehr vielen Fällen auf den ersten Blick entscheiden, um was für ein Geschäft es sich jeweils handelt.

Damit wird schon im ersten Schritt die Abgrenzung vollzogen. Dies dient an erster Stelle als Schutzschild vor unerwünschten Kunden. Diese Abgrenzung ist eine nied-rigere Stufe der Ausschließung. Wer diese Schwelle überwindet, sieht sich dem abwei-senden Verhalten der Verkäufer konfrontiert oder muss erkennen, dass die Waren zu teuer sind.

Mit Ausnahme des Geschäftes Nr. 2 zeigten mir alle Verkäuferinnen, dass ich keine Kundin für ihre Preisklasse war, obwohl ich – auch mit Kopftuch – durch meine Frage und die Kleidung, die ich unter dem Mantel trug, signalisiert hatte, dass ich bereit war, mehr Geld auszugeben. Offensichtlich schlossen sie von dem Kopftuch automatisch auf meinen finanziellen Status. Außerdem trauten sie mir offensichtlich nicht zu, dass ich in der Lage war, anhand der Schaufenster und der darin ausgestellten Waren zu erkennen, um welche Preisklasse es sich bei dem jeweiligen Geschäft handelte. Sie waren offen-sichtlich der Meinung, dass ich mit diesem kulturellen Orientierungsrahmen nicht um-gehen konnte.

1 Deutsches Wörterbuch

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b) Das verinnerlichte Orientierungssystem

In unserem täglichen Leben suchen wir bei Begegnungen nach Hinweisen, die uns die soziale Rolle des anderen verraten. Wenn wir seinen sozialen Status kennen oder ein-schätzen können, wissen wir meist auch, wie er sich verhalten wird und wie wir ihm be-gegnen müssen. Dabei gehen wir nach einem verinnerlichten Orientierungssystem vor: „Die Soziale Situation wird wahrgenommen, entsprechend der personellen Einstellung verarbeitet und führt zu einem bestimmten Verhalten.“ (Markefka 1997).

Sicher enthält die soziale Wahrnehmung, wie in diesem Fall „Kopftuch + Mantel = eine fremde Religion + eine fremde Gruppe“, noch keine ausreichende Information über den persönlichen Modestil oder die finanzielle Lage der betreffenden Frau. Dennoch wird durch derartige Wahrnehmungen unser vorgefertigtes und schwer veränderbares Urteil in Kraft gesetzt. Wir glauben, konkrete Vorstellungen darüber entwickeln zu können, in welcher sozialen Position sich jemand befindet.

Ich als Frau mit Kopftuch wurde in diesem Fall nicht als individuelle Konsumentin wahrgenommen, sondern relational bestimmt, nämlich als Mitglied einer Gruppe. Die Verkäuferinnen sahen mich an und vermuteten, dass ich mich im Geschäft geirrt hatte. Nach ihren Vorstellungen konnte ich als Frau mit Kopftuch nicht den gleichen sozialen und finanziellen Status besitzen wie ihre „normale“ Kundschaft. Das bestätigen die Ver-kaufsgespräche: eine Verkäuferin riet mir, mich in der Bahnhofsstraße umzuschauen; eine andere Verkäuferin zeigte mir ausschließlich Kleider, die reduziert waren.

Die Kleidung und das Auftreten einer potentiellen Käuferin sind also das Erken-nungszeichen für das Prestige und den Reichtum, der in solchen Geschäften vorausge-setzt wird, d.h. das sogenannte Statussymbol muss stimmen, wenn man in solchen Ge-schäften als Kundin anerkannt werden möchte. Denn wie schon oben erwähnt, stimmen die kulturellen Ordnungen in solchen Geschäften nicht mit denen weniger kaufkräftiger Kunden überein. Die kulturelle Ordnung der Wohlstandsgesellschaft zeichnet sich durch verfügbare Güter aus. Die Verfügbarkeit von Geld bestimmt also die Fähigkeit zum Er-werb von bestimmten Markenprodukten und damit auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Erst das macht dann die Käuferin für die Verkäuferin interessant.

In meinem Fall war ich also „Irrläufer“, der sich verlaufen hatte. Ich wurde höflich, aber direkt abgewimmelt mit den Bemerkungen bzw. Ausreden: „Leider haben wir zur Zeit keine Abendkleider“ oder „Schauen sie doch auf der Bahnhofsstraße nach“. Ob-wohl man bei der letzten Aussage annehmen muss, dass es eine nett gemeinte Informa-tion war, ist es doch eine Zurückweisung und ein versteckter Hinweis, dass ich bei mei-ner Wahl des Einkaufsmilieus falsch lag. Die soziale Gruppe, der ich meinem Aussehen nach angehörte, ist eine andere als die des Milieus dieser Geschäfte.

Mit den Positionen verbinden sich entsprechende soziale Erwartungen, die ein rol-lengemäßes Handeln für die Akteure definieren. Das beschreibt Dahrendorf in seinem Homo sociologicus (1974): „Zu jeder Stellung, die ein Mensch einnimmt, gehören ge-wisse Verhaltensweisen, die man von dem Träger dieser Position erwartet; zu allem, was er ist, gehören Dinge, die er tut und hat; zu jeder sozialen Position gehört eine so-ziale Rolle. Indem der einzelne soziale Positionen einnimmt, wird er zur Person des Dramas, das die Gesellschaft, in der er lebt, geschrieben hat. Mit jeder Position gibt die

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Gesellschaft ihm eine Rolle in die Hand, die er zu spielen hat.“ Soziale Rollen sind also Ansprüche der Gesellschaft an den Einzelnen.

Mein Auftreten mit Kopftuch erzwang in diesem Fall den Anspruch an meine Rolle als muslimische Frau und zwar wie die Verkäuferinnen sich diese vorstellen. In den Verkaufsgesprächen zeigte sich, dass sie hier durchaus keine klaren Vorstellungen hat-ten. Dass schulterfreie oder tiefdekolletierte Kleider aussortiert wurden mit der Bemer-kung „die sind zu sommerlich“, beruhte offensichtlich auf der Vorstellung, dass ich sol-che Kleider nicht tragen dürfe. Obgleich mein Kaufwunsch lautete „etwas für den Abend“, wurden mir nur Kleider und keine Hosenanzüge gezeigt. Tatsächlich sah die Mode im Sommer ´99 für solche Gelegenheiten auch elegante Hosenanzüge vor. Keine der Verkäuferinnen fragte mich explizit danach, was für mein Umfeld akzeptabel sei. Trotzdem zeigte sich auch eine Unsicherheit im Umgang mit dem Kopftuch, aber es wurde nicht thematisiert. Allerdings konnte ich auch nicht feststellen, dass getuschelt oder auf mich gezeigt wurde.

c) Vorurteile

Die eindeutige Zuordnung einer Person zu einer Gruppe und damit der Ausschließung von anderen Gruppen wird Vorurteile gegenüber Mitgliedern fremder Gruppen vertie-fen. Vorurteile, die meist durch Klischeevorstellungen ergänzt werden, führen zu einer abwertenden Einstellung gegenüber den Personen, die man nicht kennt oder nicht gut genug kennt.

In den Verkaufssituationen bei meiner ersten Tour finden wir ein Schema von Vorur-teilen gegenüber fremden Frauen einer Glaubensrichtung. Ich kann mich nicht daran er-innern, dass ich mich jemals so kurz in einem Bekleidungsgeschäft aufgehalten habe, wie es bei meinem Experiment in den Geschäften Nr. 1 und Nr. 3 der Fall war. Natür-lich war der Grund für meinen kurzen Aufenthalt in den Geschäften nicht der, dass sie überhaupt nichts für den Abend hatten, sondern mein Kopftuch. Schließlich war der Service beim zweiten Mal viel ausführlicher und informationsreicher. Die Verkäuferin-nen, die eigentlich nur als Beauftragte der Geschäftsleitung agieren, müssen nicht unbe-dingt eine bessere soziale Position haben als die ausgegrenzten Fremden. Man kann so-gar in Anbetracht ihrer Berufe, wahrscheinlich Kauffrau im Einzelhandel, behaupten, dass sie der Schicht angehören, deren Mitglieder sie dann wiederum als Kunden an ih-rem Arbeitsplatz meiden wollen. Es ist abwegig, eine Frau mit Kopftuch, also eine Frau, die in bezug auf ihre Glaubensrichtung in einer anderen sozialen Gemeinschaft lebt als die Verkäuferinnen und die üblichen Kunden einer Nobelboutique, nicht als eine poten-tielle Kundin anzusehen. Das Kopftuch der muslimischen Frau ist weder ein „Armuts-zeugnis“ noch ein Beweis für eine bestimmte moralische Orientierung. Wie schon oben erwähnt, ist das Kopftuch lediglich ein wesentlicher Bestandteil der Kleidung vieler muslimischen Frauen.

Wie die Verkäuferinnen sich gegenüber der Frau mit Kopftuch verhalten, hängt also davon ab, welche Vorstellungen über das Kopftuch in den Köpfen der Verkäuferinnen existieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Vorstellungen der Realität entsprechen oder in wichtigen Punkten von ihr abweichen. Für die Verkäuferinnen, die ich traf, sen-det das Kopftuch die folgenden Signale und verdichtet sich zu folgendem Bild: „Arm,

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unmodern, provinziell“. Damit entspricht es sehr genau der Gegenüberstellung von westlicher und islamischer Kultur (siehe oben).

7. Schluss

In der modernen Gesellschaft gibt es eine Tendenz zur Etikettierung und Stigmatisie-rung und somit zur Ethnisierung der Migranten. Zwar erwartet man, dass die Migranten den Erwartungen der Aufnahmegesellschaft gerecht werden, indem sie bestimmte Inte-grationsleistungen erbringen. Gleichzeitig wird aber ihre Kultur ethniziert. Diese Hal-tung dominiert in Deutschland vor allem gegenüber den ethnischen Minderheiten, die aus dem mediterranen Bereich kommen. Von den meisten Menschen wird den Migran-ten unterstellt, aus einem kulturell verarmten Umfeld zu stammen. Die mangelnde Ver-trautheit dieser Bevölkerung mit westlichen Lebensstilen, Denk- und Umgangsformen wird für primitiv, für nicht anpassungsfähig gehalten. In dieser Sichtweise kommen deutlich ethnozentrische Elemente zum Ausdruck.

Die Befürchtungen und Ängste vor dem Fremden basieren nicht nur auf den persön-lichen, schlechten Erfahrungen oder dem Integrationsproblem der „Fremden“ selbst, das man sehr gerne heraufbeschwört, um die eigene Intoleranz gegenüber dem Fremden zu legitimieren.

Das Feindbild „Islam“ beruht natürlich auch nicht nur auf Kriterien, die hier aufge-führt wurden. Es ist auch eine Tatsache, dass militante Islamisten durch Terroraktionen das seit Jahrhunderten vorhandene Feindbild „Islam“ wiederbelebt haben. Wie ist es dann möglich, dass sich diese Vorurteile gegenüber Muslimen in der deutschen Be-völkerung in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt haben?

Andere machen diese Realität für uns sichtbar, sie strukturieren und konstruieren. Wir hängen von der Darstellung der Realität durch andere ab, leben von Erfahrungen aus zweiter Hand. Bei diesem Vorgang spielen die Massenmedien sicherlich eine her-ausragende Rolle. Wenn man sich mit Menschen über ihre Einstellungen zu ethnischen Minderheiten unterhält, tauchen in deren Äußerungen viele Bilder und Argumentationen auf, die aus den Massenmedien bekannt sind. Um ein wirkliches Verstehen des anderen möglich zu machen, müßten sich die Beziehungsstrukturen im Alltag ändern: die frem-de Kultur oder Religion darf nicht mehr ignoriert oder noch schlimmer als „minderwer-tig“ angesehen werden.

Dass man davon noch weit entfernt ist, konnte ich meines Erachtens in meinem Ex-periment zeigen. Ausschließungs- und Diskriminierungsprozesse sind nicht so sehr grob, offen und direkt, sondern vielmehr verdeckt und subtil. Das haben mir meine Ge-fühle im Verlauf des Experiments gezeigt. Nach der ersten Tour habe ich mich sehr darüber gefreut, wie freundlich und höflich die Verkäuferinnen mit einer Ausnahme wa-ren. Erst im Verlauf meiner zweiten Tour habe ich gemerkt, wie ich jeweils das erste Mal behandelt worden war. Erst durch den Vergleich bin ich auf diese verdeckten und subtilen Ausschließungsprozesse aufmerksam geworden.

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Literatur

Baumgartner-Karabak, A.; Landesberger, G., 1979: Die verkauften Bräute: türkische Frauen zwischen Kreuzberg und Anatolien. Reinbek: Rowohlt.

Dahrendorf, R., 1974: Homo sociologicus: ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Esser, H., 1993: Soziologie: Allgemeine Grundlagen. Frankfurt/M.: Campus.

Franger, G., 1984: Wir haben es uns anders vorgestellt: türkische Frauen in der Bundes-republik Deutschland. Frankfurt / M. Fischer Taschenbuch-Verlag.

Markefka, M., 1997: Vorurteile, Minderheiten, Diskriminierung: ein Beitrag zum Ver-ständnis sozialer Gegensätze. Neuwied: Luchterhand.

Metzger, A.; Herold, P. 1982: Zur sexualspezifischen Rolle der Frau in der türkischen Familie. Berlin: EXpress Ed.

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„Du kannst sie in eine Reihe stellen und sagen, der und der ist aggressiv“ – Wie junge Ausländer vor Diskotheken

ausgegrenzt werden

Elisabeth Aram und Nadine Bals

1. Soziale Ausschließungsprozesse

1.1 Problemaufriss

Die Formen sozialen Ausschlusses sind vielfältig. Zum einen sind soziale Ausschlies-sungsprozesse in den verschiedensten Bereichen des sozialen, kulturellen und ökonomi-schen Lebens vorzufinden. Zum anderen sind sie nicht immer sichtbar, manchmal ver-deckt, andere laufen eher offen ab.

Wir beschäftigten uns mit der Ausgrenzung junger Ausländer1 von Teilbereichen des kulturellen Lebens. Uns ging es darum, festzustellen, ob und in welchem Maße junge Ausländer in Bielefelder Diskotheken ausgegrenzt werden. Wie läuft ein solcher Prozeß ab? Welche Konsequenzen erwachsen daraus?

Unser Vorhaben beschäftigte sich mit einer bestimmten Form des sozialen Aus-schlusses, der kulturellen Ausgrenzung. In der Freizeitgestaltung junger Menschen spielt der regelmäßige Diskothekenbesuch eine wichtige Rolle. Es geht ihnen darum, ihren Alltagsstress zu vergessen und gemeinsam mit Freunden und Bekannten zu feiern. Man kann also davon ausgehen, dass ein Diskothekenbesuch für die meisten jungen Männer und Frauen einen hohen kulturellen bzw. sozialen Wert darstellt, den sie für sich selbst verwirklicht sehen möchten.

Eine kulturelle Ausgrenzung liegt dann vor, wenn Personen die Möglichkeit ver-wehrt wird, diesem Wert und diesem Verhaltensmuster entsprechend zu leben. Nach Kronauer liegt eine kulturelle Ausgrenzung genau dann vor, wenn Menschen sich an allgemeinen und Gruppen-Werten orientieren, sich ihnen im Alltag jedoch keine Mög-lichkeiten bieten, diese Werte zu realisieren (vgl. Kronauer 1997).

1 Wir verwenden nur die männliche Form, da sich unsere Ausführungen fast ausschließlich auf männliche

Ausländer beziehen.

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1.2 Theoretischer Rahmen

1.2.1 Dimensionen des Ausschlusses nach Kronauer

Die meisten Konzepte, die Ausschluss thematisieren, sind auf das Beschäftigungssy-stem ausgerichtet. So zum Beispiel das Konzept der „underclass“; hier treffen zwei Merkmale zusammen, die charakteristisch für die soziale Lage Ausgeschlossener ist.

Die Erfahrung der Zugehörigkeit, die dem Ausschluss vorausgeht, ist ein Merkmal sozialer Ausgrenzung. Eine Studie Kronauers über nordafrikanische Jugendliche be-schreibt die Beziehung zwischen Zugehörigkeit und Ausschluss. Diese Jugendlichen haben durch das Erziehungssystem und die Medien die universellen Normen der waren-produzierenden und konsumorientierten Gesellschaft zwar internalisiert, ihnen fehlen jedoch die Mittel, diesen Werten entsprechend zu leben. So sind sie beispielsweise vom Erziehungssystem weitgehend ausgeschlossen, aber auch von Kontakten zu anderen Gruppen abgeschnitten.

Von den Möglichkeiten abgeschnitten zu sein, den gesellschaftlich anerkannten Ver-haltensmustern, Lebenszielen und Werten entsprechend zu leben, bezeichnet Kronauer als kulturelle Ausgrenzung. Häufig laufen die Betroffenen dabei Gefahr, sanktioniert zu werden, wenn sie versuchen, den erwarteten Anforderungen über illegitime Mittel zu entsprechen. Darüber hinaus können durch diese Ausgrenzung eigenständige Subkultu-ren entstehen. Ausgrenzung durch gesellschaftliche Isolation führt durch die Konzen-trierung der Kontakte auf einen engen Kreis von Seinesgleichen zur Bildung von Sub-kulturen und zur subkulturellen Identifikation. Gesellschaftliche Isolation führt aller-dings auch zur Vereinzelung, d.h. zu einer Reduktion von Sozialkontakten, zu Dissozia-tion und verhindert eine Identifikation mit der Gesellschaft. Ursache für die Vereinze-lung wie für die Subkulturbildung ist der Verlust von Chancen, an der Gesellschaft teil-zuhaben und die Erfahrung oder Antizipierung von Stigmatisierung.

1.2.2 Ausschluss nach Elias und Scotson

Elias und Scotson versuchen in „Etablierte und Außenseiter“, den Prozeß des Aus-schlusses in den Mittelpunkt zu stellen (Elias; Scotson 1993). Sie untersuchen, wie Aus-schließungsprozesse in Gang gesetzt werden, welche Machtquellen dies ermöglichen und vorantreiben, und welche Konsequenzen dies für die Betroffenen hat. Sie führten eine Studie in einer englischen Kleinstadt durch, in der eine Gruppe Einwohner mit ei-ner neu zugezogenen Gruppe konfrontiert wurde. Dabei stellen sie fest, dass Ausschluss unabhängig von Ökonomie, Kultur oder anderen Faktoren stattfindet. Vielmehr ist der Ausschluss und die Stigmatisierung der neu zugezogenen englischen Arbeiter durch die Einheimischen allein auf das späte Zuziehen zurückzuführen.

Die Ursachen für den Ausschluss und die Stigmatisierung sind Machtbalance-Kämpfe und Interessenkonflikte zwischen Etablierten und neu Hinzugezogenen. Die einen versuchen, ihre Position zu erhalten, die anderen wollen ihre Position verbessern. Durch die ungleiche Machtbalance kommt es zu Spannungen. Macht, die die Etablierten innehaben, wird zur Sicherung ihrer sozialen Überlegenheit eingesetzt. Etablierte stig-matisieren die Neuankömmlinge unter der Annahme, das Ausgeschlossene sich nicht den Normen der Etablierten anpassen und ihnen nicht gerecht werden. Dabei machen

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Etablierte den Ausgeschlossenen teilweise Verhaltensweisen zum Vorwurf, die sie selbst an den Tag legen. Sie schreiben den Zugezogenen „schlechte“ Eigenschaften zu; auch Eigenschaften der „schlechtesten“ ihrer eigenen Teilgruppe – ihrer anomischen Minorität – und belegen sich selbst mit den „besten“ Eigenschaften. Dabei können „Ausdrücke an sich, die Etablierte als Mittel der Stigmatisierung benutzen, variieren“ (Elias und Scotson 1993, 19). Außenseiter werden sowohl individuell als auch kollektiv als anomisch empfunden. Die Stigmatisierung, die Elias und Scotson auch als „kollekti-ve Phantasien“ bezeichnen, spiegelt und rechtfertigt ihre Abneigung und „Vorurteile“. Das soziale Stigma verwandelt sich in ihrer Vorstellung in ein materielles Stigma; es wird verdinglicht und „objektiv“. „Das physische Kennzeichen dient als greifbares Symbol für die unterstellte Anomie der anderen Gruppe“ (Elias und Scotson 1993, 33). „Objektive“ Zeichen haben die Funktion, von Schuld zu entlasten. Im Gegenzug dazu empfinden sich die Ausgeschlossen als minderwertig; sie messen sich an den Maßstä-ben der Etablierten.

Um ein möglichst vollständiges Bild sozialer Ausschließungsprozesse gegenüber jungen Ausländerinnen und Ausländern zu erlangen, waren mehrere Arbeitsschritte nö-tig, die nun detailliert aufgeführt und erläutert werden sollen. Zum einen wurden Befra-gungen unter ausländischen Studierenden durchgeführt, zum anderen wurde der Ver-such einer Beobachtung des Ausschlusses unternommen und eine Befragung mit einem Türsteher durchgeführt.

2. Anwendung beider Konzepte

Wie bereits angeführt, ist der hier untersuchte Ausschluss eine Ausgrenzung aus dem sozial wichtigen Bereich, den allgemeinen Werten entsprechend zu leben. Wenn es in diesem Bereich zu einem Ausschluss kommt, können sowohl Subkulturbildung als auch Vereinzelung von Personen die Folge sein.

2.1 Die Ausgeschlossenen

Zu Beginn unserer Untersuchung führten wir eine kurze Umfrage unter ausländischen Studentinnen und Studenten in der Universität Bielefeld durch. Sie sollte uns einen er-sten Überblick zu folgenden Themen geben: Welche Gruppen sind besonders von Aus-schließungsprozessen vor Diskotheken betroffen? Welche Begründungen werden für den Ausschluss gegeben? Den ca. 60 Studierenden wurden folgende Fragen gestellt: • Bist Du schon einmal in eine Diskothek in Bielefeld oder Umgebung nicht eingelas-

sen worden? • Wenn ja, um welche Diskothek(en) handelt es sich? • Mit welcher Begründung hat der Türsteher Dich nicht eingelassen?

Wir führten eine Strichliste, die wir für die Häufigkeitsauszählungen über die Ergebnis-se verwendeten. Bei der Auswertung stellte sich heraus, dass generell in jeder Diskothek Ausschließungsprozesse stattfinden. Eine Diskothek fiel besonders ins Auge, in ihr wurde nahezu jeder Befragte schon einmal ausgeschlossen. Wir stellten fest, dass allen

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männlichen Befragten schon einmal der Eintritt in eine Diskothek verweigert wurde. Die Begründung war fast immer „Einlaß nur für Stammgäste“. Ausländische Frauen ha-ben dem gegenüber eine bessere Chance, eingelassen zu werden – sie werden nur dann abgewiesen, wenn ihre männlichen Begleiter zurückgeschickt werden. Allgemein haben Gruppen von ausländischen Männern die größten Schwierigkeiten, in eine Diskothek eingelassen zu werden.

Um zu erfahren, wie ein derartiger Ausschließungsprozeß vor sich geht und wie er von den Ausgeschlossenen wahrgenommen wird, führten wir weitere Interviews mit ausländischen Studierenden durch. Uns interessierte nun vor allem, wie die jungen Aus-länderinnen und Ausländer in solchen Situationen reagieren und welche Konsequenzen sie aus einer Zurückweisung ziehen.

Bei den ca. 40 befragten Personen handelt es sich zum größten Teil um ausländische Studierende der Universität Bielefeld. Ihnen wurden folgende Fragen gestellt: • Bist Du schon einmal in eine Diskothek in Bielefeld oder Umgebung nicht eingelas-

sen worden? • Wenn ja, um welche Diskothek(en) handelt es sich? • Mit welcher Begründung hat der Türsteher Dich nicht eingelassen? • Was glaubst Du selbst, warum Du nicht eingelassen wurdest? • Wie hast Du in dieser Situation reagiert? • Warst Du auffällig gekleidet? Entsprach Deine Kleidung dem Bild des Zielpubli-

kums der Diskothek(en)? • Was hast Du anschließend getan? Wie hast Du den Abend statt dessen verbracht? • Hast Du zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versucht, in diese Diskothek(en)

eingelassen zu werden? Bei der Auswertung der qualitativ festgehaltenen Angaben wurde deutlich, dass einige ausländische junge Männer grundsätzlich nicht in „deutsche“ Diskotheken eingelassen werden. Aufgrund dieser Erfahrungen lehnten sie es oftmals ab, noch einmal diese Ein-richtungen aufzusuchen. Sie weichen dann zum Beispiel auf „türkische“ Einrichtungen aus. Welches sind nun die häufigsten Begründungen für einen Ausschluss? Neben dem oben genannten häufigsten Grund („nur für Stammgäste“), mit dem die Türsteher ihr Handeln rechtfertigten, wurden die Befragten mit weiteren Begründungen zurückgewie-sen. Vielen der Befragten wurde zum Beispiel gesagt, dass sich bereits zu viele Auslän-der in der Diskothek befinden und es eine Vorgabe der Geschäftsführung sei, sie nicht einzulassen. Schließlich wurde auf eine gewaltsame Auseinandersetzung hingewiesen, an der Ausländer beteiligt waren, weshalb es nicht möglich sei, sie einzulassen. Nach den Schilderungen unserer Interviewpartner versuchten die Türsteher, freundlich oder zumindest sachlich zu sein; wie wir später noch zeigen werden, versuchen sie so, Kon-flikte zu vermeiden. Die von den Befragten am häufigsten gezeigte Reaktion war, dass sie ohne Diskussion die Lokalität verließen und entweder ihr Glück in der nächsten Diskothek versuchten – und das mehrheitlich in „ausländischen“ Diskotheken – oder gleich nach hause fuhren. Einmal vor einer Diskothek zurückgewiesen, versuchen die Befragten nicht wieder, in diese eingelassen zu werden. Allen Befragen war klar, dass sie aufgrund ihrer ausländischen Herkunft zurückgewiesen wurden.

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58 Wie junge Ausländer vor Diskotheken ausgegrenzt werden

2.2 Begehung der Diskothek

Der nächste Arbeitsschritt bestand darin, die bei der Frage nach dem Ort des Ausschlus-ses am häufigsten genannte Diskothek zu begehen, um sich ein Bild von der Publikums-struktur sowie von den lokalen Gegebenheiten zu machen. In der Diskothek selbst war der Ausländeranteil an den Gästen relativ schwer auszumachen. Jedoch ergab sich bei einer Auszählung der eingelassenen Personen am Eingang, dass vier mal so viele Deut-sche wie Ausländer eingelassen wurden. Zwar werden Ausländer nicht komplett ausge-schlossen, jedoch bekommen viele von ihnen keinen Eintritt.

2.3 Der Ausschließende

Besonders aufschlussreich und für unsere Arbeit sehr wichtig war die Möglichkeit, mit einem Türsteher der oben genannten Diskothek ein Interview führen zu können. So ge-lang es uns, die aktive, ausschließende Seite genauer zu untersuchen und an Hinter-grundwissen zu gelangen. Uns interessierten auf der einen Seite die Kriterien, die zu ei-nem Ausschluss führen sowie der Aspekt, inwiefern es klare Vorgaben der Geschäfts-führung gibt und welcher Spielraum dem einzelnen Türsteher dabei zufällt. Auf der an-deren Seite wollten wir herausfinden, wie ein Ausschluss vor sich geht und wie Zurück-gewiesene aus der Sicht des Türstehers darauf reagieren. Unser Interviewpartner war Mitte Zwanzig und Albaner. Folgende Fragen konnten wir unserem Gesprächspartner stellen: • Gibt es bestimmte Anordnungen der Geschäftsleitung, welche Personen nicht einge-

lassen werden sollen? • Wenn ja, wie sehen diese Vorgaben aus? • Haben sich diese Vorgaben im Laufe der Zeit geändert? • Wenn ja, in welche Richtung? • Nach welchen Kriterien entscheidest Du selbst, wer eingelassen wird? • Welche Gruppen von Menschen schickst Du generell weg? • Was sagst Du zu den Personen, die Du nicht in die Diskothek einlässt? • Wie reagieren diese Personen darauf? • Versuchen diese Personen später noch einmal, in die Diskothek eingelassen zu wer-

den? Nach seinen Angaben gibt die Geschäftsführung einen gewissen Rahmen im Hinblick auf das erwünschte Publikum vor. So soll das Publikum ein bestimmtes Durchschnitts-alter haben, das zahlenmäßige Verhältnis der Geschlechter und der Aus- und Inländer einer bestimmten Quote entsprechen, die er jedoch nicht genauer bezifferte. Dabei geht es der Geschäftsführung – laut dem Türsteher – nicht um die vorsätzliche Diskriminie-rung von Ausländern, sondern um das Wohlbefinden der deutschen Gäste. Angeblich fühlen sich deutsche Gäste unter vielen Ausländern nicht wohl und so soll mit Hilfe des Ausschlusses für ein bestimmtes Verhältnis zwischen deutschen und ausländischen Gä-sten gesorgt werden. Der Ausländeranteil unter den Besuchern soll eine gewisse Marke

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Elisabeth Aram und Nadine Bals 59

nicht übersteigen, „denn der Deutsche geht nicht gerne dahin, wo viele Ausländer sind, sie fühlen sich nicht wohl“1.

Doch nicht nur die „Ausländerquote“ entscheidet, ob jemand eingelassen wird oder nicht, sondern ein angemessenes Erscheinungsbild und der Habitus spielen eine ent-scheidende Rolle, wobei die Beurteilung dieser Aspekte dem Türsteher obliegt. Hierzu merkt unser Interviewpartner an, dass seine Tätigkeit als Türsteher eine gewisse Men-schenkenntnis voraussetzt. Der Befragte beschreibt unerwünschte Gäste als Menschen, „die ins Auge fallen“ und aggressiv erscheinen. Sie haben ihm zu folge „dunkle und aggressive Gesichtszüge“, „zurückgegelte Haare“ und einen besonders muskulösen und trainierten Körper. Allerdings spielt nicht nur die Optik, also das „aggressive Aus-sehen“ eine Rolle, sondern auch aggressives Verhalten, welches der Türsteher zum Bei-spiel an der Reaktion des Gastes auf ein von ihm geäußertes „Guten Abend“ erkennen kann. Auf unsere Nachfragen hin konnte der Befragte aggressives Verhalten allerdings nicht näher beschreiben, aber er war sich seiner Sache sehr sicher. Jeder Türsteher scheint seine eigene Vorstellung von Aggressivität zu haben, die sich in Erscheinungs-bild und Verhalten der Gäste äußert: „Du kannst sie in eine Reihe stellen und sagen, der und der ist aggressiv“. Anzumerken ist ferner, dass der Maßstab für angemessene Klei-dung bei ausländischen Gästen generell höher ist als bei Deutschen, „bei denen drücken wir dann doch öfters ein Auge zu“.

Die Entscheidung, ob ein Gast eingelassen wird oder nicht, wird von den Türstehern der besagten Diskothek gemeinsam getroffen. Auf seinem Weg in die Diskothek wird der Gast von den sechs Türstehern beobachtet und beurteilt, davon befinden sich zwei im Gebäude und vier davor. Entspricht er nicht den Vorstellungen der Türsteher, wird der Gast von einem Türsteher darauf aufmerksam gemacht, dass er noch nie Gast des Hauses war und kein Bedarf an neuen Gästen besteht. „Es wird vermieden, dem Gast zu sagen, dass er aufgrund seiner Herkunft nicht eingelassen wird.“ Jedoch meinte der Be-fragte, dass ausländische Gäste wüßten, dass ihnen genau aus diesem Grund der Eintritt verweigert wird. Meist zeigt der Gast Verständnis für die Zurückweisung. In einigen Fällen kommt es zu Diskussionen, aber nur selten werden abgewiesene Ausländer ag-gressiv und drohen. Aufgabe eines Türstehers ist es in einem solchen Fall, ruhig zu bleiben und den Gast so höflich wie möglich zu behandeln, um Auseinandersetzungen zu vermeiden. Wenn sich die Türsteher nicht sicher sind, ob ein Gast den Erwartungen der Geschäftsführung entspricht, wird er mit einem „Guten Abend“ begrüßt, um eine Reaktion hervorzurufen. Anhand der gezeigten Reaktion und der oben genannten Maß-stäbe kann man dann den Gast beurteilen. Häufig wird der Gast in der Lokalität von an-deren Mitarbeitern der Diskothek oder sogar von der Geschäftsführung beobachtet, um bei eventuell auftretenden Problemen sofort eingreifen zu können, also den Gast zu bit-ten, das Haus zu verlassen.

Hinzu kommt, dass unser Interviewpartner bestimmte ethnische Gruppen als mehr oder weniger aggressiv einstufte. Als besonders aggressive Gruppen bezeichnete der von uns befragte Türsteher Türken, Kurden, Albaner, Russen, Engländer, sowie Alevi-ten (wobei es sich bei der letztgenannten nicht um eine ethnische, sondern um eine reli-giöse Gruppe handelt). Den letzten und entscheidenden Ausschlag gibt oft nur ein Blick

1 Wörtliche Zitate aus Interviews sind kursiv gedruckt und in Anführungsstriche gesetzt.

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in die Ausweispapiere – ein relativ aggressiv wirkender Mann mit Geburtsort Dortmund hat wesentlich bessere Chancen, in die Diskothek eingelassen zu werden als ein ebenso aggressiv wirkender Mann, der in Novosibirsk oder Istanbul geboren wurde.

3. Fazit

Unsere Untersuchung zeigt, dass ausländische Jugendliche im Freizeitbereich ausge-schlossen werden. Überrascht sind wir vor allem von dem Ausmaß der Ausgrenzungen - jeder von uns befragte Ausländer ist schon mehrmals vor Diskotheken zurückgewiesen worden.

Hier läuft ein klarer Machtprozeß ab. Einerseits gibt es eine rechtliche Grundlage zum Ausschluss, andererseits gibt es Personen, die diese Macht durchsetzen – die Tür-steher. Zudem ist ein sehr einfaches Schema der Stigmatisierung vorzufinden, das an-gewendet wird.

Die Konsequenzen ständiger Zurückweisungen sind weitreichend und beeinflussen verschiedenste Bereiche im Leben der jungen Ausländer. Diese Praktiken der Zurück-weisung stellen zunächst einen tiefen Einschnitt in die Gestaltung der kulturellen und sozialen Freizeit dar. Es ist für viele junge Ausländer beispielsweise überhaupt nicht möglich, sich mit Freunden in einer Diskothek zu verabreden, da sie gar nicht wissen, ob sie eingelassen werden. Infolgedessen ist es nicht möglich, den Abend zu planen. Die ganze Abendgestaltung ist ein Glücksspiel mit ungewissem Ausgang.

Auch der soziale Bereich wird beeinflußt. Eine wiederholte Zurückweisung führt nämlich dazu, dass die Ausländer sich auf ihre eigene Kultur zurückziehen und nur noch eigene kulturelle Einrichtungen, z.B. türkische Diskotheken, aufsuchen. „Dann bleiben wir doch lieber unter uns“, sagte uns ein ausländischer Kommilitone. Unter politischen Aspekten führt das dazu, dass eine Integration der jungen Ausländer verhindert wird und die Kluft zwischen Deutschen und Ausländern nicht nur in der Freizeit tiefer wird.

Auf der persönlichen, emotionalen Ebene kommt es zu enormen Frustrationen, die unter bestimmten Voraussetzungen in offene Aggressivität und Gewaltbereitschaft um-schlagen können. Die Art der Zurückweisung spielt hierbei eine entscheidende Rolle: Tritt der Türsteher selbst aggressiv auf, so muss der Ausschluss als Erniedrigung emp-funden werden. Hierzu der von uns Befragte: „viele Türsteher verhalten sich halt falsch, das sind so hyperaggressive Bodybuilder-Typen, und noch dazu spielt deren Hormonhaushalt verrückt“. Gewalttätige Reaktionen – wie in der jüngsten Vergangen-heit in Bielefeld geschehen – sind dann vorprogrammiert.

4. Reflexion der Untersuchung

Obwohl es sich bei dem von uns untersuchten Bereich um ein ein aktuelles und wichti-ges Thema, auch im Rahmen der politisch-gesellschaftlichen Debatten um die Integrati-on ausländischer Mitbürger, handelt, ist kaum wissenschaftliches Material zu finden, das sich mit dieser Thematik befasst. Der Freizeitbereich scheint aus den theoretischen

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Konstrukten von Ausschließung noch ausgeklammert zu sein. So wurde uns der Ein-stieg in dieses Gebiet nicht besonders leicht gemacht, die Theorie von Elias und Scotson vereinfachte allerdings unsere Einbettung.

Leider erlaubte es uns die zur Verfügung stehende Zeit nicht, mehrere Diskotheken zu untersuchen, um mehr Facetten wahrnehmen zu können. So kann es zum Beispiel auch sein, dass in anderen Diskotheken auf eine völlig andere Weise mit ausländischen Gästen verfahren wird als in der von uns herausgegriffenen Diskothek. Wir beschränk-ten uns aber auf dieses exemplarische Beispiel, um gute Einblicke zu erlangen.

Aufschlussreich wäre eventuell auch ein Gespräch mit der Geschäftsleitung der von uns untersuchten Diskothek gewesen, um mehr Hintergründe über die Geschäftspolitik im Hinblick auf ausländische Gäste zu erfahren.

Gerne hätten wir einen Ausschluss direkt beobachtet, dies war aufgrund der Archi-tektur des Gebäudes leider nicht möglich, da wir sonst die Situation beeinflußt hätten.

Literatur

Dubet, F.; Lapeyronnie, D., 1994: Im Aus der Vorstädte: Der Zerfall der demokrati-schen Gesellschaft. Stuttgart: Klett.

Elias, N.; Scotson, J.L., 1993: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Kronauer, M., 1997: „Soziale Ausgrenzung“ und „Underclass“: Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung. Leviathan 25: 28-49.

Wilson, W. J., 1991: Public Policy Research and the Truly Disadvantaged. S. 460-481 in: Jencks, C.; Peterson, P. (Hrgs.), The Urban Underclass. Washington, D.C.

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„Neuland“ – Soziale und kulturelle Ausschließungsprozesse zwischen Ost- und Westdeutschen in den neuen

Bundesländern

Christoph Hohage

„Stimmt ja ooch. Nehmse nur die Polleßei! Lächerlich is doch dit. Keene Jesetze mehr, dit is die Freiheit. Daß man sich abends nich mehr alleene auf de Straße traut. Dieser Arsch da, wie heißt euer Kanzla da im West’n? Der hat uns hier noch jefehlt jehabt.“

Luise Endlich: Neuland. Ganz einfache Geschichten. 1999, S. 73

„Die Konflikte im ‚neuen Deutschland‘ in Form von sozialen, ökonomischen und politischen Krisen, Status- und Verteilungskämpfen und der Problematisierung von Wir-Identitäten erschweren eine spannungsfreie Beziehung zwischen den Einheimischen und Zugewanderten. [...] Die Zuwandernden werden von den Län-geransässigen – wiederum unabhängig davon, ob diese die deutsche oder eine ausländische Staatsangehörigkeit haben, als beunruhigend empfunden.“

Annette Treibel: Migrationsprozesse. 1999, S. 110

„Die Frau, der das Geschäft gehörte, war total nett und freundlich – und das ging dann eben soweit, daß sie mich zum Tee eingeladen hat. [...] Dann saßen wir da – also sie hat so südamerikanische Sachen verkauft, total schön – und dann kamen wir zu dem Punkt wo ich sagte „Ich bin noch nicht solange hier“ – „Wo her kommen Sie denn?“ – „Lübeck“ – und danach fing sie wirklich prompt an ir-gendwas von blühenden Landschaften und Mecklenburg-Vorpommern und Kohl zu erzählen. Das hat mich so schockiert, ich hab sofort die Schotten dicht ge-macht, ich hab überhaupt nicht verstanden was sie von mir wollte. Die fing plötz-lich an von etwas völlig anderem zu erzählen. Ich war echt auch völlig baff. [...] Ich glaub ich hab mich schon an die Wand gestellt gefühlt. Was hab ich mit Kohl und diesem Satz ‚Blühende Landschaften‘ – hat er ja mal versprochen - zu tun.“

Sequenz aus dem Interview mit einer Westdeutschen, Schwerin 1999

1. Zur Intention der Untersuchung

Im Mittelpunkt des Projektes „Sozio-kulturelle Ausschließungsprozesse zwischen Ost- und Westdeutschen“ stehen westdeutsche Akademikerinnen und Akademiker, die in den Städten Ostdeutschlands leben und arbeiten. Konkret wird die Frage nach den Teilhabe-chancen, bzw. der Ausgrenzung dieses Personenkreises von Bereichen des sozialen Le-

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Christoph Hohage 63

bens in der ostdeutschen Stadt gestellt. Es wird untersucht, ob der ausgewählte Perso-nenkreis in den Bereichen Nachbarschaft, Konsum und Freizeit Ausgrenzung erlebt, ob es spezifische soziale Formen gibt, über die auf Ausgrenzung reagiert wird. Schließlich interessiert ebenfalls, welchen Stellenwert Ausgrenzungserfahrungen für diesen Perso-nenkreis subjektiv haben. Diese Betrachtungsweise impliziert, dass vorrangig die sub-jektive Erfahrungsseite der Ausschließung aus informellen sozialen Beziehungen ana-lysiert wird.

Die Bestimmung westdeutscher Akademikerinnen und Akademiker als Zielgruppe begründet sich im Untersuchungszusammenhang mit der exponierten Rolle, die diesem Personenkreis in den neuen Ländern tendenziell zukommt: für die Übertragung/Vermitt-lung institutioneller Strukturen des bundesrepublikanischen Gesellschaftssystems in die Praxis; so auch – bezogen auf eine gänzlich andere Ebene von Sozialität – für die Mani-festierung eines (westdeutschen) Wohlstandshabitus, der in dieser Form in der DDR weitgehend kein Äquivalent hatte.1

Die Perspektive der Untersuchung wird durch die Orientierung an den Prinzipien der entdeckenden Sozialforschung (Kleining 1995) angeleitet. Richtungsweisend für meine Arbeit ist in diesem Zusammenhang die Figurationstheorie von Norbert Elias. Die Durchführung der Untersuchung beruht im wesentlichen auf offenen Interviews mit sechs westdeutschen Akademikerinnen und Akademikern, die vor zwei oder mehr Jah-ren von Westdeutschland in die neuen Bundesländer umgesiedelt sind.

2. Der theoretische Rahmen der Untersuchung

2.1 Elias Figurationstheorie

Der theoretische Ausgangspunkt für die Konzeption der Untersuchung ist in mehrfacher Hinsicht die Soziologie Norbert Elias. Dies beruht einerseits auf dem Potential der Figu-rationstheorie, eine dynamische und an Interdependenzen orientierte Perspektive einzu-nehmen. Andererseits führte Elias bereits 1959/1960 ein Forschungsprojekt durch, das die Regelmäßigkeiten und Prozesse von Ausgrenzung untersuchte.

In der Perspektive der Eliasschen Soziologie (Figurationstheorie) wird Gesellschaft als von „Individuen gebildetes Interdependenzgeflecht“ bestimmt (Elias 1976, S. LXVIII). Dieses Interdependenzgeflecht gilt als dynamisch und strukturiert zugleich. Eine zentrale Aufgabe der Soziologie ist nach Elias, diese dynamischen Regelmäßigkei-ten, die sogenannten Figurationen, zu erkennen. Als strukturelle Kernelemente von Fi-gurationen werden affektive Valenzen, soziale und ökonomische Interdependenzen, schließlich räumliche Verflechtungen betrachtet.

Die Figurationen gelten zum einen als Medium, dass den Menschen die Ziele, Mög-lichkeiten und Grenzen ihres Handelns nicht deterministisch vorausbestimmt, aber den

1 Insgesamt sind mehr als 750.000 Personen zwischen 1989-1997 von Westdeutschland nach Ostdeutsch-

land gewandert. Statistische Angaben dazu, wie hoch sich der Anteil der Akademikerinnen und Akade-miker beziffert und wieviele von diesen auch in den neuen Ländern verblieben sind, liegen nicht vor (vgl. Statistisches Bundesamt 1997, S. 45 und Treibel 1999).

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64 „Neuland“

Rahmen der diesbezüglichen Alternativen einschränkt. Zum anderen ist die Entstehung der Figurationen selbst direkt mit den Individuen, deren Plänen und Handlungen ver-bunden. Allerdings wird diese Verbindung nicht als voluntaristisch oder rational steuer-bar begriffen. Formelhaft zu einer Sentenz verdichtet hat Elias die Entstehung von Figu-rationen folgendermaßen charakterisiert: „Aus Plänen wachsend, aber ungeplant. Be-wegt von Zwecken, aber ohne Zweck.“ (Elias 1991, S. 95).

Angesichts dieses dynamischen Grundcharakters der Figurationen gilt für die Resul-tate von Figurationsuntersuchungen, dass sie selbst „Teil eines Prozesses [sind, und] ... ihrerseits der Revision, Kritik und Verbesserung im Lichte ihrer Forschungen offen“ stehen (ebd., S. 73). In Anlehnung an dieses Charakteristikum liegt die Bedeutung der Figurationsmodelle für die Sozialforschung in ihrer flexiblen, sich für Wandel offen hal-tenden und heuristischen Qualität. Elias bezeichnet die Figurationsmodelle unter ande-rem als „empirische Paradigmen”, als „Schablonen”, die das Forschungsfeld der Figura-tionen, oder anders formuliert, der Struktureigentümlichkeiten von Beziehungen, effizi-ent erschließen helfen (Elias 1993, S. 10). Die Konzeption dieser Untersuchung ist grundlegend an diesen Kernpunkten der figurationstheoretischen Sichtweise orientiert.

2.2 Sozio-kulturelle Ausschließung aus figurationstheoretischer Perspektive

Im Rahmen dieser Arbeit wird Ausschließung als sozio-kultureller Prozeß und als Aus-druck einer spezifischen Interdependenzstruktur verstanden. Sie kann als Beziehungs-muster sowohl in mikro- als auch makrosoziologischen Zusammenhängen in Erschei-nung treten, und – zweitens – sich institutionell verfestigen (beispielsweise auf der Ebe-ne nationalen Rechts) wie auch in informellen Beziehungen konstituiert werden. Der letztere Fall ist für die Konzeption dieser Untersuchung von besonderem Interesse. Die-se Definition knüpft an das Figurationsmodell der Etablierten-Außenseiter-Beziehung an, wie es Elias in Zusammenarbeit mit Scotson entwickelt hat. Elias führte mit seinem Mitarbeiter Scotson 1959/1960 eine Gemeinde-Untersuchung durch – ihre For-schungsergebnisse wurden unter dem Titel „The Established and the Outsiders. A So-ciological Inquiry into Community Problems“ 1965 veröffentlicht. Diese Untersuchung fokussierte das Beziehungsmuster von Etablierten und Außenseitern am Beispiel einer etwa 5000 Bewohner zählende Gemeinde, die eng mit einem größeren Industriezentrum assoziiert war.

Ausschließung beruht in Anlehnung an Elias und Scotson im Kern auf einem Macht-Modus, der einer Gruppe eine Machtüberlegenheit gewährt, die „effektive Stigmatisie-rung“ Dritter ermöglicht (Elias; Scotson 1993, S. 14). Den Ausschlag für die Entwick-lung eines solchen Macht-Modus gab in der untersuchten Gemeinde der Umstand, dass die zwei betrachteten Arbeiterviertel des Ortes zeitlich um einige Jahrzehnte versetzt gegründet worden waren. In dem älteren Viertel war in Folge des zeitlich und örtlich bedingten Miteinanders der alteingesessenen Familien eine hohe soziale Kohäsion ent-standen. Diese wurde von den Alteingesessenen instrumentalisiert, um Ausschluss und Stigmatisierung neuer Familien im benachbarten Arbeiterviertel zu organisieren. Die Bewohner des älteren Arbeiterviertels konnten ihre soziale Organisation als Machtmittel einsetzen. Sie benutzen z.B. ihren Einfluß (Kontrollmöglichkeiten) in örtlichen Institu-

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tionen, um die neuen Bewohner von Bereichen des öffentlichen Lebens (Stadtbezirksrat, Kirchen, Clubs) fernzuhalten.

Unabhängig von dem tatsächlich genutzten Machtmittel erwies die Untersuchung von Elias und Scotson, dass sich die Stigmatisierung der Außenseitergruppe durch die Etablierten an den schlechtesten Eigenschaften ihrer ‚schlechtesten‘ Teilgruppe orien-tiert. Und deutlich ging aus den Analysen hervor, dass die Stigmatisierungen in das Selbst-bild der Außenseitergruppe eingehen. Die Adaption von negativen Attributionen durch die Außenseitergruppe erklärten Elias und Scotson durch die geringe soziale Kohäsion und damit einhergehend durch die fehlende kollektive Identität der Außenseitergruppe: die Etablierten haben nicht selten einen „Verbündeten in einer inneren Stimme der Un-terlegenen selbst”, denn die Außenseiter orientieren sich oft an den Normen der Eta-blierten (Elias; Scotson 1993, S. 19). Diese Regelmäßigkeit wurde allerdings durch die Beobachtung eingeschränkt, dass sich Menschen mit wachsender Bewußtheit über die Mechanismen der Stigmatisierung dieser Dynamik entziehen können.

2.3 Sozio-kulturelle Ausschließung im Kontext des untersuchten Feldes

Für die Untersuchung der Integrationsverläufe von westdeutschen Akademikerinnen und Akademikern in ostdeutschen Städten können aus dem eingeführten Begriff von Ausschließung Thesen zu sozio-kulturellen Ausschließungsfigurationen im beobachte-ten Feld formuliert werden. Sie dienen dem heuristischen Zugang zum Feld und als Ori-entierungslinien. 1. Es gibt in den beobachteten Teilbereichen des sozialen Lebens in ostdeutschen Städ-

ten aufgrund der sozialen Kohäsion unter den Alteingesessenen Möglichkeiten, Macht im Sinne effektiver Stigmatisierung auszuüben.

2. In bezug auf die beobachteten Bereiche sind Unterschiede zu erwarten. Im Bereich von Nachbarschaften ist das Fernhalten Dritter durch Stigmatisierung der Personen-gruppe und Tabuisierung des Kontakts relativ einfach herzustellen. In den Bereichen Konsum und Freizeit sind zumindest die Professionellen (VerkäuferInnen, Kellne-rInnen, etc.) nicht in der Position, die Teilhabe der Westdeutschen zu verhindern.

3. Falls die alteingesessenen Ostdeutschen von Möglichkeiten der Stigmatisierung Ge-brauch machen, ist also zu erwarten, dass die Ausgrenzungspraktiken unterschiedli-che Formen annehmen. Während in der Nachbarschaft bereits das Nicht-Kommunizieren als effizientes Mittel dienen kann, wäre für die anderen Bereiche eher eine spezifische Ausgestaltung der Beziehungsebene in den Kommunikationen vorstellbar.

4. Bei den von Stigmatisierung Betroffenen stellt sich die Frage, ob und wie sie ihr kul-turelles und soziales Kapital einsetzen, um sich dem hier angenommenen Ausschlie-ßungsprozeß zu entziehen. Eine weitreichende Internalisierung einer Stigmatisierung erscheint unwahrscheinlich. Im Gegenteil: die Westdeutschen könnten selbst Prakti-ken der Stigmatisierung gegenüber Ostdeutschen effizient ausüben. Während die Ostdeutschen in den informellen Beziehungen die vorhandene soziale Kohäsion in-strumentalisieren können, bieten sich den Westdeutschen aufgrund von Titel und Stelle und durch das damit verbundene ökonomische Kapital Möglichkeiten, Macht auszuüben. Nicht zuletzt können sich die Westdeutschen auf ihre Herkunft aus dem

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66 „Neuland“

‚systemüberlegenen, freien Westen‘ berufen und dadurch systematisch Stigmatisie-rungen abwehren.

3. Zur angewandten Forschungsmethode

3.1 Die Untersuchungsgruppe

Als Grundvoraussetzung für eine Einbeziehung von Personen in die Erhebung wurde eine Mindestwohndauer in den neuen Bundesländern von zwei Jahren festgelegt. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Befragten im Interview über eine Basis zur Beant-wortung von Fragen zur Entwicklung ihrer Integration in die jeweilige Stadt verfügen. Der Aufbau von Kontakten in der Nachbarschaft oder die Vertrautheit mit den kulturel-len Angeboten einer Stadt brauchen generell einen zeitlichen Vorlauf, der auf diese Weise konzeptionell berücksichtigt werden kann. Als zweite Grundvoraussetzung wur-de – mit Blick auf die Intention, die Integrationsverläufe westdeutscher Akademikerin-nen und Akademiker zu untersuchen – der Besitz eines akademischen Titels definiert. Insgesamt wurden sechs Personen interviewt. Bei den befragten Personen handelt sich um Akademikerinnen und Akademiker, die im Westen ihr Studium absolviert haben und in den neuen Bundesländern eine ihrer Qualifikation entsprechende Tätigkeit aus-üben. Bei den Personen handelt es sich um vier Männer und zwei Frauen, darunter zwei Paare: einen Physiker, zwei Elektroingenieure, einen Architekten, eine Lehrerin und ei-ne Sozialpädagogin. In Partnerschaft leben die Lehrerin und der Physiker, sowie die So-zialpädagogin und der Architekt. Die Altersspanne reicht von 29 (Soz.-päd) bis zu 40 Jahren (Architekt). Der früheste Umzug in die neuen Bundesländer erfolgte bereits 1992 – der jüngste erst 1997. Zwei der Interviewpartner wohnen in Schwerin, einer in Erfurt und drei in Dresden. Alle Befragten wohnen in Wohnungen mit hohem Wohnkomfort. Keine der interviewten Personen wohnte zum Zeitpunkt der Befragung in einem sozia-len Brennpunkt (Tabelle 1).

Tabelle 1: Sozio-strukturelles Profil der Befragten

Beruf Geschlecht Alter Familienstand Umzug in

neue Länder Wohnsituation /

Wohnumfeld

Physiker

Männlich 36 Partnerschaft – ohne Kinder

1992 Großzügiger Neubau / Villenviertel am Stadtrand

Lehrerin Weiblich 35 Partnerschaft – ohne Kinder

1993 Großzügiger Neubau / Villenviertel am Stadtrand

Elektroingenieur I Männlich 32 Partnerschaft – ohne Kinder

1994 Renovierter Altbau / ruhi-ges Innenstadtquartier

Sozialpädagogin Weiblich 29 Partnerschaft – ohne Kinder

1996 Renovierter Altbau / ruhi-ges Innenstadtquartier

Architekt Männlich 40 Partnerschaft – ohne Kinder

1994 Renovierter Altbau / ruhi-ges Innenstadtquartier

Elektroingenieur II Männlich 37 Single 1997 Großzügiger Neubau / ruhiges Stadtrandquartier

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3.2 Erhebungs- und Auswertungsverfahren

Die Erhebung der Daten erfolgte durch offene Interviews – in der Regel mit einer Per-son, in einem Fall mit zwei Personen. Die Struktur der Gespräche wurde durch eine thematische Ausrichtung bei der Kontaktaufnahme, durch Leitfragen und durch eine zu-sammenfassende Paraphrasierung der Gesprächsinhalte des Interviews bestimmt.

Methodisch vorbereitet wurde das Interview in Richtung einer offenen, aber proble-morientierten Kommunikation durch einen Leitfaden. Ausgangspunkt für die thematische Ausrichtung dieses Leitfadens waren die oben (2.2) eingeführten Thesen. Als allgemeine Struktur für das Interview wurde eine Gliederung nach drei sozialen Feldern bestimmt: Nachbarschaft, Konsum, Freizeit. Auf die explizite Ausformulierung von Fragen wurde zu-gunsten der Bestimmung von Stichwörtern zu Verhaltensweisen und Handlungsfeldern ver-zichtet. An den Beginn des Gesprächs wurden Fragen zu sozio-strukturellen Basisdaten der interviewten Personen gestellt: Alter, Beruf, etc. (siehe Abbildung 1). Um möglichst viele der non-verbalen Ausdrucksebenen in der Kommunikation zu bewahren und für die Auswertung zugänglich werden zu lassen, fanden die Interviews in face-to-face Si-tuationen statt. Die Interviewpartner wurden in allen Punkten nach ihrer subjektive Beur-teilung der Ereignisse gefragt. Gerahmt wurde die Befragung zu den untersuchten Lebens-bereichen durch die Orientierung an Entwicklungsprozessen.

Die Aufbereitung der Daten wurde in einem Fall durch einen Tonbandmitschnitt, in den anderen Fällen durch stichpunktartige Gesprächsnotizen vorbereitet. Der Tonband-mitschnitt, bzw. die Notizen, die während der Interviews entstanden, wurden im An-schluss an das Interview in einem kurzen Protokoll zusammengefasst. Im Zentrum der Auswertung steht die Interpretation der durchgeführten Interviews. Sie baut auf der Analyse der Protokolle und der Wahrnehmungen während der Interviews auf. Als Man-gel erwies sich, dass im Zuge der stichpunktartigen Aufzeichungen die wortwörtlichen Formulierungen der Interviewpartner weitestgehend verloren gingen.

Abbildung 1: Elemente des Interviewleitfadens

Bereich Nachbarschaft:

• Hilfeleistung • Einladungen • Grüßen • Bemerkungen • Kontakte

Bereich Konsum:

• Grüßen • Bemerkungen • Betrugserlebnisse • Service

Bereich Freizeit:

• Stammkneipe • Informelle Treffs • Gemiedene Orte • Kontakte

Sozio-strukturelle Basisdaten:

- Alter - Geschlecht - Familienstand / Partnerschaft - berufliche Qualifikation - Zeitpunkt der Übersiedlung in die neuen Bundesländer - Sofern die Gespräche nicht in der Wohnung der Befragten

stattfanden, wurde außerdem noch darum gebeten, Wohnquartier, Wohngebäude und Wohnung zu beschreiben

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3.3 Das praktische Vorgehen bei der Untersuchung

Nachdem die Forschungsfrage definiert und der Leitfaden für das offene Interview aus-gearbeitet vorlag, war für die weitere Durchführung des Projekts die Kontaktaufnahme mit dem Feld der nächste Schritt. Durch Nachfragen im Freundes- und Bekanntenkreis konnten in einem Zeitraum von drei Monaten sechs Personen für ein Interview gewon-nen werden. Die erste Kontaktaufnahme erfolgte in allen Fällen telefonisch. Im Zuge dieses ersten Telefonkontakts wurde den später Befragten allgemein erläutert, dass sich das Projekt mit der Lebenssituation von ‚Westlern im Osten‘ beschäftigt. Sie wurden gebeten, ihre ‚persönlichen Erfahrungen und die Lebensqualität in einer ostdeutschen Stadt‘ in einem Interview zu schildern. Als zeitlicher Rahmen für die Befragung wurde eine halbe Stunde angegeben.

Die Gespräche dauerten ca. eine Stunde. Als besonders hilfreich erwies sich, nach etwa 30 Minuten die bisherigen ‚Ergebnisse‘ des Interviews zu paraphrasieren und die Erhebung ‚eigentlich‘ für beendet zu erklären. Regelmäßig setzte im Zuge dieser Para-phrasierung von Aussagen der Gesprächspartner eine bemerkenswerte Entwicklung ein. Die Gesprächspartner fingen an, sich mehr für das Thema zu engagieren, nachdem das ‚eigentliche‘ Interview scheinbar beendet worden war. Zum Teil führte dies zum Ver-lassen der ursprünglich fokussierten Lebensbereiche, insbesondere kam der Bereich Ar-beit häufig zur Sprache, zum Teil waren diese Interviewanteile geeignet, ein neues Licht auf die bisherigen Aussagen zu werfen.

4. Forschungsergebnisse

4.1 Kommunikatives Beschweigen

Mehrere der Befragten brachten eher beiläufig zum Ausdruck, dass sie bestimmte Ge-sprächsthemen vermeiden, wenn sie sich mit Ostdeutschen unterhalten. In der Praxis meint dies aber nicht vornehmlich den Verzicht auf pauschale Urteile über die ehemali-ge DDR. Die Kontrolle der Gesprächsinhalte entwickelt sich bereits in Situationen des wechselseitigen Beschreibens und Kommentierens von alltäglichen Erfahrungen. Der Elektroingenieur I erwähnte beispielsweise als Schlüsselerlebnis, wie er zwei Nachba-rinnen gegenüber Kritik an der Organisation des Weimarer Kulturfestivals geäußert hat-te, konkret hatte er bei einem Besuch Straßenkünstler vermißt. Die Reaktion der Nach-barinnen war ein vehementer Vorwurf: in Stuttgart – der Heimatstadt des Interviewpart-ners – würde man ein Stadtfest ja wohl kaum besser organisieren können. Die Tonart des Vorwurfs ließ eine Erklärung, dass es in der Kritik gar nicht um einen Vergleich zwischen Ost-West gegangen war, sinnlos erscheinen. Die Begegnungen mit diesen Nachbarinnen sind seither von einer merklichen Distanz geprägt. Das Fazit für den Elektroingenieur I: Vorausdenken, wo Befindlichkeiten der Ostdeutschen liegen und Berichte oder Thematisierungen zu solchen sensiblen Bereichen auslassen. Strukturell vergleichbare Beschreibungen gaben bis auf den interviewten Architekten alle Befrag-ten. Sehr deutlich trat dieser Aspekt der Vermeidung etwa auch im Interview mit der Sozialpädagogin hervor. Diese berichtete von der für sie sehr wichtigen Freundschaft

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mit einer Kollegin, die ebenfalls aus dem Westen stammt. Eindrücklich beschrieb sie, wie das gegenseitige Erkennen als Westdeutsche die zunächst vorsichtige, langsame Annäherung in ein zügiges Vertrautwerden verwandelte. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass die Befragte ausdrücklich herausstellte, wie erleichtert und frei man nach dieser Entdeckung miteinander reden konnte, weil man nicht mehr die Beschreibung der eigenen Erlebnisse und Meinungen zu filtern brauchte. Gerade diese Szene verdeutlicht, dass die Kontrolle der Gesprächsinhalte für das subjektive Erleben von großer Bedeu-tung ist, ohne dass die Personen dies als Beitrag zur Vermeidung von Stigmatisierungen werten oder diese Leistungen gewichten. Für diese Interpretation spricht insbesondere wiederum eine Sequenz aus dem Interview mit dem Elektroingenieur I. Nachdem er ausdrücklich und wiederholt die Überzeugung vertreten hatte, dass er sich in keiner Weise ausgeschlossen fühlt, antwortete er auf die Frage, ob er im Osten langfristig wohnen bleiben wolle: Nein, es würde ihn stören, andauernd mit ‚dieser‘ Ost-West Pro-blematik in Berührung zu kommen. Irgendwie könnten ‚die Ostdeutschen‘ dieses The-ma nicht ruhen lassen.

4.2 Gegenstigmatisierung: Die Ostdeutschen

In den Beschreibungen der Interviewpartner erscheinen die Ostdeutschen zudem oft in keinem gutem Licht: Sie sind – trägt man die verschiedenen Charakterisierungen zu-sammen – nicht so selbständig im Handeln, Denken in kleinen Schritten, auch ist ihr Denken nicht marktwirtschaftlich und nicht weltoffen. Sie sind allerdings gute ‚Organi-sierer‘ – dafür aber schlechte Planer, keine Unternehmer und außerdem durch eine Un-tertanenmentalität geprägt: „Ich glaub, dieses Nachbohren und dieses Interesse und nicht nur das Hinnehmen – eh – ob das ne Wessi-Art ist –, aber eben auch gewachsen, damit bin ich ja auch eben aufgewachsen. Ich meine das sie nicht das Bedürfnis haben nachzufragen“ (Sozialpädagogin). In den Interviews vermittelte sich der Eindruck, dass es angesichts dieser Mängelliste ein natürliches Phänomen ist, wenn man sich nicht immer wohl unter den Ostdeutschen fühlt. Nach dem Motto: „Die Ostdeutschen haben eben noch eine ganze Menge zu lernen und nachzuholen.“ Unter Berufung auf die eige-ne Herkunft lassen sich so Stigmatisierungsversuche entkräften. Mit Elias lässt sich hier von Gegenstigmatisierung sprechen, die zumindest dazu beiträgt, die subjektive Betrof-fenheit durch das Verhalten der Ostdeutschen zu verringern.

4.3 Sozialräumliche Ansiedlung und soziale Bedeutung der Stadt

Großer Einfluß auf die Selbstbeschreibung der Interviewpartner geht von der sozial-räumlichen Ansiedlung der Westdeutschen in privilegierten Quartieren aus. Hinzu kommen die spezifischen Wirkungen des Großstadtlebens. Alle Befragten leben in grundsanierten oder neuerstellten Wohnungen. Dies bedeutet, dass eine enge soziale Kohäsion der Nachbarn nicht vorausgesetzt werden kann. Dies bestätigen die Beschrei-bungen der Lehrerin und ihres Partners und des Elektroingenieurs II. Diese drei gehen davon aus, dass in den neu erstellten Wohnanlagen eigentlich niemand über das Grüßen hinaus miteinander bekannt ist. Die anderen Interviewpartner sind sich nicht sicher, in-wieweit sich die anderen Mietparteien, die im selben Haus wohnen, kennen. Auch sie

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beschrieben die Atmosphäre im Haus als distanziert, maßen dieser Situation aber keine weitere Bedeutung zu. In den westdeutschen Städten, in denen sie früher wohnten, war dies nicht anders. Die geringe Bedeutung, die die Interviewpartner den Interdependen-zen innerhalb des Wohnumfeldes zusprachen, bestätigt diese Betrachtungsweise. So wurde Nachbarschaft von allen Beteiligten allein auf die Wohnanlage, das Mietshaus bezogen, indem sich auch die eigene Wohnung befand. Vor diesem Hintergrund ist die Vermutung, dass gerade in den Wohnquartieren eine soziale Kohäsion existiert, die Stigmatisierung ermöglicht, nicht haltbar. Die Berichte der Interviewpartner zeigen im Gegenteil, dass negative Erlebnisse mit den Ostdeutschen entweder in den Bereichen Konsum und Freizeit erlebt wurden oder in dem konzeptionell ursprünglich nicht erfass-ten Bereich Arbeit stattfanden.

4.4 Ausgrenzungserfahrungen der Befragten

Die Sozialpädagogin berichtete von einem Einkaufserlebnis, bei dem sie zunächst offen und herzlich bedient wurde. Als sie sich aber als Westdeutsche zu erkennen gab, ändert sich die Situation gänzlich und sie wurde als Westdeutsche für den ‚Ausverkauf der DDR‘ verantwortlich gemacht wurde. Seither meidet die Befragte diesen Laden. Der Physiker und die Lehrerin berichteten von unangenehmen Situationen beim Einkauf: die fehlende Vertrautheit mit ortsüblichen Bezeichnungen beim Bäcker, Fleischer, an der Käsetheke im Supermarkt führt öfter zu unfreundlichen Korrekturen: „Das heißt bei uns aber...”. Vergleichbare Erlebnisse gibt es beim Service in Restaurants, wo beispielswei-se eine Soljanka dem Westdeutschen, der die Speise nicht kennt, recht bissig als ortsüb-liche Spezialität angeboten wird. Diesen Erlebnissen kommt in der subjektiven Bewer-tung aber keine maßgebliche Bedeutung zu. Dies gilt für alle Interviewpartner über die gesamte Dauer ihrer Ansiedlung in den neuen Bundesländern. Die als belastend emp-fundenen Erfahrungen von Stigmatisierungsversuchen oder Ausgrenzung, die die In-terviewten in der eigenen Wahrnehmung gewichten, liegen nicht in den Bereichen Kon-sum und Freizeit. Wenn bittere Erfahrungen mit Stigmatisierungsversuchen und Aus-grenzung gegeben waren, dann im Bereich der beruflichen Tätigkeit. Am deutlichsten äußerte dies der Physiker. Dieser war mehrere Jahre in einem Institut tätig, das zu 95% Ostdeutsche beschäftigte. Negative Klischees und pauschale Urteile über die Westdeut-schen, über westdeutsche Politik und Wissenschaft waren dort an der Tagesordnung - noch heute, zwei Jahre nach einem Stellenwechsel, betrachtet er die dortige Situation als traumatisierend.

4.5 Ansichten zum Verhältnis der Ostdeutschen zu den Westdeutschen im zeitlichen Verlauf

Angesprochen auf die Entwicklungstendenzen gaben die Befragten in der Regel keine auf die persönliche Situation bezogenen Antworten. Nachdem sie herausgestellt hatten, dass für sie selbst keine Betroffenheit in den speziell thematisierten Bereichen existiert, konnte dies kaum anders sein. Eine Betrachtung über die individuell durchlebte Ent-wicklungsdynamik war auf dieser Grundlage nicht möglich. Die dennoch gegebenen Beschreibungen erschienen eher als Ausdruck für die Haltung, in der die Befragten ih-

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rerseits den Ostdeutschen gegenwärtig begegnen. Gerade diese Frage war wiederholt Ausgangspunkt, um ein negatives Stereotyp vom Ostdeutschen zu skizzieren. Im Rah-men der Beschreibung dieser ostdeutschen Identität wurde ein ganzes Bündel von nega-tiven Eigenschaften angesprochen (vgl. Abschnitt 4.2 Gegenstigmatisierung: die Ost-deutschen).

Allein der Elektroingenieur I machte in dieser Hinsicht einen Unterschied. Er stellte dar, dass er in der Gegenwart seltener Situationen erlebt, in denen er mit Vorurteilen oder diskriminierenden Äußerungen gegenüber Westdeutschen konfrontiert wird. Seine Erklärung hierfür sind die inzwischen gefestigten sozialen Kontakte. Innerhalb dieses Bekannten- und Freundeskreis ist seine Herkunft aus dem Westen in der Regel kein Thema mehr.

5. Zusammenfassung

Die Analyse der Interviews zeigt, dass in den ostdeutschen Städten subtile Ausgren-zungsprozesse auf die Beziehungen zwischen den Ostdeutschen und westdeutschen Akademikerinnen und Akademikern Einfluß nehmen. Diese führen bei den Befragten aber nicht zu einer bewußten und negativ bewerteten Einschränkung der Teilhabemög-lichkeiten in den untersuchten Lebensbereichen. Einerseits mit Hilfe von kommunikati-vem Beschweigen und Gegenstigmatisierung, andererseits durch sozialräumliche Di-stanz, sowie aufgrund spezifischer Effekte des Großstadtlebens werden die Möglichkei-ten für eine effektive Stigmatisierung weitgehend aufgelöst. Keiner der Interviewpartner hatte in einem der betrachteten Bereiche subjektiv Schwierigkeiten, seine Vorstellungen von Teilhabe zu verwirklichen. Würde man allein die Bewertung der Befragten zum Maßstab für die Analyse machen, müßte man von einer unproblematischen Integration in den Bereichen Konsum und Freizeit ausgehen. Gegen ein solches Resümee spricht insbesondere die Praxis des kommunikativen Beschweigens durch die Interviewpartner. Diese zeugt von den zum Teil erheblichen Anstrengungen, die notwendig sind, um die Erfahrung von Stigmatisierung und in der Folge Ausschließung zu vermeiden.

Im Ergebnis weist die Auswertung der Gespräche darauf hin, dass es eine wechsel-seitige Ausgrenzungsdynamik gibt, und dass die Interviewpartner auf Basis internali-sierter Verhaltensmuster über Strategien verfügen, sich der Ausgrenzung zu entziehen, bzw. ihr Ausmaß niedrig zu halten. Fraglich bleibt in welchem Umfang unbewußt er-brachte Ausgleichsleistungen den Blick auf die Belastungen verstellen.

Die Möglichkeiten, die das durchgeführte Projekt eröffnet hat, liegen vor allem im Problemaufriss und der Entdeckung von Perspektiven für eine Thematisierung der Be-ziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen in den neuen Bundesländern. Als Thema-tik bislang eher vernachlässigt, verweisen die Ergebnisse auf eine gesellschaftlich bri-sante Beziehungsstruktur.

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Literatur

Bastasin, Carlo, 1998: Deutschland von Außen. Zur Lage einer Nation. Frankfurt/M.: Fischer.

Elias, Norbert, 1976: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und Psychoge-netische Untersuchungen. Erster Band, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Elias, Norbert, 1991: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Elias, Norbert; Scotson, John L., 1993: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt/M.: Suhr-kamp.

Endlich, Luise, 1999: Neuland. Ganz einfache Geschichten. Berlin: Transit.

Kleining, Gerhard, 1995: Lehrbuch der entdeckenden Sozialforschung. Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union.

Senfft, Heinrich, 1999: Die sogenannte Wiedervereinigung. Berlin: Rowohlt.

Statistisches Bundesamt (Hrdg.), 1997: Datenreport 1997. Zahlen. Fakten über die Bun-desrepublik Deutschland. München: Bonn Aktuell.

Treibel, Annette (1999): Migrationsprozesse. In: Glatzer, W.; Ostner, I. (Hrsg.), Deutschland im Wandel. Sozialstrukturelle Analysen. Sonderband der Zeitschrift Gegenwartskunde. Opladen: Leske + Budrich.

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III. Konflikte

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Sozialer Ausschluss von Jugendarbeit? – Das Jugendzentrum Niedermühlenkamp im Konflikt mit den Anwohnern

Gerhard Prade unter Mitarbeit von Yvonne Voßmann und Timo Koch

1. Ziel der Untersuchung

Ziel der Untersuchung war es, den Begriff „sozialen Ausschluss“ an einem Beispiel zu erfassen und deutlicher zu machen. Zu diesem Zweck wurde überprüft, ob soziale Aus-schlussprozesse zwischen den Generationen im Bereich von Jugendzentren und deren Wohnumfeld zu finden ist. Wir untersuchten das Jugendzentrum Niedermühlenkamp in Bielefeld und das anliegende Wohnumfeld. Uns ging es um die Beschreibung eines Konfliktfeldes und der hier stattfindenden Ausschliessungsprozesse. Die Untersuchung wurde mittels qualitativer Datenerhebung durchgeführt.

Das Jugendzentrum Niedermühlenkamp liegt nahe der Innenstadt von Bielefeld in einem gemischten Wohn-/Gewerbegebiet, einem traditionellen Arbeiterviertel. In der direkten Umgebung befinden sich kleine parkähnliche Flächen sowie ein nicht immer geöffneter Sportplatz der nahe gelegenen Schule. Die anliegenden Wohnhäuser sind mehrstöckige Mehrfamilienhäuser. Zu denen gehören die Wohnhäuser, die direkt ge-genüber dem Jugendzentrum liegen und für die Untersuchung relevant sind. Die Woh-nungen sind zum größten Teil Eigentumswohnungen.

Das 1928 von der DKP und anderen gegründete Jugendzentrum arbeitet seit Anfang der neunziger Jahre in seiner jetzigen Form. Der Schwerpunkt liegt dabei in der Jugend-kulturarbeit, bestehend aus Veranstaltungen wie Parties und Konzerten. Diese Jugend-kulturarbeit ist wegen der Lärmbelästigung der Anlass für einen lange schwelenden Konflikt mit den Anwohnern. Jugendkulturarbeit wird seit den sechziger Jahren durch-geführt und das Jugendzentrum möchte mit dieser Tradition nicht brechen. Neben der Jugendkulturarbeit besteht im Jugendzentrum die Möglichkeit, Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit zu nutzen.

In dieser Untersuchung soll nun erfasst werden, inwieweit Merkmale des sozialen Ausschlusses zu beobachten sind. Es wird sich aber zeigen, dass die gewonnenen Er-gebnisse sehr differenziert betrachtet werden müssen und sozialer Ausschluss sich nur unterschwellig zeigt.

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76 Sozialer Ausschluss von Jugendarbeit?

2. Konzept, Fragestellung, Thesen

2.1 Das Konzept der Exklusion

Spricht man von einem Ausschluss, so meint man einen Prozess, in dem jemand aus ei-nem Inneren in ein Äußeres herausgedrängt wird. Man spaltet ihn somit von einer Posi-tion im Inneren ab. Exklusion wird in der Literatur meistens mit dem Begriff der Aus-grenzung synonym gesetzt.

Bei einem sozialen Ausschluss geht man von einer vorherrschenden soziale Un-gleichheit aus, die jemanden von einer bestimmten Ressource ausgrenzt. Diese Ressour-ce kann materieller Art aber auch symbolischer Art sein (vgl. Kronauer 1997, S. 31 f.); dies würde z.B. den Ausschluss von Macht bedeuten (vgl. Elias 1993, S. 12 f.). Am Beispiel eines Langzeitarbeitslosen kann man den Ausschluss von einer materiellen Ressource demonstrieren. Langzeitarbeitslose verfügen nicht über die gleichen Chan-cen, wie andere und sind „...nicht mehr in der Lage, am gesellschaftlichen Leben aktiv teilzunehmen.“ (Kronauer 1997, S. 31) Sie werden somit aufgrund ihrer finanziellen Si-tuation von einem Teil des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt. Erwerbstätige mit regelmäßigem Einkommen, hingegen haben zumindest die Chance, teilzunehmen. Dies ist zunächst eine sehr formale Art des Ausschlusses.

Betrachtet man nun die informellen Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Grup-pen, so kann auch hier Ausschluss in Form von Machtgefällen beobachtet werden. In diesem Fall spielt soziale Stigmatisierung die wichtigste Rolle im Ausschließungspro-zeß. Norbert Elias untersuchte in diesem Zusammenhang die Beziehung zwischen den Atleingesessenen und neu Zugezogenen einer kleinen englischen Vorortsgemeinde und konnte folgendes beobachten: „Ausschluss und Stigmatisierung der Aussenseiter waren per se mächtige Waffen, mit deren Hilfe die Etabliertengruppe ihre Identität behauptete, ihren Vorrang sicherte und die anderen an ihren Platz bannte.“ (Elias 1993, S. 12). Hierbei sind es die Etablierten, die die Ressource Macht durch Stigmatisierung besitzen. Dieser Ausschluss kann nur funktionieren, solange die etablierte Gruppe die Position besitzt, zu stigmatisieren. „Eine Gruppe vermag eine andere nur so lange wirksam zu stigmatisieren, wie sie sicher in Machtpositionen sitzt, zu denen die stigmatisierte Gruppe keinen Zugang hat.“ (Elias 1993, S. 14).

Die Trennung der Gruppen erfolgt auf einer räumlichen Ebene. Einerseits ist diese Trennung sichtbar und manifestierbar, wie z.B. in einer Trennung durch bestimmte Wohnviertel. Andererseits kann diese Trennung nur symbolisch bzw. latent festgestellt werden. Diese Trennung wird in der Literatur durch Zentrum und Peripherie symboli-siert. „Das „Zentrum“ zeichnet sich aus durch eine Konzentration von Kräften und Res-sourcen, die „Peripherie“ durch Kräftezersplitterung und Ressourcenmangel.“ (Kreckel 1992, S. 41 zit. n. Konauer 1997, S. 32).

Dieser Ausschluss einer Gruppe aus dem Zentrum funktioniert, wie oben schon er-wähnt, durch Stigmatisierung. Es stellt sich nun die Frage, warum bestimmte Gruppen eine andere Gruppe stigmatisieren und wie diese Stigmatisierung funktioniert. Typisch für eine ausschließende Gruppe ist, laut Elias, eine gewisse Eigenintegration der Gruppe. Der Zu-sammenhalt in dieser Gruppe wird gestärkt durch ein Potential an Normen und Werten, denen

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sich die Mitglieder verpflichtet haben. Diese vereinbarten Normen und die gemeinsame Le-bensweise der Gruppe tragen dazu bei, dass sich eine Gruppenidentität entwickelt. Stösst diese Gruppe auf eine fremde Gruppe, kommt es zur Ablehnung. Aus Angst vor Statusverlust und Schutz der eigenen Gruppenidentität schließt sie sich gegen die andere Gruppe zusammen. In diesem Zusammenschluss wird das eigene Selbstbild gestärkt und das Fremdbild der anderen Gruppe geschwächt. Die andere Gruppe wird als minderwertig gesehen und ihr werden schlech-te Eigenschaften zugeschrieben. Dies hat zu Folge, dass die Mitglieder der Etabliertengruppe die Mitglieder der Aussenseitergruppe meiden (vgl. Elias, 1993, S. 18f).

2.2 Fragestellung

Begründet durch das persönliche Interesse an Kinder- und Jugendarbeit stellt sich uns die Frage, ob soziale Exklusion im Bereich dieses Feldes zu finden ist. Jugendarbeit be-steht aus zwei Seiten. Auf der einen Seite stehen die Jugendlichen, diejenigen, die Ju-gendarbeit entscheiden und ausführen, und auf der anderen Seite stehen die Personen und Gruppen, die im räumlichen Kontakt zu dieser Arbeit stehen. Dies sind Anwohner im direkten Wohnumfeld von Jugendarbeit. Als Beispiel von Jugendarbeit soll ein Ju-gendzentrum betrachtet werden.

Um in dieser Situation sozialen Ausschluss feststellen zu können, wird die Definition des Begriffes im Schwerpunkt nach Elias erfolgen. Hierbei soll sozialer Ausschluss im Sinn von Stigmatisierung und als Gegenteil von Integration betrachtet werden. Somit könnten zwei Dinge beobachtet werden. Zum einen Stigmatisierung der einen beteilig-ten Gruppe durch die andere, zum anderen Integration bzw. fehlende Integration beider Gruppen. Fehlende Integration soll hier anhand von Konflikten zwischen den Gruppen dargestellt werden. Ziel der Untersuchung ist es, vor allem den konflikthaften Charakter von Ausschließungsprozessen darzustellen. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten.

Wird die Institution als solches, die Jugendarbeit und die Teilnehmer ignoriert, kann ein persönlicher Ausschluss bzw. ein Abschotten des Ignorierenden beobachtet werden. Man könnte diese Form als passiven Ausschluss bezeichnen. Die zweite Möglichkeit des Ausschlusses kann in einem Konflikt zwischen den beteiligten Parteien beobachtet werden. Arbeiten die einzelnen Parteien gegeneinander, kann man von einem aktiven Ausschluss sprechen. Dieser aktive Ausschluss wird deutlich an konkreten Aktionen gegen die andere Gruppe. Daher kann aktiver Ausschluss an Konflikten beobachtet werden, in denen Stigmatisierung eine wichtige Funktionen hat. Dieser Konflikt besteht aus aktiven Handlungen, wie z.B. Protesten, Beschwerden, Anklagen und anderen Handlungen, mit denen die eine Gruppe die andere dazu bewegen will, so zu handeln wie sie es wollen.

2.3 Thesen

Aus der vorangegangenen Fragestellung wurde folgender forschungsleitender Rahmen entwickelt: 1. Wenn die Anwohner die Jugendarbeit bzw. die spezielle Form im Jugendzentrum

ablehnen und nichts damit zu tun haben wollen, dann kann fehlende Integration be-

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obachtet werden. In diesem Fall handelt es sich nach dem oben beschriebenen Kon-zept um passiven sozialen Ausschluss.

2. Wenn die Anwohner am Konflikt beteiligt sind und somit aktiv gegen das Jugend-zentrum arbeiten, dann handelt es sich ebenfalls um fehlende Integration und sozia-len Ausschluss in aktiver Form.

In beiden Thesen geht es um den sozialen Ausschluss der Jugendarbeit durch die An-wohner. Für die andere Seite des Ausschlusses der Anwohner durch das Jugendzentrum und dessen Beteiligte werden folgende Thesen aufgestellt: 3. Wenn das Jugendzentrum als Institution die Problempunkte der Anwohner ignoriert,

dann ist ein passiver Ausschluss seitens des Jugendzentrum zu beobachten und ein Mangel an Integration der Anwohner durch das Jugendzentrum.

4. Wenn sich zeigt, dass das Jugendzentrum und/oder die Jugendlichen den Konflikt aktiv aufrechterhalten wollen, dann kann ebenfalls fehlende Integration beobachtet werden. Hierbei kann dann ein aktiver Ausschluss der Anwohner durch das Jugend-zentrum und/oder die Teilnehmer beobachtet werden.

5. Wenn eine der beteiligten Gruppen versucht, die Integration beider Gruppen herzu-stellen, dann gilt dies als Integrationsversuch und die Bemühung, sozialen Aus-schluss abzuwenden.

3. Vorgehen

Grundlage waren für uns die Verfahren der entdeckenden Sozialforschung, wie sie Kleining (1995) beschreibt. Wir verwendeten qualitative Methoden wie die mündliche Befragung und die offene Beobachtung. Bei der Befragung wurde das offene Leitfaden-interview verwendet. Die Probanden sollten sich möglichst frei und individuell artiku-lieren können.

Befragt wurden Anwohner aus dem anliegenden Wohngebiet, Mitarbeiter des Ju-gendzentrums Niedermühlenkamp und Mitarbeiter der in dem Konflikt beteiligten Be-hörden der Stadt Bielefeld; in diesem Fall das Ordnungsamt und das Jugendamt. Hierbei handelt es sich um strategische Informanten aus dem zu beobachtenden Feld. Gleichzei-tig wurde eine offene Beobachtung der Gegebenheit vor Ort durch die Projektteilneh-mer durchgeführt. Insgesamt wurden ein Gruppeninterview, mit drei Probanden gleich-zeitig, und vier Einzelbefragungen durchgeführt.

Das Gruppeninterview sowie zwei der Einzelinterviews wurden bei den Probanden zu Hause bzw. am Arbeitsplatz durchgeführt. Es waren jeweils zwei Interviewer anwe-send, von denen einer die Befragung durchführte, während der andere ein Gespräch-sprotokoll anfertigte und gleichzeitig die Situation, ohne Vorgabe von Richtlinien, be-obachtete. Die Befragungen der Behördenmitarbeiter sind von einem Interviewer per Telefon durchgeführt worden. Die beiden Telefoninterviews unterscheiden sich insofern von den restlichen Befragungen, da den Probanden keine Leitfragen gestellt wurden. Sie wurden gebeten, ihr Wissen über den Stand der Situation wieder zugeben. Ein bei der Befragung durch den Leiter des Jugendzentrum überreichter Bericht fasst die Situation

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sowie die konkreten Maßnahmen des Jugendzentrum bezüglich des vorherrschenden Konfliktes für den zuständigen Jugendhilfeausschuss der Stadt Bielefeld zusammen.

3.1 Die Konfliktbeteiligten

3.1.1 Anwohner

Die Auswahl der Anwohner erfolgte aufgrund ihrer Wohnlage nahe dem Jugendzen-trum. Zuerst wurden anhand des Telefonbuches die Anwohner im direkten Umfeld er-mittelt. Aus den insgesamt fünf ermittelten Nummer wurden zwei per Zufall ausgewählt und angerufen. Beide Probanden erklärten sich sofort bereit, ein etwa halbstündiges In-terview durchzuführen, wovon eins bei dem Probanden zu Hause , und das andere an dem Arbeitsplatz des Befragten durchgeführt wurde.

Herr X. wohnt seit ungefähr zehn Jahren schräg gegenüber des Jugendzentrums. Ins-gesamt besteht sein Haushalt aus vier Personen, ihm als Vater, seiner Lebensgefährtin und seinen beiden Söhnen. Von Beruf ist Herr X. Diplom-Pädagoge. Das Alter der be-fragten Person wird auf Mitte Dreißig geschätzt.

Das zweite Interview wurde nicht in der vereinbarten Besetzung durchgeführt wer-den, da die Person zum vereinbarten Zeitpunkt nicht zu Hause angetroffen werden konnte. Dafür erklärten sich jedoch die Mutter und der Bruder des Probanden bereit, das Interview durchzuführen. Der Vater war ebenfalls zu Hause, hat sich jedoch nur als Zu-hörer an der Situation beteiligt. Die Familie Y. wohnt seit circa zehn Jahren unmittelbar gegenüber des Jugendzentrums. Der Haushalt besteht aus vier Personen, dem Vater, der Mutter, die von Beruf Busfahrerin ist, und den zwei erwachsenen Söhnen. Der befragte Sohn befindet sich in einer Ausbildung zu einem kaufmännischen Beruf. Das Alter der Mutter wird auf Mitte Vierzig geschätzt und der befragte Sohn wird auf Anfang Zwan-zig geschätzt.

3.1.2 Behörde

Beide Befragten der Behörde sind männlich und im Verwaltungsdienst tätig. Herr K. ist Abteilungsleiter der Abteilung Lärmbelästigung im Ordnungsamt Bielefeld. Mit ihm wurde ein fünfzehnminütiges Gespräch per Telefon geführt. Für weiter Informationen verwies Herr K. auf Herrn A., den er als Leiter des Jugendamtes benannte. Herr A. war der ehemalige Leiter des Jugendamtes der Stadt Bielefeld. Im Zuge einer Reformierung wurde dies in der alten Form aufgelöst und in neue Ressorts gegliedert. Seit der Neu-gliederung ist Herr A. in einem anderem Bereich, nämlich im wirtschaftlichen Sektor, beschäftigt. Dennoch erklärt Herr A. sich bereit, über sein Wissen und die Erfahrungen aus seiner früheren Tätigkeit zu berichten. Mit ihm wurde ebenfalls ein circa fünfzehn-minütiges Telefonat geführt.

3.1.3 Mitarbeiter des Jugendzentrums Niedermühlenkamp

Als direkten Konfliktbeteiligten der Institution Jugendzentrum wurde der seit einigen Jahren angestellte Leiter des Jugendzentrum befragt. Die Befragung fand im Jugendzen-trum statt. In dem Interview wurde der Befragte nach seiner Arbeit im Jugendzentrum, dem historischen Hintergrund des Jugendzentrums, der konkreten Jugendarbeit und dem

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80 Sozialer Ausschluss von Jugendarbeit?

vorherrschenden Konflikt zwischen Anwohner und dem Jugendzentrum gefragt. Als Leiter des Jugendzentrums steht der Befragte im Kontakt mit den zuständigen Behör-den.

3.2 Erhebungsinstrumente

Bei der Befragung der Konfliktgruppen Anwohner versus Jugendzentrum wurde mit einem offenen, halbstandardisierten Leitfadeninterview seitens der Untersuchungsteil-nehmer gearbeitet. Das Merkmal Konflikt und die daraus resultierende Variable, sozia-ler Ausschluss, sollten mittels Meinungen, konkreten Fällen des Konfliktes und Reak-tionen des Beteiligten abgefragt werden. Zusätzlich wurde mit weiteren Detailfragen durch den Interviewer gearbeitet.

Hier unser Leitfaden für die Anwohner: Frage 1: Bitte nennen Sie uns konkrete Fälle/ Erfahrungen, sowohl positive, als auch negative,

die Sie im Laufe der Zeit mit dem Jugendzentrum gemacht haben. Frage2: Wie waren Ihre Reaktionen auf die zuvor geschilderten Ereignisse? Frage 3: Welche Maßnahmen hat das Jugendzentrum unternommen? Frage 4: Was denken Sie, denken Ihre Nachbarn über das Jugendzentrum? Frage 5: Was wissen Sie über die sogenannte Bürgerinitiative? Nehmen sie daran teil? Wenn

ja, warum tun Sie das? Frage 6: Was soll in der Zukunft mit dem Jugendzentrum passieren? Frage 7: Können Sie sich vorstellen, die vorhandenen Konflikte in irgendeiner Art zu lösen?

Wenn ja, wie? Die beiden Telefoninterviews wurden ohne vorher festgelegte Leitfragen durchgeführt. Die Befragten wurden mit einer Eingangsfrage, die nach dem momentanen Wissenstand in der Konfliktsituation zwischen dem Jugendzentrum und den Anwohnern fragte, gebe-ten zu erzählen. Je nach Interviewverlauf wurden dann weitere Detailfragen gestellt.

Dem Leiter des Jugendzentrums Niedermühlenkamp wurden folgende Fragen ge-stellt: Frage 1: Bitte nennen Sie uns konkrete Fälle/ Erfahrungen, sowohl positive, als auch negative,

die Sie im Laufe der Zeit mit dem Jugendzentrum gemacht haben. Frage 2: Wie sieht die konkrete Jugendarbeit im JZ Niedermühlenkamp aus und welches sind

die Ziele der Jugendarbeit? Frage 3: Welches sind die grundlegenden Problempunkte des jetzigen Konfliktes mit den An-

wohnern? Frage 4: Wie gestaltete sich die Jugendarbeit früher und gab es zu derzeit schon ähnliche Kon-

flikte? Frage 5: Welche Maßnahmen hat das Jugendzentrum unternommen? Frage 6: Was denken Sie, denken Ihre Nachbarn über das Jugendzentrum? Frage 7: Welche Position beziehen die entscheidenden Gremien der Stadt Bielefeld im Kon-

flikt? Frage 8: Was soll in Zukunft mit dem Jugendzentrum passieren? Frage 9: Können Sie sich vorstellen, die vorhandenen Konflikt in irgendeiner Art zu lösen?

Wenn ja, wie?

3.3 Untersuchungsdurchführung

Im Vorfeld der Untersuchung wurde geplant, die befragten Probanden nicht direkt mit dem eigentlichen Untersuchungsthema zu konfrontieren. Statt dessen teilten wir ihnen

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mit, dass wir eine allgemeine Studie zum Thema Wohnqualität in der Nähe von Jugend-zentren durchführten.

4. Ergebnisse

4.1 Anwohner

a) Einzelinterview mit Herrn X.

Aus dem Telefonbuch ging eindeutig hervor, dass es sich bei Herrn X. um einen Befrag-ten mit einer pädagogischen Ausbildung handelt, da er mit dem Zusatz Diplom-Pädagoge eingetragen war. Da es zu diesem Zeitpunkt der Projektarbeit darum ging, ei-nen möglichst detaillierten Überblick über das zu untersuchende Feld zu bekommen, wurde er gezielt von uns ausgewählt. Von ihm wurde eine wissenschaftliche Herange-hensweise an das zu untersuchende Thema erwartet, und somit ein ausführlicher erster Überblick, der als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen in diesem Projekt dienen sollte. Nach der obligatorischen Einleitung über das Thema und die Absichten der Un-tersuchung, sowie der Garantie über den Datenschutz, erklärte sich Herr X. bereit, ein Interview durchzuführen. Dieses sollte jedoch nicht bei ihm zu Hause stattfinden, son-dern an seiner Arbeitsstelle, einer Krisenberatungsstelle.

Das Interview fand in der darauf folgenden Woche dienstags um zwölf Uhr in einem Arbeitszimmer der Krisenberatungsstelle der Evangelischen Kirche statt. Das Zimmer war hell und vermittelte eine angenehme Stimmung. Ausgestattet war es mit einem Schreibtisch und einer Sitzecke mit drei Korbstühlen und einem Tisch. Bereits in dem ersten Telefonat war Herrn X. zugesagt worden, eine halbe Stunde nicht zu überschrei-ten. Trotzdem erklärte uns Herr X. gleich nach der Begrüßung, dass er sich eine ganze Stunde Zeit nehmen könnte, die auch genutzt wurde.

Nochmals wurde Herr X. kurz über das Projekt informiert und er zeigte sich sehr aufgeschlossen und interessiert, da er sich nach der genauen Absicht und der geplanten Reichweite des Projektes erkundigte. Die Atmosphäre war entspannt und Herr X. be-antwortete die Fragen sehr ruhig und wohlüberlegt. Er ließ sich Zeit, über die Fragen nachzudenken und beantwortete diese dann ausführlich. Obwohl er nur von einem der Interviewer befragt wurde, versuchte er, durch Blickkontakt auch den Beobachter und Protokollführer mit einzubeziehen. Es schien ihn nicht zu stören, nur mit einem Inter-viewer sprechen zu müssen bzw. den anderen Interviewer kommentarlos das Gespräch notieren zu sehen.

Herr X. schließt nicht aus, weder die Jugendlichen noch die Anwohner. Er lässt er-kennen, dass er gegen eine Ausgrenzung des Jugendzentrum aus der Stadt ist. Er spricht sich für eine zentrale Lage eines Jugendzentrum aus und nimmt Position für die Jugend-lichen ein. „Die Kids hätten keinen Anlaufpunkt mehr und würden somit noch mehr auf der Straße hängen.“ Aus seinen Aussagen kann geschlossen werden, dass er in die Gruppe der Anwohner nur wenig integriert ist. „Ich denke, die Leute wissen, wie meine Einstellung ist und haben mich aus diesem Grund nicht angesprochen.“ Engere Kon-takte zu den konfliktbeteiligten Anwohner hat er nicht. Ebenso wird er von den Anwoh-nern nicht mit in den Konflikt einbezogen. „...dass auf unsere Anwesenheit keinen Wert

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gelegt wurde“. Er sieht die Problematik, die durch die Veranstaltungen im Abendbe-reich entstehen, fühlt sich aber nicht durch sie gestört, da sein Schlafzimmer auf der dem Jugendzentrum abgewandten Seite liegt. „Ich habe gar nichts unternommen, da mich die Veranstaltungen nicht zu sehr stören.“ Zu einer Teilnahme am Konflikt sieht er sich nicht veranlasst.

Man kann erkennen, dass Herr X. für die Integration von Jugendzentrum und An-wohnern ist. „Konflikte sind dazu da, Lösungen zu suchen, die für beide Parteien akzep-tabel sind“. So schlägt er vor, dass das Jugendzentrum doch auch für die Anwohner ge-öffnet werden sollte. So sollten die Anwohner die Möglichkeit erhalten, die Räume des Jugendzentrums für Feste zu nutzen. Ebenso hält er ein gemeinsam organisiertes Stra-ßenfest für eine gute Gelegenheit, die Integration von beiden Seiten zu fördern. Herr X. scheint ein sehr offener und toleranter Mensch zu sein. Sicher ist er durch sein Studium und seinen Beruf in seiner Meinung vorgeprägt, aber schließlich hätte er sich als An-wohner ebenfalls durch das Jugendzentrum gestört fühlen können.

b) Gruppeninterview mit Familie Y.

Aus dem Telefonbuch wurde per Zufall Herr Y. junior ausgewählt. Dieser wurde auch direkt zu Hause angetroffen. Herr Y. wurde mit dem selben Wortlaut über die Studie informiert wie eingangs Herr X. Er erklärte sich ebenfalls sofort bereit, an einem halb-stündigen Interview teilzunehmen. Nach einigen Terminvorschlägen durch die Inter-viewerin konnte ein Treffen für die darauffolgenden Woche mittwochs um 17.00 Uhr vereinbart werden. Die Befragung sollte in der Wohnung von Herrn Y. stattfinden. Zum verabredeten Zeitpunkt konnte Herr Y. jedoch nicht angetroffen werden. Die Haustür wurde durch die Mutter geöffnet. Nach einer kurzen Erklärung, warum wir geklingelt haben, erzählte die Mutter, dass ihr Sohn eben das Haus verlassen hätte, ohne zu sagen, wann er wieder kommt. Es schien ihr peinlich zu sein, dass ihr Sohn die Verabredung nicht eingehalten hatte, denn sie schimpfte auf ihn und entschuldigte sich für sein Ver-halten. Danach erklärte sie sich bereit, das Interview durchzuführen und bat uns herein.

Das Interview fand in dem Wohnzimmer der Familie Y. statt. Dieses Zimmer ging zur Straße hinaus und man blickte direkt auf das Jugendzentrum Kamp. Während des Interviews konnten wir uns ein deutliches Bild darüber machen, wie hellhörig dieses Gebäude war. Es fuhren mehrere Autos über das Kopfsteinpflaster und die Geräusche waren deutlich im Wohnzimmer zu hören. Die Wohnung wurde trotz unserer Anwesen-heit sehr offen gehalten. So konnte man vom Wohnzimmer direkt in das Schlafzimmer der Eltern sehen, da die Zimmertür offen stand. Das Schlafzimmer lag wie das Wohn-zimmer zur Straße hinaus.

Frau Y. bot uns den Platz auf dem großen Ledersofa an, sie selbst setzte sich seitlich zu uns auf ein zweisitziges Sofa, der jüngere Sohn nahm in einem Sessel Platz. Herr Y. senior blieb im Türrahmen gelehnt stehen und beobachtete wortlos das Interview. Wie in dem ersten Interview gab es einen Interviewer und einen Protokollführer, was auch Familie Y. nicht zu stören schien.

Auf die gestellten Fragen antworteten sie sehr emotional und drückten sehr deutlich ihre Meinung aus. Anders als bei dem Interview von Herrn. X. mussten die Befragten

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hier mehr mittels gezielter Fragen geleitet werden. Von sich aus erzählten die Inter-viewpartner nichts über den Konflikt.

Bei Familie Y. kann man sehr gut erkennen, dass sie das Jugendzentrum bzw. die im Abendbereich laufenden Veranstaltungen mit ihren Teilnehmern ausschließen. So for-dern sie in ihren Aussagen eine Verlagerung des Jugendzentrum außerhalb der Stadt. „Das beste wäre, das Haus abzureißen und aufs Land stellen.“ Sie sind auch Personen, die sich aktiv am Konflikt und somit am Ausschließungsprozess beteiligen. Sie bestäti-gen, dass sie sich bei einer Unterschriftenaktion beteiligt haben und sich bei Mitarbei-tern des Jugendzentrum beschwert haben. Es lässt sich erkennen, dass die Familie Y. sich in die Gruppe der Anwohner integriert fühlt und sich mit den Beschwerden identi-fiziert. Jedoch sagen sie auch, dass sie nicht zu der vorhandenen Bürgerinitiative gehö-ren. Sie fordern eine Geldstrafe, um das Jugendzentrum in seine Schranken zu weisen und es dazu zu veranlassen, die Abendveranstaltungen einzustellen. Für sie ist es wich-tig, das Jugendzentrum aus ihrem Wohnbereich zu entfernen. Von einer Integration bei-der Seiten ist die Familie nicht überzeugt, ebenso wenig wie von eventuellen alternati-ven Lösungsvorschlägen. Sie antworten auf diese Frage mit einem „Nein“. Im Gegen-teil, sie stellen sich ausgesprochen aggressiv dar: „am besten eine Bombe reinlegen!“. An Familie Y. kann ein deutlicher Ausschließungsprozess durch Stigmatisierung der Jugendlichen gezeigt werden. Sie stellen die Jugendlichen als umweltverschmutzende und randalierende Gruppe dar. Die Gruppe der Jugendlichen wird als nonkonform dar-gestellt und als Gruppe abgewertet. „..., haben sie uns Schneebälle an die Fensterschei-ben geworfen.... Ihren Müll schmeißen sie überall hin, ihre Bierdosen fliegen durch die ganze Straße.... Ganz oft benutzen sie den Eingang des Hauses als Toilette und pinkeln dann überall hin.“. Familie Y. fühlt sich in dem Konflikt sehr hilflos und sieht keine Möglichkeiten, den Konflikt zu lösen. Sie meinen, sich in einer Position zu befinden, in der sie sich nicht wehren können. Sie wirken frustriert und fühlen sich angegriffen. Ge-rade dies kann einer der Gründe sein, die Jugendlichen durch Stigmatisierung abzuwer-ten.

4.2 Behörde, Telefoninterviews mit Herrn A. und Herrn K.

a.) Herr K., Ordnungsamt Bielefeld

Um einen genaueren Einblick in den Konflikt zwischen dem Jugendzentrum und den Anwohnern zu bekommen, wurde telefonisch mit Herrn K., dem Leiter der Abteilung Lärmbelästigung vom Ordnungsamt Bielefeld, Kontakt aufgenommen. Herr K. antwor-tete sehr nüchtern und offen auf die ihm gestellten Fragen, äußerte seine persönliche Meinung bezüglich des bestehenden Konfliktes jedoch nur in einigen Punkten. So be-fürwortet er die Jugendarbeit und befindet sie für notwendig: „Ich persönlich stehe der Jugendarbeit sehr positiv gegenüber...“. Im Falle einer durch die Anwohner geforderten Geldstrafe versuchte Herr K., auf einer Anwohnerversammlung zwischen den Anwoh-nern und dem Jugendzentrum zu vermitteln. In diesem Fall mit Erfolg. Auch sieht er sich nicht dazu veranlasst, weitere Maßnahmen gegen oder für das Jugendzentrum durchzuführen, da er als Vertreter des Ordnungsamtes nicht für das Jugendzentrum zu-ständig ist. Er vermittelt insgesamt den Eindruck, dass er keine der beteiligten Gruppen

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ausschließt, bzw. einen Ausschluss unterstützt. Statt dessen versucht er, die Integration zwischen den beteiligten Gruppen durch Gespräche zu fördern. Aufgrund seiner Positi-on in der Verwaltung ist Herr K. aber nicht weiter an dem vorliegenden Fall beteiligt, so dass er hier als außenstehende Person betrachtet werden muss.

b) Herr A., ehemaliger Leiter Jugendamt Bielefeld

Auf die Empfehlung von Herrn K. hin wurde der ehemalige Leiter des Jugendamtes Bielefeld per Telefon befragt, um weitere Hintergrundinformationen zu erhalten. Herr A. äußerte sich ebenfalls sehr nüchtern und offen zu den ihm gestellten Fragen. „Meiner Meinung nach versucht man, am Kamp ein Exempel zu statuieren. Es wird versucht, ein neues Prinzip der Jugendarbeit durchzusetzen, nämlich das einer beschränkten Ju-gendarbeit bis nur noch 21.00 Uhr. In so einem Rahmen kann aber keine Jugendkul-turarbeit mehr stattfinden und das ist ein absoluter Verlust. Denn diese Art von Arbeit ist genauso wichtig wie die Arbeit mit jüngeren Jugendlichen und Kindern. Zudem be-schleicht mich das Gefühl, dass Jugendarbeit wieder aus dem städtischen Bereich aus-gegliedert, man kann schon sagen verjagt werden soll. Dieses Prinzip wurde ja in den 60er / 70er Jahren verstärkt betrieben. Wenn sich das jedoch durchsetzen sollte, hat es zur Folge, dass die Jugendliche ein Jugendzentrum nur schlecht bis gar nicht mehr er-reichen können und somit keinen adäquaten Anlaufpunkt in ihrem Wohngebiet hätten und so auch einen Teil ihrer Lebensqualität verlieren. Das ist meine Meinung!“. Als ehemaliger Leiter des Jugendamtes Bielefeld sieht Herr A. seine damalige Position nicht als neutral im bestehenden Konflikt an: „Wenn sie eine neutrale Person suchen, bin ich der Falsche.“. Er spricht sich eindeutig für Jugendarbeit aus, zumal er selbst Mitarbeiter des Jugendzentrums war. Eine Ausgrenzung einer Gruppe durch seine Person ist aber nicht ersichtlich. In seinen Aussagen kann man erkennen, dass er sich mit dem Jugend-zentrum identifiziert und Position bezieht. Er verortet den Konflikt in einem größeren Rahmen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, da er meint, dass am Jugendzentrum ein Exempel statuiert werden soll. Für ihn ist es ein ähnlicher Prozess von Ausgrenzung der Jugendarbeit aus der Stadt, wie er schon in den siebziger Jahren versucht wurde. In seinen Aussagen ist zu erkennen, dass er einen Ausschluss der Jugendarbeit sieht, je-doch sagt er nichts über die ausschließenden Gruppen. Da er nicht mehr zuständig ist, versucht er dementsprechend auch nicht, die Integration der am Konflikt beteiligten Gruppen zu fördern.

4.3 Leiter des Jugendzentrum Niedermühlenkamp

Das Interview mit dem Leiter des Jugendzentrums wurde nach telefonischer Kontakt-aufnahme und persönlichem Erscheinen der Interviewer im Jugendzentrum terminlich vereinbart. Nach einigen weiteren persönlichen Anfragen wurde ein Termin für ca. zwei Wochen nach der ersten Kontaktaufnahme vereinbart. Das Interview fand am frühen Nachmittag in den öffentlichen Räumen des Jugendzentrums statt. In dem offenen Raum befanden sich auf einer leichten Erhöhung mehrere Sitzgruppen. Die großen Fen-ster des Raumes ließen viel Licht hinein, so dass der Raum sehr hell wirkte. Die Gestal-tung der Wände und die aufgestellten Blumen wirkten dezent. Anwesend waren zwei Interviewer sowie der Leiter des Jugendzentrums. Kurzzeitig war der angestellte Zivil-

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dienstleistende anwesend, der sich mit einigen bestätigenden und informierenden Aus-sagen am Interview beteiligte. Das Interview dauerte ca. eine Stunde und begann mit einer Begrüßung durch die Interviewer und einer Erklärung des Projektes. Die beiden Interviewer stellten abwechselnd die Fragen, der jeweils passive notierte dabei die Ant-worten und Reaktionen der Befragten. Störungen durch weitere Personen traten nicht auf. An manchen Punkten des Interviews wurden weitere, vorher nicht abgesprochene Fragen gestellt, um detailliertere Aussagen über Zusammenhänge zu erhalten. Diese freien Detailfragen hielten sich aber an das festgelegte inhaltliche Konzept des Inter-views. Während des Interviews wurde von dem Leiter ein Bericht über den Konflikt mit den Anwohnern überreicht. Dieser Bericht wurde inhaltlich im Interview aufgegriffen und besprochen. Die Situation während des Interviews war entspannt. Der Befragte antwortete nach kurzem Überlegen strukturiert und detailliert auf die gestellten Fragen. Besonderheiten während des Interviews wie Störungen, starke Emotionen des Befragten oder sonstiges konnten nicht beobachtet werden.

Der Leiter des Jugendzentrum identifiziert sich vollständig mit dem Anliegen des Ju-gendzentrums selbst. Durch seine Position ist er Sprecher für dieses Anliegen in der Öf-fentlichkeit und bildet die Schnittstelle zwischen den beteiligten Gruppen Behörde, Anwohner und Jugendzentrum. Er steht für das Jugendzentrum und vertritt es dement-sprechend. Er selbst sieht sich Konflikten mit den Behörden und Politikern einerseits und den Anwohnern andererseits ausgesetzt. Als Gegner des Jugendzentrums benennt er die Anwohner und den Bezirksvertreter: „Die Politiker der Stadt Bielefeld stehen zum größten Teil hinter der Arbeit vom Kamp.... Der Bezirksvertreter Mitte findet die Ju-gendkulturarbeit ist überflüssig. Er will sie nicht.“. Er spielt die Belastung und Proble-me der Anwohner allerdings herunter und versucht somit, seine Position zu verbessern. Er sieht den Konflikt als unsinnig und zeigt für die Anwohner nur wenig Verständnis. Natürlich ist ihm die Jugendkulturarbeit wichtiger als die Anwohner und eine weitere Einschränkung dieser Veranstaltungen ist für ihn keine Lösung. In Ansätzen kann man bei ihm einen passiven Ausschluss der Anwohner feststellen, wenn er sagt „wir machen hier keine Jugendarbeit, um die Nachbarn zu befrieden“. Seiner Meinung nach ist den Gegnern des Jugendzentrums nicht bewusst, welchen Stellenwert diese Arbeit hat. Die Maßnahmen, die vom Jugendzentrum aus durchgeführt worden sind, sieht er als ausrei-chend und sogar belastend für das Jugendzentrum: Kürzung des Veranstaltungsbereichs, Absperren der Straße bei Veranstaltungen, Schallschutzmaßnahmen im Konzertraum, Aufforderung an die Teilnehmer zur Rücksichtnahme sowie die Inkaufnahme von Ein-nahmeverlusten. Er sieht sich nicht veranlasst, weitere Maßnahmen für die Anwohner durchzuführen, da selbst der Versuch einer Vermittlung zwischen Anwohnern und Ju-gendzentrum durch ein Treffen nicht von den Anwohnern angenommen wurde: „Wir haben den Nachbarn schon mal ein Treffen vorgeschlagen und sie zu einem Gespräch eingeladen. Das wurde aber kaum angenommen und es kamen nur ein paar. Der Be-schwerdeführer meinte, das Kamp sei kein Ort für Veranstaltungen und wenn über-haupt, dann nur bis 22.00 Uhr.“.

Der Leiter des Jugendzentrums wünscht zwar eine Integration von Anwohnern und Jugendzentrum, sieht dies aber nicht als seine primäre Aufgabe an. Er ist im Sinne der Integration bzw. des Ausschlusses als ambivalent zu bezeichnen. Einerseits weißt er die

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Forderungen und Anliegen der Anwohner als unberechtigt zurück, andererseits vertei-digt er die Jugendlichen und bemüht sich, den Konflikt zu entschärfen.

5. Zusammenfassung und Diskussion

Die Informationen aus den Interviews und den Beobachtungen vor Ort zeigen, dass die Kinder- und Jugendarbeit im Jugendzentrum Niedermühlenkamp differenziert betrach-tet werden muss. Ursache für den vorherrschenden Konflikt ist die Jugendkulturarbeit mit Veranstaltungen in Form von Parties und Konzerten. Für diesen Bereich der Arbeit lässt sich massive Ablehnung durch die Anwohner feststellen. So beklagt Frau Y. die Lärmbelästigung mit folgenden Worten: „Dann immer diese Lärmbelästigung bei Ver-anstaltungen die nach 24.00 Uhr gehen. Da kann keiner schlafen...“. Dieser Bereich der Jugendkulturarbeit ist auch bei den anderen Anwohnern ausschlaggebend für Be-schwerden und die Gründung einer Bürgerinitiative. Die sonst stattfindende Arbeit in Form von Kinderbetreuung und sonstigen offenen Angeboten des Jugendzentrum Nie-dermühlenkamp werden von den Anwohnern durchaus geduldet. So wird die Kinderbe-treuung nach konkreter Nachfrage als nicht störend bezeichnet, dennoch wurde der stö-rende Faktor der Kulturarbeit sogleich wieder erwähnt. Dies zeigt sich in der Aussage von Frau Y.: „Die Arbeit mit Kindern ist ja in Ordnung...., aber das Saufen am Abend!“. Hierbei ist eine deutliche Stigmatisierung der Jugendlichen im Jugendzentrum zu beobachten. Die Anwohner fordern, das Jugendzentrum außerhalb der Stadt zu pla-zieren. Dies zeigt deutlich, dass ein räumlicher Ausschluss des Jugendzentrums er-wünscht ist. Nach den Aussagen von Herrn X. ist nicht die Ablehnung der Jugendarbeit an sich für diese Haltung ausschlaggebend, sondern eher die Furcht vor dem Verlust von Wohnqualität. „Die Angst vor einem Statusverlust!.... Kinder und Jugendliche be-einträchtigen diese gewollte Wohnqualität.“

Die Jugendarbeit in der jetzigen Form wird so nicht gewünscht, gerade da sie vor der eigenen Haustür stattfindet. Die Jugendlichen sind eben keine „braven Nachbarn“, und deshalb ein Grund für einen Konflikt: „Sie (die Kinder und Jugendlichen, d. Verf.) brin-gen Unruhe und Lärm und das stört die Leute.“ Jedoch ist diese Meinung nicht bei allen Anwohnern zu finden. Für Herrn X. ist die Lärmbelästigung kein gravierender Störfak-tor: „Ich habe gar nichts unternommen, da mich die Veranstaltungen nicht zu sehr stö-ren“. Für ihn wäre „eine bessere Kontaktpflege“ der Ausgangspunkt für eine bessere Verständigung und Beseitigung des Konfliktes. Straßenfeste und ähnliche gemeinsame Aktionen sind für ihn die Form von Maßnahmen, die der Integration dienen würden. Auch von Seiten des Jugendzentrums wird dieser Kontakt gewünscht. So wurden In-formationsveranstaltungen und Gesprächstreffen organisiert, die die Anwohner infor-mieren und integrieren sollten. Ebenfalls wurde der Veranstaltungsbetrieb vom Jugend-zentrum eingeschränkt. Dennoch stießen diese Maßnahmen bei den Anwohnern auf we-nig Resonanz.

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5.1 Reaktionen auf den Konflikt

In der folgenden Tabelle 1 werden die unterschiedlichen Reaktionen der beteiligten Per-sonen auf den Konflikt zusammenfassend dargestellt.

Eine Konfliktsituation ist ein guter Ausgangspunkt, um Ausschließungsprozesse zu beobachten. Im Konflikt zeigt sich deutlich, dass unterschiedliche Stärken von Aus-schluss zu finden sind: von massivem Ausschluss bis hin zum Herunterspielen oder zur Entschärfung. Bei Herrn X. zeigt sich, wie seine professionelle Orientierung seine Hal-tung als Anwohner bestimmt. Beim Leiter des Jugendzentrums, bei Herrn X. und bei den Behördenvertretern werden professionelle Formen deutlich, mit dem Konflikt ohne Ausschluss umzugehen. In dieser Konfliktsituation können die Integrationsversuche z. B. die Familie Y. nicht erreichen. Der ehemalige Leiter des Jugendamtes sieht einen klaren Ausschluss der Jugendarbeit. Eindeutige Stigmatisierung tritt nur in einem Fall auf, scheint jedoch in der Anwohnerschaft durchaus verbreitet zu sein. Von Seiten des Jugendzentrums gibt es jedoch keine massive Gegenstigmatisierung. Hier wird eher der professionelle Umgang mit dem Konflikt versucht.

Tabelle 1: Reaktionen der beteiligten Personen

Stigmati-sierung

Form des Aus-schlusses

Reaktion auf den Konflikt

Integration / Versuche

Herr X. nein nein keine Teilnahme, professionelle Hal-tung, Integrationsvorschläge, prak-tisch orientiert

passiv

Familie Y. stark massiv Beteiligung am Konflikt, Verschär-fung, Hilflosigkeit

keine, Ablehnung

Leiter des Jugend-zentrums

Abwehr ambivalent Herunterspielen, Entschärfen, prakti-sche Maßnahmen, professionelle Hal-tung

Aktiv

Behördenvertreter Herr K.

nein nein Entschärfen, sachliche Argumente, logische Denkweise

anlassbedingt, situativ, aktiv

Behördenvertreter Herr A.

Abwehr nein eher desinteressiert keine

Insofern finden sich in diesem Konflikt soziale Ausschliessungsprozesse, aber auch In-tegrationsversuche.

Literaturverzeichnis

Breyvogel, W. (Hrsg.), 1998: Stadt, Jugendkulturen und Kriminalität. Bonn: Dietz.

Bortz, J.; Döhring, N., 1995: Forschungsmethoden und Evaluation. 2. Aufl., Berlin: Springer.

Elias, N., 1993: Zur Theorie von Etablierten-Außenseiter-Beziehung. Frankfurt: Suhr-kamp.

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Kleining, G., 1995: Lehrbuch entdeckende Sozialforschung. Weinheim: Beltz.

Kronauer, M., 1997: „Soziale Ausgrenzung“ und „Underclass“: Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung. Leviathan, 25: 28 – 49.

Lamnek, S., 1996: Theorien abweichenden Verhaltens. Eine Einführung für Soziologen, Psychologen, Pädagogen, Juristen, Politologen, Kommunikationswissenschaftler und Sozialarbeiter. 6. Aufl., München: Fink.