Sozialgesetzgebung unter lateinamerikanischen Diktaturen ...

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Ines Rayen Paloma Peinhaupt Sozialgesetzgebung unter lateinamerikanischen Diktaturen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Master of Arts der Studienrichtung Global Studies an der Karl-Franzens-Universität Graz Betreuerin: O. Univ.-Prof. Dr. phil. Renate Pieper Institut: Geschichte Leoben, Dezember 2018

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Ines Rayen Paloma Peinhaupt

Sozialgesetzgebung unter lateinamerikanischen

Diktaturen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades

eines Master of Arts

der Studienrichtung Global Studies

an der Karl-Franzens-Universität Graz

Betreuerin: O. Univ.-Prof. Dr. phil. Renate Pieper

Institut: Geschichte

Leoben, Dezember 2018

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Inhalt Tabellenverzeichnis .................................................................................................................... 3

Abkürzungen .............................................................................................................................. 4

Einleitung ................................................................................................................................... 5

Kapitel 1: Theoretische Grundlagen......................................................................................... 13

Wohlfahrtsstaatliche Idealtypen: Das System ...................................................................... 14

Was bedeutet Sozialgesetzgebung? ...................................................................................... 17

Teile der Sozialgesetzgebung 20. Jahrhundert: Die Rechtsordnungen ................................ 19

Sozialgesetzgebung europäischen Stils im 20. Jahrhundert ................................................. 27

Kapitel 2: Analyse der Gesetze ................................................................................................ 28

Arbeitslosengeld VS Beschäftigungspolitik ......................................................................... 28

Unfallversicherung und Invaliditätspension ......................................................................... 36

Pensions- und Krankenversicherung .................................................................................... 40

Streik- und Gewerkschaftsrecht ............................................................................................ 49

Öffentliche Primär- und Sekundärbildung............................................................................ 54

Mutterschutz ......................................................................................................................... 61

Familienbeihilfe (finanziell) ................................................................................................. 66

Wohnbau und Wohnbeihilfe ................................................................................................. 71

Kapitel 3: Conclusio ................................................................................................................. 78

Bibliographie ............................................................................................................................ 89

Anhang ..................................................................................................................................... 95

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Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Wohlfahrtstypen ...................................................................................................... 14

Tabelle 2: Ratifizierungsjahr des Internationaler Pakt es über wirtschaftliche, soziale und

kulturelle Rechte ...................................................................................................................... 20

Tabelle 3: Verankerung sozialer Rechte in Verfassung ........................................................... 20

Tabelle 4: Eingeführte Sozialgesetze je Staat .......................................................................... 22

Tabelle 5: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Arbeitslose .................................................... 35

Tabelle 6: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Arbeitsunfälle und Invaliditätspension......... 40

Tabelle 7: Pensions- und Gesundheitssysteme 1940er – 1970er ............................................. 43

Tabelle 8: Reform der Pensions- und Gesundheitssysteme ..................................................... 46

Tabelle 9: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Streik- und Gewerkschaftsrecht ................... 54

Tabelle 10: Bildungsindikatoren .............................................................................................. 56

Tabelle 11: Staatsausgaben für Bildung als % des BIP ........................................................... 58

Tabelle 12: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Bildungspolitik ........................................... 60

Tabelle 13: Karenzregelungen.................................................................................................. 62

Tabelle 14: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Mutterschutz ............................................... 65

Tabelle 15: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Familienbeihilfe ......................................... 70

Tabelle 16: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Wohnbau .................................................... 77

Tabelle 17: Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sozialgesetzgebung, Politik und

Wirtschaft ................................................................................................................................. 79

Tabelle 18: Lateinamerikanische Präsidenten und Militärregierungen im 20. Jahrhundert..... 95

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Abkürzungen

AFJP Administradoras de Fondos de Jubilaciones y Pensiones (Pensionsfondverwalter)

AFP Administradora de Fondos de Pensiones (Pensionsfondverwalter)

AG Arbeitgeber

AN Arbeitnehmer

AUV Arbeitsunfälle-Versicherung

CORVI Körperschaft für Wohnbau

ESFBH Einheitliches System für Familienbeihilfe

FBHF Familienbeihilfe

FONASA Fondo Nacional de Salud (nationaler Gesundheitsfond = staatlicher Sektor)

FONAVI Nationaler Wohnbaufond

ILO International Labour Organisation (Internationale Arbeitsorganisation)

ISAPRE Institucion de Salud Previsional – private Krankenversicherungsanbieter

ISI Importsubstituierende Industrialisierung

IWF Internationaler Währungsfond

KV Krankenversicherung

ML Monatslohn

PEM Programa de Empleo Minimo (Mindestbeschäftigungsprogramm)

POJH Programa de Ocupación para Jefes de Hogar (Beschäftigungsprogramm für

Haushaltsvorstände)

PV Pensionsversicherung

SERMENA Servicio Médico Nacional de Empleados (nationaler Gesundheitsdienst der

Angestellten)

SNS Sistema Nacional de Salud (nationales Gesundheitssystem)

SNSS Sistema Nacional de Servicios de Salud (nationales System der Gesundheitsleistungen)

SV Sozialversicherung

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Einleitung

Dass Staaten ihren Bürgern irgendeine Form des sozialen Schutzes gewähren (z.B. durch

Kodifizierung des Arbeitsrechts), war eine Reaktion auf die Ausbreitung des freien Marktes

und der damit einhergehenden Urbanisierung und Industrialisierung. Diese waren in Europa

verantwortlich für den Verfall von vorkapitalistischen Sicherungssystemen und sozialer Netze,

wie etwa den Versorgungsheimen der Kirchen oder Unterstützungen innerhalb bestimmter

Berufsgruppen. Wer aus unterschiedlichen Gründen nicht im Stande war seine Arbeitskraft

anzubieten, konnte keine Hilfe von staatlicher Seite erwarten. Einige Politiker erkannten

jedoch die Kombination von Ausbeutung, Verelendung großer Bevölkerungsteile und des

Aufkommens marxistischer Lehren als systemgefährdend, was sie dazu bewegte, die ersten

Sozialversicherungen einzuführen, um mögliche Unruhen zu verhindern. Die

„Industriestaaten“ des späten 19. Und frühen 20. Jahrhunderts - allen voran Deutschland unter

Bismarck - versuchten die neuen Arbeiterschichten in die Gesellschaft einzubinden, ohne dass

der Staat dabei an Autorität oder hierarchischer Struktur verlor, und sie schufen so die erste

Sozialgesetzgebung, um auf die soziale Unsicherheit und wachsende Unzufriedenheit der

Unterschichten zu reagieren. Zu den ersten Policies gehörten vor allem Kranken-, Pensions-,

Unfall- und Arbeitslosenversicherungen (Esping-Andersen 1990: 21 & 40f; Garland 2016:

18ff). Die meisten europäischen Staaten und manche europäisch geprägten Staaten (v.a. in

Südamerika) hatten bis 1950 bereits eine weitreichende Zahl an sozialpolitischen Gesetzen

eingeführt, selbst wenn sie vom heutigen Standpunkt aus nur einen minimalen Schutz

gewährten. Die Vollendung der Wohlfahrtsstaaten erfuhren die meisten Länder zwischen den

1960er und 1970er Jahren. Ab den 1980ern kamen jedoch ernsthafte Zweifel an der

Finanzierbarkeit der Systeme und erste Reformvorhaben auf. Herauszustreichen ist, dass diese

jungen Wohlfahrtsstaaten meist nicht in Demokratien entstanden, wobei der öffentliche Druck

durch die Arbeiter natürlich eine wichtige Rolle spielte.

Sozialpolitik ist auch heute ein höchst umstrittenes Politikfeld, schon allein, weil es auf

irgendeine Weise fast alle Mitglieder der Gesellschaft betrifft, entweder durch

Transferleistungen oder durch Steuern, über welche sie finanziert werden. Unabhängig davon,

in welcher Form heute zu Wohlfahrtsstaaten und Sozialpolitik geforscht wird (z.B.

Policyanalyse, Institutionen, vergleichende Methode, etc.), gehen fast alle Autoren wie

Garland (2016) oder Jensen (et al. 2017: 161) auf die Variable des politischen Systems gar

nicht ein oder nehmen implizit an, dass Sozialpolitik ein Phänomen demokratischer Systeme

sei. Das merkt man vor allem daran, dass es kaum vergleichende Studien gibt, die Fälle aus

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autoritären Systemen inkludieren. Für Petring et al. (2012: 12ff) ist die Trennung von

Sozialpolitik und Demokratie gar unmöglich. Das beruht nicht zuletzt auf dem Schluss, dass

Wohlfahrtsstaaten auf den zentralen demokratischen Werten der westlichen Welt basieren:

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (Takada 2001: 69). Es scheint jedoch bei Betrachtung

zahlreicher historischer Fälle ein klarer Fehlschluss zu sein, dass autoritäre Systeme niemals

Sozialsysteme für die Bevölkerung aufbauen und Demokratien dies immer effektiv tun.

Beispielsweise wurde im Dritten Reich bewusst Sozialpolitik betrieben, auch wenn diese im

Zeichen der Rassenpolitik stand und gleichzeitig vom Ausschluss ganzer

Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet war (Ostheim und Schmidt 2007: 150). Bestätigt wird

diese Sicht auch von einer Studie Abu Sharkhs und Goughs (2010: 45), die zwischen

Wohlfahrtsstaatlichkeit und Demokratie in Entwicklungsländern um 2000 keine Korrelation

entdecken können. Auch bezüglich der Höhe der Sozialausgaben fanden Mulligan et al. (2004:

59) keine signifikanten Unterschiede zwischen Diktaturen und Demokratien, selbst wenn die

Verteilung der Gelder variierte. Bisher hat sich die Literatur zu Sozialpolitik in autoritären

Systemen vor allem mit Einzelfallstudien über bestimmte Policygebiete (z.B.

Krankenversicherung) beschäftigt oder mit der Frage „warum“ es in autoritären Systemen zu

Sozialpolitik kommt. Die meisten Autoren wie Gandhi und Przeworski (2006: 12f) oder

Gallagher und Hanson (2009: 668) nehmen an, dass Sozialpolitik in Diktaturen als

Schutzmechanismus dient, um potentielle politische Gegner zu besänftigen. Generell weist

Olsen (1993: 567) darauf hin, dass kein politisches System – auch kein autoritäres – ohne

sozialen Frieden auskommt und an zu starken Protesten scheitern kann. Darauf weist auch die

bereits angesprochene Entstehung der Wohlfahrtsstaaten in Europa Ende des 19. Jahrhunderts

im deutschen Kaiserreich und der Habsburg-Monarchie hin. Duckett und Wang (2017: 95)

nehmen andererseits an, dass Sozialgesetze durchgesetzt werden, wenn Akteure die

Regierung davon überzeugen können, dass diese das nationale Wirtschaftswachstum fördern

würden.

Wegen der oft unterschätzten und wenig beachteten Forschung zu Sozialpolitik unter

autoritären Regierungen soll diese Arbeit einen Beitrag auf diesem Gebiet leisten. Betrachtet

man Politik als System, so gibt es von der Umwelt Anstöße, die im System verarbeitet werden

und nach dem Entscheidungsfindungsprozess als Gesetze wieder an die Umwelt abgegeben

werden (Eaton 1965: 32). Der Entscheidungsfindungsprozess in demokratischen und

autoritären Systemen ist unterschiedlich aufgebaut, daher soll eine qualitative

Zeitreihenanalyse ausgewählter Sozialgesetze Aufschlüsse über mögliche Unterschiede

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zwischen den Systemen geben. Die gegenständliche Untersuchung beschäftigt sich deshalb

mit der Fragestellung:

„Welchen Einfluss hatte das politische System auf die Sozialgesetzgebung?“

Noch ist diese Frage allgemein gehalten, doch sie wird in Kürze noch präzisiert. Um sich

dieser Frage zu nähern, wurden aufgrund der bestehenden Literatur und ihrer Diskrepanzen

mit den erwähnten geschichtlichen Beispielen in Folge drei Grundannahmen für die

vorliegende Arbeit getroffen. Demokratie ist keine notwendige Variable für die Schaffung

von Sozialgesetzen (H1). Dennoch stellt ein politischer Umsturz einen klaren Bruch mit dem

vorhergehenden politischen System dar. Wären alle Gesellschaftsgruppen mit der

vorherrschenden Sozialpolitik einverstanden, käme es nie zum Putsch. Daher wird

angenommen, dass das politische System die Sozialgesetzgebung beeinflusst (H2).

Nichtsdestotrotz überwiegen in der Literatur negative Einschätzungen gegenüber der

Sozialpolitik von Diktaturen. Das hängt wohl auch mit der Annahme zusammen, dass die

Einschränkung von Bürgerrechten implizit auch zu einer Einschränkung sozialer Rechte führt,

wenn man beispielsweise nicht mehr gegen Maßnahmen protestieren kann. Daher lautet die

letzte Annahme, dass autoritäre Regime einen negativen Einfluss auf den Wohlfahrtsstaat

haben (H3).

Es gibt viele Beispiele anhand derer man den Einfluss des politischen Systems auf die

Sozialgesetzgebung erörtern könnte. Um langfristige Trends zu analysieren, ist es wichtig

Fälle zu wählen, die genügend Zeit hatten ihre Sozialpolitik zu entwickeln. So läge es aus

geschichtlichen Gründen, nahe Fälle aus Europa zu wählen, da der Kontinent am Ende des 19.

Jahrhunderts der Geburtsort der Wohlfahrtsstaaten war. Außerdem haben einige Länder wie

Deutschland oder Spanien den Wandel zwischen Demokratie und Diktatur durchgemacht.

Allerdings ist es schwerer diese Staaten wegen ihrer ausgeprägten kulturellen, wirtschafts-

politischen und geschichtlichen Eigenheiten zu vergleichen, was Esping-Andersen (1990)

auch zur Erarbeitung seiner drei Wohlfahrtsstaat-Typen angeregt hat. Zudem bieten die

europäischen Nationen nur einen kürzeren Untersuchungszeitraum, da der Wechsel zwischen

den politischen Systemen bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschah. Daher

werden in dieser Arbeit zwei Fallbeispiele aus Lateinamerika analysiert. Argentinien und

Chile wurden gewählt, da sie sowohl kulturelle als auch geschichtliche Parallelen aufwiesen.

So entwickelten beide Andenstaaten während des 19. Jahrhunderts die Institutionen moderner

Nationalstaaten, die für die Durchsetzung von Gesetzen unabdingbar sind. Gleichzeitig mit

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der Ausweitung demokratischer Rechte im frühen 20. Jahrhundert, begann in beiden Staaten

der Aufbau eines umfassenden Sozialsystems. Die historischen Bindungen zu Europa und die

starken Migrationsströme vom alten Kontinent halfen zudem bei der Verbreitung

sozialstaatlicher Ideen. Trotz demokratischer Wahlen waren die Regierungen von Argentinien

und Chile bis in die 1920 noch stark von den Interessen der alten Oligarchie beeinflusst, was

zum Teil auch am limitierenden Wahlrecht lag, das besonders ärmere und ungebildete

Gesellschaftsschichten ausschloss (z.B. Analphabeten und Frauen). Erst nach und nach

wurden breitere Bevölkerungsschichten an der Politikgestaltung beteiligt, wenn auch auf eine

paternalistische Art und Weise. Vor der Weltwirtschaftskrise von 1929/30 betrieben beide

Staaten eine vom laissez-faire Liberalismus geprägte, exportorientierte Wirtschaftspolitik.

Durch die Krise war diese Wirtschaftsdoktrin jedoch stark in Verruf geraten. Natürlich waren

die geschichtlichen Erfahrungen in beiden Ländern nicht gänzlich identisch, was sich im

Aufbau der staatlichen Institutionen wiederspiegelte. Argentinien litt unter der Krise, doch

schaffte es wegen der erfolgreichen Wirtschaftspolitik und noch existierenden Nachfrage von

Agrarprodukten, die Depression schnell zu überwinden. Im Gegensatz dazu wurde Chile

stärker getroffen und erholte sich erst langsam vom erlittenen Schock (Hänsch und

Riekenberg 2008: 60f, Hartmann 2017: 197). Geprägt von der Krise kam es ab den 1930ern in

beiden Staaten zur allmählichen Einführung der importsubstituierenden Industrialisierung

(ISI), um ihre Abhängigkeit von externen Märkten zu reduzieren (Silva 2007: 72 & 79). Die

Förderung der heimischen Produktion traf zudem den politischen Zeitgeist des Nationalismus,

der nicht nur in Europa an Zustimmung gewann (Rinke 2007: 102). Einen wesentlichen

Einfluss auf die Wirtschaftspolitik übten dabei auch die Theorien des

Wirtschaftswissenschafters John M. Keynes aus, die ab den 1930ern weltweit Anhänger

gewannen. Im Gegensatz zum Liberalismus sah der Keynesianismus die staatliche

Intervention in die Wirtschaft durch die Nachfragesteuerung vor. Die staatlich geleitete

Industrialisierung vollzog sich meist in den Städten, was insbesondere in Chile zur

Massenmigration der ländlichen Bevölkerung in urbane Ballungszentren führte. Die daraus

resultierende Urbanisierung erfolgte oft unkontrolliert und es kam zur Zunahme von

Armenvierteln, denen es an jeglicher sanitärerer Infrastruktur fehlte. Parallel dazu stieg auch

die soziale Ungleichheit weiter an (Rinke 2007: 109). All dies geschah in Chile seit 1930

unter demokratisch gewählten Präsidenten, die aus verschiedenen Parteien kamen.

Durch die starke gewerkschaftliche Tradition war Partizipation breiter Gesellschaftskreise am

politischen Geschehen in Argentinien in gewisser Weise bereits seit Anfang des Jahrhunderts

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gang und gebe. Dennoch wurde die Arbeiterschaft erstmals von Juan Perón als wichtige

Interessensgruppe erkannt. Er nutzte seine Position als Arbeitsminister der Militärjunta von

1943 und später als Präsident, um die Arbeiterschaft durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen

an sich zu binden (Silva 2007: 79). Sein populistischer Führungsstil übte eine derartige

Strahlkraft aus, dass sie zur Schaffung einer neuen politischen Strömung - des „Peronismus“ -

führte. Obwohl in dieser Arbeit die Diktaturen der 1970er im Fokus stehen werden, kann man

nicht in Abrede stellen, dass in den Jahren nach Perón neben demokratischen Regierungen

auch einige Militärjuntas den argentinischen Staat lenkten. Diese Gegebenheit wird in Folge

berücksichtigt und hilft einen Kontrast zu Chiles stabilem demokratischem System zu liefern.

Die erste Hälfte der 1970er war sowohl in Argentinien als auch in Chile eine von Konflikten

geprägte Zeit. In Chile wurde während des Höhepunkts des Kalten Kriegs mit Salvador

Allende ein Sozialist und deklarierter Marxist auf demokratischem Weg ins Präsidentenamt

gewählt. Wegen der Nationalisierung großer Teile der Industrie und einer galoppierenden

Inflation kam es in kürzester Zeit zu massiven Protesten bessergestellter Schichten, die ein

zweites Kuba fürchteten. Indes verstärkte sich in Argentinien die tiefgehende Spaltung

zwischen der emanzipierten Arbeiterschaft und konservativen Bevölkerungsteilen. Nicht

einmal Juan Perón, der aus seinem Exil zurückgeholt wurde, um die Gesellschaft zu einen,

vermochte es, die Bevölkerungsgruppen zu versöhnen. Die Lage eskalierte bis

bürgerkriegsähnliche Zustände im Land herrschten. Die USA beobachteten die Situation in

Lateinamerika genau und mischten sich durch Spenden für ihre gewünschten Kandidaten in

Wahlen ein, wenn auch nicht immer mit Erfolg (Hartmann 2017: 18 & 229f). Es lag im

Interesse der Supermacht, dass kein zweiter kommunistischer Staat in ihrem

„Hinterhof“ entstand und so trugen ihre Destabilisierungsmaßnahmen in Chile zum Putsch am

11. September 1973 bei (Rinke 2007: 157). Weniger als drei Jahre später folgte am 24. März

1976 Argentinien denselben weg.

In erster Linie ging es den Militärregierungen allerdings darum, die Ordnung und interne

Sicherheit im Staat wiederherzustellen indem sie versuchten, die kommunistische Bedrohung

zu bekämpfen. Es begann eine Zeit des Staatsterrors, der nach Schätzungen in Chile über

3.000 und Argentinien sogar 9.000 – 30.000 Menschen das Leben kostete. Das Verschwinden

von Personen, Folter und Verfolgung wurden Teil des Alltags (Delano 2011, Cue 2016,

Romero 2006: 218, Riekenberg 2009: 184). Auch andere Bürgerrechte wie die Presse- und

Vereinigungsfreiheit wurden stark beschnitten. Die wirtschaftliche Lage war in beiden Staaten

angespannt und verschlechterte sich durch die Schuldenkrise 1982 noch, die von der zweiten

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(internationalen) Ölpreiskrise ausgelöst wurde. Chile schwankte bis dahin zwischen

Staatsinterventionismus und einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Durch unter dem Einfluss

einer Gruppe junger Wirtschaftsexperten (Chicago Boys), die unter Milton Friedman studiert

hatten, wurden ab 1980 die Märkte endgültig liberalisiert und der Arbeitsschutz flexibilisiert.

Chile wurde zum größten neoliberalen Wirtschaftsexperiment der Welt. Zusätzlich kam es zu

einer progressiven Verkleinerung der Zentralverwaltung und folgenden Dezentralisierung der

Administration (Rinke 2007: 162ff). Auch in Argentinien wurden mit der Diktatur viele

gesetzliche Preiskontrollen (z.B. Mietpreise) aufgehoben, und es kam zu einer teilweisen

Dezentralisierung, allerdings war das Militär in Argentinien in der Frage der

Wirtschaftsdoktrin gespaltener. Viele Liberalisierungen und Privatisierungen wurden in

Argentinien erst in den 1990ern nach der Rückkehr zur Demokratie unter Präsidenten Menem

durchgeführt.

Wie gezeigt, wiesen beide Staaten während des 20. Jahrhunderts genug gesellschaftliche,

politische und wirtschaftliche Parallelen auf, um sie vergleichbar zu machen. Speziell die

autoritären Systeme der 1970er stellten wegen ihrer Härte, Dauer, sowie ihrer zeitlichen Nähe

und ideologischen Ähnlichkeit eine klare historische und politische Zäsur dar. Das kann selbst

für Argentinien behauptet werden, das bereits davor einige Militärregierungen durchlebt hatte.

Diese Umstände machen Argentinien und Chile zu guten Fallbeispielen für ein most similar

case scenario im Bezug auf die Auswirkungen auf die zuvor ausgebauten Sozialsysteme. Nun

bleibt die Frage der Eingrenzung der Sozialgesetze, die für diesen Zeitraum überprüft werden

sollen. Leider bleibt die Literatur eine universell gültige Definition von

„Sozialpolitik“ schuldig. In Anlehnung an Arbeiten anderer Autoren wird deshalb im

folgenden Kapitel eine vergleichende Analyse von zehn Ländern durchgeführt. Diese soll

helfen Bereiche des Sozialrechts zu konkretisieren, die essenziell für Sozialsysteme sind. Die

gefundenen elf notwendigen Komponenten der Sozialgesetzgebung wurden dabei im Großteil

der untersuchten Staaten während des 20. Jahrhunderts vorgefunden. Unter anderem handelt

es sich dabei um die Bereiche der Sozialversicherung, des Arbeitsrechts, der öffentlichen

Bildung, der Beschäftigungspolitik und einiger Transferleistungen. Das Augenmerk dieser

Untersuchung wird auf den erlassenen Gesetzen liegen, da sie eine bessere Basis für die

Einforderung sozialer Rechte geben. Im Gegensatz zu temporären Programmen und

Förderungen, erwirbt der Bürger durch Gesetze niedergeschriebene Anrechte, die in

funktionierenden Rechtsstaaten auch eingeklagt werden können. Selbst autoritäre

Regierungen haben ein Interesse daran, ein gewisses Maß an Rechtssicherheit zu erhalten, da

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den Bürgern sonst der Anreiz zur Produktivität und Investition fehlt (Olsen 1993: 571).

Aufgrund der vorhergehenden Informationen soll die Forschungsfrage nun nochmals

präzisiert werden:

„Wie beeinflusste der Wandel des politischen Systems die notwendigen Komponenten der

Sozialgesetzgebung in Argentinien und Chile während der zweiten Hälfte des 20.

Jahrhunderts?“

Natürlich gibt es bereits Literatur, die bei der Interpretation der Gesetze hilfreich ist, doch sie

leidet oft an den bekannten Nachteilen von Einzelfallstudien. So sind die Ergebnisse oft

schwer generalisierbar. Der Großteil der bestehenden Forschung zu Sozialpolitik in

Argentinien und Chile beschäftigt sich mit einer einzelnen Komponente der

Sozialgesetzgebung (z.B. Krankenversicherung, Mutterschutz, etc.) in einem einzelnen Staat.

Meist untersuchten Autoren wie Ortúzar (2013) zu Arbeitsunfällen in Chile oder De Luca

(2013) zur Bildung in Argentinien auch eher kurze Zeiträume, in denen das politische System

unverändert blieb. Nur wenige wie Grondona (2014) zur Abwesenheit einer

Arbeitslosenversicherung in Argentinien wagten sich an ausgedehntere Analysen, wobei das

politische System auch hier als Variable oft vernachlässigt wird. Noch weniger Forscher

stellten sich dem Vergleich von Policies zwischen zwei Staaten, wie es Gilbert (2001) für den

sozialen Wohnbau oder Barrientos und Lloyd-Sherlock (2000) für die Gesundheitsreformen

taten. Larrañaga (2010) veröffentlichte eine prägnante Zusammenfassung des Sozialsystems

in Chile des 20. Jahrhunderts, blieb jedoch wegen der Kürze der Arbeit einige Details

schuldig. Eine wichtige Ausnahme bildete Mesa-Lagos (1978) herausragendes Werk zur

Sozialversicherung in Lateinamerika, das auch einen Vergleich zulässt. Das

Veröffentlichungsdatum bedeutete allerdings, dass nur die Zeit vor den Diktaturen der 1970er

betrachtet wurde. Das einzige Gebiet, in dem die vergleichende Methode häufiger zum

Einsatz kommt, ist die Typologisierung lateinamerikanischer Wohlfahrtsstaaten (Barrientos

2004, Aspalter 2001, Fleury 2017, Del Valle 2010). Basierend auf Esping-Andersens (1990)

Grundlagenwerk sind diese Systemvergleiche unerlässlich, um einen ersten Eindruck zum

Aufbau von Wohlfahrtsstaaten zu bekommen. Ihre Nachteile sind die fehlenden Details,

wodurch sie zur Untersuchung einzelner Policy-Bereiche wenig beitragen können. Gerade

deswegen ist ein länderübergreifender Vergleich mehrerer Komponenten der Sozialsysteme

von Argentinien und Chile erforderlich. Er bietet zudem die Möglichkeit, Merkmale und

Faktoren ans Licht zu bringen, die bei der Untersuchung einzelner Komponenten als

„unwichtig“ übersehen wurden. Der Zeitraum des 20. Jahrhunderts wurde einerseits gewählt,

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da die Staaten erst zu diesem Zeitpunkt anfingen Sozialpolitik gesetzlich zu regulieren und

weil diese Zeit andererseits von gesellschaftlichen, sowie politischen Umbrüchen geprägt war.

Der Anspruch an diese Arbeit ist, dass diese Untersuchung neue Gemeinsamkeiten und

Unterschiede zwischen den Staaten an Licht bringen wird, die sich nicht auf einen bestimmten

Policy-Bereich beschränken. Bei der Interpretation des Ausmaßes von Gesetzesänderungen

sind Halls (1993: 278) Kriterien hilfreich. So kann sich das Endziel bzw. die Intention der

Policy ändern, die Instrumente, um das Ziel zu erreichen (z.B. Pensionserhöhung gegen

Altersarmut) oder auch nur die genaue Einstellung (setting) des Instruments (z.B. Erhöhung

um x %). Je nach der Art der Umgestaltung können daher drei Ergebnisse auftreten:

(1) das Policy-Ziel und das Instrument bleiben gleich, aber die Einstellung wird für ein

besseres Ergebnis verändert.

(2) Das Policy-Ziel bleibt gleich, aber man verändert das Instrument, wenn vergangen

Ergebnisse unbefriedigend waren.

(3) Durch einen radikalen Wandel verändern sich alle drei Komponenten inklusive des

Policy-Ziels.

Die Annahme liegt nahe, dass ein Wechsel des politischen Systems von einer demokratischen

zu einer autoritären Regierung am ehesten den radikalen Wandel eines Sozialgesetzes

hervorbringen könnte, weswegen auch der Fokus dieser Arbeit auf dieser vernachlässigten

Variable liegt.

Bevor nun die einzelnen Gesetzesbereiche beider Staaten für das 20. Jahrhundert dargestellt

und analysiert werden, soll im ersten Kapitel der Forschungsstand zu Sozialpolitik dargestellt

werden, um einige Grundinformationen zu etablieren. Es folgt die bereits erwähnte Analyse,

in der die notwendigen Komponenten der Sozialgesetzgebung anhand von zehn Ländern

eruiert werden. Im zweiten Kapitel folgen die geschichtliche und politische Interpretation der

Policy-Bereiche und ihrer Änderungen. Die meisten Policies bekommen dabei ein eigenes

Unterkapitel. Um die Forschungsfrage besser beantworten zu können, wird jedes Unterkapitel

in die Zeit vor und nach dem Beginn der Diktaturen geteilt. Schließlich werden die

Gemeinsamkeiten und markante Unterschiede zwischen den Policies im letzten Kapitel

zusammengeführt und verglichen.

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Kapitel 1: Theoretische Grundlagen

Verwandte Konzepte

Bevor man sich der Beantwortung der Forschungsfrage widmen kann, müssen einige

verwandte Begriffe und Konzepte der Sozialgesetzgebung geklärt werden. Einerseits ist das

notwendig, da die Forschung - wie beschrieben - keine befriedigende einheitliche Definition

für Sozialgesetzgebung gefunden hat, und viele in der Literatur verwendete Begriffe ähnliche

Bedeutungen haben, die von unterschiedlichen Autoren bzw. in verschiedenen Kulturkreisen

anders verstanden werden.

Die Sozialgesetzgebung ist das Ergebnis der Sozialpolitik einer Regierung. Diese Gesetze

bilden in ihrer Gesamtheit die Grundlage für die Sozialleistungen, sowie die dafür

zuständigen Institutionen. Das daraus entstehende System ist der Sozialstaat. Doch bereits

hier kommt es zu einem ersten Definitionsproblem. Im englischen Sprachgebrauch wird der

„Sozialstaat“ zum „Wohlfahrtsstaat“ (welfare state), der pauschal auf alle Systeme

angewendet wird, während im Deutschen beide Begriffe durchaus unterschiedliche Konzepte

behandeln. Der Wohlfahrtsstaat in der deutschen Literatur galt lange als inhaltlich

umfassender als der Sozialstaat, da er ab den 1970er Jahren vor allem die skandinavischen

Wohlfahrtsstaaten im Blick hatte, die deutlich mehr Gebiete und Unterstützungen beinhalteten

als andere Sozialsysteme (Ullrich 2018: 521). Zudem sind dort „soziale Rechte“ viel stärker

ausgeprägt als im Sozialstaat und gelten in der Regel „universell“ d.h. sie sind für alle Bürger

gleich gültig. Damit ist der Bürger mehr als nur passiver Empfänger von willkürlich

angebotenen, staatlichen Leistungen, er kann diese Leistungen vielmehr aktiv vom Staat

einfordern (Blank 2011: 38). Oft wird der Begriff „soziale Rechte“, jedoch breiter verwendet

und meint alle gesetzlichen Bestimmungen, die aus der Sozialpolitik hervorgehen. In dem Fall

wird er also synonym mit Sozialgesetzgebung verwendet. Für viele Autoren sind diese soziale

Rechte untrennbar mit dem normativen Konzept der „sozialen Gerechtigkeit“ verbunden und

leiten sich oft aus diesem ab. Dem Staat fällt dabei die Aufgabe zu, zu definieren was

„gerecht“ ist, weswegen eine klare Definition von sozialer Gerechtigkeit laut den meisten

Autoren kaum möglich ist (Petring et al. 2012: 27; Reiter 2017: 51). Entgegen der deutschen

Tradition wird in dieser Arbeit jedoch für alle politischen Sozialsysteme der Begriff

Wohlfahrtsstaat verwendet, um sie der internationalen Wohlfahrtsliteratur anzupassen. Der

Begriff „Sozialleistungen“ wird, wenn nicht anders angeführt, als Sammelbegriff für

finanzielle oder materielle Leistungen, sowie Serviceleistungen verwendet werden. Dabei

werden in der Regel staatliche Sozialleistungen gemeint sein.

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Wohlfahrtsstaatliche Idealtypen: Das System

Innerhalb der Staaten führt eine Kombination aus Pfadabhängigkeit, Institutionen sowie der

Akteure und deren Ziele zur Bildung verschiedener Arten von Wohlfahrtsstaaten. Dabei

stehen ihnen unterschiedliche Instrumente zur Verfügung (Hall 1993: 275). Da diese sozialen

Systeme zentral für das Verständnis der aus ihnen hervorgehenden Sozialgesetzgebung ist,

sollen im Folgenden einige zentrale Idealtypen beschrieben werden.

Das Standardwerk zu Wohlfahrtsstaaten und ihrer Klassifizierung ist bis heute „The Three

Worlds of Welfare Capitalism“ (1990) von Gøsta Esping-Andersen, der erstmals eine

wissenschaftliche Typologie von Wohlfahrtsstaaten erstellt hat und diese sowohl durch eine

qualitative, als auch statistische Analyse untermauerte. Seine drei Idealtypen (liberaler,

konservativer und sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat) wurden von anderen

Wissenschaftlern um weitere Typen ergänzt, wobei die grundlegende Typologie in der

Fachliteratur kritisiert, aber kaum angezweifelt wird. Diese Typen stützen sich auf zwei

Merkmale und deren Ausprägungen, die gemeinsam das Kräftedreieck zwischen Markt-Staat-

Familie beeinflussen: Erstens wird der Grad der Dekommodifizierung gemessen. Das bedeutet

wie sehr die Marktabhängigkeit der Bürger durch staatliche Sozialleistungen verringert wird.

Ein zweites Merkmal ist die soziale Stratifizierung, welche den Grad der sozialen

Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft betrifft. Bei der Analyse von Wohlfahrtssystemen in

Entwicklungsländern (spez. Lateinamerika) kommt auch der Anteil des informellen Sektors

und dessen Integration in den Wohlfahrtsstaat als Merkmal hinzu (Barrientos 2004). In der

anschließenden Typologie werden der osteuropäische (Fenger 2007) und ostasiatische Typ

(Aspalter 2011: 740f) nicht behandelt, da der Hauptfokus der Arbeit auf dem 20. Jahrhundert

und europäischen bzw. Systemen europäischer Prägung liegt.

Tabelle 1: Wohlfahrtstypen

Liberal Konservativ Sozial-

demokratisch

Mediterran LA

Pionierstaaten

Dekommodifizie

rung

gering hoch sehr hoch Mittel Mittel-gering

Stratifizierung hoch mittel gering Mittel sehr hoch

Staat unwichtig wichtig wichtig eher wichtig eher wichtig

Markt wichtig unwichtig unwichtig weniger wichtig wichtig

Familie VS

Eigen-

verantwortung

individuell Familie wichtig individuell Familie zentral Familie zentral

Inklusion

informeller

Sektor

n/a n/a hoch mittel Mittel-gering

Beispiele USA,

Australien

Deutschland,

Österreich

Schweden,

Dänemark

Spanien, Italien Argentinien,

Chile Quelle: Aspalter (2011): 738f // Del Valle (2010) // Gal (2010)

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Liberaler Wohlfahrtsstaat: Diese Form findet man vor allem im englischsprachigen Raum

(Großbritannien, Australien, etc.). Der Fokus des Kräftedreiecks liegt bei diesem Typ

eindeutig auf dem Markt. Die Dekommodifizierung ist im Vergleich nur wenig

Fortgeschritten. Da die staatlichen Sozialleistungen eher gering ausfallen und mit vielen

Bedingungen zusammenhängen, werden Bürger ermutigt, diese auf dem freien Markt zu

erwerben (z.B. Privatärzte), was ihre Marktabhängigkeit natürlich vergrößert. Die familiäre

Wohlfahrtsversorgung ist auch weniger stark ausgeprägt, da die Verantwortung für das eigene

Wohlergehen primär beim Individuum selbst liegt. Das staatliche Sozialnetz greift nur im

Extremfall und richtet sich eher an die Ärmsten. Der Aufbau der Gesellschaft (sprich die

soziale Stratifizierung) bleibt grundlegend unverändert und ist sehr hoch. Durch die

Sozialgesetzgebung wird keine Angleichung der Gesellschaft durch den Staat angestrebt.

Sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat: Generell wurden die skandinavischen Staaten nach

dem zweiten Weltkrieg diesem Typ zugeordnet. Er gilt als ausgeprägtester Wohlfahrtsstaat.

Die Marktabhängigkeit wird durch die Intervention des Staates deutlich verringert, da dieser

weitreichende, universelle soziale Rechte gewährt - d.h. alle Bürger haben dieselben Rechte

unabhängig von ihrer sozialen Schicht und Berufsgruppe. Zudem sucht der Staat die soziale

Ungleichheit zu verringern, was zum Beispiel durch großzügige Umverteilung der Steuern in

Sozialleistungen geschehen kann. Dadurch weisen diese Staaten eine geringere soziale

Stratifizierung auf. Im Gegensatz zum konservativen Modell ist auch die Abhängigkeit von

der Familie als Wohlfahrtsversorger geringer, da der Staat diese Verantwortung übernimmt.

Die durch die Sozialgesetzgebung garantierten sozialen Rechte sind in diesem Modell

besonders stark ausgeprägt.

Konservativer Wohlfahrtsstaat: Diesen Typ findet man vor allem in Mitteleuropa bzw. unter

den Staaten die stark von der bismarckschen Tradition geprägt waren. Es besteht eine

eindeutige Dekommodifizierung, jedoch ist traditionell die primäre Quelle von

Sozialleistungen die Familie (z.B. Kinder- und Altenpflege), während der Staat meist nur

unterstützend eingreift (Subsidiaritätsprinzip). Der Staat garantiert viele an den sozialen

Status oder die Arbeitsbranche gebundene Sozialleistungen. Das begünstigt die

Aufrechterhaltung einer mittel bis stark stratifizierten Gesellschaftsstruktur mit traditionellen

Rollen. So begünstigt die Sozialgesetzgebung das Modell des männlichen Alleinverdieners

und der Hausfrau (Trifiletti 1999: 56). Zusätzliche Leistungen können am freien Markt

erworben werden (Esping-Andersen 1990: 22ff & 41). Typisch ist für diese Staaten auch eine

Präferenz für finanzielle Transferleistungen, die wiederum vom Arbeitsverhältnis abhängig

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sind. Hier ist die Sozialgesetzgebung weit ausgeprägt und garantiert universelle

Mindeststandards, weitere Leistungen sind jedoch von bestimmten Konditionen abhängig.

Mediterraner Wohlfahrtsstaat: Esping-Andersen ordnete die mediterranen Staaten

ursprünglich dem konservativen Typ zu. Die Wohlfahrtsversorgung ist allerdings noch viel

stärker von der traditionellen Familie abhängig. Das trifft besonders Frauen. Ihr zusätzlicher

Verdienst ist zwar oft unerlässlich für den Familienunterhalt, doch die Berufsausübung wird

ihnen durch fehlende staatliche Unterstützung für Kindererziehung oder Pflege erschwert

(Trifiletti 1999: 54ff). Die soziale Stratifizierung bleibt aufrecht, da viele Berufssparten

eigene Versicherungspläne haben, was zu einer höheren institutionellen Fragmentierung führt

als beim konservativen Modell. Ein weiterer Unterschied ist laut Ferrara (1996: 16) der

extreme Dualismus zwischen den großzügigen Bestimmungen der Sozialgesetzgebung für

Arbeitende mit offiziellen Arbeitsverträgen, während Arbeiter im informellen Sektor oder

Unbeschäftigte nur minimale Leistungen erwarten können. Im Zentrum des staatlichen

Wohlfahrtsstaates stehen Transferzahlung die weniger großzügig und effektiv sind als beim

konservativen Modell. Zwar haben fast alle Bürger Zugang zu Sozialleistungen, doch wer es

sich leisten kann, nimmt meist die weitreichenderen und oft qualitativ besseren Angebote des

Marktes an (z.B. Privatärzte). Daraus kann geschlossen werden, dass die

Dekommodifizierung geringer ist als beim konservativen Modell. Außerdem herrscht ein

ausgeprägter Klientelismus um Beihilfen zu erhalten (Gal 2010: 293f).

Lateinamerikanische Pionierstaaten: Es gibt keinen einheitlichen Typ lateinamerikanischer

Wohlfahrtsstaaten gibt, daher wird hier der am besten entwickelte - den europäischen

Modellen ähnlichste - Typ hervorgehoben. Je nach Autor inkludiert diese Gruppe Argentinien,

Chile, Uruguay und manchmal Costa Rica. Diese Wohlfahrtsstaaten entstanden rund um die

1920er und 1930er Jahre und basieren meist auf der bismarckschen Tradition (konservativer

Typ). Eine wichtige Rolle spielt der informelle Sektor, der zwar im regionalen vergleich

kleiner ist, aber trotzdem aus dem System der sozialen Sicherheit fällt (Martinez 2005: 69).

Das System zeichnet sich durch eine extreme Stratifizierung der Gesellschaft aus, die durch

branchen- und berufsabhängige Ansprüche noch verstärkt wird. Die Versicherungsdeckung ist

am lateinamerikanischen Kontinent die Beste, dennoch fallen einige Bevölkerungsteile dabei

komplett aus dem Sozialsystem. Personen ohne Arbeitsvertrag wurden erst langsam oder gar

nicht in Sozialversicherungssystem eingebunden (Haggard und Kaufmann 2008: 32). Durch

die neoliberale Wende der 1970er kam es neben einer Perpetuierung der starken

Stratifizierung auch zu einer wieder zunehmenden Kommodifizierung d.h. einer stärkeren

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Abhängigkeit der Bürger gegenüber dem Markt. Ähnlich wie im mediterranen Typ ist die

Familie weiterhin ein Eckpfeiler der sozialen Sicherheit. Durch die Sozialgesetzgebung

konnten eine relativ universelle Sozialversicherung und öffentliche Bildung einführen werden,

andere Leistungen sind jedoch eher minimal gehalten und bedarfsorientiert (z.B.

Transferleistungen). Mesa-Lago (2004: 13f) nennt diesen Typ „Pionierstaaten“. Für die Zeit

zwischen ihrer Entstehung und den 1970ern wurden sie als „Universalisten“ (Barba 2004: 18)

und „Typ mit stratifiziertem Universalismus“ (Filgueira 1998) bezeichnet, während die Zeit

nach der neoliberalen Wende ab den 1970er Jahren und der damit einhergehenden

Privatisierung von Sozialleistungen „anti-wohlfahrts-konservativer Wohlfahrtsstaat“ (Aspalter

2011: 742ff) oder „staatlich-produktivistischer Typ“ (Martinez 2008:113ff) genannt wird.

Wegen dieser problematischen Benennung wird der Typ im Folgenden als

„lateinamerikanische (LA) Pionierstaaten“ bezeichnet werden.

Was bedeutet Sozialgesetzgebung?

Garland (2016: 46ff) hat eine sehr ausführliche Aufzählung der Bereiche der

Wohlfahrtsleistungen aufgestellt und unterscheidet sie grundsätzlich in fünf Felder. (1) Die

gesetzlich verpflichtende Sozialversicherung schützt Bürger vor Einkommensausfällen, die

aufgrund von Unfällen, Krankheit, Alter, Invalidität oder Arbeitsverlust auftreten. Im

Unterschied zu privaten Versicherungen sind die Einzahlungen nicht vom Risikoprofil des

Bürgers abhängig. (2) Mit Sozialhilfe sind beitragsfreie, meist finanzielle Unterstützungen wie

Wohnbeihilfen, Steuerabsatzbeträge, Familienbeihilfe gemeint. In seltenen Fällen kann es

sich auch um Services und Güter handeln (z.B. Essensmarken, Geschenkkorb für junge

Eltern). Oft sollen sie das Einkommen von finanziell besonders gefährdeten Personen auf ein

Minimum anheben und werden nur im Bedarfsfall bereitgestellt. In manchen Fällen werden

sie jedoch universell gewährt. (3) Öffentliche Güter sind staatlich unterstützte oder frei

zugängliche Dienstleistungen. Dazu gehören öffentliche Bildung, Gesundheitswesen,

Kinderbetreuung, rechtlicher Beistand, aber auch Arbeitsrechtsbestimmungen (Mindestlohn,

Mutterschutz, bezahlter Urlaub, Streikrecht) werden laut Garland (2016: 49) dazu gezählt.

Ihnen haftet am wenigsten Stigmatisierung an. Sie sind aber auch von Staat zu Staat sehr

unterschiedlich geregelt. (4) Sozialarbeit stellt eine auf die Bedürfnisse der einzelnen

Hilfsempfänger angepasste Form von Sozialleistungen dar, wie Unterstützung von Familien

oder Pflege von älteren Personen. Einige solcher Dienste können für Bürger, die wegen

problematischem Verhalten amtskundig geworden sind auch verpflichtend sein oder als

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Kondition für Transferzahlungen dienen. (5) Im weiteren Sinne zählt auch Wirtschaftsplanung

zur Sozialpolitik, da sie die größten Probleme des Marktes ausgleichen soll. Dies geschieht

beispielsweise durch Steuern und deren Umverteilung, Beschäftigungspolitik, Geldpolitik,

Ausbildungsprogramme, einen Mindestlohn, etc.

Auch Schmidt (2008: 424) nennt eine breite Auflistung der Politikfelder, bestehend aus:

Sozialversicherung, Witwen- und Waisenpension, Familienbeihilfe (finanziell), aktive

Arbeitsmarktpolitik, Arbeitslosenversicherungsleistungen, Wohnbeihilfe, Ausgaben für

Gesundheitsversorgung und Transferleistungen für Niedrigeinkommen. Steuern spielen in der

Form von Besteuerung der Sozialleistungen, indirekter Steuern und steuerlichen Vorteilen

(z.B.: für Familien) in vielen Staaten eine große Rolle, sie sind allerdings in ihren

unmittelbaren finanziellen Umverteilungswirkungen schwer messbar. Schmidt lässt allerdings

das Arbeitsrecht und die Bildung außer Betracht. Takada (2001) sieht re-distributive

Programme (z.B. Pension- und Pflegeversicherung), Beschäftigungspolitik, Beziehungen

zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeber (z.B. Gewerkschafts- und Streikrecht), Gender-

Politik (z.B.: Mutterschutz, Familienpolitik zur Verbesserung der Beschäftigung von Frauen)

als zentrale Inhalte der Sozialpolitik des 20. Jahrhunderts. Die verschiedenen Komponenten

der Sozialversicherung (Unfalls-, Pension, Kranken-, Invaliditäts- und

Arbeitslosenversicherung) werden von fast allen Autoren als notwendige Inhalte der

Sozialpolitik nicht einmal hinterfragt und stehen oft im Zentrum von Analysen (SPIN 2018,

CWED 2018, Esping-Andersen 1990: 47). Garay (2016: 29) reduziert die Politikfelder

tendenziell auf die bereits beschriebene Sozialversicherung, Sozialhilfe und Sozialarbeit.

Besonders im deutschsprachigen Raum wird oft auch die Pflegeversicherung als Teil der

Sozialpolitik genannt (Schmidt 2016: 666).

Bildung ist traditionellerweise im deutschsprachigen Raum ein von der Sozialpolitik

unabhängiger Politikbereich und auch in manchen statistischen Erhebungen (z.B. Eurostat)

wird sie nicht als Teil der sozialen Rechte begriffen, doch in vielen anderen Ländern (z.B.

englischsprachiger Raum, Lateinamerika, etc.) ist das Gegenteil festzustellen. Bereits vor

rund 100 Jahren pries Capen (1923: 26) den öffentlichen Zugang zur Bildung in den USA als

wichtigste staatliche Leistung. Der Zugang zu Bildung hat einen ausgleichenden Effekt auf

die Gesellschaft, da erstens Grundfähigkeiten wie lesen, schreiben und rechnen erworben

werden, die gleichzeitig die Grundvoraussetzungen zur Teilnahme am sozialen und

politischen Leben nötig sind. Sie ist aber auch ein präventives Instrument um Armut

vorzubeugen, da eine eindeutige Korrelation zwischen Bildungsgrad und Einkommen besteht.

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Schlussendlich geht es bei Bildungspolitik gleich wie bei Sozialpolitik auch um die Frage der

Umverteilung von Ressourcen, und sie dient damit ebenfalls als Instrument um soziale

Gleichheit voranzutreiben (Allmendinger und Leibfried 2005: 45f, Zohlnhöfer 2007: 382).

Durch diese Auflistung bekannter Literatur zum Thema sieht man, dass es einen

Zusammenhang zwischen dem Verständnis der Sozialpolitik und der Traditionen eines

Wohlfahrtsstaates gibt (z.B. Pflegepension in Deutschland). Das kann bei Ländervergleichen

zu Problemen führen. Es gibt allerdings auch Policy-Bereiche, die man unabhängig vom

geographischen Forschungsschwerpunkt immer wieder findet. Zu ihnen gehören:

(1) Sozialversicherung: Pensions-, Kranken-, Invaliditäts-, Unfall- und

Arbeitslosenversicherung

(2) Arbeitsrecht: Streik- und Gewerkschaftsrecht, Mindestlohn, Mutterschutz

(3) Beschäftigungspolitik: anhand von Gesetzen schwer darzustellen (z.B. Beschäftigung

durch den Staat, staatliches Arbeitsamt, Flexibilisierung der Arbeitsverträge etc.)

(4) Öffentliche Bildung: v.a. Pflichtschulbildung, aber auch Hochschulbildung

(5) Familienpolitik: unterschieden in finanzielle Transferleistungen (z.B. Familienbeihilfe)

und Service-Leistungen (staatliche Kinderkrippen, Kindergärten,

Schulfreifahrtsscheine, etc.)

(6) Sozialhilfe: meist finanzielle Transferleistungen (z.B. Wohnbeihilfe)

Im folgenden Abschnitt wurden zehn Staaten, die repräsentativ für die fünf Wohlfahrtstypen

stehen, untersucht.

Teile der Sozialgesetzgebung 20. Jahrhundert: Die Rechtsordnungen

Internationales Recht

Als normative Komponente der sozialen Rechte könnte die Ratifizierung oder

Unterzeichnung des Internationaler Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

(OHCHR 1966) gesehen werden. Dabei handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag

der 1966 verabschiedet wurde und 1967 in Kraft trat. Der Pakt wird deswegen als normative

Komponente bezeichnet, da die Rechte im Vergleich zu nationalem Recht nur dann

einklagbar sind, wenn der Staat auch das Zusatzprotokoll von 2008 unterschrieben hat oder

der Pakt in nationales Recht übertragen wurde. Wie in Tabelle 2 ersichtlich, haben alle

ausgewählten Staaten in den 1970ern und 1980ern den Pakt ratifiziert.

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Tabelle 2: Ratifizierungsjahr des Internationaler Pakt es über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Ö D FR SPA IT GB CL AG SE NO

1978 1973 1980 1977 1978 1976 1972 1986 1971 1972

Quelle: UN Treaty Collection (2018)

Der Pakt ist sehr weitreichend und beinhaltet Rechte wie: Recht auf Arbeit,

Gewerkschaftsbildung, Streik, angemessenen Lebensunterhalt durch Arbeit, soziale Sicherheit,

Mutterschutz, medizinische Versorgung, allgemeine (unentgeltliche) Grundschulbildung,

Recht auf Zugang zu unentgeltlicher Hochschulbildung, Recht auf Wohnen etc. Nachdem alle

ausgewählten Staaten den Pakt unterschrieben haben, wird dessen Inhalt bei der Erstellung

der Liste der Komponenten der Sozialgesetzgebung einfließen, da anzunehmen ist, dass

zumindest die meisten Rechte von den Staaten als Anspruch des Bürgers akzeptiert wurden.

Verfassungsrechtliche Grundlage

Die verfassungsmäßige Verankerung von sozialen Rechten wird oft gefordert, da

Verfassungsgesetze die „stärksten“ Normen in der Rechtsordnung darstellen, die nicht

derogiert und nur schwer abgeändert werden können. Das bedeutet natürlich nicht, dass

Staaten, die soziale Rechte nicht in den Verfassungsrang erheben, keine Sozialpolitik mit

daraus resultierenden Gesetzen betreiben. Allerdings muss man sich vor Augen halten, dass

diese - in demokratischen Systemen – durch einfache Mehrheiten abänderbar sind. So lautet

zumindest die generelle Annahme. Ein kurzer Blick auf die Verfassungen einzelner Staaten

im 20. Jahrhundert, die repräsentativ für die verschiedenen Typen von Wohlfahrtsstaaten

stehen, zeigt jedoch eine andere Realität.

Tabelle 3: Verankerung sozialer Rechte in Verfassung

Ö D FR SPA IT GB CL AG SE NO

/ 1919-

1933

19581 1978 1947 / 1925-80² 1949-55³;

1994

1974 /

1durch einbeziehen der Präambel von 1946, ²de facto seit Putsch 1973 außer Kraft, ³abgeschafft, aber einige soziale Garantien

danach beibehalten

Die Staaten mit den traditionell ausgeprägtesten Rechten und Sicherheiten aus dem

sozialdemokratischen und konservativen Modell haben jeweils keine oder nicht näher

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präzisierte soziale Rechte in der Verfassung. In Schweden ist die Inklusion sozialer Rechte in

die Verfassung beispielsweise eher vage. Bezüglich sozialer Sicherheiten und Gesundheit

wird nur festlegt, dass diese vom Staat „gefördert“ werden sollen (RF Art 1§2 1974). Explizit

abgesichert sind vor allem arbeitsrechtliche Belange wie etwa das Streik- oder

Versammlungsrecht (RF Art 2 §2 1974) und das Recht auf freie Schulbildung (RF Art 2 §18

1974). Einige soziale Rechte, die in der deutschen Weimarer Reichsverfassung (z.B. WRV

Art 119/123/161/162 1919) garantiert wurden, behielten trotz ihres fehlenden Einganges ins

Grundgesetz als einfache Gesetze der Bundesrepublik ihre Geltung. Im Gegenzug, haben die

schwächeren mediterranen Wohlfahrtsstaaten wie Spanien (CE Art 39-52 1978) und Italien

(CI Art 17/18/29-34 1947) weitreichende soziale Rechte in ihren Verfassungen verankert, was

die faktischen Wohlfahrtsleistungen dieser Staaten aber nicht verbesserte. Chile hatte soziale

Rechte seit 1925 55 Jahre lang in der Verfassung, doch daraus resultierte während ihrer

Gültigkeit in der sozialen Realität nur ein mäßiger Schutz des Individuums durch die

Sozialgesetzgebung. Obwohl Argentiniens Verfassung nach der Reform Perons nur kurz

gültig war, ist beispielsweise das dort etablierte Prinzip der freien Primärbildung bis heute

erhalten geblieben (CA Art 37 1853), während die Verfassungsänderung von 1957 das gleiche

für das Gewerkschafts- und Streikrecht tat (CA Art 14 bis. 1853). Großbritannien ist

bezüglich des Verfassungsrechts ohnehin ein Sonderfall, da es keine kodifizierte Verfassung

hat. Doch auch in den unterschiedlichen Gesetzen, die das britische

„Verfassungsrecht“ ausmachen, werden keine expliziten sozialen Rechte genannt. Demnach

kann die verfassungsmäßige Verankerung der sozialen Rechte nicht als alleinig

ausschlaggebende Erklärung für den Ausbau der Sozialgesetzgebung gesehen werden. Es

zeigte sich auch kein Zusammenhang zwischen der verfassungsrechtlichen Inklusion sozialer

Rechte und der Qualität sozialer Leistungen.

Gesetze und Instrumente

Auf Basis, der in der Literatur oft genannten Bereiche und Instrumente der Sozialpolitik wird

in der Tabelle 4 dargestellt, welche Staaten im 20. Jahrhundert gesetzliche Vorschriften in den

dargestellten Policy-Feldern erließen. Im Falle Deutschlands bezieht sich die Analyse nach

1945 auf Westdeutschland. Eine Policy wird in dieser Arbeit erst ab einer Einführungsrate in

mindestens 70% der Fälle als notwendiger Teil der Sozialgesetzgebung erachtet.

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Tabelle 4: Eingeführte Sozialgesetze je Staat

Ö DL FR SPA IT GB CL AG SE NOR

Staatlich (S)/ privat (P) S P S P S P S P S P S P S P S P S P S P

Arbeitslosenversicherung

bzw. Arbeitslosengeld

● ● ● ● ● ● ● x1 ●2 ●

Krankenversicherung ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Alterspension ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Unfallversicherung ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Invaliditätspension ● ● ● ● ● ●3 ● x ● ●

Streik- und

Gewerkschaftsrecht

●8 ●4 ● ●4 ●4 ● ●4 ●4 ● ●

Mutterschutz ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Mindestlohn x x ● ● x x ● ● x x

Beschäftigungspolitik ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Unentgeltliche Bildung

(primär + sekundär)

● ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Unentgeltliche Bildung

(tertiär)

● ●5 x6 x x ●7 x ● ● ●

Familienhilfe (finanziell) ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Familienhilfe (Leistungen) ● x ● x x ● ● x ● ●

Wohnbeihilfe/Wohnbau ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● 1erst 1991, 2

durch Gewerkschaften und Staat verwaltet, 3fiel unter Krankenversicherung, 4 mit Ausnahme unter Diktaturen,

5bedingt freier Zugang (Entscheidung der Bundesländer); 6 Immatrikulationskosten; 71962-1998, 8kein Streikrecht in Ö.

Tabelle 4 zeigt, dass die meisten untersuchten Staaten einen Großteil der untersuchten

Maßnahmen kodifiziert haben. Man könnte daher vordergründig annehmen, dass die

resultierenden Wohlfahrtsstaaten ähnlich strukturierte Gesellschaften und Werte an

Dekommodifizierung erreicht hätten. Dem ist aber nicht so. Wie Garay (2016: 32)

verdeutlicht, sind die Unterschiede zwischen erlassenen Gesetzen auf drei Elemente

zurückzuführen: (1) die Reichweite d.h. wie groß der Teil der Bevölkerung ist, der davon

profitiert, (2) wie großzügig die Leistungen sind, und (3) die Inklusion gesellschaftlicher

Wohlfahrtsakteure und NGOs in Entscheidungen der Sozialpolitik und deren Umsetzung.

Die Arbeitslosenversicherung wurde in allen Staaten außer Argentinien eingeführt, wo nur es

nur ein System von Abfertigungen pro Arbeitsjahr gibt. Die Versicherung wurde in den

untersuchten Staaten zu sehr unterschiedlichen Zeiten, aber meist vor 1950 eingeführt.

Jedenfalls muss dazugesagt werden, dass diese Versicherung meistens von vorhergehenden

Beiträgen abhängig war und im Leistungsumfang gering ausfiel, um so den Empfänger zur

Arbeitssuche zu motivieren. Personen die im informellen Bereich arbeiteten waren somit aus

der Leistung ausgeschlossen.

Die meisten verpflichtenden Krankenversicherungen wurden Anfang des 20. Jh. eingeführt.

Besonders in den „konservativen Wohlfahrtsstaaten“ waren diese oft von der Branche des

Beschäftigten abhängig oder deckten primär die Basisbedürfnisse armer, sonst unversicherter

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Haushalte ab. Der universelle Zugang zu Gesundheitsversorgung folgte meist durch Reformen

um die 1950en. In Chile, Argentinien und auch in Italien spielen in der zweiten Hälfte des 20.

Jh. jedoch private Krankenversicherungsanbieter neben der staatlichen Varianten eine

wichtige Rolle. Das ist entweder auf die schlechten Leistungen des öffentlichen Systems oder

auf beabsichtigte staatliche Anreize zum Abschluss einer privaten Versicherung

zurückzuführen.

Eine der bedeutendsten Versicherungen ist die Alterspension, wobei bei ihrer Einführung

aufgrund der damals geringeren Lebenserwartung die meisten Versicherten das gesetzliche

Pensionsantrittsalter oft gar nicht erreichten. Die meisten Staaten haben eine Form der

Alterspension, die zumindest den zuvor formell Beschäftigten Teil der Bevölkerung

absicherte, zwischen 1890 und 1919 eingeführt. Sie zählt zu den Policy-Bereichen, die am

ehesten einen universellen Charakter erreichten. Gerade in europäischen Staaten sind

Alterspensionen in den letzten Jahrzehnten wegen der steigenden Lebenserwartung zur

größten Kostenposition im Sozialbudget avanciert (Garland 2016: 122). Um dem

Generationsproblem des Umlageverfahrens zu entgehen wurde in Chile 1980 eine

grundlegende Pensionsreform durchgeführt, bei der das Pensionssystem komplett privatisiert

und durch das Kapitaldeckungsverfahren ersetzt wurde (d.h. man zahlt während der Tätigkeit

in einen Fond ein, der nach der Pensionierung ausgezahlt wird).

Die gesetzliche Unfallversicherung wurde als erstes Ende des 19. Jh. in den

deutschsprachigen Ländern und Frankreich eingeführt. Bis 1916 hatten alle Staaten aus der

Stichprobe außer Norwegen (1957) entweder eine Unfallversicherung oder Gesetze zu

Entschädigungszahlungen für Arbeitsunfälle eingeführt. Dabei war der zentrale Punkt jener,

dass die Beweislast nun nicht mehr beim Arbeiternehmer sondern dem Arbeitgeber lag (d.h.

dieser musste beweisen, dass der Unfall wegen fahrlässigen Handelns des Arbeiters zustande

gekommen war). Damit zählt diese Art der Sozialgesetzgebung zu den ältesten, die sich

international durchgesetzt haben.

Bis 1950 hatten die meisten Staaten aus der Stichprobe mit Ausnahme von Norwegen (1960)

bereits eine staatliche Invaliditätspension oder einer Beihilfe für Behinderte Personen

eingeführt, wobei Deutschland 1889 unter Bismarck wieder die Vorreiterrolle einnahm. Nicht

offensichtlich als solche ausgewiesen war sie ab 1948 in Großbritannien, da sie unter die

Krankenversicherung fiel und die darin inbegriffene finanzielle Unterstützung zur „Heilung

der Krankheit“ nicht zeitlich begrenzt war. Dabei musste im Regelfall eine staatliche Stelle

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die Behinderung und den Behinderungsgrad feststellen. Ab welchem Behinderungsgrad die

Pension ausgezahlt wurde und wie hoch diese war, wurde von Staat zu Staat sehr

unterschiedlich geregelt. Argentinien wies als einziges Land keine Versicherung auf, sondern

zahlte verunfallten Arbeitern stattdessen eine Entschädigung.

Im Bezug auf den Mindestlohn muss klargestellt werden, dass dabei ein staatlich einheitlicher,

garantierter Mindestlohn gemeint ist, den nur eine Minderheit der untersuchten Staaten in

dieser Form eingeführt hat. Viele Staaten (z.B. Norwegen, Österreich) setzten auf kollektive

Vereinbarungen, die von den einzelnen Branchen verhandelt werden. Diese

„Kollektivverträge“ enthalten durchaus Mindestlöhne, die für die jeweiligen Branchen

verbindlich sind, was jedoch den Mindestlohn vom Verhandlungsgeschick und den

Druckmitteln der Gewerkschaftsführer abhängig macht, was zu suboptimalen Ergebnissen

führen kann. Bei den untersuchten Ländern fällt auf, dass gerade jene Staaten einen

gesetzlichen Mindestlohn eingeführt haben, die an sich einen schwächer ausgebauten

Wohlfahrtsstaat haben. Das lässt zwei Schlüsse zu: (1) Mindestlöhne haben sich nicht als

probates Mittel der Sozialgesetzgebung etabliert und (2) wenn doch, dienen sie in schlechter

ausgebauten Wohlfahrtsstaaten als Schutzmechanismus.

Die Legalisierung von Streik- und Gewerkschaftsrecht entwickelte sich zu sehr

unterschiedlichen Zeiten. Das erste Land das 1870 Gewerkschaften zumindest teilweise

legalisierte war die Habsburger Monarchie. Bis 1919 folgten die meisten Staaten außer denen

des mediterranen und lateinamerikanischen Typus. Allerdings gab es in der Stichprobe

zumindest seit Anfang des 20. Jh. nicht formell legalisierte Gewerkschaften die Streiks

organisierten. Diese waren, wie beispielsweise in Chile und Argentinien, eher geduldet oder

wurden je nach Regierung legalisiert bzw. auch wieder verboten. In Spanien schuf Franco

seine eigene Gewerkschaft, die zur Kontrolle der industriellen Beziehungen diente während

alle anderen Gewerkschaften verboten wurden. Offiziell wurden Gewerkschaften in Spanien

erst 1977 legalisiert, womit das Land das Schlusslicht in der Analyse darstellt. Das Streikrecht

wurde unter Diktaturen in jedem Land verboten (z.B. Italien, Deutschland). Abgesehen davon

gab es keinen eindeutigen Trend beim Streikrecht.

Erste Gesetze bezüglich des Mutterschutzes wurden in den meisten Staaten zwischen 1880

und 1920 erlassen, auch wenn die (unbezahlte) Karenzzeit damals meist nicht mehr als 3-4

Wochen betrug. Großbritannien sticht aufgrund später (1975) und lascher Regulierungen - zu

einem Zeitpunkt als anderorts weitgehend die Rechte auf bezahlte Karenz und geschützte

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Arbeitsplätze geschaffen wurden - negativ hervor. Auch Norwegen führte 1956

vergleichsweise spät ein erstes Karenzgesetz ein, wobei die Rechte ab den 1970ern stark

verbessert wurden. Am anderen Ende des Spektrums steht Italien, das recht früh

weitreichenden Schutz für Mütter einführte und diesen kontinuierlich ausbaute (DICE 2015).

Vollbeschäftigung oder zumindest eine geringe Arbeitslosenquote gehören seit jeher zum Ziel

von modernen Nationalstaaten, und um dieses zu erreichen, greift der Staat intervenierend in

den Arbeitsmarkt ein. Aus der Perspektive der Bürger wird das auch durch die Allgemeine

Erklärung der Menschenrechte verdeutlicht, die das Recht auf eine „frei gewählte Arbeit,

gerechte, befriedigende Entlohnung und Beitritt zu Gewerkschaften zum Schutze der eigenen

Interessen“ (Art 23 AEMR 1948) einräumt. Das Problem bei der Messung von

Beschäftigungspolitik ist, dass sie stärkeren Veränderungen unterworfen ist als andere Policy-

Bereiche. Sie kann auch verschiedenste Formen annehmen. Beeinflusst wurde sie lange Zeit

durch den Keynesianismus (Hall 1993: 284). Eine deutliche Maßnahme ist die unmittelbare

Beschäftigung durch den Staat, beispielsweise durch Arbeitsprogramme (z.B. Chile), die

jedoch kaum auf Basis von Gesetzen beschlossen werden. Dasselbe gilt für Subventionen, die

an Unternehmen zur Einstellung neuer Arbeiter vergeben werden. Ein weiteres Mittel ist die

Schaffung eines staatlichen Arbeitsamtes, wie es in vielen europäischen Staaten der Fall war.

Flächendeckend wurde Anfang des 20. Jh. - in manchen Fällen sogar davor - die Schulpflicht

und der unentgeltliche Zugang zu Primärbildung eingeführt. Diese Schulpflicht wurde im

Laufe der Jahre entweder in Form von einer verlängerten Grundschulpflicht oder dem

ausweiten der Schulpflicht auf die Sekundärbildung ausgeweitet, die dadurch auch

unentgeltlich gemacht wurde. Wie lange die Schulpflicht gilt, ist von Staat zu Staat

unterschiedlich geregelt. Der Staat muss jedoch garantieren können, dass jedes Kind einen

Zugang zu Bildung hat. Dennoch spielt in manchen Staaten aufgrund der schlechten Qualität

oder Unterfinanzierung der öffentlichen Schulen der private Bildungssektor eine große Rolle.

Der unentgeltliche Zugang zu Bildung im Tertiärbereich hat sich als eines der Felder

herausgestellt, dass nicht notwendiger Weise Teil der wohlfahrtsstaatlichen

Sozialgesetzgebung ist. Nur 60% der untersuchten Staaten hatten einen kostenlosen

Studienzugang während des 20. Jh. eingeführt. In vielen Staaten war die Bildung im tertiären

Bereich zwar subventioniert (z.B. Frankreich, Italien), was zu relativ geringen Studienkosten

führte, doch unentgeltlich war die Hochschulausbildung eher in den nordischen Ländern. In

Deutschland ist Bildung und auch die Einführung von Studiengebühren Ländersache,

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wodurch die Bewertung schwerfällt. Die meisten Bundesländer hatten keine oder nur geringe

Studiengebühren eingeführt. Überraschend ist, dass eines der Länder mit der längsten

Tradition von unentgeltlicher Universitätsbildung Argentinien ist.

Eine Form der finanziellen Familienbeihilfe gab es in allen untersuchten Ländern. Zuerst

wurde sie in den mediterranen Staaten und in bedingtem Umfang in Chile in den 1930ern

eingeführt. Sie war meist von der Branche abhängig, in der der Kindsvater beschäftigt war.

Zentral- und Nordeuropa, sowie Argentinien folgten in den 1940ern und 1950ern (Bikkal

1958). Die einzelnen Policies waren allerdings sehr unterschiedlich geregelt, so wurde

beispielsweise in Deutschland anfangs die Familienbeihilfe erst ab dem dritten Kind gewährt,

während andere Staaten sie bereits ab dem ersten Kind gewährten. Zudem wurde das Geld in

manchen Staaten an alle Familien mit Kindern bezahlt, während andere Regelungen eher

bedarfsorientiert waren.

Die Familienbeihilfe in Form von Leistungen ist indes weit weniger verbreitet gewesen. In

einigen Ländern wie Chile, Großbritannien oder Schweden wurden vor allem in der zweiten

Hälfte des 20. Jh. Essensprogramme oder Schulmilch für Kinder gefördert, um

Mangelernährung zu bekämpfen. Länder wie Österreich oder England führten die freie

Schulfahrt ein. Eher in den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten findet man auch

öffentliche Kinderkrippen und Kindergärten, während die Kinderbetreuung in konservativen

und mediterranen Wohlfahrtsstaaten als Aufgabe der Familie gesehen wird. Eine

hervorzuhebende Ausnahme bildet auch Chile, das bereits 1917 ein Gesetz einführte, wonach

Arbeitgeber in der Industrie mit mehr als 50 beschäftigten Arbeiterinnen eine verpflichtende

Betriebskinderkrippe haben mussten. Dennoch fallen Sach- und Serviceleistungen unter die

gewählte 70% Grenze, wodurch sie nicht als notwendige Leistung der Sozialgesetzgebung

gesehen werden.

Es ist interessant, dass die meisten Staaten unter ihren ersten sozialen Gesetzen auch

Bestimmungen zum Wohnen berücksichtigten. Zwischen 1880 und 1910 hatten die meisten

Staaten Gesetze und Dekrete für leistbaren oder gesundheitlich unbedenklichen Wohnraum

für Arbeiter geschaffen, da die ihre Wohnsituation oft besorgniserregend war. Anfangs ging

es bei diesen Gesetzen meist um den sozialen Wohnbau. Besonders in Südamerika war dies

während des gesamten 20. Jh. die Hauptstrategie des Staates, während man in Europa nach

dem zweiten Weltkrieg eher zur finanziellen Mietbeihilfe überging, auch wenn es weiterhin

sozialen Wohnbau gab.

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Sozialgesetzgebung europäischen Stils im 20. Jahrhundert

Wie bei der Analyse deutlich geworden ist, konnte man den Großteil der untersuchten

Policies während des 20. Jahrhunderts bei einer Mehrheit der Staaten vorfinden, obwohl diese

natürlich nicht immer die gleichen „Einstellungen“ für die gewählten Instrumente anwandten.

Die meisten Sicherungssysteme entstanden - angefangen mit Bismarcks Sozialgesetzen –

sogar sehr früh, wobei Norwegen seinen Wohlfahrtsstaat eindeutig am spätesten ausgebaut

hat. Wie bereits dargelegt, sagt das Vorhandensein eines Gesetzes nicht viel über die Qualität

der damit geregelten Leistungen und deren Reichweite aus. Um der Analyse der Gesetze mehr

Kontext zu verleihen, wurde deswegen im Teil zu den Typen von Wohlfahrtsstaaten skizziert,

welche leitenden Prinzipien und Ziele die Ausprägung der staatlichen Sozialgesetzgebung

beeinflussen. Für die Definition der Gebiete der Sozialgesetzgebung zählt jedoch allein die

Existenz eines Gesetzes, denn dies bedeutet, dass der Staat sich ab einem bestimmten

Zeitpunkt gezwungen sah, diese Materie zu regulieren, da der freie Markt in vielen Bereichen

der Regelung sozialer Grundbedürfnisse versagt und nicht für alle Bürger entsprechende

Angebote und garantierte Mindeststandards bereit hält.

Die Policies die laut der Analyse in mindestens 70% der Länder gesetzlich geregelt wurden

waren und für Staaten demnach als unerlässlicher Teil der Sozialgesetzgebung eingestuft

werden können sind:

Arbeitslosenversicherung

Krankenversicherung

Alterspension

Unfallversicherung

Invaliditätspension

Streik- und Gewerkschaftsrecht

Mutterschutz

Beschäftigungspolitik

Unentgeltliche Bildung (Primär +

sekundär)

Familienhilfe (finanziell)

Wohnbeihilfe/Wohnbau

Die Policies die durch die Analyse als nicht notwendige bzw. nur optionale Elemente der

Sozialgesetzgebung gesehen werden können sind: der Mindestlohn, die tertiäre Bildung und

die Familienbeihilfe in Sachleistungen und Services. Diese Policies werden allerdings nicht

im Zentrum der Untersuchung stehen und höchstens am Rande erwähnt. In den folgenden

Kapiteln werden mithilfe von Halls Elementen der Policygestaltung (1993: 278f) die

notwendigen Komponenten der Sozialgesetzgebung anhand der Fallbeispiele (Argentiniern

und Chile) analysiert. Die acht Unterkapitel sind chronologisch geordnet und es wird ein

besonderes Augenmerk auf die Variable des politischen Systems gelegt

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Kapitel 2: Analyse der Gesetze

Arbeitslosengeld VS Beschäftigungspolitik

Entstehung

Weder in Chile noch in Argentinien gab es bis zum Ende des 20. Jahrhundert eine allgemeine

Arbeitslosenversicherung, wie man sie aus europäischen Staaten kennt. In Argentinien wurde

eine solche zwar 1991 eingeführt, doch sie wird nur am Rande in die Analyse einfließen, da

sie erst nach der Rückkehr zur Demokratie und kurz vor dem Ende des

Untersuchungszeitraums geschaffen wurde. Gleichermaßen begann sich die Forschung erst ab

diesem Zeitpunkt mit dem Thema der Arbeitslosenversicherung auseinanderzusetzten,

wodurch es kaum Literatur zu den Maßnahmen während des 20. Jahrhunderts gibt.

Beschäftigungspolitik ist wiederum schwer an Gesetzen zu zeigen, da sie meist einen

Ausfluss der Wirtschaftspolitik darstellt und eher als nicht legal bindendes Programm

betrieben wird.

Die ersten Gesetze, die in den Arbeitsmarkt eingriffen, betrafen die Schaffung staatlicher

Arbeitsämter in Argentinien 1913 und in Chile 1919. Es ist anzunehmen, dass in beiden

Fällen die mit dem ersten Weltkrieg verbundene Wirtschaftsrezessionen eine Rolle spielten.

Der Wegfall des Atlantikhandels lies Argentiniens Agrarexporte massiv Schrumpfen.

Europäische Saisonarbeiter konnten nicht zurückreisen und die Arbeitslosigkeit stieg

(Riekenberg 2009: 12f). Chiles Bergbauindustrie lief derweil wegen des Kriegsmaterials

Salpeter gut. Nach Ende des Krieges und der Entdeckung des Haber-Bosch-Verfahrens zur

Herstellung von Kunstdünger brach der Salpeterhandel weg, wodurch auch in Chile die

Arbeitslosigkeit und Arbeiterproteste anstiegen (Collier und Satter 2004: 205). Der Erlass des

Privatangestellten-Gesetzes von 1925 hatte wiederum weniger mit der Rezession, sondern

mehr damit zu tun, dass sie zu den Interessengruppen gehört hatten, die Präsidenten

Alessandri fünf Jahre davor gewählt hatten. Es erlaubte ihnen sich während der

Arbeitslosigkeit ein Darlehen bei ihrer Sozialversicherung zu aufzunehmen, dass beim

Wiedereinstieg in einen neuen Beruf vollständig zurückgezahlt werden musste.

Im Hinblick auf den Schutz vor Arbeitslosigkeit im Gesetz wiesen Argentinien und Chile

grundsätzlich drei wichtige Gemeinsamkeiten auf. Erstens stellte die Weltwirtschaftskrise von

1930 einen Wendepunkt im staatlichen Umgang mit dem Thema Arbeitslosigkeit dar, obwohl

die Länder unterschiedlich hart von der Krise getroffen wurden. Erstmals verloren große

Bevölkerungsteile ihre Arbeit und der Staat konnte wegen der steigenden Mobilisierung der

Arbeiterschaft nicht länger untätig bleiben. Als Antwort auf dieses Problem entstand in den

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1930ern daher die „Entschädigung für Arbeitsjahre“. Diese ähnelt der Abfertigung nach

österreichischem Recht, die nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bezahlt wird. Zweitens

unterschieden sich die Regelungen nach Berufsgruppen, was ein Ergebnis klientilistischer

Praktiken war. Drittens priorisierten beide Andenstaaten die Beschäftigungsstabilität vor der

Hilfe während der Arbeitslosigkeit. So war etwa die neue Entschädigung nicht primär als

finanzielle Überbrückung während der Arbeitslosigkeit gedacht, sondern sollte Entlassungen

für Arbeitgeber wegen hoher Abfertigungszahlungen erschweren (Ramos und Acero 2010: 7).

Chile war laut einem Bericht des Völkerbundes das Land, das am schwersten von der Krise

getroffen wurde. Das lag vor allem an den primären Exportgütern des Landes - Salpeter und

Kupfer – die während der Krise einen massiven Preisverfall am internationalen Markt erlitten.

Es gibt keine eindeutigen Arbeitslosenzahlen aus dieser Zeit, aber aus verschiedenen Quellen

lässt sich schließen, dass sie so hoch waren wie nie zuvor, besonders im Bergbau wo 60 % der

Arbeiter entlassen wurden (Riveros 2009: 8ff). Unter Präsidenten Ibañez wurden daher als

Gegenmaßnahme 1930 für Staatsbedienstete und 1931 für alle Angestellten die Abfertigung

von einem Monatslohn (in Folge: ML) pro gearbeitetem Jahr erlassen. Selbst diese

Zugeständnisse konnten die Regierung von Ibañez jedoch nicht retten. Protestwellen führten

schließlich zu seiner Flucht ins Exil (Rinke 2007: 97f). Argentiniens Wirtschaft kam

wiederum im Vergleich zu anderen Staaten glimpflich davon, da das Land primär

landwirtschaftliche Produkte produzierte, die trotz eines Einbruchs weiterhin Abnehmer

fanden. Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit konnte dennoch nicht vermieden werden. Die

Abfertigung wurde 1934 vorrangig für Arbeitnehmer im Handel eingeführt, die die Erhöhung

ihrer Beschäftigungsstabilität gefordert hatten (Queirolo 2016: 146 & 168, Aiolfi et al. 2011:

223). Pro gearbeitetem Jahr stand den Entlassenen nun ein halber Monatslohn (in Folge ML)

zu. Unterstützt wurde die Maßnahme durch die erstmalige Beschränkung der Immigration und

der Schaffung des Nationalen Rates für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit – kurz JNCDA

(Grondona 2014: 109f).

Die Staaten unterschieden sich allerdings danach in der Entwicklung neuer Instrumente.

Während in Chile in den folgenden vier Jahrzehnten weitere Formen der Unterstützung bei

Arbeitslosigkeit geschaffen wurden (Darlehen, Abfertigung, Arbeitslosengeld), blieb die

Entschädigung in Argentinien die einzige finanzielle Absicherung über alle Berufsgruppen

hinweg. Ab 1932 versuchte man der Massenarbeitslosigkeit in Chile mit aktiver

Beschäftigungspolitik beizukommen. So wurde beispielsweise gesetzlich der Etat für

öffentliche Bauten deutlich erhöht, um bei staatlichen Bauprojekten Arbeitslose einzustellen.

Zusätzlich hoffte man durch das neue Wirtschaftsmodell der importsubstituierenden

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Industrialisierung Arbeitsplätze zu schaffen. Die geförderte Kupferindustrie zeigte zwar in

den 1930er Jahren tatsächlich leichte Anzeichen sich zu erholen, doch sie konnte bei weitem

nicht alle Arbeitslosen der Salpeterindustrie absorbieren (Silva 2007: 71, Collier und Satter

2004: 264, Riveros 2009: 15). In den 1930ern und 1940ern gestand man die Entschädigung

bei unverschuldeter Entlassung weiteren kleinen Berufsgruppen wie den Eisenbahnern oder

Gemeindeangestellten zu. Privatangestellte waren ab 1937 die einzigen, für die je eine

Arbeitslosenversicherung geschaffen wurde. Das hing wahrscheinlich damit zusammen, dass

Alessandris zweite Präsidentschaft sich vor allem auf die Wähler der Mittelschicht stützte, die

somit für ihre Treue belohnt wurde. Sie finanzierte sich über Arbeitnehmerbeiträge (1 %) und

Arbeitgeberbeiträge (8,33 %), schloss die Versicherten aber gleichzeitig von den

Abfertigungszahlungen aus. Im Jahr 1942 reduzierte man den Bezugszeitraum auf 90 Tage

und führte mehrere einschränkende Bedingungen für den Erhalt ein. Obwohl der Staat

während der 1950er kontinuierlich Budgetdefizite produzierte, wurde für die große

Berufsgruppe der Arbeiter 1953 unter der zweiten Regierung von Ibañez erstmals das

Arbeitslosengeld eingeführt. Es wurde nur maximal vier Monate gewährt und finanzierte sich

rein durch Arbeitgeberbeiträge (2 %). Die Maßnahme folgte auf die enorme Inflation, die

unter Ibañez‘ Vorgänger zu einer verstärkten Streikaktivität geführt hatte und auf die

Gründung des größten Gewerkschaftsverbands des Landes – der Central Unitaria de

Trabajadores (Collier und Satter 2004: 275f, Rinke 2007: 110). Die letzte gesetzliche

Entwicklung vor der Diktatur war 1971 in Chile eine Verfassungsänderung, die den Schutz

bei Arbeitslosigkeit als Teil der Sozialversicherung vorsah. Zudem betrieb die Regierung

Allendes viel stärker als vorhergehende Regierungen die staatliche Intervention in den Markt.

So kam es zu einem massiven Anstieg der staatlichen Bauvorhaben, um im Sinne der

antizyklischen Investition, die Wirtschaft anzukurbeln und die Arbeitslosigkeit durch

Schaffung neuer Arbeitsplätze zu reduzieren. Hiervon sollten besonders armutsgefährdete

Schichten davon profitieren (Colllier und Satter 2004: 344). Die Ausweitung des

Arbeitslosengeldes auf verschiedene Berufsgruppen war demnach entweder auf die Erhaltung

des sozialen Friedens oder der Belohnung treuer Interessensgruppen zurückzuführen.

In Argentinien blieb die Abfertigung die einzige Absicherung beim Verlust des Arbeitsplatzes.

Die Unterschiede der verschiedenen Regelungen lagen meist in der Höhe ihrer

Unterstützungen. Als Juan Perón als Teil einer Militärjunta an die Macht kam, führte er 1943

für die Staatsbediensteten und 1945 den einen Großteil der restlichen Arbeitnehmer die

Entschädigung für Arbeitsjahre bzw. die Abfertigung ein. Eine wichtige gesetzliche Neuerung

war dabei die Einführung der „gerechtfertigten Gründe“ (justa causa) bei Entlassungen. Die

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Abfertigung wurde nur bei einer Entlassung ohne justa causa gewährt, was wohl ein

Zugeständnis an die Arbeitgeber war. Während Peróns fast zehnjähriger Regierungszeit lief

die Wirtschaft gut und viele Arbeitslose wurden einfach in den Staatsdienst aufgenommen.

Zwar stiegen unter Perón dadurch die Beschäftigung und der Beschäftigungsschutz, doch

spätere Wirtschaftsanalysen gingen davon aus, dass seine Beschäftigungspolitik maßgeblich

zum wachsenden Budgetdefizit des Staates beigetragen hatte. Die Regierung der 1950er und

1960er kümmerten sich wiederum kaum um Beschäftigungspolitik und sahen die

Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eher als Teil der Konjunkturpolitik (Grondona 2014: 117f,

Bethell 1993: 291). Eine Ausnahme bildeten Hausangestellte, die 1956 das Recht auf die

Abfertigung bekamen. Als Perón 1973 wieder an die Macht kam, war es in seinem Interesse

die Staatsbediensteten erneut zu privilegieren, die bis 1970 bereits 19,2 % der versicherten

Arbeitnehmer ausmachten (Mesa-Lago 1978: 182). Ihnen wurden gesetzlich die bisher

höchsten Abfertigungen zugestanden. Letztlich wurde 1974 das zentrale Gesetz der

„Arbeitsverträge“ erlassen, das die Arbeitsbedingungen von fast allen Arbeitnehmern der

Privatwirtschaft regelte. Für Abfertigungen für Entlassungen ohne justa causa wurden

verdoppelt und die Abfertigung musste in jedem Fall mindestens 2 ML betragen. Zusätzlich

integrierte das Gesetz weitere Normen, die die Beschäftigungsstabilität erhöhten, wie

beispielsweise das seit 1938 bestehende Entlassungsverbot für Frauen aufgrund der Heirat.

In Argentinien ging die Einführung der Abfertigungen zwar von einer Interessensgruppe aus

(Arbeitnehmer im Handel), doch es fand bereits unter Perón eine teilweise Vereinheitlichung

statt. Diese relativ universelle Gültigkeit der Normen war für damalige Sozialgesetze eher

ungewöhnlich. In Chile waren die Unterschiede zwischen den Berufsgruppen indes markanter.

Dennoch besaßen beide Staaten besonders privilegierte Berufsgruppen (z.B. Staatsbedienstete

in Argentinien, die Privatangestellte in Chile), die für ihre jeweiligen Regierungen von

besonderer Bedeutung waren. Die Ausweitung der Rechte war demnach ein Ausfluss des

politischen Klientelismus und diente auch Unruhen dieser Gruppen zu vermeiden. Eine

weitere Gemeinsamkeit beider Staaten war, dass die Politik der Arbeitslosigkeit in erster Linie

die Politik ihrer Vermeidung war d.h. sie sollte vor allem die Beschäftigungsstabilität erhöhen.

Das zeigt sich nicht zuletzt an der Vorliebe für das Instrument der Abfertigung. Das Problem

dieser Präferenz war, dass sie Berufe mit hoher saisonaler Arbeitslosigkeit oder mit kurzen

Arbeitsverträgen nicht schützt (Ramos und Acero 2010: 7f). Die Beschäftigungspolitik

beschränkte sich meist auf die Schaffung von Arbeitsplätzen durch Konjunkturpolitik oder die

Anstellung beim Staat. Diese verstärkte Intervention in den Mark war aber letztlich eine Folge

des international dominierenden Wirtschaftsdogmas des Keynesianismus.

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Während der Diktatur

Während der Diktaturen der 70er Jahre drifteten die Instrumente der Beschäftigungspolitik in

Argentinien und Chile noch weiter auseinander. In beiden Staaten wurden damals neoliberale

Wirtschaftsreformen durchgeführt und die Märkte wieder für internationale Importe geöffnet.

Man hoffte dadurch die stagnierenden Wirtschaften zu beleben. Der Unterschied war, dass in

Argentinien die Liberalisierung nach der Schuldenkrise der 1980er wieder gestoppt wurde,

während Chile konsequent an dieser Politik festhielt. Zusätzlich wollte die argentinische

Regierung keinen Anstieg der Arbeitslosen riskieren und behielt den Beschäftigungsschutz

durch Abfertigungen fast unverändert bei (Marshall 1997: 9ff, Bethell 1993: 332). Das Gesetz

der Arbeitsverträge blieb das zentrale Instrument und wurde 1976 nur minimal verändert.

Beispielsweise wurde die Mindesthöhe der Abfertigung von 2 ML auf 1 ML gekürzt. Durch

die Aufnahme der Agrararbeiter in die Norm kam es zur Ausweitung und somit auch einer

kleinen Vereinheitlichung der Rechte. Mit der Einschränkung der Abfertigungs-Privilegien

der Staatsbediensteten, wurden die Unterschiede zwischen den Gruppen weiter verkleinert.

Grondona (2014: 120) hielt fest, dass es während der Diktatur kaum Arbeitslosigkeit gab und

man fürchtete, dass durch die Schaffung einer „Arbeitslosenversicherung“ Entlassungen

gefördert würden. Generell wurde also am Prinzip der Beschäftigungsstabilität festgehalten,

was laut Marshall (1997: 10) mitunter soziale Unruhen verhindern sollte. Sowohl der Abbruch

der Wirtschaftsreformen und der Widerwille den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren deuten darauf

hin, dass die Junta sich nicht sicher genug in ihrer Position fühlte, um die unpopulären

Änderungen umzusetzen. In Chile wurden wiederum wurde der Arbeitsschutz flexibilisiert,

was einer Abkehr von der Beschäftigungsstabilität entsprach. Erst nach der Rückkehr zur

Demokratie konnte ein ähnlicher Paradigmenwechsel für Argentinien festgestellt werden.

Als 1973 in Chile die Militärjunta die Macht übernahm, befand sich das Land bereits in einer

Wirtschaftskrise, die sich aufgrund der ersten Ölpreiskrise noch verschärfte. Das BIP sank seit

1972, es herrschte eine hohe Inflation und der Staatshaushalt musste dringend wieder ins Lot

gebracht werden. Um diese Situation zu berichtigen, beauftragte die Junta eine Gruppe

neoliberaler Wirtschaftsexperten. Sie verordneten den sofortigen Rückzug des Staates aus der

Wirtschaft und die Liberalisierung der Märkte – so auch des Arbeitsmarktes (Collier und

Satter 2004: 365, Sepúlveda 2014: 223). Die vollzogene Flexibilisierung des

Arbeitnehmerschutzes stellte eine radikale Abkehr vom bisherigen Prinzip der

Beschäftigungsstabilität dar. Die Flexibilisierung sollte laut Theorie die Kosten der Arbeit

reduzieren und dadurch die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern. Campero (2004: 10 & 27)

kam allerdings zum Schluss, dass die Maßnahmen nicht zur Reduktion der Arbeitslosigkeit

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beigetragen hatten, obwohl sich durch die Wirtschaftsreformen ab 1976 bereits ein deutliches

Wirtschaftswachstum einstellte. Stattdessen stiegen die Arbeitslosenzahlen ab 1975 stark an

und fielen bis 1981 nie unter 15,7 %. Durch die Rezession der 1980er kam es erneut zu einer

drastischen Verschlechterung. 1983 erreichten die Arbeitslosenzahlen den historischen Wert

von 28,5 % und befanden sich erst ab 1988 wieder im einstelligen Bereich.

Bereits vor der Explosion der Arbeitslosenzahlen wurde 1974 das "einheitliche System des

Arbeitslosengeldes" für alle Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft

geschaffen. Die Finanzierung oblag vorerst der jeweiligen SV und dem Staat. Das

Arbeitslosengeld wurde in der Höhe von 75 % des letzten Einkommens für 90 Tage gewährt

und konnte maximal dreimal verlängert werden. Sein Erhalt war zusätzlich an mehrere

Konditionen gebunden. Beispielsweise durfte man keine vom Arbeitsamt zugewiesene Arbeit

verweigern, sonst verlor man die finanzielle Hilfe. Als eigentliche Notfalls-Maßnahme gegen

die steigende Arbeitslosigkeit wurden drei Beschäftigungsprogramme geschaffen: die

freiwillige versicherte Gemeindearbeit, das Mindestbeschäftigungsprogramm (PEM) und das

Beschäftigungsprogramm für Haushaltsvorstände (POJH) (Marshall 1997: 10). Laut

Etchemendy (2004: 281, 2001: 228) waren diese Programme wichtiger bei der Bekämpfung

der Arbeitslosigkeit als finanzielle Fördermittel wie das Arbeitslosengeld. Im Gegensatz zu

anderen Bereichen der Sozialpolitik stieg das Budget für Beschäftigungsprogramme während

der Diktatur, was die zentrale Stellung dieser Policy zeigte. Man galt jedoch bei allen drei

Programmen nicht als Arbeiter, sondern als "Begünstigter". Diese Begünstigten wurden nicht

in die offizielle Arbeitslosenstatistik miteingerechnet, wodurch die Statistiken geschönt

wurden (Sepúlveda 2014: 214 & 217f). Von den drei Programmen hatte nur die versicherte

Gemeindearbeit seit 1974 eine gesetzliche Grundlage. Es handelte sich dabei um eine

geringfügige Arbeit, die zur minimalen Aufbesserung des Arbeitslosengeldes diente. Obwohl

die staatliche Intervention in den Arbeitsmarkt von den Wirtschaftsexperten als einer der

Auslöser für Arbeitslosigkeit kritisiert wurde, sah sich der Staat zur Bekämpfung der

Arbeitslosigkeit gezwungen 1975 das PEM und 1983 wegen der erneuten Rezession das

POJH zu schaffen (Collier und Satter 2004: 366). Man war bei keinem der beiden Programme

versichert, die erhaltene Förderung war geringer als der Mindestlohn und man hatte mit der

sozialen Stigmatisierung zu kämpfen, die diese Programme mit sich brachten. Heute würde

man die Arbeitsverhältnisse als prekär beschreiben, doch damals fanden viele Menschen

schlichtweg keine fixe Arbeit. Die endgültige Vereinheitlichung des Arbeitslosengeldes fand

1980 statt als der Staat die gesamte Finanzierung übernahm. Auch eine überarbeitete Version

des Gesetzes zum Arbeitslosengeld von 1982 schien die gestiegenen Arbeitslosenzahlen zu

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berücksichtigen, da man nun während der Arbeitssuche zur unentgeltlichen Gemeindearbeit

verpflichtet werden konnte. Da die Situation am Arbeitsmarkt anfing sich ab Mitte der 1980er

zu normalisieren, ließ man auch die Beschäftigungsprogramme bis 1988 auslaufen.

In beiden Andenstaaten von Kürzungen betroffen, war der Staatdienst. Wie bereits erwähnt,

war der öffentliche Dienst in Argentinien seit Perón stark gewachsen und verursachte dem

Staat hohe Kosten. Daher wurde bereits 1976 wurde ein Gesetz erlassen, das Entlassungen

von Staatsbediensteten erleichterte und ihre bisherigen Privilegien beschränkte. Die Höhe der

Abfertigung wurde reduziert und konnte sogar ganz gestrichen werden, wenn die Person

durch „subversive Tätigkeiten“ auffiel oder sie als potenzieller Störfaktor für den Betrieb

gesehen wurde. Neben der Kosteneinsparung erleichterte das dem Staat auch die Entlassung

unliebsamer Beamten. Zur Reduktion der Kosten trugen auch die deutlichen

Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst bei, die erst nach der Diktatur wieder das Level von

1975 erreichten (Dieguez und Gerchunoff 1984: 10). In der gesamten öffentlichen

Verwaltung wurden zwischen 1976 und 1983 um die 120.000 öffentliche Bedienstete

entlassen, was einer Quote von ca. 6,6 % entsprach (Lewis 2000: o. S.). Auch in Chile kam es

zur gleichen Zeit zur Reduktion des öffentlichen Dienstes von rund 15 % aller Arbeitnehmer

zu Beginn der Diktatur auf 7 % im Jahr 1980 (Campero 2004: 11). In beiden Fällen deutete

dies auf eine partielle Abkehr vom Credo der Beschäftigungsstabilität hin, da man die erhöhte

Arbeitslosigkeit unter Beamten in Kauf nahm, um eine Senkung der Staatsausgaben zu

erreichen.

Nach dem Ende der Diktatur stagnierte die argentinische Wirtschaft und schlitterte ab den

1990ern in eine neue Krise. Der begonnene De-Industrialisierungsprozess wurde fortgesetzt

und die Arbeitslosenrate stieg von 3,9 % im Jahr 1983 auf 6,3 % am Ende des Jahres 1990.

Um die Wirtschaft zu stabilisieren nahm der Staat einen Kredit beim IWF auf. Als Kondition

für die finanzielle Hilfe wurden der Regierung Menems neoliberale Strukturreformen

auferlegt. Zusammen mit der De-Regulierung der Märkte wurde auch eine Flexibilisierung

des Arbeitnehmerschutzes beschlossen. Wie in Chile zuvor nahm man an, dass durch die

gesenkten Entlassungskosten wieder mehr Personen eingestellt werden würden. Die

Reformen führten allerdings zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosenzahlen, was noch

1991 zur Schaffung der Arbeitslosenversicherung führte (Marshall 1997: 12 & 15ff).

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Tabelle 5: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Arbeitslose

Argentinien Chile

Vor 1970er Auslöser Weltwirtschaftskrise 1929/30

sozialer Frieden gefährdet

Fokus auf Beschäftigungsstabilität

System eher einheitlich

Instrument: Abfertigung

Auslöser Weltwirtschaftskrise 1929/30

sozialer Frieden gefährdet

Fokus auf Beschäftigungsstabilität

System stark fragmentiert

Instrumente: Abfertigung, Versicherung,

Arbeitslosengeld

Nach 1970er

Abbau Staatsdienst

Fokus auf Beschäftigungsstabilität (trotz

Neoliberalismus wegen sozialem Frieden)

Abbau Staatsdienst

Flexibilisierung Arbeitnehmerschutz

Instrument: einheitliches Arbeitslosengeld,

Beschäftigungsprogramme (trotz

Neoliberalismus wegen sozialem Frieden)

Ab 1990er Flexibilisierung Arbeitnehmerschutz

Instrument: einheitliche

Arbeitslosenversicherung

Leichte Änderungen im System, sonst gleich

Quelle: Autor

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Vereinheitlichung des Arbeitslosengeldes in

Chile erst unter der Diktatur möglich wurde, da während der Demokratie zu viele

Interessensgruppen gegen den Verlust ihrer Privilegien (z.B. Privatangestellte) gestimmt

hätten (Segura-Ubiergo 2007: 57, Mesa-Lago 1978: 29). Eine kleine Vereinheitlichung bzw.

Verkleinerung der Unterschiede konnte auch in Argentinien festgestellt werden. Der

Vergleich der Länder fällt allerdings schwer, da in Chiles Nachbarland nie eine bedeutsame

Fragmentierung der Regelungen zwischen den Berufsgruppen herrschte. Eine Gemeinsamkeit

unter den Diktaturen war die Entlassung vieler öffentlichen Bediensteten, die vor allem aus

Kostengrüden vollzogen wurde, aber auch der Entfernung unliebsamer Beamter diente.

Autoritäre Systeme haben einen größeren Spielraum bei der Umsetzung unbeliebter Reformen,

doch auch sie sind ähnlich wie demokratische Regierungen auf den Erhalt des sozialen

Friedens angewiesen. Das zeigte sich am Festhalten der argentinischen Militärjunta am

Prinzip der Beschäftigungsstabilität und an Chiles Implementierung der

Beschäftigungsprogramme PEM und POJH. Im Falle Argentiniens könnte dies allerdings auf

eine schwächere Position der Junta hingewiesen haben. Stattdessen waren es internationale

Faktoren, die für den Paradigmenwechsel hin zur größeren Flexibilisierung des

Arbeitnehmerschutzes verantwortlich waren. Die Militärregierung Chiles hat Reformen

möglicherweise erleichtert, doch es kann den Wechsel nicht erklären, da ähnliche Reformen

in Argentinien erst unter einer demokratischen Regierung stattfanden.

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Unfallversicherung und Invaliditätspension

Meist werden Unfall- und Invaliditätspension in Argentinien und Chile in Arbeitsunfall-

Gesetzen zusammengefasst. Dennoch bekamen einzelne Berufsgruppen über die SV eigene

Bestimmungen zur Invaliditätspension (z.B. zur Höhe). Obwohl die relevantesten SV-Gesetze

in die Analyse einfließen werden, wird der Fokus dieses Unterkapitels auf den Gesetzen über

Arbeitsunfällen liegen.

Entstehung

Die Bestimmungen zu Arbeitsunfällen gehörten nicht nur in Europa zu den ältesten

Sozialgesetzen, sondern auch in Argentinien (1915) und Chile (1916). In den Jahren vor der

Veröffentlichung des Gesetzes kam es in Argentinien zu massiven Streiks, die in der Elite des

Staates Ängste vor einer Revolution schürten. Daher ist anzunehmen, dass der Grund für den

Erlass die Befürchtung war, dass die hohe Anzahl der Arbeitsunfälle in neu entstandenen

Industriebetrieben zu Protesten seitens der Arbeiter bzw. der Gefährdung des sozialen

Friedens führen könnte. Es handelte sich also um einen paternalistischen top-down Prozess

(Segura-Ubiergo 2007: 27). Die Gesetze beider Staaten waren stark durch europäische

Gesetze inspiriert, doch sie wurden auch von einem inter-lateinamerikanischem

Ideenaustausch geprägt. Zusätzlich übten ab 1919 auch ILO-Abkommen zu diesen Themen

einen Einfluss auf Reformen der Gesetze aus (Ramacciotti 2015: 203, SsPS 2015: 5f, Mesa-

Lago 1978: 162). In ihren Grundzügen waren die Gesetze sich relativ ähnlich, denn sie galten

vorrangig für Arbeitnehmer in privaten Industriebetrieben. Arbeitgeber konnten sich der

Entschädigungspflicht nur entziehen, wenn der Unfall entweder auf das grob fahrlässige

Verhalten bzw. die Absicht des Arbeitnehmers oder eine „höhere Macht“ zurückzuführen war.

Dieser Punkt stellte eine Zäsur dar, da erstmals der Arbeitgeber die Beweislast bei Unfällen

am Arbeitsplatz trug. Ein Unfall konnte den Arbeitgeber viel Geld kosten, da er für die

Behandlungs- und Arzneikosten aufkommen musste. Das bewegte viele Arbeitgeber sowohl

in Argentinien als auch in Chile dazu die Gesetze zu umgehen. Beispielsweise zwangen sie

Arbeiter gegen ihre Kollegen auszusagen oder begründeten Unfälle durch den

„Alkoholismus“ der Opfer (Ortúzar 2013, Ramacciotti 2015: 208). Die Entschädigungen bei

temporär Arbeitsunfähigkeit waren bis zur Genesung in beiden Ländern mit 50 % des

Tageslohns bemessen. Doch während Chile für permanente Behinderungen Pensionen auf

Lebenszeit einführte, setzte Argentinien auch hier auf eine Entschädigung in einer maximalen

Höhe von 1.000 Tageslöhnen, die pro Monat ausgezahlt wurden. Einen Vorteil bot

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Argentinien allerdings bei arbeitsbedingten Krankheiten, die in Chile erst rund zehn Jahre

später (1924) gesetzlich berücksichtigt wurde. Dasselbe gilt für Hygiene- und

Sicherheitsstandards in Betrieben, die in Argentinien bereits 1916 definiert wurden, was in

Chile erst unter Präsidenten Figueroa 1926 geschah. Dennoch hatten beide Staaten eine

Vorreiterrolle in diesem Gebiet inne, da die ILO erst 1925 Bestimmungen zu arbeitsbedingten

Krankheiten veröffentlichte (SsPS 2015: 6). Argentinien konnte trotz der geringeren

Industrialisierung im Vergleich zu Chile bis in die 1920er Jahre einen besseren Schutz bei

Unfällen vorweisen. Das lag wahrscheinlich am größeren Einfluss europäischer Migranten,

die Unfall- und Invaliditätspensionen bereits aus ihrer Heimat kannten, sowie der höheren

Streikbereitschaft der Arbeiter. Aufgrund der Wahl Alessandris 1920 in Chile, der den

Arbeitern und der Mittelschicht Sozialreformen versprochen hatte, brachte Chile sein

Arbeitsunfälle-Gesetz auf den Stand Argentiniens und baute erstmals Bestimmungen zur

Unfallprävention ein. Dieses Gesetz galt in Folge auch für Staatsbedienstete, Land- und

Hausarbeiter, sowie Arbeiter in Werkstätten. Zugleich wurde mit der Schaffung der

verpflichtenden Arbeiterversicherung 1924 eine der größten chilenischen Berufsgruppen

geschützt, während der Arbeitgeber nicht für die gesamten Unfallkosten aufkommen musste.

In Chile bekamen einige kleinere Berufsgruppen ab Mitte der 1930er teils bessere

Invaliditätspensionen über eigene Versicherungen. Andere Gruppen wie Privatangestellte und

Selbständige (z.B. Einzelhändler) blieben lange ohne Schutz, allerdings war ihre Gefahr einen

Unfall zu erleiden meist geringer. Eine Ausweitung der Entschädigungen bei Invalidität auf

unterschiedliche Berufsgruppen konnte auch für Argentinien beobachtet werden, doch die

wenigsten hatten das Recht auf eine Invaliditätspension. Eine Ausnahme bildeten unter dem

späteren Präsidenten Perón die Industriearbeiter. Sie bekamen 1946 eine spezifische

Versicherungsregelung, was ohne Zweifel mit Peróns Ambitionen zusammenhing, die

Arbeiterschaft für die kommende Wahl auf seine Seite zu ziehen. Trotz der Schaffung

verschiedener SV-Regelungen blieben immer die Arbeitgeber für die Finanzierung der

Entschädigungszahlungen (über die Versicherungen) zuständig. Das argentinische

Arbeitsunfälle-Gesetz wurde hingegen zwischen 1940 und 1960 mehrfach reformiert.

Beispielsweise konnte man die Entschädigungen auch als Einmalzahlung verlangen. Einer der

größten Kritikpunkte am Arbeitsunfalls-Gesetz war laut Ramacciotti (2015: 213f) jedoch

weiterhin das Fehlen eines Krankenhauses, das auf Arbeitsmedizin spezialisiert war, wie es

eines seit 1937 in Chile gab. Stattdessen waren meist Gewerkschaftsspitäler (obras sociales),

die einen Großteil der krankenversicherten Bevölkerung abdeckten, für Arbeitsunfälle

zuständig. Nachdem Perón 1955 durch General Lonardi weggeputscht worden war, wurde

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noch im selben Jahr die Abdeckung des Arbeitsunfall-Gesetzes auf alle Unselbstständigen

ausgeweitet und auch der Arbeitsweg unter Schutz gestellt. Dass dies nicht bereits unter der

Regierung Perón geschehen war, lag mit deren Fokus auf ihre Hauptzielgruppe zusammen –

den Arbeitern. Diese waren trotz seines Exils weiterhin ihrem Präsidenten treu, während die

Mittel- und Oberschicht bereits angefangen hatten, Perón zu misstrauen. Die Ausweitung des

Schutzes unter der Militärregierung ist deswegen als Maßnahme zur Befriedung eines

politisch gespaltenen Landes zu verstehen. Chile ab den 1950ern war in dieser Materie erneut

hinter Argentinien zurückgefallen. Erst 1968 unter der christdemokratischen Regierung von

Eduardo Frei wurde die Schaffung der universellen, verpflichtenden Arbeitsunfälle-

Versicherung (in Folge: AUV) beschlossen. Sie wurde durch Arbeitgeberbeiträge finanziert.

Die AUV stellte in Chile eine der frühesten und einzigen Reformen zur Vereinheitlichung der

SV dar, die Präsident Frei erfolgreichen umsetzen konnte. Sie galt für alle Unselbstständigen,

mit Ausnahme des Militärs. Damals begann das seit dem Putsch in den 1930er Jahren

diskreditierte Militär wieder an Macht und Ansehen zu gewinnen. Präsident Frei stand durch

seine Agrarreform bereits mit der alten Elite der Großgrundbesitzer in Konflikt. Es ist deshalb

davon auszugehen, dass die Ausnahme für das Militär diese Gruppe davon abhalten sollte,

sich auf die Seite der Großgrundbesitzer zu stellen und somit die gesellschaftlichen

Spannungen zu vergrößern. Im Falle eines Unfalls, der zur temporären Arbeitsunfähigkeit

führte, wurden für die meisten Berufsgruppen, die finanziellen Zuschüsse auf 85 % des

Monatslohns deutlich erhöht. Schließlich wurden im letzten Regierungsjahr Allendes auch

Schüler unter den Schutz der Unfallversicherung gestellt. Es wurden auch finanzielle Anreize

für Unternehmer geschaffen, um in Sicherheit am Arbeitsplatz zu investieren, da

„unsichere“ Unternehmen höhere Versicherungsbeiträge zahlen mussten. Zu diesem

Zeitpunkt ähnelten sich die Gesetze beider Länder wieder.

Sowohl in Chile als auch in Argentinien entstand der gesetzliche Schutz bei Arbeitsunfällen,

gleich wie in Europa, im Zuge der entstehenden Industrien. In den ersten Jahren wird der

Einfluss internationaler Faktoren, wie europäischen Gesetzen und den Abkommen der

neugegründeten ILO deutlich. Danach studierten und implementierten beide Andenstaaten

gegenseitig jene Reformen des Arbeitsunfall-Gesetzes, die der Nachbarstaat voraushatte

(Ramacciotti 2015: 216f). Beispielsweise übernahm Chile so die arbeitsbedingten

Krankheiten und Argentinien die Präventionsmaßnahmen, die Chile bereits reguliert hatte.

Die Weiterentwicklung der Gesetze war je nach Zeitpunkt der Reform auch von zwei

weiteren Faktoren beeinflusst: die Wahrung des sozialen Friedens und der Privilegierung

regierungstreuer Interessensgruppen. Die beruflichen Interessensgruppen wurden meist durch

Page 39: Sozialgesetzgebung unter lateinamerikanischen Diktaturen ...

Seite | 39

die Schaffung von eigenen Invaliditätspensionen bedient (z.B.: Arbeiter in Chile,

Industriearbeiter in Argentinien). Auch in Zeiten von erhöhter Streiktätigkeit oder politischer

Spaltung konnten Erweiterungen festgestellt werden, die dazu dienen sollten, den sozialen

Frieden zu erhalten. Bis in die 1970er deckte der Schutz der Arbeitsunfälle-Gesetze in beiden

Staaten alle formell beschäftigten Unselbstständigen ab, schlossen jedoch den informellen

Sektor und Selbständige aus. Trotz der gezeigten Ähnlichkeiten unterschieden sich beide

Systeme in einigen zentralen Punkten. Während in Argentinien bis in die 1990er

Entschädigungszahlungen dominieren, gab es in Chile von Beginn an monatlich ausbezahlte

Invaliditätspensionen. Das Problem der Entschädigungszahlungen war, dass sie nicht lange

reichten und im Fall von Einmalzahlungen die Gefahr bestand, dass sie von den Empfängern

nicht vorausschauend genutzt oder investiert wurden (ibid. 2015: 210). Da in Chile seit der

Regierung Alessandris zudem für das SV-Wesen in vielen Berufssparten die Zahllast vom

Arbeitgeber genommen wurde, war die Motivation der Arbeitgeber, ihre Arbeitnehmer um

ihre Rechte zu betrügen, geringer. Wichtiger noch ist jedoch die Schaffung der einheitlichen

AUV in Chile unter Präsidenten Frei, denn durch die universelle Versicherung konnten

Ungleichheiten reduziert und die hohen administrativen Kosten gesenkt werden.

Während der Diktatur

In Chile blieb trotz der entscheidenden Veränderungen des Pensionssystems (siehe nächstes

Unterkapitel) und anderen Teilen der Sozialgesetzgebung das AUV-Gesetz von 1968 während

der gesamten Dauer der Diktatur gültig. Allein die Beiträge in die Unfallversicherung wurden

1980 zuerst von 1 % auf 0,85 % gesenkt, jedoch kurz vor dem Ende der Diktatur wieder auf

0,90 % angehoben. Das ebenfalls 1980 eingeführte privatisierte Pensionssystem deckte mit

seiner Invaliditätspension zusätzlich Unfälle, die in der Freizeit passiert waren, ab. Auch

Argentinien behielt die bestehenden Normen großteils bei. Allerdings wurde 1979 eine sehr

detailreiche Reglementierung zum Gesetz über Hygiene und Sicherheit am Arbeitsplatz

erlassen. Dazu zählten beispielsweise Gebäudevorschriften, Lärmschutz, die sichere

Handhabung von Maschinen oder der Brandschutz. Es waren auch Sanktionen bei der Nicht-

Befolgung vorgesehen. Das Arbeitsunfälle-Gesetz (samt etlicher Änderungen) bildete seit

1915 eine Konstante in der argentinischen Sozialgesetzgebung, sowohl unter Demokratien als

auch unter Diktaturen. Es wurde erst im Jahr 1991 durch eine neue Version ersetzt.

Schließlich wurde das System 1995 unter einer demokratischen Regierung komplett

reformiert, und es wurde wie in Chile eine AUV eingeführt.

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Tabelle 6: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Arbeitsunfälle und Invaliditätspension

Argentinien Chile

Vor 1970er Auslöser: Industrialisierung, Streiks, Angst der

Elite sozialer Frieden

Internationale Einflüsse relevant

Finanzierung: Arbeitgeber

Gesetze relativ einheitlich

Instrumente: Entschädigung (bei Unfall und

Invalidität)

Auslöser: Industrialisierung, Streiks, Angst der

Elite sozialer Frieden

Internationale Einflüsse relevant

Finanzierung: Arbeitgeber + SV

Gesetze relativ einheitlich, Unterschiede bei

Invaliditätspension

Instrumente: Entschädigung bei Unfall, bei

Invalidität Pension, später einheitliche AUV

Nach 1970er kleine Änderung der Normen

Abkehr ISI-Modell (Arbeiterschaft schrumpft)

kleine Änderung der Normen

Abkehr ISI-Modell (Arbeiterschaft schrumpft)

Ab 1990er Einführung einheitliche AUV (internationale

Faktoren)

-

Quelle: Autor

Wie aus Tabelle 6 ersichtlich, wurde in der Zeit der Diktaturen offensichtlich keine

Notwendigkeit gesehen etwas in der Materie der Unfallgesetzgebung zu ändern. Das kann

natürlich auf die beginnende Abkehr vom Modell der importsubstituierenden

Industrialisierung zurückzuführen sein, da meist Arbeiter in Industriebetrieben dem größten

Unfallrisiko ausgesetzt sind. Außer den Selbständigen waren zudem bereits vor den

Diktaturen alle Berufsgruppen gesetzlich abgedeckt. Die Reform des teuren und

fragmentierten Pensionssystems Argentiniens war eine der Konditionen des IWF, um dem

Land nach der Schuldenkrise der 1980er einen Kredit zu gewähren. Deshalb wurde im Zuge

einer breiteren Reform des Sozialsystems erst 1995 eine Unfallversicherung geschaffen.

Pensions- und Krankenversicherung

Mesa-Lago (1978) hat für die Zeit bis Mitte der 1970er eine detaillierte Analyse der

Sozialversicherungssysteme Lateinamerikas erstellt, während erst danach die Privatisierung

der Pensions- und Krankenversicherungssysteme international das Interesse der Wissenschaft

an dem Thema weckte (Barrientos und Lloyd-Sherlock 2000, Raczynski 2000, Larrañaga

2010, Kay 1999, Hujo und Rulli 2014, Mesa-Lago 2009). Deshalb stützt sich dieses

Unterkapitel vor allem auf die vorhandene Literatur.

Aufbau der Sozialversicherung (SV)

Bis in die 1920er Jahre erhielten in den Andenstaaten nur einige strategisch wichtige

Interessensgruppen wie das Militär und Staatsbedienstete eine SV. Die Ausweitung der SV-

Abdeckung auf breitere Bevölkerungsschichten ist dagegen untrennbar mit dem Aufstieg und

der Organisation der Arbeiterschicht während der Industrialisierung verbunden. Dieser Trend

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wurde in Argentinien und Chile durch den Umstieg auf das Modell der

importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) nach der Weltwirtschaftskrise 1930 verstärkt.

Sozialgesetze stellten ein Kompromiss der Politik dar, um die Arbeiter in den

Industrialisierungsprozess einbinden (MINSAL 1995: 17, Tobar 2012: 4). Wie in Europa

basierten auch die ersten SV-Systeme in Lateinamerika auf dem Umlageverfahren. Hierbei

landen alle SV-Beiträge in einem „Gemeinschaftstopf“ und sind nicht an eine Person

gebunden. Stattdessen erhält man den Anspruch auf SV-Leistungen, wenn gewisse

Konditionen erfüllt werden (z.B. Pensionierung). Das Risiko wird so auf alle Versicherten

aufgeteilt (= Solidaritätsprinzip). Verordnete Impf- bzw. Immunisierungskampagnen

markierten seit dem 19. Jh. wiederum den Einstieg der Staaten in die Gesundheitspolitik.

In Argentinien begannen die wachsenden Gewerkschaften wegen der fehlenden staatlichen

Versorgung medizinische Dienste für ihre Mitglieder anzubieten. Die Rolle des Staates

änderte sich erst mit der Wahl Juan Peróns zum Präsidenten. Er baute ab 1947 die staatliche

medizinische Versorgung aus und machte sie für Bedürftige (ca. 65 % der Bevölkerung)

unentgeltlich (Tobar 2012: 10f). Er führte die Krankenversicherung für vier kleine

Berufsgruppen wie die Eisenbahner ein und erhöhte die Qualität der Armeespitäler ungemein,

um das Militär zu befrieden (Mesa-Lago 1978: 165). Das Gesundheitssystem war seit damals

in öffentliche Spitäler, Gewerkschaftsspitäler (obras sociales), Privatkliniken und die

Armeespitäler aufgeteilt. Da staatliche Spitäler bereits seit Mitte der 1950er mit

Finanzierungsproblemen zu kämpfen hatten, genossen Gewerkschaftsspitäler einen besonders

guten Ruf. Das führte zu einem Anstieg der Gewerkschaftsmitglieder und somit auch der

politischen Macht der Gewerkschaften. In den 1970ern wurde der Zugang zu den obras

sociales gesetzlich auch für Nicht-Gewerkschaftsmitglieder geöffnet. Im Gegenzug erhielten

die obras sociales alle KV-Beiträge ihrer jeweiligen Berufsgruppe (außer des Militärs),

wodurch sie zum quasi öffentlichen Gesundheitsversorger avancierten (Perelman 2006: 12,

Barrientos und Lloyd-Sherlock 2000: 418). Die Hausangestellten und Selbständigen blieben

allerdings weiterhin vom KV-Schutz ausgeschlossen. Indes verfiel das staatlichen

Gesundheitssystems in Argentinien, das nur das ärmste Drittel der Bevölkerung versorgte

(Mesa-Lago 1978: 200f). Den Grund für den schleichenden Verfall dieses Systems sah Tobar

(2012: 9) im Fehlen eines universellen Gesundheitssystems, da beim Verfall eines

universellen Systems ein breiter politischer Protest entstanden wäre.

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1920 wurde Arturo Alessandri, von Arbeitern und der Mittelschicht gestützt, ins chilenische

Präsidentenamt gewählt und führte 1924 die verpflichtende Arbeiterversicherung inklusive

KV ein (MISNAL 1995: 17f). Der Gesundheitskodex von Ibañez führte 1931 zur Regulierung

der Gesundheitsdienste und der Festlegung universeller Leistungen der Präventivmedizin, die

1938 von Präsidenten Alessandri ausgeweitet wurde. Im Gegensatz zu Argentinien fand in

Chile ab 1942 eine Zentralisierungstendenz der Gesundheitsdienste statt, die mit der

Gründung des nationalen Gesundheitsdienstes für private und staatliche Angestellte (in Folge:

SERMENA) begann. Der SERMENA war vor allem für Vorsorgeuntersuchungen zuständig.

Erst die anhaltenden Arbeiterproteste wegen der wirtschaftlichen Rezession bewegten 1952

den Präsidenten Gonzales Videla zur Schaffung des nationalen Gesundheitsdienstes (in Folge:

SNS) für Arbeiter und Bedürftige. Gleichzeitig wurde die Arbeiterversicherung reformiert

und die Mitversicherung der Kernfamilie eingeführt, um die Arbeiter und ihre

Gewerkschaften zu besänftigen (MINSAL 1995: 20, Mesa-Lago 1978: 27f).

Finanzierungsprobleme des SV-Systems traten bereits in den 1960er Jahren auf. Die

Gesundheitsversorgung machte ein Fünftel der Sozialausgaben aus, wobei die Hälfte davon

allein auf Verwaltungskosten und Gehälter entfiel (ibid. 1978: 55). Präsident Frei führte auf

Wunsch vieler Angestellter 1968 im SERMENA die freie Wahl des Arztes ein und erweiterte

ihre KV-Leistungen um kurative Behandlungen. Im Gegenzug wurde ein Selbstbehalt für

Behandlungen eingeführt. Schätzungen zufolge lag der Anteil an Personen mit KV um 1970

bei ca. 69,5 % (ibid. 1978: 40f). Schließlich stiegen unter dem sozialistischen Präsidenten

Allende die Gesundheitsausgaben von 3,3 % des BIP im Jahr 1970 auf 4 % im Jahr 1972

(MINSAL 1995: 24).

Keiner der Staaten besaß einen universellen Gesundheitssektor (siehe Tabelle 7). Während in

Chile die Gesundheitsversorgung zwar auch von der Berufsgruppe abhängig war, führte die

Stärke der Gewerkschaften in Argentinien in eine Trennung zwischen Mitglieder und Nicht-

Mitglieder. In beiden Fällen waren somit der Aufbau des Gesundheitssystems und die

Ressourcenverteilung abhängig vom Durchsetzungsvermögen einzelner Interessensgruppen.

Indes hatten beide Staaten eine starke Variation der KV-Beiträge nach Berufsgruppe und die

unentgeltliche Behandlung für Bedürftige gemein. Außerdem konzentrierten sich die meisten

Ärzte und Krankenhausbetten pro Einwohner jeweils in den Hauptstädten Buenos Aires und

Santiago (Mesa-Lago 1978: 66 & 202). Dass der staatliche Gesundheitssektor in Chile besser

ausgebaut war als in Argentinien, lag an der früheren Industrialisierung des Landes und der

damit einhergehenden Integration der Arbeiterschaft in die Sozialpolitik.

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Tabelle 7: Pensions- und Gesundheitssysteme 1940er – 1970er

Argentinien Chile

Pensionssystem Umlageverfahren

(seit 1967 Vereinheitlichung der SV-Kassen)

Umlageverfahren

(fragmentiertes System, div. SV-Kassen)

Umverteilung SV zugunsten ärmerer Schichten zugunsten gutverdienender Schichten

Einteilung

Gesundheitssystem

Staat

Gewerkschaften (obras sociales)

Privatkliniken

Armee

Staat (SERMENA, SNS)

Privatkliniken

Arme

Beiträge KV in %1 Zwischen 3 – 7 % ² Zwischen 1- 5,5 %

Abdeckung für

Bedürftige

Ja (staatliche Krankenhäuser) Ja (SNS)

Quelle: Autor & Mesa-Lago 1978 1Daten: 1973 Argentinien, 1968 Chile; 2Beiträge gingen an Gewerkschaftsspitäler, da öffentlicher Sektor kostenlos

Die größte Ausweitung des SV-Schutzes fand in Argentinien während der Regierung von

Juan Perón (1943 – 1955) statt, als Arbeitnehmer im Handel (1944), der Industrie (1946),

sowie der Landwirtschaft (1954) inkludiert wurden und bestehende Leistungen für das Militär

ausgeweitet wurden (1946 - 1950). Perón verstand es, die Arbeiterschicht als mächtige

Interessensgruppe zu organisieren und sie durch sozialpolitische Maßnahmen an sich zu

binden, ohne dabei andere zentrale Gruppen wie das Militär oder die Polizei zu vergessen.

Die implementierten Maßnahmen führten zu einer deutlichen Umverteilung des Einkommens

zugunsten ärmerer Schichten. Was anfänglich wie ein wohlfahrtsstaatliches Erfolgsmodell

anmutete, wurde ab 1950 zunehmend schwerer zu finanzieren, als sich die wirtschaftliche

Lage Argentiniens verschlechterte (Mesa-Lago 1978: 164f). Das war auch ein wichtiger

Faktor für den Militärputsch von 1955 unter General Aramburu. Während dessen Regierung

wurde der letzten großen Berufsgruppe, den Hausangestellten, der SV-Schutz zugestanden.

Damals bestanden für alle Versicherungen unterschiedliche Beitragshöhen und

Leistungsumfänge. Die Folgen waren nicht nur für erhebliche Ungleichheiten im System,

sondern auch höhere administrative Kosten und Ineffizienz. Daher gab es seit der Regierung

Peróns Pläne zur Vereinheitlichung der SV-Kassen, die allerdings erst zwischen 1967 - 1968

unter der Militärregierung von General Onganía umgesetzt werden konnten. So konnten die

SV-Kassen schließlich auf zwei Fonds reduziert werden (Unselbstständige & Selbstständige).

Das Militär und die Polizei wurden von dieser Zentralisierung ausgenommen, was mit dem

Erhalt des „sozialen Friedens“ begründet wurde (ibid. 1978: 166f).

1920 verdankte in Chile Arturo Alessandri seinen Wahlsieg den Wählerstimmen der Arbeiter-

und Mittelschicht. Ohne die Polizei wäre hingegen der autoritäre Führungsstil des Präsidenten

Ibañez um 1930 nicht möglich gewesen. Die Loyalität ihrer Unterstützer belohnten beide

Präsidenten mit der Schaffung eigener Versicherungen (1924 Arbeiter, 1925 Angestellte und

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1927 Polizei). Mit hoher Wahrscheinlichkeit erreichten damals die meisten Versicherten das

Pensionsalter von ca. 65 Jahren allerdings gar nicht, da die Lebenserwartung 1920 bei nur

31,5 Jahren lag (Raczynski 2000: 142, Mesa-Lago 1978: 25). Bis Anfang der 1970er kam es

zur progressiven Ausweitung der SV auf kleinere Berufsgruppen wie die Handelsmarine,

Jockeys, Bankmitarbeiter oder die Selbstständigen. Das resultierende Problem war die hohe

Fragmentierung und Ineffizienz des SV-Systems mitsamt hohen administrativen Kosten.

Zusätzlich kamen Studien ab den 1950ern wiederholt zum Schluss, dass die

Ressourcenumverteilung zwischen den SV-Kassen eher zugunsten der gutverdienenden

Arbeitnehmer erfolgte. Die Kosten des Systems trugen indirekt vor allem Nicht-Versicherte

durch ihre Steuern (Mesa-Lago 1978: 54f). Als Gegenmittel wurde gleich wie in Argentinien

die Standardisierung und Vereinheitlichung der Systeme vorgeschlagen, doch alle

Reformversuche von Präsidenten Frei (1964 – 1970) scheiterten an der Opposition

verschiedener Interessensgruppen, die ihre Privilegien bedroht sahen. Präsident Allende, der

auf Frei folgte, sah sich hingegen wieder gezwungen die SV-Privilegien seiner Unterstützer

auszubauen, um den Frieden in seinem Wahlbündnis zu erhalten (ibid. 1978: 28f).

Strategisch wichtige Interessensgruppen bewirkten im Laufe des 20. Jh. in beiden Staaten die

Ausweitung der Pensions- und Krankenversicherung. Im Jahr 1970 lag die SV-Abdeckung

der Bevölkerung in Chile bei 71,9 % und in Argentinien bei 55,4 % (ibid. 1978: 41 & 180).

Die Ausweitung basiert entweder auf der Mobilisierungskraft der Interessengruppe oder

Privilegien aufgrund der Unterstützung während der Regierung. Das Resultat dieser

Klientelpolitik war sowohl in Argentinien als auch in Chile ein stark fragmentiertes SV-

System, das inneffizient und kostenintensiv war. Chile schaffte es in seiner demokratischen

Phase nicht das SV-System zu vereinheitlichen und auch die Reduktion der SV-Kassen in

Argentinien gelang erst unter der Militärregierung von General Onganía. Daraus lässt sich

schließen, dass Vereinheitlichungsprozesse im Sozialsystem unter autoritären Systemen

erfolgreicher sind. In Demokratien ist die Umgestaltung wegen politisch relevanter

Interessensgruppen, die um ihre Privilegien fürchten, schwieriger.

Entwicklungen ab Mitte der 1970er

In Argentinien wurden bereits während der Diktatur von General Videla erste Schritte für

neoliberale Reformen des Wohlfahrtsstaates gesetzt. Um die nationalen Gesundheitsausgaben

zu reduzieren, wurden im Zuge des Dezentralisierungsprozesses (1976 – 1990er) fast alle

staatlichen Gesundheitsdienste an die Provinzen abgegeben. Der Staat nahm erstmals seit

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1947 bewusst eine subsidiäre Rolle in der Gesundheitsversorgung ein und fokussierte seine

Leistungen auf Nicht-Versicherte (Tobar 2012: 12f). Die obras sociales blieben trotz der

Repression gegen Gewerkschaften der wichtigste Gesundheitsdienst im Land, doch sie

wurden 1980 formell von den Gewerkschaften getrennt und durften sich somit nur noch durch

KV-Beiträge finanzierten. Diese Maßnahme hatte zwei Ziele: die Position der

Gewerkschaften zu schwächen und die Reduktion der staatlichen Gesundheitskosten. Die

Gewerkschaftsmitgliedschaften gingen dadurch allerdings nicht zurück, was Marshall (2006:

20) auf die Untrennbarkeit der obras sociales von den Gewerkschaften in den Köpfen der

Menschen zurückführte. In den 1990ern war das Gesundheitssystem extrem fragmentiert

(über 300), da jede Berufsgruppe ihre eigene obra social hatte. Viele kleine obras sociales

waren nicht in der Lage, eigene Gesundheitsdienste zu unterhalten, was die Auslagerung an

private Kliniken erforderlich machte. Der private Gesundheitssektor profitierte in Form von

Gebühren von diesem Arrangement und wuchs auf eine beachtliche Größe. Tendenziell ist der

Anteil der Bevölkerung, der das staatliche Gesundheitswesen nutzt, seit Ende der 1960er

leicht gestiegen. Das lag zum Teil aber an der hohen Arbeitslosigkeit und der schlechten

wirtschaftlichen Situation in den 1990ern. Durch eine Reform wurden Mindeststandards und -

leistungen für die obras sociales festgelegt, da besonders jene einkommensschwacher Berufe

einen geringen Schutz boten (Barrientos und Lloyd-Sherlock 2000: 418 & 422).

Die KV unterlag in Chile Anfang der 1980er der wirtschaftlichen und sozialen Strukturreform

der Diktatur, die den Prinzipien des Neoliberalismus folgte. Es kam zu einer

Dezentralisierung der Gesundheitsdienste, einer Vereinheitlichung der KV-Regelungen und

einer Privatisierungswelle. Das Ziel dieser Maßnahmen war die Stärkung privater Anbieter,

um die Ressourcenverteilung zu verbessern, sowie die Effizienz und Qualität der Leistungen

durch Wettbewerb anzuregen. Der SNS wurde 1979 in Folge des Dezentralisierungsprozesses

in 27 selbstverwaltende Regionen aufgespalten und die medizinische Erstversorgung wurde

an die Gemeinden abgegeben. Gleich wie in Argentinien ging die Finanzierungslast auf die

sub-nationale Ebene über, wodurch staatliche Ausgaben reduziert werden sollten. Neben der

öffentlichen Gesundheitsversorgung beschränkte sich der Staat durch das neue nationale

System der Gesundheitsdienst (SNSS) weitestgehend auf eine Koordinationsfunktion

nationaler Gesundheits-Policies. Anstatt die KV nach Berufsgruppen zu unterscheiden,

bestand die Trennung ab sofort zwischen der öffentlichen Gesundheitsversorgung (FONASA)

und privaten KV-Anbietern (ISAPRE). Fleury (2017: 3) bezeichnet dieses System „duales

Modell“, doch tatsächlich gab es für die Armee und Polizei noch ein drittes System.

Außerdem fand man selbst innerhalb der FONASA eine soziale Stratifizierung. Je nach

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Einkommenskategorie erhielt man Zugang zu mehr oder weniger Leistungen (Barrientos und

Lloyd-Sherlock 2000: 418f). 1986 wurde ein einheitlicher, verpflichtender

Arbeitnehmerbeitrag von 7 % eingeführt, der entweder an die FONASA oder eine ISAPRE

gezahlt werden konnte. Niedrige Einkommensschichten blieben de facto von ISAPREs

ausgeschlossen, da sie die Kondition der monatlichen Mindestzahlung meist nicht erfüllen

konnten. Für Personen mit einem erhöhten Krankheitsrisiko fielen hingegen höhere Prämien

an, was ISAPRES für sie unerschwinglich machte. Als das Land 1990 zur Demokratie

rückkehrte, war ein Viertel der Bevölkerung bei einer ISAPRE versichert. Meist waren es

Personen mit gutem Einkommen und geringem Gesundheitsrisiko (Larrañaga 2010: 12).

Kay (1999: 107) fasst die wichtigsten Merkmale des Kapitaldeckungsverfahrens prägnant

zusammen. Der Versicherte trägt das individuelle Risiko für Verluste, aber muss Gewinne

auch nicht teilen. Die Umverteilung beschränkt sich somit auf gezielte Sozialhilfe-Programme.

Prognosen über die Rentabilität des Kapitaldeckungsverfahrens sind ungewiss, da sie von der

gesamtwirtschaftlichen Situation abhängen. Durch oft niedrige Pflichtbeiträge fällt die Höhe

der Pension im Vergleich zum durchschnittlichen Erwerbseinkommen relativ gering aus. Die

Kosten der Systemumstellung vom Umlage- auf das Kapitaldeckungsverfahren sind

wiederum sehr hoch und lagen in Chile von 1981 - 1998 bei rund 5,7 % des BIP, während sie

in Argentinien von 1995 - 2001 zwischen 1 - 4 % des BIP lagen (Hujo und Rulli 2014: 5ff).

Neoliberale Strukturreformen führten zugleich zur Flexibilisierung von Arbeitnehmerrechten,

Tabelle 8: Reform der Pensions- und Gesundheitssysteme

Argentinien Chile

Start der Reform 1990er (Demokratie) bzw. im geringeren

Ausmaß seit 1976

1980er (Diktatur)

Reformen

Pensionssystem

Kapitaldeckungsverfahren (AFJP) und

reformiertes Umlagesystem:

Partielle Privatisierung (gemischtes System)

Kapitaldeckungsverfahren (AFP):

volle Privatisierung, Vereinheitlichung und

Standardisierung, ersetzte Umlagesystem

Einteilung und

Deckung

Gesundheitssystem

Staatlich (Unversicherte): 37,4 %1

obras sociales (KV): 52,6 %1

Privat: 8,6 %1

FONASA (staatlich): 60 %1

ISAPRE (privat): 25 %1

Andere (privat): 13 %1

Reformen

Gesundheitssystem

Dezentralisierung (Provinzen)

Dezentralisierung (27 Regionen, Gemeinden),

Anreiz für Privatversicherungen

Beiträge KV in %

des Einkommens

8 % (3 % Arbeitnehmer + 5 % Arbeitgeber) an

obra social, öffentl. System durch Steuergeld

7 % Arbeitnehmerbeitrag (an FONASA oder

ISAPRE) + zusätzliche Beiträge bei ISAPREs

Behandlungen für

Bedürftige

Ja, gratis (staatliche Krankenhäuser) Ja, gratis (FONASA)

Quelle: Raczynski 2000, Barrientos und Lloyd-Sherlock 2000 1Daten: 1996 Argentinien, 1990 Chile;

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wodurch Personen öfter arbeitslos wurden und nicht ins Pensionssystem einzahlen konnten.

Somit verringerten sich auch das Kapital in ihren Pensionsfonds und in Folge ihre Pensionen.

Bekannte Probleme wie der demographische Wandel und beträchtliche staatliche SV-

Ausgaben bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Stagnation spielten bei Privatisierung der

Pensionsversicherung (in Folge: PV) eine große Rolle. Auch internationale Faktoren, wie der

verstärkte internationale Wettbewerbsdruck durch die Abkehr vom ISI-Modell und die

Förderung neoliberaler Marktreformen durch die Weltbank und den IMF, beeinflussten diese

Entscheidung maßgeblich (Kay 1999: 403ff). Mit der Schaffung der Pensionsfondverwalter

(in Folge: AFP) wurde Chile 1981 das erste Land, das nach der Weltwirtschaftskrise von 1930

das Kapitaldeckungsverfahren einführte und galt somit als großangelegtes Experiment (Hujo

und Rulli 2014: 2). AFPs sind private Versicherungsfirmen, die individuelle Pensionskonten

verwalten und versuchen mit dem Kapital Gewinne zu erzielen. Jeder neue Arbeitnehmer fiel

automatisch ins neue Pensionssystem, während Arbeitnehmer mit bestehendem

Dienstverhältnis freiwillig umsteigen konnten. Arbeitgeberbeiträge wurden eliminiert,

während die verpflichtenden Arbeitnehmerbeiträge nur 10 % betrugen, was beim Umstieg zu

einem sofortigen Anstieg des Nettolohns wegen geringerer Abzüge führte. Zusätzlich wurde

von den AFPs ein Beitrag von 3,4 % für Witwen- und Invaliditätspension verwaltet. Das galt

für alle Berufsgruppen gleichermaßen, wodurch die Fragmentierung des SV-Systems fast

komplett reduziert wurde. Die einzigen Ausnahmen bildeten das Militär und die Polizei (Kay

1999: 408, Larrañaga 2010: 12). Der damalige Wirtschaftsminister Jose Piñera (1991: 29ff)

beschrieb später den breiten Protest gegen die Reform durch Gewerkschaften, SV-Experten,

die alten SV-Kassen und mehreren hochrangige Mitglieder des Militärs, die einen

paternalistischen Staat bevorzugten. Doch im autoritären System konnten sie nur eine kurze

Einfrierung der Reform erwirken, nachdem die Junta überzeugt wurde.

In Argentinien waren die Gründe für die Reform der SV in den 1990ern dieselben wie in

Chile. Der wirtschaftliche Erfolg des Nachbarlandes diente als zusätzlicher Ansporn. Eine

kleinere neoliberale Öffnung der Wirtschaft war in Argentinien bereits während der Diktatur

von General Videla eingeleitet worden. Dessen ungeachtet wurde angenommen, dass eine

Privatisierung der SV unter einer demokratischen Regierung am Protest der Bürger scheitern

würde. Ihr Zustandekommen führt Kay (1999: 417) in Argentinien deswegen auf mehrere

Faktoren zurück. Die wichtigsten Gegner der Reform schafften es nicht eine geschlossene

Protest-Koalition zu bilden und hatten zudem wegen dem Aufbau der politischen Institutionen

wenige Möglichkeiten als Veto-Spieler aufzutreten. Die Volksabstimmung war als Instrument

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noch nicht ausgebaut und schließlich umging Präsident Menem den Kongress, indem er für

die Schaffung des neuen Pensionssystems Notstandsdekrete verwendete. So wurde eine

partielle Privatisierung des Pensionssystems erreicht. Arbeitnehmer bekamen weiterhin die

Möglichkeit, zwischen dem reformierten staatlichen Pensionssystem mit Umlageverfahren

und einer gemischten Version zu wählen. Letztere bestand aus einer staatlich garantierten

Grundpension, die durch einen Betrag aus einem individuellen Pensionsfond aufgewertet

wurde (Hujo und Rulli 2014: 6).

Das SV-System befand sich in beiden Staaten in einer Finanzierungskrise, was eine Reform

notwendig machte. Als Lösung präsentierten die internationalen Finanzinstitutionen den

Neoliberalismus, der zum dominierenden Wirtschaftsdogma geworden war. Doch erst eine

starke Exekutive konnte solche Reformen tatsächlich umsetzen. Dazu kam die Schwäche der

Reformgegner, entweder in Form von Machtlosigkeit (Chile) oder Zersplitterung

(Argentinien). Die Privatisierung der PV zeigte in beiden Staaten negative Auswirkungen auf

die Abdeckung, da bis zur Jahrhundertwende die Anteile der Pensionsempfänger und

Beitragszahler an der Bevölkerung gefallen sind. Auch der Gesundheitssektor hat in beiden

Staaten einen Wandel durchgemacht. Die Dezentralisierung begann bereits um 1980.

Verschiedene Maßnahmen zur Reduktion staatlicher Gesundheitskosten führten indes zum

Anstieg der Zahl der Privatversicherten (Barrientos und Lloyd-Sherlock 2000: 421). Trotz der

„freien Versicherungswahl“ konnten sich de facto nur einkommensstarke Schichten den

Service privater Versicherungsdienste leisten. Das führte wiederum zur Kostenkonzentration

im staatlichen Gesundheitssystem, das für einkommensschwache Schichten und

Bevölkerungsgruppen mit höherem Krankheitsrisiko (z.B.: Pensionisten, Arbeitslose)

zuständig war. Daher blieb die Kostenreduktion durch die Privatisierungen weitgehend aus,

und es konnte nur eine geringe Effizienzsteigerung bei den obras sociales festgestellt werden.

Obwohl die Organisation der Gesundheitssysteme sich verändert hat, blieb die grundlegende

soziale Stratifizierung seit dem 20. Jh. fast unverändert. Sogar innerhalb einzelner

Teilsysteme (z.B. FONASA und obras sociales) ist der Zugang zu Gesundheitsleistungen

sehr ungleich verteilt. Die Reformen trugen im Endeffekt nicht zur Lösung bestehender

Probleme bei (ibid. 2000: 422). Da die Reformen sowohl in einer Demokratie als auch in

einer Militärdiktatur durchgeführt wurden, scheint das politische System die Entscheidung

nicht beeinflusst zu haben. Eine starke Exekutive findet sich zwar eher in einer Diktatur, doch

am Beispiel Argentiniens wird ersichtlich, dass auch ein demokratischer Präsident viel Macht

haben kann.

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Streik- und Gewerkschaftsrecht

Entstehung

Anfang des 20. Jh. wurden die ersten de facto Gewerkschaften gegründet, die bald auch eine

beachtliche Streiktätigkeit entwickelten. Das Wachstum der Organisationen wurzelte in der

beginnenden Industrialisierung und der damit entstehenden Arbeiterschicht. Aufgrund von

Chiles Hauptexportgütern – Mineralien – begann der formelle Prozess ihrer Legalisierung

dort früher. Gewerkschaften wurden in Chile bereits 1924 unter Präsidenten Alessandri

offiziell erlaubt. In Argentinien geschah dies erst 1945 unter Federführung des späteren

Präsidenten Perón (Rinkeberg 2009: 145). Sowohl Alessandri als auch Perón kamen mithilfe

der Arbeiterschaft an die Macht. Daher sind der Zeitpunkt der Legalisierung und die

Verankerung der Vereinigungsfreiheit in den jeweiligen Verfassungen zumindest teilweise

auf Klientelismus zurückzuführen. Das Gewerkschaftsrecht ähnelte sich in beiden Ländern

und veränderte sich in seinen Grundzügen bis in die 1970er Jahre kaum. Von besonderer

Bedeutung war für Gewerkschaften die Erlangung der juristischen bzw.

„gewerkschaftlichen“ Persönlichkeit, da diese die offizielle Anerkennung des Staates und

weiterreichende Rechte garantierte. Beide Länder sahen betriebsinterne und Berufsgruppen-

Gewerkschaften vor, wobei letztere sich zu Bündnissen zusammenschließen konnten. Durch

ihre Legalisierung hoffte man auch ein Werkzeug zur kontrollierten Interessensartikulation

und -aggregation zu schaffen. Es ist anzunehmen, dass dadurch soziale Unruhen vermieden

werden sollten. Die gewünschte Trennung von Gewerkschaften und Politik spiegelte sich in

der Bestimmung wider, dass „der Zweck von Gewerkschaften die Verbesserung der

Arbeitsbedingungen und Löhne zu sein hat“. In der Realität waren Gewerkschaften allerdings

nicht nur stark mit Parteien verbunden, sondern wurden selbst zu politischen Akteuren. Von

besonderer politischer Bedeutung waren die zwei größten Gewerkschaftsbünde. Die 1930

gegründete Confederación General del Trabajo (CGT) und die 1953 entstandene Central

Unica de Trabajadores (CUT), die jeweils unter Perón und Allende einen beachtlichen

politischen Einfluss hatten. Einigen Gruppen wie Landarbeitern blieb das Vereinigungsrecht

jedoch lange untersagt. Das chilenische Gesetz bevorzugte Betriebs-Gewerkschaften,

während in Argentinien auch Gewerkschaftsbünde Kollektivverträge aushandeln konnten.

Das führte laut Marshall (2006: 15) zur stärkeren Fragmentierung und folglich der

Schwächung der Gewerkschaften in Chile. Unabhängig von der politischen Einstellung der

Regierungen kam es später zu keinen großen Änderungen der Materie. Allein in Argentinien

wurde 1958 ein staatliches Einmischungsverbot in Gewerkschaften erlassen, sowie eine

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Reform des Gewerkschaftrechts, die 1973 nach Peróns Rückkehr aus dem Exil, durchgeführt

wurde (Romero 2006: 141).

Die Regelung von Arbeitskonflikten und das Streikrecht waren in beiden Ländern miteinander

verwoben. Bereits 1917 wurden Arbeitskonflikte in Chile gesetzlich geregelt, was indirekt

auch eine Legalisierung von Streiks zur Folge hatte. Erneut waren es jedoch die Gesetze der

ersten Regierung Alessandris, die den Kern späterer Gesetze bildeten (z.B. des

Arbeitsgesetzbuch 1931). Für die Schlichtung von kollektiven Arbeitskonflikten wurden

eigene Institutionen und Verfahren geschaffen, während Individualbeschwerden von neuen

Arbeitsgerichten behandelt wurden. Ab 1924 waren Streiks und „lock-outs“ (Streik durch

Arbeitgeber) gesetzlich nur erlaubt, wenn alle anderen Mittel bereits ausgeschöpft waren. Die

brutale Niederschlagung von Streiks gehörte in der Realität dennoch zum Alltag (Rinke 2007:

110). Dies änderte sich erst unter der Regierung Frei, während der es nicht nur zum

sprunghaften Anstieg der Gewerkschaften, sondern 1970 auch zur Aufnahme des Streikrechts

in die Verfassung kam (Marshall 2006: 16). Streiks wurden 1945 in Argentinien ebenso wie

Gewerkschaften wesentlich später als in Chile geregelt. Dies geschah zudem unter einer

Militärjunta. Es dauerte sogar bis 1957 – unter einer anderen Militärjunta – bis

Arbeitskonflikte reglementiert wurden. Die 1959 eingeführten Zwangsschlichtungen wurden

unter General Onganía 1966 bereits wieder aufgehoben. Wenn es dem „öffentlichen

Interesse“ entspracht, konnten sie allerdings weiterhin angeordnet werden. Zugleich wurden

das Streikrecht und die Vereinigungsfreiheit in die Verfassung aufgenommen. Erst 1974 kam

es zu einer wesentlichen Einschränkung des Streikrechts. Als „illegal“ deklarierte Streiks

konnten von da an mit Haftstrafen bedroht werden. Landarbeitern und Hausangestellten

wurde das Streiken zudem dezidiert untersagt. Es ist allerdings anzunehmen, dass dies als

Antwort auf die sozialen Unruhen zurückzuführen war, die das Land dem Chaos nahebrachten.

In beiden Ländern bauten Gesetze über die Jahre Schlichtungs- oder Schiedsverfahren auf.

Man konnte die Forderungen der großen und immer besser organisierten Interessensgruppe

der Arbeiter nicht länger ignorieren. Es ist daher anzunehmen, dass ihnen so die Möglichkeit

gegeben werden sollte, ihre Interessen in einem kontrollierten Prozess zu formulieren und

somit gewaltsame Proteste zu vermeiden. Dass Streiks in beiden Ländern als „ultima

ratio“ gesehen wurden, weist zusätzlich auf das Verlangen, hin die soziale Ordnung aufrecht

zu erhalten.

Ein eigenes Kapitel bildete in beiden Ländern das Streik- und Gewerkschaftsrecht des

öffentlichen Dienstes. So verbot Chile 1937, 1948 und 1958 den Streik im Rahmen der

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staatsinternen Sicherheit. Selbiges geschah auch in Argentinien 1945 und 1974 unter Peróns

Regierung, wobei die harten Strafen von 1974 auf die kritische innenpolitische Lage

zurückzuführen waren. Das Land stand damals kurz vor einem offenen Bürgerkrieg

(Riekenberg 2009: 173f). Doch auch im Rahmen einfacher Gesetze zum Arbeitskonflikt

wurde Beamten das Streikrecht ausdrücklich verboten. Im Unterschied zu Argentinien wurde

dem chilenischen öffentlichen Dienst anfänglich auch das Vereinigungsrecht untersagt.

Natürlich wiesen beide Staaten auch Eigenheiten auf. In Argentinien waren insbesondere der

Aufbau eigener Spitäler und anderer obras sociales für Gewerkschaftsmitglieder von

Relevanz. Dabei handelte es sich um Sozialleistungen, die nicht durch den Staat, sondern

primär von Gewerkschaften gestellt wurden. Wie bereits im letzten Unterkapitel angedeutet,

entstanden sie aufgrund des fehlenden staatlichen Schutzes, was die Arbeiterschaft zwang, die

Initiative zu ergreifen. Gegen Ende der 1960er galten sie bereits als besser als die staatlichen

Gesundheitseinrichtungen, und es ließ sich der Großteil der Bevölkerung dort behandeln

(Mesa-Lago 1978: 200f). Die obras sociales wurde somit sogar vom Staat gutgeheißen, da es

ihn finanziell entlastete. Darauf deutet auch ein Gesetz der obras sociales von 1970 hin, das

während der Diktatur der Revolución Libertadora entstand. Unabhängig von der

Gewerkschaftsmitgliedschaft durften nun alle Arbeitnehmer und ihrer Familien die obras

sociales benutzen. Als Perón 1973 aus dem Exil zurückkam, führte er Pflichtbeiträge für

Gewerkschaften ein, die auch Nicht-Mitglieder zahlen mussten. Wahrscheinlich wollte Perón

somit die Allianz zwischen seiner Partei und den Gewerkschaften aufrechterhalten. In Chile

wiederum wurden Normen für Gewerkschaften teilweise auch speziell für bestimmte

Berufsgruppen oder Wirtschaftssektoren erlassen. So wurden Bauerngewerkschaften erst

1947 legalisiert, waren aber im Vergleich zu Gewerkschaften in Industrie und im

Dienstleistungssektor stark eingeschränkt. Erst 1967 wurde unter Präsidenten Frei im Zuge

seiner Agrarreform die Bildung von Bauerngewerkschaften vereinfacht, und es wurde ihnen

sogar das Streikrecht zugesprochen.

Das Streik- und Gewerkschaftsrecht wurde in beiden Staaten zuerst als Delikt, danach als

tolerierte Freiheit und schließlich als schützenswertes Gut erachtet (Ackerman 1990), wobei

dieses Rech nie universell galt. Der (fast) kontinuierliche Ausbau der Rechte hing ähnlich wie

in Europa mit der Industrialisierung zusammen. Insbesondere nach dem Umstieg auf die

importsubstituierende Industrialisierung und der Weltwirtschaftskrise wuchs die

Arbeiterschaft, die als Interessensgruppe immer mehr an Bedeutung gewann. Unabhängig der

politischen Gesinnungen der folgenden Regierungen kam es Mitte der 1970er kaum zu

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größeren Rückentwicklungen, wobei in politisch turbulenten Zeiten kurze Verschärfungen der

Gesetze oder Repressionen möglich waren. Das Streikrecht blieb als „ultima ratio“ fast

durchwegs ein fester Bestandteil des Rechts und diente, zusammen mit den

Schlichtungsverfahren, der koordinierten und kontrollierten Artikulation der

Arbeitnehmerinteressen. Durch diese Kanalisierung der Anliegen sollte vor allem der soziale

Frieden erhalten werden. Ausgenommen davon war der Staatsdienst beider Staaten.

Unterschiede im Gewerkschaftsrecht führten dazu, dass Gewerkschaften in Chile

fragmentierter und tendenziell schwächer waren als in Argentinien. Es ist erstaunlich, dass in

Argentinien ein korporatistisches System vor allem unter Militärregimen geschaffen wurde.

Möglicherweise erlaubte ihnen das allerdings ihre Verhandlungspartner besser selektieren zu

können (Buchanan 2008: 84).

Während der Diktatur

Das Streikrecht wurde in beiden Ländern während der Diktaturen als Bedrohung der

Staatssicherheit und nicht als Instrument der Interessenartikulation verstanden. Im Gegensatz

zu Chile konnte die argentinische Junta allerdings auf ein Gesetz von 1974 zurückgreifen. Das

Streikrecht wurde in Argentinien nach dem Putsch für einige Monate komplett aufgehoben.

Danach behielt sich die Regierung das Recht vor, Streiks oder lock-outs jederzeit zu verbieten,

falls sie die nationale Sicherheit bedroht sah. Andererseits wurde in Chile 1979 ein Dekret

erlassen, das die legale Entlassung eines Arbeiters zuließ, falls der Streik länger als 60 Tage

dauerte. Diese Entlassung wurde per Gesetz als „freiwillige Kündigung“ interpretiert,

wodurch die Abfertigung entfallen wäre. Während dieser Zeit mussten Arbeitgeber auch

keine Sozialversicherungsabgaben für die Arbeiter zahlen. Das erhöhte die Streikkosten für

Arbeiter enorm und diente ohne Zweifel als Abschreckungsmaßnahme. Die wichtigsten

Gewerkschaftsbünde CUT und CGT wurden von beiden Regierungen sofort ins Visier

genommen. Die CUT wurde in Chile per Dekret 1973 verboten. Der argentinischen CGT

wurde vorgeworfen nicht mehr im Interesse der Arbeitnehmer zu handeln, und der Zugriff auf

alle ihre Konten wurde blockiert.

Noch im selben Jahr des Putsches wurden in Chile Übergangsnormen für Gewerkschaften

erlassen, die ihnen politische Aktivitäten ausdrücklich verboten und ihre Arbeitsbedingungen

durch Vorschriften deutlich erschwerten. Das Versammlungsrecht wurde so fast komplett

beschnitten. Es lag im Interesse der Militärregierung, organisierte Proteste gegen ihre geplante

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Wirtschaftsliberalisierung zu verhindern. Daher nutzte sie die Tatsache, dass Kommunisten

und Sozialisten in den Gewerkschaften die dominierende Kraft waren, um ihr Vorgehen

gegen sie zu rechtfertigen (Buchanan 2008: 65). Zwar genossen Gewerkschaftsmitglieder

oberflächlich einen Schutz vor Entlassung, doch Marshall (2006: 17) zeigt auf, dass ab

Beginn der Diktatur die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder bis 1979 um fast die Hälfte sank.

Die Neuordnung des Gewerkschaftsrechts im Jahr 1979 schwächte Gewerkschaften zusätzlich.

So wurden individuelle Verhandlungen und betriebsinterne Kollektivverhandlungen

begünstigt, indem Verhandlern die gleichen Rechte wie Gewerkschaftsführern zuteilwurden.

Dadurch sank nicht nur die Attraktivität einer Mitgliedschaft, sondern es schwächte auch das

Kollektivverhandlungsrecht der Gewerkschaften (Etchemendy 2004: 274f). Für

betriebsinterne Gewerkschaften wurde die Pflichtmitgliedschaft aufgehoben.

Bauerngewerkschaften wurden aufgelöst, und Bauern mussten sich nach einer der anderen

Arten zusammenschließen. Letztlich trat 1980 allerdings eine neue Verfassung in Kraft, die

zwar das Streikrecht nicht erwähnte, jedoch die Vereinigungsfreiheit proklamierte.

In Argentinien erlaubte ein Dekret von 1976 vorläufig die bis dahin verbotene staatliche

Intervention in Gewerkschaften. Diese Regelung wurde bis zum Ende der Diktatur über

diverse Normen verlängert. Ab 1977 wurde die Bestimmung, dass auch Arbeiter, die nicht

bei der Gewerkschaft waren, Beiträge zahlen müssen, aufgehoben. Das entzog den

Gewerkschaften natürlich ein erhebliches Maß an finanziellen Mitteln und setzte auch die

obras sociales unter Druck. 1979 wurde ein neues Gewerkschaftsrecht erlassen, dass die

Bildung landesweiter Gewerkschaften erschwerte, ihre Einmischung in die Politik verbot und

praktisch jegliche Finanzierung, außer über die Mitgliedsbeiträge, für illegal erklärte. Ein

weiterer schwerer Schlag folgte im nächsten Jahr, als die legale Verbindung zwischen obras

sociales und Gewerkschaften, inklusive ihrer Finanzierung, getrennt wurde. Ab sofort waren

obras sociales über Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge finanziert, die von einer

staatlichen Oberbehörde verwaltet wurden. Auch das führte zu einer erneuten gesetzlichen

Schwächung der Gewerkschaften. Es ist daher erstaunlich, dass der Prozentsatz an

Gewerkschaftsmitgliedern kaum fiel. Marshall (2006: 20) erklärt dies mit dem

weitverbreiteten Fehlglauben, dass man nur durch die Gewerkschaftsmitgliedschaft Zugang

zu den obras sociales hatte, doch das scheint als alleinige Erklärung ungenügend.

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Tabelle 9: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Streik- und Gewerkschaftsrecht

Argentinien Chile

Vor 1970er Auslöser: Industrialisierung, Wahrung sozialen

Friedens (durch kontrollierten Prozess)

Gewerkschaften: tendenziell stärker, Recht

bevorzugt keinen Gewerkschaftstyp, obras

sociales für Gesundheitsversorgung zentral

Streik:„ultima ratio“, im Staatsdienst illegal

Auslöser: Industrialisierung, Wahrung sozialen

Friedens (durch kontrollierten Prozess)

Gewerkschaften: tendenziell schwächer, Recht

bevorzugt Betriebs-Gewerkschaften

Fragmentierung

Streik:„ultima ratio“, im Staatsdienst illegal

Nach 1970er

(Diktatur)

Eingriffe und Schwächung Gewerkschaften:

trotzdem weiter stärker als in Chile, Angst

vor Protesten und Kommunismus

Einschränkung des Streikrechts

de jure Rechte VS de facto Repression

Eingriffe und Schwächung Gewerkschaften:

Angst vor Protesten und Kommunismus

Einschränkung des Streikrechts

de jure Rechte VS de facto Repression

Quelle: Autor

Bis Mitte der 1970er kam es zu einem langsamen, aber kontinuierlichen Ausbau der Streik-

und Gewerkschaftsrechte, sogar in Argentinien, das mehrere Militärregierungen durchlebte.

Der Bruch, der sich ab den Militärregierungen der 1970er vollzog, zeigt sich sehr deutlich an

der Schwächung der Gewerkschaften. Sie wurden nicht generell verboten, doch ihre

Mitgliedschaft wurde unattraktiver gemacht. Dafür sprachen das (partielle) Verbot der

größten Gewerkschaftsbünde und die Repression gegen Gewerkschaftsmitglieder, die de facto

stattfand. Auch die Trennung der obras sociales in Argentinien und die Bevorzugung von

Individualverhandlungen in Chile sollte in diesem Kontext gesehen werden. Einerseits barg

die Organisationsfähigkeit der Gewerkschaften stets eine Bedrohung für das Militär, das

Massenproteste fürchtete. Andererseits war der Kalte Krieg im vollen Gange und das Militär

vermutete in Gewerkschaften Brutstätten des Kommunismus vorzufinden, den es zu

bekämpfen galt oder benutzten diese Annahme zumindest als Rechtfertigung für

Interventionen. Allerdings behielten die traditionell stärkeren argentinischen Gewerkschaften

auch während der Diktatur mehr Macht als ihre chilenischen Pendants. Eine weitere

Kontinuität ist das Vereinigungs- und Streikverbot des öffentlichen Dienstes. Letztlich ist

anzunehmen, dass trotz ihrer Entrechtung die Arbeiterschaft noch zu stark war, um Streiks

und Gewerkschaften de jure komplett zu verbieten.

Öffentliche Primär- und Sekundärbildung

Die Primärbildung wird in dieser Arbeit als erste bis sechste Schulstufe und die

Sekundärbildung als siebte bis zwölfte Schulstufe verstanden, was der gängigen

internationalen Norm entspricht. Die Einteilung in Argentinien und Chile weicht teilweise

von dieser Norm ab. Für das bessere Verständnis der Materie müssen als Ausnahme auch

Gesetze aus dem 19. Jahrhundert beachtet werden.

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Entstehung

Der Staat übernahm in Chile 1860 und Argentinien 1884 per Gesetz die Hauptverantwortung

für die öffentliche und zugleich unentgeltliche Grundschulbildung. Anfangs geschah dies aus

der Notwendigkeit in den sehr jungen Republiken eine gemeinsame nationale Identität zu

schaffen und die Gesellschaften so zu homogenisieren. Das galt besonders für Argentinien mit

seiner starken Immigration um 1900. Auch der Glaube, dass Bildung den Fortschritt der

Gesellschaft und das Wirtschaftswachstum vorantreiben würde, spielte eine Rolle (Newland

1994: 454). Es dauerte im Föderalstaat Argentinien bis 1905 die Bildungskompetenzen

gesetzlich von den Provinzen auf die nationale Ebene zu übertragen – der Konflikt zwischen

denn Regierungsebenen sollte später wieder aufflammen (Mauceri und Ruiz 2009 [online]).

Als Zentralstaat hatte Chile dieses Problem nie. King Hall (1942: 657) charakterisierte die

Entwicklung der Bildungssysteme bis 1940 durch die fast zwanghafte Standardisierung der

Bildung, was mitunter aus Gründen der Kostenreduktion geschah. Der Nachteil der gesetzlich

festgelegten Curricula war ihre Inflexibilität. Die Anforderungen des Marktes oder der

ländlichen Bevölkerung wurden nicht berücksichtigt. Trotz der unentgeltlichen Bildung führte

die Armut während der ersten Hälfte des 20. Jh. zum Schulabbruch vieler sozial

benachteiligter Kinder, die sich oft nicht einmal eine Jause oder Schulutensilien leisten

konnten (OEI 1993: 2, Larrañaga 2010: 7f). Das nächste Ziel war daher die

„Demokratisierung der Bildung“. Ab den 1950ern zeigten die Maßnahmen, allen Kindern den

Zugang zu Bildung zu erleichtern, Erfolg (siehe Tabelle 10). In Chile wurde unter dem

konservativen Präsidenten Ibañez 1953 erstmals ein Service für Schülerhilfe gegründet, der

unter der Regierung Frei 1964 erweitert wurde. Dieser unterstützte finanziell schwächere

Schüler beim Kauf von Schuluniformen und anderen Notwendigkeiten. 1951 wurde eine

Subvention pro Schüler eingeführt, die auch für Schulen einen Anreiz schuf, die Anwesenheit

der Schüler zu verbessern. Aufgrund dieser Gesetze konnte Chile bis 1975 seine anfänglichen

Rückstände aufholen. In Argentinien wurden keine dementsprechenden Gesetze erlassen, was

dazu führte, dass 1943 gar nur 14 % der Schüler die sechste Schulstufe erreichten. Durch

nicht-gesetzliche Maßnahmen gelang es allerdings die Zahl der Abschlüsse bis 1975 auf 91 %

zu erhöhen (Bernetti und Puiggrós 2006: 236, Muñoz und Bravo 2011: 14). Man sollte

beachten, dass auch andere Sozialgesetze einen positiven Einfluss auf den Anstieg der

Schulabschlüsse hatten. So erhöhte sich durch den Schulbesuch des Kindes in beiden Staaten

die Familienbeihilfe und man erhielt einmal jährlich einen zusätzlichen Betrag für den

Schulstart. Diese Sozialgesetze waren aufeinander abgestimmt. Bis Mitte der 1970er hatten

beide Staaten ein stark zentralisiertes Bildungssystem aufgebaut.

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Tabelle 10:

Bildungsindikatoren

Argentinien

Chile

1900 1930 19551 19751 1900 1930 19551 19751

Abgeschlossene

Primärbildung

80,9 % 91 % 57,7 % 88, 1%

Abgeschlossene

Sekundärbildung

24,3 % 41,9 % 23,9 % 44,6 %

Alphabetisierung 52 % 73 % 88 % 93 % 43 % 66 % 79 % 87,6 %

Schulpflicht (Jahre) 6 6 6 6 6 6 8

Quellen: Newland 1994, Muñoz und Bravo 2011 1Daten Alphabetisierung für 1950 und 1970

Der zweite Meilenstein in der Bildungspolitik war ohne Zweifel die Einführung der

Schulpflicht, mit entsprechender Sanktionierung bei Missachtungen. Ihre Auswirkung kann

von den gestiegenen Schulabschluss- und Alphabetisierungsquoten abgelesen werden

(Tabelle 10). In Argentinien wurde bereits 1884 die sechsjährige Schulpflicht eingeführt,

während in Chile erst 1920 nach jahrelangen Debatten unter der Regierung Alessandri die

Einführung einer vierjährigen Schulpflicht gelang. Das Land hatte um 1900 eine relativ hohe

Analphabetenquote von rund 60 %, und man wollte vermeiden, zivilisatorisch hinter die

Nachbarländer zu fallen (Larrañaga 2010: 4). Die Schulpflicht wurde in Chile 1930 zuerst auf

sechs und schließlich 1965 unter dem Reformer Eduardo Frei auf acht Jahre erhöht. Dadurch

dauerte die Primärstufe länger als im internationalen Schnitt und beinhaltete theoretisch zwei

Jahre der Sekundärstufe. Zusätzlich fand eine komplette Reorganisation des Schulsystems

statt (ibid 2010: 10). Im Gegensatz zu Chile wurde die sechsjährige Schulpflicht in

Argentinien bis in die 1990er nicht verlängert. Zweifelsohne trug die Schulpflicht bald zur

Reduktion des Analphabetismus bei, da in beiden Staaten bereits 1950 mindestens 79 % der

Bevölkerung lesen und schreiben konnte (Newland 1994: 452).

Die öffentliche Sekundärbildung wurde in Chile ab 1885 geregelt und war auch unentgeltlich.

Im Gegensatz zur Primärbildung war sie in keinem der Staaten verpflichtend. In Argentinien

wurden unter der Regie Peróns neue Schultypen geschaffen. „Fabrikschulen“ (Escuela

Fabrica) sollten beispielsweise die Berufsausbildung fördern und den Zugang zur

Sekundärbildung für die Arbeiterschicht attraktiver machen. Der Anteil der Bürger mit einem

Sekundärschulabschluss verdoppelte sich in beiden Staaten zwischen 1955 und 1975 und

erreichte beiderseits der Anden ein Ausmaß von rund 40 % der Bevölkerung. Es wird deutlich,

dass ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wandlung von der rein elitären Bildung

zu einer für alle Bevölkerungsschichten zugänglicheren vollzogen wurde (Larrañaga 2010:

10).

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Sowohl in Argentinien 1947 als auch in Chile 1951 wurden Grundlagen für Subventionen an

Privatschulen gelegt, die dem Staat aber gleichzeitig die stärkere Reglementierung dieser

Einrichtungen erlaubte. Während in Chile nur unentgeltliche Privatschulen subventioniert

wurden, durfte in Argentinien der Staat im Gegenzug für die Subvention die Gebühren

festlegen. Erstmals wurden diese Einrichtungen auch staatlich erfasst. Insbesondere in

Argentinien konnte man ab 1947 anhand von erlassenen Dekreten einen bedeutenden Anstieg

der Regulierung aller Bereiche der Privatschulen und deren Bindung an den Staat beobachten,

die mit dem Boom der Privatschulen zusammenhängt.

Seit 1884 kam es in Argentinien immer wieder zum Konflikt zwischen Staat und Kirche, da

der Religionsunterricht aus dem offiziellen Curriculum gestrichen wurde. Stattdessen

orientierte man sich bei der Bildung am Positivismus (Newland 1994: 455). Der

Religionsunterricht wurde erst unter der konservativen Militärjunta im Jahr 1943 an allen

Schulen wieder verpflichtend eingeführt. Ein Jahr nach dem Erlass des Dekrets hatten bereits

97,48 % der Grundschüler wieder katholischen Religionsunterricht. Allerdings schaffte Perón

den Religionsunterricht wegen Streitigkeiten mit der Kirche bereits 1955 wieder ab (Ramallo

1999 [online]; Hartmann 2017: 226f). Die säkulare Bildungstradition in Argentinien stand im

starken Kontrast zu Chile, wo der Religionsunterricht immer auf den Lehrplänen stand.

Der Ausbau der öffentlichen Bildung hing weniger mit Klientelismus, als mit dem nationalen

Interesse zusammen, eine nationale Identität mit gemeinsamen Werten zu schaffen. Das

erklärt auch die frühe Expansion und Regulierung der zentralistischen Bildungssysteme.

Gleichsam kam es deswegen ab den 1950ern verstärk zur Demokratisierung der Bildung,

unabhängig von der politischen Orientierung einer Regierung. Zwei argentinische Eigenheiten

waren der Konflikt zwischen nationaler und sub-nationaler Ebene, sowie der zwischen Staat

und Kirche. Privatschulen wurden in beiden Staaten zugelassen, aber gleichzeitig stark

reglementiert. Es ist anzunehmen, dass die Subventionen an Privatschulen finanzielle Vorteile

gegenüber einem rein staatlichen Schulsystem boten. Nichtsdestotrotz blieb der staatliche

Bildungssektor wichtiger und größer.

Reformen während der Diktatur

Es gab zwei Tendenzen, die sich in der Bildungspolitik beider Diktaturen wiederspiegelten:

die Dezentralisierung und die Repression. In beiden Regimen fand die Dezentralisierung der

Bildung um 1980 statt und hing mit der neuen neoliberalen Wirtschaftsstrategie unter den

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Militärregimen zusammen. Der Staat sollte sich zurückziehen und möglichst viele Leistungen

dem Markt überlassen. Diese Ideen wurden nicht nur durch nationale Wirtschaftsexperten,

sondern vor allem durch die internationalen Finanzinstitutionen, wie der Weltbank vertreten.

Die Dezentralisierung sollte offiziell für bessere Effizienz in der Verwaltung und geringere

Staatsausgaben sorgen. Zudem wollte man so das Curriculum besser auf lokale Bedürfnisse

abstimmen (Eaton 2006: 4, Parry 1997: 107, Diaz Rios 2013: 5). In Argentinien gab es bereits

seit den 1960ern unter Präsidenten Frondizi und der Militärregierung von Onganía Pläne zur

Dezentralisierung, die zwar keine großen Veränderungen brachten, doch den Weg für die

späteren Reformen ebneten. Erst die Junta unter General Videla übergab 1978 die

Kompetenzen für Vor- und Grundschulen an die Provinzen - inklusive der Verantwortung

ihrer Finanzierung. Ein Jahr später wurde der Föderalen Rat für Kultur und Bildung

geschaffen, der curriculare Mindeststandards koordinieren hätte sollen (Mauerci und Ruiz

2009, De Luca 2013: 83). Vorstöße zur Regionalisierung gab es in Chile bereits 1974, doch

wurden Schulen der Primär- und Sekundärstufe, sowie deren Personal erst 1980 effektiv an

die Gemeinden übergeben. Im Gegensatz zu Argentinien wurde ein System der Ko-

Finanzierung eingeführt. Die Bildungsausgaben sanken in Chile dank der Dezentralisierung

tatsächlich und auch rund zwei Drittel des vom Staat angestellten Bildungspersonals wurde

entlassen. Insgesamt aber stieg das Bildungspersonal pro Schüler, wenn man die von

Gemeinden eingestellten Lehrer hinzuzählt (Parry 1997: 111f). Eine Reduktion der

Bildungsausgaben konnte auch in Argentinien ab den 1980ern, also kurz nach der

Dezentralisierung, festgestellt werden. Es ist zudem hervorzuheben, dass auch nach der

Wiederkehr zur Demokratie die Staatsausgaben weiter sanken und die Policies des autoritären

Regimes nicht rückgängig gemacht wurden (siehe Tabelle 11) (World Bank 2018b). Die

Senkung der Ausgaben fiel in beiden Staaten zugleich mit der zweiten Ölpreiskrise und der

darauf folgenden lateinamerikanischen Schuldenkrise zusammen, daher ist anzunehmen, dass

sowohl die Krisen als auch die davor übernommenen neoliberalen Wirtschaftsideen diese

Entwicklung beeinflusst hatten. Trotz einem leichten Anstieg der Schulabschlüsse während

den Diktaturen führten die Dezentralisierung und Privatisierung in Chile zu einer größeren

Ungleichheit, da die Bildungsqualität für einkommensschwache Schichten zusammen mit

ihrer Einschulungsquote sank (Parry 1997: 128, Muñoz und Bravo 2011: 14).

Tabelle 11: Staatsausgaben für Bildung als % des BIP

1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1987 1990

ARG 1,92 % 1,84 % 1,17 % 1,72 % 1,94 % 2,4 % 2,61 % - 1,6 % 1,62 % 1,28 % 1,07 %

CH 3,75 % 3,6 % - - 3,07 % 3,48 % 4,22 % 4,91 % - - 2,28 % 2,25 %

Quelle: World Bank 2018b

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Das zweite Merkmal der Diktaturen war die staatliche Repression, die ihre Spuren im

Bildungssystem hinterließ. Es kam zur Verfolgung „subversiver Elemente“ an Schulen im

Namen der nationalen Sicherheit (Sardi 2006: 105). Das argentinische Regime legitimierte

das Vorgehen oft mit Dekreten zur internen Sicherheit von 1975. Beispielhaft für den teils

willkürlichen Staatsterror war die „Nacht der Stifte“, während der 1976 Schülervertreter

entführt und ermordet wurden, die gegen Preiserhöhungen der Schülerbustickets protestiert

hatten. Unter beiden Regimen kam es zudem zur Zensur der Medien inklusive der

Schulmaterialien, die laut den Regierungen „subversive Elemente“ enthielten. Die

argentinische Junta verbot unliebsame Bücher regelmäßig durch Dekrete, während Chile ab

1977 für solche Bücher einfach keine Publizierungserlaubnis ausstellte. Es kam zu teils

absurd wirkenden Verboten, wie beispielsweise das Verbot von „Geschichte der

Revolutionen“ in Argentinien, weil es „subversive Techniken darstellte“ oder von „Der

Aufstand der Massen“ in Chile, obwohl das Buch eine elitäre Gesellschaftsstruktur vertrat und

nur aufgrund des Titels verboten wurde (Pottlitzer 2001: 472). Mit der Repression ging

gleichzeitig eine „Rückbesinnung auf nationale Werte“ einher. In Chile wurden 1975 Schüler

verpflichtet, täglich vor der nationalen Fahne aufzumarschieren und dabei die Nationalhymne

zu singen. In Argentinien waren die Schulen ebenfalls damit beauftragt nationale Werte zu

vermitteln, was 1980 auch per Dekret festgelegt wurde (Sardi 2006: 107).

Neben der Dezentralisierung bestand der Kern der chilenischen Bildungsreform in der

stärkeren Einbindung des Marktes. Bereits 1975 wurde die Subvention pro Schüler bzw. das

„Voucher-System“ eingeführt, das dem Prinzip der freien Schulwahl folgte. Es spielte keine

Rolle, ob eine Schule privat oder öffentlich war, die Subvention wurde an die gewählte

Schule überwiesen, solange sie keine Schulgebühren forderte. Durch den erhöhten

Wettbewerb sollte die Qualität der Bildung verbessert werden. Wahrscheinlich halfen die

bereits davor bestehenden Subventionen bei der Einführung des Voucher-Systems und

erklärten auch die weiterhin starke Reglementierung der Privatschulen, die Gelder erhielten

(Parry 1997: 109). Privatschulen gab es in Chile schon immer, doch erstmals zog sich der

Staat als wichtigster Anbieter von Bildung zurück (Larrañaga 2010: 12). Die Privatisierung

der Bildung mag in Chile unter einem autoritären System vollzogen worden sein, doch in den

1990ern unternahm Argentinien unter einer demokratischen Regierung ähnliche neoliberale

Reformen im Bildungssektor. Die Fiskalpolitik und Dezentralisierung unter der Militärjunta

werden oft als ausschlaggebend dafür gesehen (De Luca 2013: 77). Laut Diaz Rios (2016: 11)

scheiterte die Privatisierung vor der Regierung Menems am normativen Wert, den die

öffentlichen, staatlichen Bildung innehatte. Zudem war die Militärführung in Argentinien

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intern gespalten und stand nicht geschlossen hinter neoliberalen Reformen. Daher wurde die

Privatisierung erst durch den externen Druck internationaler Finanzinstitutionen auf die

Regierung und deren Unterstützung des neuen Wirtschaftsdogmas möglich.

Tabelle 12: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Bildungspolitik

Argentinien Chile

Vor 1970er Grund: Konstruktion nationaler Identität,

Fortschrittsglaube

System: zentralisiert, standardisiert, unentgeltlich,

laizistisch

Privatschulen: reglementiert, tlw. subventioniert

Schulpflicht: 6 Jahre

Grund: Konstruktion nationaler Identität,

Fortschrittsglaube

System: zentralisiert, standardisiert, unentgeltlich,

ab 1950er mehr Unterstützungen

Privatschulen: reglementiert, tlw. subventionier

Schulpflicht: 4 J. (1920), 6 J. (1930) 8 J. (1965)

Nach 1970er

Neoliberalismus Dezentralisierung (Effizienz,

Kostenreduktion)

Internationale Faktoren (Dogmen, Krisen)

Repression & Nationale Werte

Neoliberalismus Dezentralisierung und

Privatisierung (Effizienz, Kostenreduktion)

Internationale Faktoren (Dogmen, Krisen)

Repression & nationale Werte

Ab 1990er verstärkter Neoliberalismus: Privatisierungen

Schulpflicht 9 J.

kaum Änderungen

Quelle: Autor

Das Bildungssystem wandelte sich beeinflusst von internationalen Faktoren wie neuen

Wirtschaftsdogmen (Neoliberalismus), externem Reformdruck (durch Weltbank, IWF),

Wirtschaftskrisen und dem Kalten Krieg (Anti-Kommunismus) markant. Wo zuvor stark

zentralistische Strukturen herrschten, wurde in beiden Staaten nur eine Dezentralisierung

vorgenommen, um in erster Linie die staatlichen Bildungsausgaben zu senken. Die Angst vor

dem Kommunismus, die während des Kalten Kriegs herrschte, spiegelte sich in der massiven

Repression und der Zensur in den Schulen wieder. Der reaktionäre Charakter der autoritären

Systeme führte stattdessen zur Instrumentalisierung der Bildung um gewünschte „nationale

Werte“ zu verbreiten. In dem Sinne erfüllte die öffentliche Bildung ihren am Ende des 19.

Jahrhunderts angedachten Zweck der Homogenisierung der Gesellschaft. Die Privatisierung

der Bildung wurde hingegen nur in Chile während des Militärregimes durchgeführt, während

Argentinien solche Reformen erst nach der Rückkehr zur Demokratie vollzog. Das lag

wahrscheinlich vor allem daran, dass der Neoliberalismus in Argentinien erst damals breitere

Unterstützung in der Regierung fand und diese von den Krediten internationaler Geldgeber

abhängig war, die marktfreundliche Reformen forderten.

Page 61: Sozialgesetzgebung unter lateinamerikanischen Diktaturen ...

Seite | 61

Mutterschutz

Entstehung

Die Arbeit von Frauen war Anfang des 20. Jh. in Lateinamerika sehr kontrovers. Da mit der

beginnenden Industrialisierung ihre Integration in den Arbeitsmarkt unaufhaltsam

fortzuschreiten schien, wurde die Reglementierung ihrer Arbeit, gleich wie in Europa, als

unerlässlich erachtet. Es galt vor allem Frauen in ihrer Rolle als Mütter zu schützen (Lavrin

1998: 54f & 82). Der Mutterschutz, der während des letzten Jahrhunderts in Argentinien und

Chile geschaffen wurde, regelte im Grunde drei Hauptkomponenten: die Karenz, die

medizinische Betreuung und betriebliche Kinderkrippen.

Karenz-Regelungen unterschieden sich vorrangig durch ihre Länge und Entlohnung. Beides

wurde im Verlauf der Jahrzehnte sukzessive erhöht. Revolutionär in dieser Materie war das

1919 verfasste Abkommen No. 3 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), da es

erstmals genauere Normen vorschlug. Es wurde zwar erst 1925 von Chile und 1933 von

Argentinien unterzeichnet, doch es beeinflusste die Mutterschutz-Gesetze beider Staaten auch

davor. Das erste Gesetz in dieser Materie wurde in Argentinien 1924 erlassen, während Chile

nur ein Jahr später folgte. Die Normen hatten das das Recht auf Karenz, den Schutz des

Arbeitsplatzes während der Karenz und das Entlassungsverbot in der Industrie und im Handel

gemein. Allerdings waren Chileninnen zu einer verpflichtenden Ruhezeit von 40 Tagen vor

und 20 Tagen nach der Geburt bei 50 % ihres Lohns berechtigt, während Argentinierinnen

vorerst nur sechs optionale Wochen vor und sechs verpflichtende Wochen nach der Geburt

freigegeben wurde - ohne Entlohnung. Das führte jedoch dazu, dass besonders arme

Arbeiterinnen die Karenz nicht in Anspruch nahmen, da sie den Lohn brauchten. Ihre

Neugeboren nahmen sie einfach in die Arbeit mit (Nari 2004: 218). Da die politische

Ausrichtung der Regierungen beider Staaten sehr unterschiedlich war, dient sie nicht als

Erklärung für den fast zeitgleichen Erlass der Gesetze. Stattdessen bestand in Teilen der

nationalen Eliten (v.a. bei Ärzten bzw. higienistas) ein Konsens, dass Regulierungen

notwendig seien. Es ist daher anzunehmen, dass das Mutterschutz-Abkommen der ILO diesen

Eliten bei der Überzeugung der Regierungen half (Lavrin 1998: 80f). Chile erhöhte im

Arbeitsgesetzbuch von 1931 die verpflichtende Ruhezeit auf je sechs Wochen vor und nach

der Geburt. Argentinien unterzeichnete 1933 das ILO-Abkommen No. 3 und folgte 1934 mit

der Einführung der verpflichtenden Karenz für die 30 Tage vor und 45 Tage nach der Geburt.

Durch einen neu festgelegten Pflichtbeitrag für weibliche Arbeitnehmerinnen wurde ihnen

nun erstmals der volle Lohn während der Karenz zugestanden. Die Beiträge wurden von der

neuen Mutterschaftskasse verwaltet, wodurch sich diese ähnlich wie eine Versicherung

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Seite | 62

verhielt. Im selben Jahr bekamen auch erstmals Staatsbedienstete das Recht auf eine Karenz

von jeweils sechs Wochen vor und nach der Geburt bei vollem Gehalt. Im Gegensatz dazu

wurde Arbeiterinnen in Chile erst 1952 der volle Lohn während der Karenzzeit ausbezahlt.

Das Recht auf eine adäquate Entlohnung, während der Karenz war auch Teil des im selben

Jahr erneuerten ILO Mutterschutz-Abkommen No. 103. Dafür wurde dieses Recht 1953 auf

die Arbeitnehmerinnen aller Berufsgruppen ausgeweitet und es wurden weitere

Schutzmaßnahmen erlassen. Die letzte Verlängerung der Karenz wurde in Chile 1973 unter

der sozialistischen Regierung des ehemaligen Arztes Salvador Allende erlassen. Sie dauerte

nun sechs Wochen vor und zwölf Wochen nach der Geburt bei vollem Nettolohn. In

Argentinien folgte die letzte Verlängerung nur ein Jahr später 1974 durch das

Arbeitsvertragsgesetz. Die Karenz dauerte seit damals insgesamt 90 Tage (45 + 45 oder 30 +

60) bei voller Entlohnung. Zudem wurde der Kündigungsschutz auf 7,5 Monate vor und nach

der Geburt ausgeweitet. Beide Staaten finanzierten die Entlohnung während der Karenz durch

Versicherungsbeiträge, wobei diese in Argentinien exklusiv von Frauen zu zahlen waren. Aus

einem OECD Bericht (2017, 1) ging hervor, dass die Karenzzeit 1970 international gesehen

durchschnittlich bei 17 Wochen lag. Argentinien lag trotz der Regelung von 1974 darunter,

während chilenische Arbeitnehmerinnen ab 1973 knapp darüber lagen. Der Trend zum fast

zeitgleichen Erlass der Gesetze und der ähnlichen Karenzzeiten setzte sich seit den 1920er

Jahren fort, was auf einen Wissenstransfer zwischen beiden Staaten hindeute (siehe Tabelle

13). Generell lagen die Bestimmungen sehr nahe an den Forderungen des Mutterschutz-

Abkommens der ILO von 1952, obwohl beide Staaten nur das weniger strenge Abkommen

von 1919 ratifiziert hatten.

Tabelle 13: Karenzregelungen

Argentinien Chile

1924: 6 W. (optional) + 6 W. (42 d + 42 d), kein Lohn 1925: 40 d + 20 d, 50 % des Lohns

1934: 30 d + 45 d oder 42 d + 42 d auch Staatsdienst, voller

Lohn (alle)

1930: 6 W. + 6 W. (42 d + 42 d), 50 % des Lohns

1952: voller Lohn

1953: alle Arbeitnehmerinnen universell gültig

1974: 45 d + 45 d oder 30 d + 60 d, voller Lohn 1973: 6 W. + 12 W. (42 d + 84 d), voller Lohn

Quelle: Autor

Ein weiterer Aspekt der früh reguliert wurde, waren betriebliche Krippen für Kinder der

Arbeitnehmerinnen, selbst wenn die Gesetze oft wegen mangelnder Kontrollen nicht

eingehalten wurden (Lavrin 1998: 83). Chilenische Privatunternehmen mit mehr als 50

Arbeiterinnen wurden bereits 1917 verpflichtet, eine Betriebs-Kinderkrippe bereitzustellen,

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Seite | 63

um arbeitenden Müttern das Stillen zu ermöglichen. Kleinkinder bis zu einem Jahr konnten

dort abgegeben werden. Eine identische Norm wurde in Argentinien 1925 eingeführt und

blieb bis 1974 erhalten, als sie in ein anderes Gesetz integriert wurde. Da allerdings eine

genauere Regelung des Artikels fehlte, trat er nie in Kraft. Die Gesetze waren sich so ähnlich,

dass anzunehmen ist, dass Argentinien die Bestimmungen aus Chile übernahm. Gleichzeitig

mussten in Chile Unternehmen seit 1925 Kinderkrippen bereits ab 20 Arbeiterinnen

bereitstellen. Allerdings entgingen viele Arbeitgeber ihrer Verpflichtung durch die

Einstellung von maximal 19 Arbeiterinnen. Selbst Ende der 1960er berichteten

Gewerkschaften, dass 80 % der Arbeitgeber die Kinderkrippen nicht gesetzeskonform

umsetzten (Casas und Herrera 2012 2012: 142). In Bezug auf das Stillen wurde in Argentinien

erneut das chilenische Modell übernommen. Während der 1930er Jahre schrieben beide

Staaten Müttern gesetzlich vor, dass sie die Pflicht hatten ihr eigenes Kind bis zu einem

gewissen Alter zu stillen. In Chile ging dies 1968 gar soweit, dass die Muttermilch gesetzlich

als „Eigentum ihres Kindes“ deklariert wurde. Diese staatliche Bevormundung resultierte aus

der Tatsache, dass ärmere Mütter ihre Milch oft als Ammen für betuchte Familien anboten,

wodurch ihre eigenen Säuglinge dann an Mangelernährung litten (Lavrin 1998: 82).

Bezüglich der medizinischen Versorgung unterschieden sich beiden Länder stärker. Als 1924

unter der arbeiterfreundlichen Regierung von Arturo Alessandri in Chile die

Pflichtversicherung eingeführt wurde, bekamen Arbeiterinnen erstmals das Anrecht auf

medizinische Betreuung während der Schwangerschaft und eine professionelle Entbindung.

Während der Präsidentschaft des konservativen Carlos Ibañez bekamen größere

Bevölkerungsteile Zugang zu diesen Leistungen. Beispielsweise wurden mit dem

Gesundheitskodex von 1931 diese Rechte auf alle Frauen ausgeweitet, auch jene die sich

keine professionelle Hebamme leisten konnten. Daher liegt es nahe, dass das Thema nicht von

der politischen Partei abhängig war. Indes wurde in Argentinien erst 1934 festgeschrieben,

dass Arbeiterinnen das Recht auf professionelle Geburtshilfe und medizinische

Untersuchungen während der Schwangerschaft hatten. Finanziert wurde diese Leistung über

die bereits erwähnte „Mutterschaftsversicherung“. Da die Zahl der öffentlichen

Geburtenstationen nicht ausreichend war, gab die Versicherung den Schwangeren bis zu 100

Pesos, um in einer privaten Klink zu entbinden (Nari 2004: 220). Das Gesetz fiel nicht nur

zeitlich knapp mit dem chilenischen zusammen, sondern erfüllte auch den Art. 3b des ILO-

Abkommens No. 3, das ein Jahr zuvor von Argentinien ratifiziert worden war. Das System

deckte an sich nur arbeitende Frauen ab, doch in den staatlichen Krankenhäusern wurden ab

1947 auch Unversicherte gratis oder zu geringen Gebühren behandelt. Unter die

Page 64: Sozialgesetzgebung unter lateinamerikanischen Diktaturen ...

Seite | 64

medizinischen Leistungen fiel auch die Entbindung. Allerdings stellte Mesa-Lago (1978: 200f)

fest, dass die ärztliche Betreuung, sowie die Gerätschaften der öffentlichen Krankenhäuser

einen schlechten Ruf hatten. Wer es sich leisten konnte, ließ sich in einem

Gewerkschaftsspital behandeln. In Chile wurde während Ibañez‘ zweiter Präsidentschaft 1952

die Mitversicherung der Kernfamilie eingeführt, wodurch mehr Ehefrauen das Recht auf

zusätzliche Vorsorge- und Nachuntersuchungen bekamen. Zusammen mit dem damals neu

geschaffenen Nationalen Gesundheitsdienst führten diese Gesetze ab 1952 zu einem

markanten Anstieg der professionellen Entbindungen von rund 52 % auf 80 % im Jahr 1970

und einen starken Rückgang der Kindersterblichkeit (Casas und Herrera 2012: 141f,

Raczynski 2000: 144). Gleichzeitig kamen in Argentinien trotz der gesetzten Maßnahmen um

1970 nur rund 50 % der Kinder in Geburtenstationen auf die Welt und in ländlichen Gebieten

gar nur 25 % (Boletin Oficial 1973: 3).

Der Mutterschutz war in beiden Staaten das Resultat nationaler und internationaler sozio-

ökonomischer Veränderungen. Durch die Industrialisierung veränderte sich weltweit die

traditionelle Familienform bzw. Rollenverteilung und auch Mütter mussten immer öfter

arbeiten gehen. Meist geschah dies in ärmeren Schichten aus finanzieller Notwendigkeit. Die

Schaffung der frühesten Gesetze geschah als top-down Prozess, denn Teile der

gesellschaftlichen Elite erachteten Sozialreformen für den Fortschritt ihrer Länder als

unabdingbar. Befürworter des Mutterschutzes fanden sich vor allem unter sogenannten

Higienistas (meist Ärzte und Sozialwissenschaftler) (Lavrin 1998: 98). Sie sorgten sich um

die Gesundheit der arbeitenden Frauen als Mütter zukünftiger Generationen („Mütter der

Nation“) und wie hygienische Bedingungen ihre Gebärfähigkeit negativ beeinflussen könnten.

Diese Gedanken fanden bald auch unabhängig der politischen Ideologie Anklang in der

Gesellschaft. Der Schutz des (ungeborenen) Kindes wurde in den Gesetzen beiderseits der

Anden über den der Mutter gestellt (Biernat und Ramacciotti 2011: 20). Bei der Einführung

der Betriebs-Kinderkrippen ging es um die ausreichende Ernährung der Säuglinge.

Professionelle Entbindungen und Vorsorgeuntersuchungen sollten in erster Linie die

Kindersterblichkeit senken und die Gesundheit künftiger Staatsbürger garantieren. Im

Vergleich zu anderen Sozialpolitiken machten Mutterschutz-Gesetze kaum Unterschiede

zwischen Berufsgruppen und bedurften kaum einer größeren Vereinheitlichung. Nicht zu

unterschätzen waren bei der Entwicklung des Mutterschutzes und insbesondere der Karenz,

internationale Faktoren. So wurden in beiden Staaten die Gesetze nach dem Mutterschutz-

Abkommen von 1919 der ILO modelliert. Dasselbe konnte auch für das ILO Abkommen von

1952 beobachtet werden, obwohl es von Argentinien und Chile nicht bzw. erst am Ende des

Page 65: Sozialgesetzgebung unter lateinamerikanischen Diktaturen ...

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20. Jh. unterschrieben wurde. Des Weiteren waren die ähnlichen Inhalte und die zeitliche

Nähe, in der die nationalen Mutterschutz-Gesetze erlassen wurden, ein Indiz dafür, dass

zwischen Chile und Argentinien ein reger Ideenaustauch stattfand.

Reformen während der Diktatur

Der Mutterschutz wurde in Argentinien während der Militärdiktatur fast keiner Änderungen

unterzogen und wurde auch nach der Wiederkehr der Demokratie fast gleich fortgesetzt. Es

gab in Argentinien 1978 nur eine kleine Gesetzesänderung. Durch sie durften

Arbeitnehmerinnen bei einer Frühgeburt den weggefallenen Teil der Karenz vor der Geburt,

danach anhängen. In Chile wurden indes die bereits bestehenden Rechte für alle

Unselbständigen im öffentlichen Dienst, sowie der Privatwirtschaft 1978 nochmals geordnet

zusammengefasst, aber nicht verändert. Einzige Ausnahme war der Kündigungsschutz, der

auf die gesamte Länge der Schwangerschaft und ein Jahr danach ausgeweitet wurde. Letztlich

wurde 1985 durch ein Gesetz festgelegt, dass das Karenzgeld nun vom

„Familienfond“ verwaltet werden sollte, wodurch implizit die Finanzierung komplett auf den

Staat überging.

Tabelle 14: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Mutterschutz

Argentinien Chile

Vor 1970er Ideologie („Mütter der Nation“)

Elite-Interessen (Sozialreformer, higienistas)

Internationale Faktoren (ILO, Chile)

Ideologie („Mütter der Nation“)

Elite-Interessen (Sozialreformer, higienistas)

Internationale Faktoren (ILO, Argentinien)

Nach 1970er Kaum Änderungen Kaum Änderungen

Quelle: Autor

Bedenkt man wie politisch aufgeladen das Konzept arbeitender Mütter vor allem in

konservativen Kreisen ist, scheint die relative Untätigkeit in diesem Politikfeld während den

Diktaturen ungewöhnlich. Allerdings darf man nicht vergessen, dass traditionelle Frauen-

Rollenbilder sich vor den Systemumbrüchen nicht verändert hatten, was die Gesetze

widerspiegelten. Der Mutterschutz stellt also ein deutliches Beispiel der Kontinuität der

Sozialgesetze und Mentalitäten dar. Zudem muss festgehalten werden, dass die häufigsten

Reformen der Sozialleistungen während der Diktaturen die Vereinheitlichung, Privatisierung

und Dezentralisierung waren. Nun fiel die Dezentralisierung eher in den Bereich der

Gesundheitsdienste und wurde dort bereits behandelt, doch die Gesetze waren bereits vor den

untersuchten autoritären Regimen vereinheitlicht und standardisiert worden, wodurch

Reformen, ähnlich wie bei den Arbeitsunfalls-Gesetzen, nicht mehr notwendig waren.

Page 66: Sozialgesetzgebung unter lateinamerikanischen Diktaturen ...

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Letztlich stellte der Bereich des Mutterschutzes auch kein großes Risiko für den sozialen

Frieden dar - zumindest solange gewisse Regelungen galten.

Familienbeihilfe (finanziell)

Entstehung

Die Familienbeihilfe wurde in Argentinien und Chile nur etwas später als in den meisten

Industrieländern eingeführt und war an einen gültigen Arbeitsvertrag gebunden. Die

Entstehung dieser Transferleistung glich dem zuvor besprochenen Mutterschutz, da sie dem

sozialen Ideal der traditionellen Familie entsprang, in der die Frau bei den Kindern zuhause

blieb. Um dies umzusetzen, musste das Einkommen des Familienvaters allerdings die gesamte

Familie erhalten können. Tatsächlich fielen die Beihilfen zu keinem Zeitpunkt dafür

ausreichend großzügig aus (Rosemblatt 2000: 64, Nari 2004: 223). Genauso wie der

Mutterschutz beschränkte sich die Schaffung und Ausweitung der Familienbeihilfe nicht auf

eine bestimmte politische Richtung (Falappa und Mossier 2014: 176 & 184).

1937 wurde in Chile unter der zweiten Regierung Alessandris das erste Gesetz zur

verpflichtenden Familienbeihilfe in Lateinamerika erlassen. Sie beschränkte sich vorerst auf

Angestellte und Journalisten des privaten Sektors und blieb in der Fassung von 1942 mehrere

Jahrzehnte gültig. Die uniforme Beihilfe konnte nicht nur für jedes eheliche Kind bis zum 18.

Lebensjahr, sondern auch für andere Unterhaltspflichtige wie die Ehefrau beantragt werden.

Finanziert wurde das System über einen Arbeitgeberbeitrag (1 %) und Arbeitnehmerbeitrag

(2 %). Während der Präsidentschaft von Juan Antonio Ríos in den 1940er Jahren bekamen

weitere Berufsgruppen, wie das Militär oder die Gemeindebediensteten, eigene Regelungen

zu Familienbeihilfen. Zuvor war eine von Ríos geplante Verfassungsreform gescheitert, die

dem Präsidenten mehr Macht verliehen hätte (Rinke 2007: 128), daher ist es möglich, dass

Ríos sich so die Loyalität der staatlichen Institutionen sichern wollte. Wichtiger war

allerdings 1953 die Einführung der Familienbeihilfe für alle versicherten Arbeiter und

Angestellten, für die keine andere Regulierung vorlag. Dies geschah unter der zweiten

Präsidentschaft des Populisten Ibañez, die sich von Beginn an mit Streiks aufgrund der hohen

Inflation konfrontiert sah (ibid. 2007: 110). Die Arbeitgeberbeiträge waren mit 11 % im

Vergleich zu den Arbeitnehmerbeiträgen von 2 % relativ hoch. Der Anspruch auf Beihilfe

erlosch bereits mit dem 15. Lebensjahr des Kindes und verlängerte sich nur, falls es sich noch

in Ausbildung befand. 1961 wurde für private Angestellte eine jährliche Schülerbeihilfe für

einkommensschwache Familien eingeführt. Auch Mesa-Lagos (1978: 63f) Untersuchung der

Familienbeihilfe machte die großen Unterschiede in der Höhe der Beihilfe je nach

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Berufsgruppe deutlich. Besonders Angestellte bekamen verhältnismäßig hohe Summen,

gefolgt vom öffentlichen Dienst, während die der Arbeiter viel geringer ausfielen. Erst 1968

konnten auch pensionierte Arbeiter den Beihilfsantrag stellen. Im selben Jahr wurde auch

festgelegt, dass die Auszahlung vorzugsweise an die Mutter zu zahlen sei, wobei dies in der

Realität kaum umgesetzt wurde. Zwischen 1970 und 1971 glich die Regierung der links

Regierung Allendes die Unterschiede in der Familienbeihilfe allerdings aus, indem vor allem

die Beihilfe für die Arbeiterschicht erhöht wurde.

Auch in Argentinien existierten verschiedene Familienbeihilfen je nach Sektor. Die ersten

Familienbeihilfen kamen in den 1940er Jahren auf, doch sie waren auf

Kollektivvertragsvereinbarungen beschränkt. Eine Ausnahme bildete das Bankenstatut, dass

1940 in ein Gesetz übernommen wurde (Falappa und Mossier 2014: 180). Die autoritäre

Regierung der Revolución Libertadora führte erstmals von sich aus 1957 die

Familienbeihilfen ein. Das Gesetz begünstigte Arbeiter und Angestellte im privaten Handel

und Industrie. Der öffentliche Dienst kam noch im selben Jahr hinzu. Vergeben wurde die

uniforme Familienbeihilfe für Kinder bis 15 Jahre oder ab 1959 bis 18, wenn das Kind noch

zur Schule ging. Finanziert wurden sie allein über einen Arbeitgeberbeitrag von 4 % im

Handel bzw. 5 % in der Industrie und dem öffentlichen Dienst. Verwaltet wurden die Mittel

durch die neu gegründeten Familienbeihilfsfonds. Gründe für diese Maßnahmen waren die

fallenden realen Löhne ab 1957 und der ungebrochen populäre Peronismus, der für viele

Argentinier damals als Inbegriff des Wohlfahrtsstaates galt. Obwohl das Ziel der

Militärregierung vor allem die Produktivitätssteigerung war, bemühte sie sich im Namen des

Gleichgewichts zwischen Kapital und Arbeit um den Einbezug der Arbeitnehmerinteressen

(ibid. 2014: 200, Romero 2006: 136). Man wollte zeigen zeigen, dass Sozialleistungen nicht

vom Peronismus abhängig waren. In den Folgejahren wurden weitere Familienbeihilfen wie

beispielsweise für die Hafenarbeiter eingeführt. Zur größten Reform kam es erneut unter einer

Militärregierung, 1969 mit dem Gesetz 18.017, das knapp 30 Jahre gültig war. Es handelte

sich um die Vereinheitlichung der Familienbeihilfe über alle Berufsgruppen hinweg, mit

Ausnahme der Heimarbeiter und Selbstständigen. Landarbeiter wiederum waren zwar auch im

Gesetz enthalten, bekamen aber nur deutlich geringere Beihilfen. Finanziert wurde das

System über einen Arbeitgeberbeitrag von 10 %. Neue Beihilfen, wie beispielsweise

einmalige Förderungen für Heirat und der Geburt eines Kindes wurden eingeführt. Diese

Maßnahmen zielten ohne Zweifel auf die Steigerung der Geburtenrate und die Fortführung

traditioneller Rollenbilder ab, da sie insbesondere für kinderreiche Familien eine

Einkommenserhöhung darstellten (Falappa und Mossier 2014: 213). Im Gegensatz zu Chile

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Seite | 68

waren die Beihilfen je nach Unterhaltspflichtigem unterschiedlich hoch. Beispielsweise wurde

für die Gattin weniger Geld überwiesen als für ein Kind. Einige der neuen Beihilfen waren an

den Schul- oder Universitätsbesuch der Kinder gebunden, was einen Anreiz schaffen sollte,

die Einschulungsquote zu erhöhen und zur höheren Bildung anzuspornen. Der Trend, die

Bildung der Bevölkerung zu erhöhen, kann auch aus dem Gesetz von 1972 entnommen

werden, dass eine jährliche Schülerbeihilfe ins Gesetz 18.017 aufnahm. Ab 1973 durften auch

Schwangere und Pensionisten die Beihilfe beantragen.

Neben sozialen Idealen zur traditionellen Familie (männlicher Brotverdiener), sah man die

Familienbeihilfe bei ihrer Einführung auch als Investition in gesunde zukünftige Staatsbürger

(Rosemblatt 2000: 67). Der Wunsch die Bevölkerung zu beeinflussen oder zu erziehen,

konnte auch an Anreizen wie spezielle Beihilfen für den Schulbesuch oder für die Heirat

abgelesen werden. Bei ihrer Entstehung waren die Beihilfen in beiden Staaten allerdings stark

fragmentiert, da sie aufgrund der Klientelpolitik vor allem politisch wichtigen Berufsgruppen

zugestanden wurde. Ihre Ausweitung auf größere Berufsgruppen war hingegen neben einem

politischen Schachzug auch ein Mittel, um den sozialen Frieden in den Gesellschaften zu

erhalten, wobei Arbeiter trotzdem geringere Leistungen erhielten. Im Gegensatz zu Chile,

kam es in Argentinien bereits in dieser Periode zu einer großen Standardisierung. Die

administrative Fragmentierung blieb in Chile weiter ein Problem, doch die finanziellen

Ungleichheiten konnten unter der Regierung Allendes etwas ausgeglichen werden. Ein

Interessanter Unterschied zwischen den Ländern bestand in der Finanzierung der Beihilfe. In

Argentinien geschah dies allein durch Arbeitgeberbeiträge, während in Chile sowohl

Arbeitnehmer- als auch Arbeitgeberbeiträge das System speisten. Das könnte auf die damals

relativ größere Macht der Arbeiterschaft in Argentinien hinweisen (Mesa-Lago 1978: 169f).

Reformen während der Diktatur

Unter den jeweiligen Militärdiktaturen differenzierten sich die Regelungen der

Familienbeihilfe deutlich stärker als zuvor. In Argentinien beschloss die Junta nur eine leichte

Dezentralisierung der Gelder, indem sie 1979 zuließ, das Geld der Familienbeihilfsfonds auch

in Gemeinde- und Provinzbanken anzulegen. Ansonsten variierten nur die jährlichen

Erhöhungen der Beihilfen. Insbesondere die Beihilfe für Großfamilien stieg auf deutlich über

100 % des gesetzlichen Mindestlohns. Da dieser allerdings im Vergleich zu den Jahren vor

der Diktatur deutlich gefallen war, sank der wahre Wert der normalen Familienbeihilfe, als

auch der Beihilfe für Großfamilien tendenziell (Falappa und Mossier 2014: 230f). In Chile

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wiederum kam es zu einer grundlegenden Reformphase, die vier zentrale Veränderungen mit

sich brachte: die Vereinheitlichung des Systems, gleichzeitig eine

Verwaltungsdezentralisierung, eine Änderung der Finanzierung und eine neue Beihilfe.

Bereits 1973 wurde per Dekret das „einheitliche System der Familienbeihilfe“ (ESFBH)

geschaffen und schließlich 1974 genauer reguliert. Zusammengefasst waren darunter alle

staatlichen und privaten Arbeitnehmer, manche Selbständige, pensionierte Arbeiter, sowie

Witwenpensionsempfängerinnen. Damit wurden erstmals die großen Unterschiede zwischen

verschiedenen Berufsgruppen abgeschafft. Laut Borzutsky (1998: 37) wollte bereits Präsident

Frei in den 1960ern eine ähnliche Reform durchführen, scheiterte jedoch am Widerstand

einiger Interessensgruppen wie den öffentlich Bediensteten, die ihre Privilegien nicht

aufgeben wollten. Der autoritäre Charakter des Militärregimes war also eine

Grundvoraussetzung für die Durchsetzung des neuen Systems. Die Definition von

„Unterhaltspflichtigen“ wurde erneut erweitert. Sie galt für Kinder auch länger bis zum 18.

Lebensjahr bzw. bis 24. Lebensjahr, wenn sie sich noch in Ausbildung befanden. Die

ausgezahlte Beihilfe war, wie bereits im alten System, pro Unterhaltspflichtigem einheitlich

hoch. Einzige Ausnahme bildeten behinderte Kinder, für die es erstens keine Altersgrenze und

zweitens den doppelten Betrag gab. Zudem wurde ein Schwangerschaftsgeld in der Höhe der

Familienbeihilfe für Arbeitnehmerinnen und Ehefrauen von Arbeitern eingeführt. Die

Feststellung der Schwangerschaft oder der Behinderung oblag ab 1974 einem staatlichen Arzt,

wobei letztere alle drei Jahre überprüft werden musste. Die Kriterien dafür waren allerdings

nicht einfach zu erfüllen. Finanziert wurde das System erstmals allein über

Arbeitgeberbeiträge. Diese Beiträge werden auch für die Finanzierung anderer sozialen

Programme, wie dem Rat für Schülerbeihilfe verwendet. Obwohl diese Regelungen auf den

ersten Blick eine größere Abdeckung garantieren, sank laut Cortazar (1983: 371) der reale

Wert der Beihilfe zwischen 1970 und 1982 um mehr als 40 %. Ähnlich wie in Argentinien

konnte man sich für die Beihilfe unter der Militärregierung also weniger leisten.

Ab 1980 startete die Militärregierung einen grundlegenden, neoliberalen Umbau des gesamten

Staates inklusive des ESFBH. 1980 wurde zuerst der Arbeitgeberbeitrag für die

Familienbeihilfe abgeschafft und stattdessen die staatliche Finanzierung über Steuern

eingeführt. Ein Jahr später wurde eine neue Familienförderung (subsidio familiar) für

Familien in extremer Armut eingeführt. Diese Regelung sollte jene Familien einschließen, die

bis zu diesem Zeitpunkt aus diversen Gründen (z.B. Arbeitslosigkeit) keine Familienbeihilfe

(asignación familiar) erhielten. Für die Vergabe der Förderung, in derselben Höhe der

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Familienbeihilfe, waren die Gemeinden verantwortlich, was mit der

Dezentralisierungstendenz der Junta in Einklang war. Die Auszahlung sollte laut Gesetz

bevorzugt an die Mutter erfolgen. Zuerst bestand der Anspruch auf die Familienförderung nur

für Kinder bis 5 Jahre und wurde sukzessiv bis 15 Jahre (1984) angehoben. Das hing

wahrscheinlich mit der damals stark ansteigenden Arbeitslosigkeit zusammen, durch die viele

Familien das Recht auf die Familienbeihilfe verloren und drohten, in die Armut zu schlittern.

Um die Bevölkerung zu „erziehen“ wurde die Förderung bei Kindern an den Schulbesuch und

verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen gekoppelt. Da die Zahl der vergebenen Förderungen

bis zum Höchststand von 1.085.461 im Jahr 1986 rasant anstieg, wurde 1986 eine Obergrenze

pro Gemeinde festgelegt. Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 12,3 Millionen bekam

demnach 8,8 % der Bevölkerung die Förderung. Neue Förderungen durften ab da nur in der

Höhe vergeben werden, in der alte Ansprüche erloschen. Die Deckelung führte bis 1990 zu

einem Rückgang der vergebenen Förderungen um 19 %. Es bekamen nur noch 6,7 % der

Gesamtbevölkerung die Förderung (Superintendencia de Seguridad Social 2013: 9, World

Bank 2018). Durch die Gesetzesänderung von 1987 wurde eine neue Verteilungsgrundlage

bestimmt, die besonders finanziell benachteiligten Familien zugutekommen sollte. Zusätzlich

wurde die Beihilfe auf drei Jahre beschränkt, konnte aber erneuert werden, und um die

Geldmittel zu verwalten, wurde ein eigener Fond geschaffen.

Tabelle 15: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Familienbeihilfe

Argentinien Chile

Vor 1970er Grund: soziales Ideal (Vater versorgt Familie)

Fragmentierung, Ungleichheit starke

Vereinheitlichung während Diktatur 1969

Ausweitung: sozialer Frieden, Schwächung des

Peronismus

Grund: soziales Ideal (Vater versorgt Familie)

Fragmentierung, Ungleichheit (Anfang 1970er:

leichte Angleichung) Klientelismus

Arbeiter wegen Sorge um sozialen Frieden

Nach 1970er

(Diktatur)

Beschränkte Dezentralisierung

Anpassung Beihilfshöhe (tendenziell sinkend)

Vereinheitlichung

Dezentralisierung (subsidio familiar)

Stärkere Fokussierung (auf Mittellose)

Quelle: Autor

Die Einführung der Familienbeihilfe hing in beiden Ländern, ähnlich wie der Mutterschutz,

mit den sozialen Werten der Gesellschaften (d.h. traditionelle Arbeitsteilung in Familie)

zusammen und weniger mit politischer Ideologie. Allerdings resultierte der Klientelismus der

Regierungen in einem teuren und fragmentierten System der Beihilfen, in dem einige

regierungsnahe Berufsgruppen bevorzugt wurden. Auf große und weniger gut organisierte

Gruppen, wie Arbeiter, wurde das Recht hingegen eher aus Gründen des sozialen Friedens

ausgeweitet. Um die Ungleichheiten und Kosten der Systeme zu reduzieren, gab es in beiden

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Staaten Reformvorhaben, welche die Familienhilfe vereinheitlichen sollten. In Chile

scheiterten diese allerdings unter demokratischen Voraussetzungen am Widerstand einzelner

Interessensgruppen. Während die Vereinheitlichung in Argentinien unter der Diktatur von

General Onganía Ende der 1960er durchgeführt wurde, passierte dies in Chile kurz nach dem

Putsch von 1973. Da beide Systeme unter autoritären Systemen vereinheitlicht wurden, kann

man daraus schließen, dass diese Regierungsform unpopuläre (wenngleich sinnvolle)

Reformen begünstigt, da es weniger Veto-Spieler gibt. Die argentinische Junta von 1976

zeigte erstaunlich wenig Interesse am Instrument der Familienbeihilfe, während Chile das

System komplett reformierte und 1981 durch die neue Familienförderung sogar eine

Ausweitung der Rechte erreichte, die speziell auf die Förderung mittelloser Familien abzielte.

Wohnbau und Wohnbeihilfe

Entstehung

Die Entwicklung der sozialen Wohnbaupolitik in Argentinien und Chile lässt sich bis zu den

politischen Umstürzen der 1970er in zwei Phasen einteilen. In der ersten Phase von 1900 bis

1940 wurde der wirtschaftliche Nutzen des sozialen Wohnbaus in den Vordergrund gestellt

und in der zweiten von 1940 bis ca. 1973, der soziale Nutzen. In der ersten Phase war die

Wirtschaft geprägt durch den klassischen Liberalismus, der sich in einem wenig

interventionistischen Staat widerspiegelte. Daher versuchten die Regierungen den Markt –

ohne Erfolg – durch günstige Kredite, sowie Steuererleichterungen für Baugesellschaften oder

Privatinvestition zur Handlung zu bewegen. Dieses Marktversagen führte in Folge zum

kumulativen Wohnungsdefizit. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1930 wurde die

Industrialisierung als Weg aus der Depression gesehen. Die staatliche Intervention in die

Wirtschaft wurde durch den aufkommenden Keynesianismus verstärkt, während die staatliche

Einmischung in das Leben der Bürger durch die wichtiger werdende „soziale

Frage“ gerechtfertigt wurde (Silva 2007: 69, Goncalves et al. 2016: 4f). Daher begann der

Staat in dieser Phase selbst leistbare Wohnungen zu bauen und Subventionen für den privaten

Bau zu erhöhen, um das Wohnungsdefizit zu reduzieren. Wie schwer diese Aufgabe

allerdings war, zeigt das Beispiel Chiles. Ab der Regierung Frei in den 1960ern wurden

immer mehr soziale Wohneinheiten gebaut wurden, dennoch stieg das Wohnungsdefizit in

Chile 1952 von 156.205 Wohnungen auf 592.324 im Jahr 1970 (Hidalgo 1999: 73).

Angetrieben von der entstehenden Industrialisierung kam es seit Anfang des 20. Jahrhunderts

zur Massenmigration in die Großstädte und in Folge zur Verknappung des Wohnraums.

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Deshalb wurde der Ausbau des leistbaren und hygienischen Wohnraums erstmals zu einem

Thema in der Politik (Goncalves et al. 2016: 1). In den überfüllten Mietshäusern (conventillos)

der Städte herrschten teils desaströse hygienische Zustände. Durch das Fehlen von adäquater

Infrastruktur wie Kanalisation oder eines Mülldienstes brachen regelmäßig Epidemien aus,

die auch den Rest der Bevölkerung gefährdeten (Cravino 2016: 9, Rinke 2007: 72f).

Argentinien antwortete erstmals mit dem Gesetz der „billigen Häuser“ von 1905 auf das

Problem und ließ Wohnraum für „Personen mit geringem Einkommen“ schaffen. Chile folgte

nur ein Jahr später mit einem ähnlichen Gesetz der „Arbeiterwohnungen“. In Argentinien

konnte die Kommission für billige Häuser in knapp 30 Jahren allerdings nur unter 1.000

Wohneinheiten schaffen. Sogar die Stadtverwaltung von Buenos Aires baute im selben

Zeitraum mit knapp 5.000 Wohneinheiten mehr (Gaite 2006: 12f). In Chile konnte der Rat für

Arbeiterwohnungen zwischen 1906 und 1925 nur knapp 20.000 Zimmer bereitstellen

(Hidalgo 1999: 71). Beide Gesetze waren angesichts der Migration und des folgenden

Bevölkerungswachstums allerdings nicht mehr als einen Tropfen auf dem heißen Stein. Dafür

bauten in dieser Phase beide Staaten erstmals Institutionen auf, die zur Aufgabe hatten, den

privaten Sektor über Kredite, Subventionen und Steuervorteile zur Investition anzuregen, die

bestimmten Mindeststandards entsprachen.

Es kam in Argentinien und Chile bis Mitte der 1970er Jahre zu einem kontinuierlichen

Wandel der staatlichen Institutionen für Wohnbau, wobei in Chile die Gründung der

Körperschaft für Wohnbau kurz CORVI (1953) und in Argentinien der Nationale

Wohnbaufond kurz FONAVI (1972) hervorzuheben sind. Sie führten zu einer Zentralisierung

der Zuständigkeit in einer Oberbehörde. Ihre Hauptaufgabe war die Koordination der

Wohnbaupolitik, ihre Förderung und Kontrolle. Die Vergabe billiger Wohnbraukredite und

staatlicher Bausparverträge gewann ab Mitte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung und sollte

Bürgern die Eigenfinanzierung des Wohnbaus erleichtern. Das war mitunter nötig, da den

Staaten die Ressourcen fehlten, um die Kosten des sozialen Wohnbaus allein zu tragen. Chile

setzte in dieser Phase vermehrt auf den staatlichen Wohnbau, während Argentinien große

Förderungen an den Markt als Anreize setzte und damit zugleich versuchte, die Wirtschaft in

Manier des Keynesianismus anzukurbeln (Goncalves et al. 2016: 6, Gilbert 2001: 43).

Eines der Instrumente, um Wohnen leistbar zu machen, war die Mietpreisregulierung, da die

einzige Wohnmöglichkeit für viele Bürger der Unter- und Mittelschicht in der Miete bestand.

Chile erließ erstmals 1925 ein solches Gesetz unter der arbeiterfreundlichen Regierung des

Präsidenten Alessandri, als Eigentum in armen Schichten noch die Ausnahme war. So wurden

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Mieten in „gesundheitlich bedenklichen“ Gebäuden um 50 % gekürzt, während kurzfristige

Delogierungen der Bewohner verboten wurden. Über die Jahre kamen weitere Mieterschutz-

Regeln hinzu, die beispielsweise die grundlose Mietkündigung verboten.

Mietpreisregulierungen blieben durch verschiedene Gesetze bis in die Diktatur erhalten.

Argentinien setzte dieses Instrument erst ab 1943 unter Präsidenten Castillo als Reaktion auf

die stark gestiegene Binnenmigration während der 1940er Jahre ein (Riekenberg 2009: 140).

Die Miete war bis zu diesem Zeitpunkt deswegen so verbreitet gewesen, weil ein Gebäude

gesetzlich nur einen Besitzer haben konnte. Die Aufteilung einer Immobilie in einzelne

Wohneinheiten mit unterschiedlichen Besitzern (z.B. Wohnungen) wurde in Chile 1937 und

in Argentinien erst 1949 gesetzlich ermöglicht. Das erleichterte den Zugang von

einkommensschwachen Schichten zum Privateigentum deutlich. Kleinere Wohneinheiten

waren einerseits leistbarer und sollten andererseits den Immobilienmarkt zur Investition in

neue Wohnungen motivieren (Quijada 2011). Trotzdem verloren in Argentinien die

Mietpreisregulierung und der Mieterschutz nicht an Bedeutung. Unter den Regierungen von

Juan Perón kam es 1949 sogar zu Zwangsvermietungen von leerstehenden Immobilien. Ein

argentinisches Unikum war die Einführung des Rechtsstatus des „Familienguts“ (bien de

familia) im Jahr 1954. Jede Familie konnte eine Immobilie als solches Familiengut eintragen

lassen, wodurch die Familie weitgehend vor dem Verlust der Immobilie geschützt war. So

konnte ein Familiengut nicht ohne Einwilligung des Ehepartners verkauft werden oder wegen

Schulden gepfändet werden. Um 1970 wurden regelmäßig Mietvertragsverlängerungen

erzwungen und Mietkündigungen „vorübergehend“ verboten. In beiden Staaten ging der

Trend ab 1940 aber deutlich hin zum Eigentum. Während in Santiago und Buenos Aires um

1950 nur ca. 26,5 % der Bewohner Eigentümer ihrer Wohneinheiten waren, stieg dieser Wert

bis Anfang der 1970er auf ca. 59 % an (Gilbert 2001: 22).

Das Element der zentralen Stadtplanung begann ab den 1950ern in beiden Ländern eine

größere Rolle beim Neubau von Siedlungen zu spielen. Soziale Wohneinheiten mussten seit

damals zumindest über einen Anschluss ans Wasser-, Strom- und Kanalisationsnetz verfügen.

Dies war auch eine Reaktion auf die steigende Anzahl an illegal errichteten Elendsvierteln

(campamentos) und Landnahmen in ganz Lateinamerika ab den 1960er Jahren. Meist

wohnten dort Menschen, denen es sogar an genug Geld für die monatliche Miete mangelte. In

den campamentos fehlte es an jeglicher Infrastruktur, was wie zuvor in den conventillos zu

sanitären Missständen führte. Wegen der Illegalität der Besetzung fühlten sich die

Regierungen zur Räumung der Grundstücke über „Enteignungsgesetze“ berechtigt. 1956

leben in Argentinien rund 110.000 Personen in derartigen Vierteln und in Chile 1965 bereits

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500.000 (Ducci 2000: 150, Torre und Pastoriza 2002: 287, Rinke 2007: 110). 1952 wurde

deswegen in Chile erstmals ein Dekret zur Soforthilfe für Bewohner von Elendsviertel

erlassen, dessen langfristiges Ziel es war irregulären Wohnverhältnisse zu eliminieren und

den Bewohnern zu Eigentumstiteln zu verhelfen. Noch umfassender war ein ähnliches Gesetz

von 1968. In Argentinien kam es laut Ochsenius (et al. 2016: 197f) bereits unter der Diktatur

Aramburus 1956 wegen Gefährdung der „Hygiene und Moral“ zu ersten Aktionen gegen

Elendsviertel. Der erste gesetzliche „Plan zur Abschaffung von Elendsvierteln“ wurde jedoch

1964 unter der Diktatur von Onganía vorgelegt und beinhaltete ein staatliches

Wohnbauprogramm. Durch den Plan kam es tatsächlich zu zahlreichen Umsiedelungen in

„temporärere Unterkünfte“, bevor man eine permanente Wohnung bekam. Zur permanenten

Umsiedelung kam es allerdings nur selten und die temporären Unterkünfte wurden zu neuen

sozialen Brennpunkten (ibid. 2016: 200). Um die so gebauten Wohneinheiten zu erwerben,

brauchte man neben dem Wohnbaukredit eine gewisse Eigenkapitalquote, was die

einkommensschwächsten Schichten benachteiligte.

Das Wohnungsdefizit entstand am Anfang des Jahrhunderts und vergrößerte sich wegen der

inadäquaten Lösungen der Regierungen zunehmend. Die Industrialisierung und damit

einhergehende Migration in die Städte trug das ihre zur Verschärfung der

Wohnungsknappheit bei. Unabhängig vom vorherrschenden Wirtschaftsdogma oder der

politischen Orientierung der Regierungen war der Anlass für den staatlichen Eingriff in den

Wohnbau oft das sanitäre Risiko, das ausgehend von ärmeren Vierteln (conventillos bzw.

campamentos) auch gesundheitliche Probleme für die restliche Bevölkerung verursachen

konnte. Präferenzen für bestimmte Policy-Instrumente hingen durchaus mit der politischen

Strömung zusammen. Marktfreundliche Instrumente wie Steuererleichterungen für Baufirmen

oder die Anregung der Privatinvestition (z.B. Wohnbaukredite, Bausparversträge) waren eher

typisch für konservative Regierungen und solche, die der alten Oligarchie nahestanden.

Mietpreisregulierungen und der Mieterschutz, die den freien Wettbewerb hingegen deutlich

beschränkten, fanden hingegen bei arbeiterfreundlichen und populistischen Regierungen

Anklang. In Argentinien stand besonders Präsidenten Perón für diese neue Wohnbaupolitik

und ermöglichte durch diverse Gesetze der Unter- und Mittelschicht erstmals

realistischerweise den Zugang zu Eigentum (Torre und Pastoriza 2002: 286). Auch das

dominierende Wirtschaftsdogma spielte insofern eine Rolle, als dass es den Grad der

staatlichen Intervention in den sozialen Wohnbaumarkt beeinflusste. Ein markanter

Unterschied bestand zwischen Argentinien und Chile im Umgang mit Elendsvierteln. Trotz

Versuchen sie aufzulösen, nahmen chilenische Regierungen bis 1973 und Argentinien unter

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Perón eine permissivere Haltung ihnen gegenüber ein. Unter den autoritären Systemen von

Aramburu und Onganía kam es wiederum zur Auflösung vieler Viertel und einem Scheitern

der geplanten Umsiedelungsprogramme. Generell war das Verhalten von Diktaturen

gegenüber der sozial schwächsten Schicht demnach viel rücksichtsloser.

Reformen während der Diktatur

In Chile kam es einerseits ab 1975 zur Dezentralisierung der Administration und

Entscheidungsfindung, die durch die Schaffung des regionalen Wohnbau- und

Urbanisierungsservices (SERVIU) 1977 noch verstärkt wurde. Im Rahmen der

marktfreundlichen Politik wurde nach dem Putsch auch im Wohnbau das Prinzip der

Subsidiarität eingeführt. Das bedeutete, dass der Staat sich nur um jene

Bevölkerungssegmente kümmerte, die der Markt nicht bediente. Neue soziale

Wohnbauprogramme (1975, 1979) konzentrierten sich demnach stärker auf besonders

einkommensschwache Familien. Das zeigte sich auch in der Einführung eines Punktesystems,

um die Häuser der neuen Programme zu vergeben. Neben der sozialen Situation (d.h.

Familienmitglieder, Einkommen) war als Bedingung für die Teilnahme an solchen

Programmen immer eine Eigensparquote notwendig. Generell wurde die Eigenfinanzierung

durch Förderungen für Bausparverträge (1984) oder durch billige staatliche Wohnbaukredite

angeregt. Die Ober- und Mittelschicht wiederum konnte Kredite am freien Markt erwerben.

Durch diese Maßnahmen mussten die Bittsteller mehr Verantwortung für die Lösung der

Wohnungsfrage übernehmen (Arriagada 2004: 184f). Im Gegensatz zu Chile war in

Argentinien mit der Schaffung des Nationalen Fonds für Wohnbau (FONAVI) der Wohnbau

bereits kurz vor der Diktatur auf der nationalen Ebene gebündelt worden. Die Konzentration

der nationalen Ressourcen in FONAVI wurde 1977 durch ein Gesetz zu dessen Re-

Organisation noch verstärkt. Gleichzeitig wurde für die Finanzierung des Fonds ein

Arbeitgeberbeitrag von 5 % eingeführt. Die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel

verdoppelten sich dadurch, allerdings wurde die Maßnahme bereits 1980 wieder rückgängig

gemacht (Gaite 2006: 79). Für die Vergabe der gebauten sozialen Wohneinheiten wurde

ebenfalls ein Punktesystem eingeführt, das besonders große Familien begünstigte. Die

Dezentralisierung von FONAVI wurde erst in den 1990ern unter einer demokratischen

Regierung durchgeführt.

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Zwangsräumungen bzw. „Enteigngungen“ blieben weiterhin ein probates Mittel, um die

Politik des Staates voranzutreiben und wurden insbesondere gegen illegale Siedlungen

(campamentos) eingesetzt. Oft wurde dies mit Hinweis auf „Gesundheitsrisiken“ begründet.

Die argentinische Junta ging einen Schritt weiter und erlies 1977 ein Gesetz, das alle

Enteignungen im, nicht näher definierten, „öffentlichen Interesse“ zuließ. Der Anlass dafür

war wahrscheinlich die Fußball WM 1978, die in Argentinien ausgetragen wurde. Speziell in

Buenos Aires wurde radikaler gegen campamentos vorgegangen, da man sich als

„entwickeltes Land“ präsentieren wollte. Die Zahl der Bewohner solcher Viertel wurde ab

dem Jahr der Machtübernahme von 225.000 auf 12.600 Einwohner im Jahr 1983 reduziert

(Kullock und Murillo 2010: 41). Daneben galt das Interesse des Staates der Wiedergewinnung

der illegal besetzten Flächen, um sie wieder dem Markt zuzuführen. Die verdrängten

Bewohner mussten entweder die Stadt verlassen oder wurden in minderwertigen Quartieren

untergebracht. In Chile waren Enteignungen eher in soziale Wohnbauprogramme eingebettet

und dienten meist der Räumung von campamentos. So wurde 1974 ein weitreichendes

Regelwerk zu „Notstandsvierteln“ erlassen, das nicht nur feststellte, dass 20 % der

chilenischen Bevölkerung in Elendsvierteln und campamentos wohnte, sondern grundlegend

zwei Vorgehensweisen im Umgang mit ihnen vorsah. Viertel des Typs A durften bestehen

bleiben und bekamen eine sanitäre Infrastruktur, während Viertel des Typs B wegen der

schlechten sanitären und sicherheitstechnischen Zustände geräumt werden konnten. Ab 1980

nahm auch die Weltbank das „Upgrading“ der campamentos in seine Empfehlungen auf, da

Land für Neubesiedelung meist knapp war (World Bank 1980: 18). Dennoch kam es oft zu

Räumungen wegen der Wahrnehmung der Viertel als Horte des Kommunismus oder wegen

des Grundstücksnutzens wie in Argentinien. In Santiago konnten zwischen 1974 und 1986 64 %

der Familien aus Notstandvierteln in neue soziale Wohnbauten umgesiedelt werden. Die

Lösungen waren trotzdem suboptimal, da die Menschen häufig in periphere Stadtviertel

verdrängt wurden und die Segregation der Bevölkerung verstärkt wurde (Hidalgo 1999: 74).

Unter der Militärregierung von General Videla wurden in Argentinien die Mietpreise 1976,

erstmals seit knapp 30 Jahren, wieder vollends liberalisiert. Das hatte zufolge, dass viele

Familien plötzlich ohne Unterkunft dastanden. Das neue Gesetz sah keine Kündigungsfrist für

die bestehenden Mieter vor, deren zuvor eingefrorene Mietverträge nun de facto abgelaufen

waren. Somit wurde der Mieterschutz drastisch eingeschränkt. In Chile wurde die

Mietpreisregulierung 1975 einstweilen noch geändert fortgeführt. Erst 1982 wurde der Markt

der Mietwohnungen dort wieder komplett liberalisiert. Gleichzeitig beinhaltete das Gesetz

jedoch auch einen sehr strengen Mieterschutz, der fast gänzlich bis heute gültig ist.

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Die Wohnbaupolitik war im 20. Jahrhundert in Lateinamerika eine der wichtigsten Materien

Sozialgesetzgebung, was sich nicht zuletzt in der stetigen Weiterentwicklung der Policy-

Instrumente widergespiegelt hat. Die politische Orientierung der Regierung bestimmte im

Wohnbau nicht nur die bevorzugten Policy-Instrumente, sonder auch wie stark man sich bei

Problemlösungen auf den Markt verließ. Da sich dieses Verhalten sowohl für demokratische,

als auch autoritäre Regierungen feststellen ließ, kann man davon ausgehen, dass Policy-

Instrumente eher vom vorherrschenden (internationalen) Wirtschaftsdogma abhängig waren.

Tabelle 16: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Wohnbau

Argentinien Chile

Bis 1940

(Phase 1)

Grund: Wohnraummangel durch Immigration,

hygienische Bedenken

Wirtschaftsdogma: Liberalismus, daher

Wohnbaupolicies marktfreundlich

Miete: nicht reguliert (erst wegen Notwendigkeit)

Grund: Wohnraummangel durch

Binnenmigration, hygienische Bedenken

Wirtschaftsdogma: Liberalismus, daher

Wohnbaupolicies marktfreundlich

Miete: reguliert (Klientelismus)

1940-1970er

(Phase 2)

Grund: kumulatives Wohnungsdefizit,

hygienische Bedenken (campamentos)

Wirtschaftsdogma: Keynesianismus (ISI), daher

interveniert Staat stärker

Policy-Instrumente: abhängig von politischer

Orientierung der Regierung

Elendsviertel: unter Diktatur Zwangsumsiedlung

Grund: kumulatives Wohnungsdefizit,

hygienische Bedenken (campamentos)

Wirtschaftsdogma: Keynesianismus (ISI), daher

interveniert Staat stärker

Policy-Instrumente: abhängig von politischer

Orientierung der Regierung

Elendsviertel: eher Hilfsmaßnahmen

ab 1970er Wirtschaftsdogma: Neoliberalismus

Wohnbaupol.: administrative Zentralisierung,

Miete liberalisiert, internat. Ruf

Wirtschaftsdogma: Neoliberalismus

Wohnbaupol.: Dezentralisierung, gezielt bzw.

subsidiär, marktfreundlich

1990er Dezentralisierung -

Quelle: Autor

Der Neoliberalismus begann ab den 1970ern international an Popularität zu Gewinnen und

den davor herrschenden Keynesianismus abzulösen. Die marktfreundliche Einstellung zeigte

sich in beiden Staaten insbesondere durch die Aufhebung der Preiskontrollen bei den Mieten

und in der stärkeren Fokussierung der staatlichen Wohnbauprogramme auf die

einkommensschwächsten Schichten (durch Punktesysteme). In gewisser Weise sollten auch

die Enteignungen der Grundstücke in Elendsviertel den Markt anregen, indem die

Grundstücke ihm wieder zugeführt wurden. Die administrative Dezentralisierung des

staatlichen Wohnbaus in Chile entsprang auch dem Effizienzgedanken, der für neoliberale

Wirtschaftspolitik üblich ist und auch in anderen Bereichen der Sozialpolitik beobachtet

werden konnte. Es ist daher etwas erstaunlich, dass in Argentinien das genaue Gegenteil

geschah und die Gelder und administrative Aufgaben eher zentralisiert wurden, obwohl

derartige Schritte in anderen Sozialbereichen (z.B. Bildung, KV) durchaus der Fall waren.

Einzig im Umgang mit dem Elendsviertel, scheint das politische System (autoritär vs.

demokratisch) ein entscheidender Faktor zu sein. Zu Massenräumungen solcher Viertel kam

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es vermehrt unter Diktaturen, während sie von demokratischen Regierungen eher toleriert

wurden. Wie ein roter Faden zieht sich wiederum die Sorge um sanitäre Zustände, zuerst in

den Mietskasernen und später in den Elendsvierteln, durch die Gesetze. Heute wird nur die

soziale Wohnbaupolitik unter der chilenischen Diktatur international als Erfolg gefeiert.

Allerdings konnten die Resultate mit denselben Maßnahmen in anderen Ländern nicht

reproduziert werden (Ducci 2000: 149).

Kapitel 3: Conclusio

In dieser Arbeit ging es um die Frage, wie sich das politische System eines Staates auf seine

Sozialpolitik auswirkt. Nach der gängigen Lehrmeinung zu Wohlfahrtsstaaten wäre die

Demokratie die Grundvoraussetzung für die Sozialpolitik, da Werte wie Gleichheit und

Brüderlichkeit bzw. Solidarität sich in der Umverteilung widerspiegeln. Zahlreiche

geschichtliche Beispiele lassen diese Annahme allerdings fehlerhaft erscheinen. Deshalb

wurden im ersten Teil der Arbeit die notwendigen Elemente der Sozialgesetzgebung

festgestellt und anschließen anhand der Fälle Chile und Argentinien analysiert. Dies geschah

immer in Bezug auf Veränderungen nach einem politischen Systemwechsel (demokratisch VS

autoritär). Die Hypothese, dass Demokratie keine notwendige Voraussetzung für

Sozialgesetzgebung ist (H1), konnte im Laufe dieser Arbeit für beide Fälle ohne Zweifel

bestätigt werden. Es konnten durchaus einige Gemeinsamkeiten zwischen den Staaten über

alle Gebiete der Sozialgesetzgebung hinweg festgestellt werden. Es kam zwar während der

Diktaturen zu tiefgreifenden Reformen, doch diese Änderungen basierten großteils auf den

gleichen Faktoren wie Änderungen zu Zeiten der Demokratie.

Beim Vergleich der Sozialsysteme zwischen Demokratien und Diktaturen müssen

grundlegend zwei Faktoren unterschieden werden: die Ursachen und ihre Auswirkungen.

Viele Ursachen bzw. Anlässe für Gesetze und ihre Änderungen blieben über Systemwechsel

hinweg gleich, doch die Resultate konnten sich stark verändern. Die häufigsten Anstöße für

Sozialgesetze gaben internationale Faktoren, soziale Normen und das Streben nach sozialem

Frieden. Beispielsweise konnte die dominante internationale Wirtschaftstheorie (Ursache) zur

stärkeren Zentralisierung von Leistungen (Wirkung) führen, während eine andere die

Dezentralisierung (Wirkung) begünstigte. Das politische System konnte für diese Faktoren

zwar als Katalysator oder Bremse agieren, doch die meisten erklärenden Variablen wurden

nur sekundär vom Regierungstyp beeinflusst.

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Tabelle 17: Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sozialgesetzgebung, Politik und Wirtschaft

Gemeinsamkeiten Unterschiede

Demokratie Aufbau Wohlfahrtsstaaten

Klientelismus: Fragmentierung SV &

Leistungen

(SV, FBHF)

Zentralisierung d. Verwaltung: administrative

Machtkonzentration

(Bildung, Wohnbau)

Akteure: verschiedene, mehr Vetospieler

Sozialleistungen in Chile fragmentierter

Lebensstandard in Argentinien bis 1950er

deutlich höherer

Policy-Instrumente von polit. Richtung der

Regierung abhängig

Policy-Instrumente in beiden Staaten tlw. sehr

unterschiedlich z.B. bei Invalidität

Diktatur²

Dezentralisierung: admin. Macht geschwächt

(Bildung, Gesundheit)1

Vereinheitlichung der Sozialleistungen

(Familienbeihilfe, SV)2

Repression & interne Sicherheit

(Gewerkschaften, Schulen)

Vorteil beim Durchsetzen unbeliebter

Maßnahmen (weniger Vetospieler)

Akteure: Regierung, Wirtschaft,

Polizei/Militär, int. Finanzinstitutionen

Junta (1976) in Argentinien weniger

interventionistisch Kontrolle/Macht

der Junta in Arg. Geringer

Junta Chile: Strukturreform nach „Masterplan“

Argentinien Dezentralisierung tlw. unter

Demokratie (1990er)

Unabhängig der

Periode bzw. des

politischen Systems

Internationale Faktoren: Dogmen, Trends,

Krisen, Verträge, Migration,

Institutionen, Lerneffekt Nachbarstaaten

Sozialer Frieden: entscheidend für alle

Regierungsarten

Soziale Ideale/Normen

Soziale Stratifizierung bleibt hoch

Demokratie in Chile stabiler

Zentralisierung VS Dezentralisierung der

Verwaltung als Folge int. Faktoren

(Wirtschaftsdogma)

1nach Ende der Diktaturen fortgesetzt 2Argentinien tlw. früher (1967-69 Diktatur Onganía)

Quelle: Autor

Ein Punkt, der oftmals unterschätzt wurde, war der große Einfluss den internationalen

Faktoren auf die Entwicklung der Sozialsysteme ausgeübt haben. Internationale Faktoren

können in diesem Zusammenhang vieles einschließen und verschiedene Faktoren sind oft

miteinander verbunden. Dazu gehören unter anderem Wirtschaftsdogmen und -trends, Krisen,

internationale Verträge, der Einfluss von Institutionen und grenzüberschreitende

Migrationsbewegungen. So können Krisen und Kriege weit über Landesgrenzen hinaus durch

Interdependenzen Volkswirtschaften beeinflussen, die wiederum Auswirkungen auf das

Steueraufkommen, die Kaufkraft und den Arbeitsmarkt haben. Insbesondere die

Weltwirtschaftskrise der 1930er hatte massive Folgen für die Entwicklung der argentinischen

und chilenischen Wohlfahrtsstaaten, indem sie international zum Fortschreiten der

Industrialisierung beitrug. Durch die Industrialisierung vergrößerte sich die Arbeiterschaft,

wodurch sie an politischer Macht gewann und weder von autokratischen, noch von

demokratischen Regierungen ignoriert werden konnte. Die Variable des leitenden

internationalen Wirtschaftsdogmas und damit einhergehende wirtschaftliche Trends, waren in

dieser Arbeit von zentraler Bedeutung. Anfang des 20. Jahrhunderts dominierte weltweit der

Liberalismus, der in Lateinamerika traditionell vor allem auf Exporten basierte. Nach der

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Krise von 1930 und ihren schweren Folgen für die untersuchten Exportwirtschaften,

übernahm man schrittweise keynesianische Ideen, die sich im Aufbau der

importsubstituierenden Industrialisierung äußerte. Während in Chile all dies unter

demokratischen Bedingungen geschah, entwickelte sich der Keynesianismus in Argentinien

sowohl unter demokratischen, als auch autoritären Regierungen. Schließlich kam ab den

1970ern ausgehend von den USA der Neoliberalismus auf, zu einer Zeit als die Sozialsysteme

vieler Staaten bereits mit Finanzierungsproblemen zu kämpfen hatten. Die propagierte Idee

des „subsidiären Staates“ kam den neuen Diktaturen gelegen. Chile wurde zum berühmtesten

neoliberalen Experiment weltweit, und man zog die Öffnung der Märkte dank der Machtfülle

der autoritären Regierung konsequent durch. Der argentinischen Junta, die ebenso versuchte

ihre Staatsausgaben zu verkleinern und neoliberale Reformen umzusetzen, fehlte es einerseits

an Einstimmigkeit über die Policies innerhalb des Militärs und andererseits an der hohen

Machtkonzentration, die die chilenische Junta in sich vereinte. Dennoch setzte sich der

internationale Trend zur Liberalisierung fort und erfasste nach der Rückkehr zur Demokratie

auch Argentinien. Vor allem in den 1990er Jahren kam es im Sozialsystem zu weiteren

Vereinheitlichungen, Dezentralisierungen und Privatisierungen von Leistungen (z.B. KV). Im

Falle Argentiniens kam noch hinzu, dass internationale Organisationen wie der IMF eine

neoliberale Reform des Sozialsystems zur Kondition für Kredite machte. Ein anderes Beispiel

bietet die zweite Ölpreiskrise, die in den 1980ern in Chile zum extremen Anstieg der

Arbeitslosenzahlen führte, was die Junta zwang, mit neuen Leistungen auf die Not der

Menschen zu reagieren (Beschäftigungsprogrammen, Beihilfen). Wie bereits angesprochen

konnten auch internationale Institutionen und Organisationen einen gewissen Einfluss auf

nationale Sozialgesetze ausüben. Die ILO, der beide Staaten bereits früh angehörten,

veröffentlichte seit ihrer Gründung Normen zum Schutz der Arbeitnehmer. Viele der Punkte,

die in den ILO-Verträgen (z.B. zum Mutterschutz) vorgeschlagen wurden, wurden von

Argentinien und Chile übernommen. Nach dem zweiten Weltkrieg erlangten vor allem die

internationalen Finanzinstitutionen in Entwicklungsländern an Bedeutung, da sie im

Gegenzug für Geldmittel und Expertise eine bestimmte Politik durchzusetzen versuchten –

den Washington Consensus. Letztendlich geht es bei der Reform von Sozialgesetzen auch um

einen Lernprozess, der nicht an Landesgrenzen halt macht. Das spiegelte sich einerseits im

Wohlfahrts-Typ der lateinamerikanischen Pionierstaaten, der dem Mediterranen bzw.

konservativen Wohlfahrtsstaat aus Europa nachempfunden war, sowie der Implementierung

erfolgreicher Policies aus Nachbarstaaten wieder (z.B. Unfallschutz, Mutterschutz,

Mietpreisderegulierung unter Diktaturen).

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Der zweite Faktor, der unabhängig von der Zeit und dem politischen System eine Rolle spielte

war der soziale bzw. gesellschaftliche Friede. Bereits in der Einleitung wurde angesprochen,

dass manche Autoren wie Gandhi und Przeworski (2006) diesen Faktor als systemrelevant

erkannt hatten, was sich schließlich auch in Bezug auf die analysierte Sozialgesetzgebung

zeigt. Ein Weg, um Interessensgruppen oder die Gesellschaft als Ganzes zu besänftigen, ist es,

ihnen sozialen Schutz zu gewähren, vor allem vor den häufigsten (unverschuldeten)

Problemen: Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, etc. Bei Protesten und Streiks hatte eine

Regierung, egal ob demokratischer oder autoritärer Natur, zwei Optionen. Sie konnte

entweder mit Repression antworten oder auf die Forderungen der Protestierenden eingehen.

Punitive Maßnahmen können allerdings, wenn sie zu häufig eingesetzt werden zu einer

Zuspitzung der Lage beitragen und auf lange Sicht ein Regime zu Fall bringen. Deswegen

wurden in Fällen, in denen Proteste sehr große Ausmaße annahmen (z.B. Generalstreik) oder

von einem besonders systemwichtigen Akteur durchgeführt wurden (z.B. Militär und Polizei

in Militärdiktaturen), meist Besserungen vorhandener oder die Schaffung neuer Gesetze

erwirkt. Ersteres konnte beobachtet werden, als in Chile nach ausgedehnten Arbeiterprotesten

ein eigener Gesundheitsdienst (SNS) für Arbeiter und eine eigene Familienbeihilfe für sie

geschaffen wurde. Dass Gewerkschaften einen legalen Status erhielten, kann auch als

Maßnahme verstanden werden um den sozialen Frieden zu erhalten, da sie der großen Masse

der Arbeiterschaft eine Möglichkeit gab, ihre Interessen ins politische System einzubringen.

Über die Gewerkschaften passierte dies in einem geordneten Prozess. Manchmal reichte auch

allein die Angst vor zukünftigen Aufständen, um Gesetze zu erlassen, wie es beim Erlass der

Unfallsregelungen geschah. Im 20. Jahrhundert ging es oftmals auch darum, das

Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital zu erhalten, denn hätten die Arbeitgeber nicht

einen Teil ihrer Gewinne über Arbeitgeberbeiträge ins Sozialsystem investiert, wäre es

vermutlich zum Zusammenstoß mit den emanzipierten Arbeitern gekommen. Nun hatten die

untersuchten autoritären Regime teils einen größeren Spielraum bei der Umgestaltung des

Sozialsystems, da das Militär in Kooperation mit dem Polizeiapparat das absolute

Gewaltmonopol im Staat besaß (Olsen 1993: 568). Es wäre für Bürger also durchaus

gefährlicher gewesen, Kritik an Reformen von Sozialgesetzen zu äußern. Dennoch wäre es für

ein Regime fatal gewesen, das sehr breite Teile der Bevölkerung gegen sich aufzubringen.

Eine komplette Privatisierung oder die Abschaffung wichtiger Teile der Sozialgesetzgebung

hätte durchaus das Potential für breite gesellschaftliche Proteste gehabt, die zudem dem

bereits schlechten internationalen Image der Diktaturen weiter geschadet hätten. Daher

erließen die Diktaturen teilweise sogar Gesetze, die im Gegensatz zu ihren eigentlichen Zielen

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standen. In Chile sah sich die Junta gezwungen, Beschäftigungsprogramme zu schaffen und

somit gegen die neoliberale Theorie in den Markt einzugreifen. Ohne diese Programme hätten

die hohen Arbeitslosenzahlen die Menschen aus Not zweifellos zu Protesten angeregt. In

Argentinien wiederum wollte man trotz neoliberaler Ideen die Beschäftigungsstabilität nicht

antasten. Auch die Privatisierungsversuche der Bildung mussten unter dem demokratischen

System der 1990er abgebrochen werden, da die Bevölkerung sich heftig dagegen wehrte.

Andererseits sind manch sinnvolle Reformen ebenso an sozialen Unruhen gescheitert.

Beispielsweise schaffte es Präsident Frei in Chile nicht die SV zu vereinheitlichen.

Schließlich beeinflussen auch soziale Ideale und Normen die Sozialgesetzgebung. Diese

können, wenn überhaupt, nur sehr langsam geformt und geändert werden. Daher sind sie

gegenüber kurzfristigen gesetzlichen Änderungen oft immun. Das zeigte sich beispielsweise

in den Versuchen der argentinischen Junta die Gewerkschaften zu schwächen. Diese hatten

über Jahrzehnte hinweg durch die obras sociales einen so hohen Stellenwert in der

Gesellschaft erlangt, dass die Maßnahmen der Junta kaum Erfolg zeigten. Ansonst konnte die

Relevanz von sozialen Normen und Ideologien vor allem in Bereichen festgestellt werden, die

mit der Familie und Kindern zu tun hatten. Zu Beginn der Wohlfahrtsstaaten wurde die

Bildung der Kinder gezielt eingesetzt, um den zukünftigen Bürgern eine gemeinsame

nationale Identität zu vermitteln. Es handelt sich hierbei um das beste Beispiel wie Politik

langfristig gesellschaftliche Werte beeinflussen kann (z.B. über Schulbücher). Auch die

Buchverbote oder die Förderung einer nationalistischer bzw. patriotischer Einstellung unter

Schülern während der Diktatur geben einen Hinweis auf die Macht der Bildung in der

Gestaltung sozialer Normen. In Südamerika hatte die Familie stets einen hohen Stellenwert.

Die ideale Familie war vom traditionellen Bild des alleinverdienenden Familienvaters und der

Mutter, die zuhause für die Kinder sorgte, geprägt. Diese normative Prägung war

mitverantwortlich für die Schaffung der Familienbeihilfe (in Folge: FBHF), die dem Vater

helfen sollte, seine Rolle als Erhalter der Familie wahrzunehmen. Die zusätzliche finanzielle

Last, die durch Kinder und die Hausfrau entstanden, sollte so gemildert werden. Da derartige

Transferleistungen oft an Bedingungen wie den Schulbesuch der Kinder geknüpft waren,

konnte der Staat die Maßnahme gleichzeitig zur Sozialdisziplinierung nutzen. Ungewünschtes

Verhalten wurde mit dem Entzug der Leistung bestraft, während positives Verhalten belohnt

wurde. Beispielsweise fiel die FBHF für kinderreiche Familien in Argentinien während der

Diktatur besonders großzügig aus. Die Maßnahme hatte demnach zum Ziel, die Geburtenrate

zu steigern. Die Reform der FBHF gehörte in Chile unter Pinochet zu den ersten Maßnahmen

der Regierung. Es wurde sogar eine neue Beihilfe für besonders Arme eingeführt, was darauf

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hinwies, dass auch die Militärführer der Familienpolitik eine große normative Bedeutung

zukommen ließen. Dennoch konnten viele Familien nur überleben, wenn beide Eltern

arbeiteten. Das zwang die Gesetzgeber dazu, Normen zu schaffen, welche zum Ziel hatten,

die Gesundheit der Föten und Säuglinge zu wahren und zu schützen. Auch die

vorgeschriebenen Kinderkrippen in Betrieben dienten in erster Linie dazu, die Ernährung der

Babys zu gewährleisten. Dies geschah zum Teil auch als top-down Prozess, in dem sich

gesellschaftlichen Eliten moralisch dazu verpflichtet sahen, die weniger gebildeten Schichten

und deren Kinder „zu schützen“.

Wie bereits erwähnt konnten sich die drei oben genannten Faktoren je nach ihrer Ausprägung

unterschiedlich auf die Sozialgesetzgebung auswirken (z.B.: Keynesianismus VS

Liberalismus). Sie können beispielsweise die Präferenzen für bestimmte Policy-Instrumente

beeinflussen, sowohl im selben, als auch in unterschiedlichen politischen Systemen. Doch es

konnten auch einige Merkmale vorgefunden werden, die deutlich häufiger in demokratischen

bzw. autoritären System vorkamen und mit dem politischen System zu verbinden sind.

Demokratien zeichneten sich durch einen wesentlich höheren Grad an Klientelismus und die

Zentralisierung der administrativen Macht aus. Auch die in den politischen Prozess

eingebunden Akteure unterschieden sich deutlich von denen in den Diktaturen. Der Aufbau

der staatlichen Sozialsysteme begann in beiden Ländern in jungen Demokratien. Daher war es

nicht verwunderlich, dass soziale Rechte anfänglich nur zugunsten regierungsnaher

Interessengruppen (z.B. SV für Beamte) geschaffen wurden. Da Präsidentschaftskandidaten

mit Wahlversprechen oft um bestimmte Gruppen buhlten, wurden die Rechte mit der Zeit auf

mehr und mehr Gruppen ausgeweitet, um sich deren Stimmen zu sichern (z.B. Arbeiter unter

Alessandri und Perón). Diese schrittweise Integration neuer Gruppen in das Sozialsystem

erklärt auch die hohe Fragmentierung der Leistungen nach Berufsgruppen. Diese

Vorgehensweise konnte beispielsweise in den Bereichen der SV, FBHF, Invaliditätspension

und der Gesundheitssysteme festgestellt werden. Darin spiegelt sich natürlich auch die

Tradition der konservativen und mediterranen Wohlfahrtsstaaten wieder, die die

lateinamerikanischen Pionierstaaten während ihrer Entstehungsperiode beeinflussten. In Folge

verursachte der Klientelismus allerdings auch hohe Kosten für den Staat, insbesondere im

Bezug auf die Ausgaben für den Beamtenapparat. Klientelismus konnte zum Teil zwar auch

in den Diktaturen beobachtet werden, doch er beschränkte sich dort vor allem auf die eigene

Interessensgruppe (Militär und Polizei), die oft trotz Vereinheitlichungen im restlichen

System bessere Sozialleistungen und Extra-Regelungen bekamen.

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Eine weitere Tendenz, die in demokratischen Systemen beobachtet wurde, war die

Zentralisierung der Entscheidungsmacht in nationalen Behörden. Das half nicht nur dabei

Doppelgleisigkeiten bei der Zuständigkeit zu vermeiden, sondern diente auch der Festigung

der Staatsstrukturen. Gleichzeitig konnte eine Regierung noch lange nach ihrer Amtsperiode

Gesetze und Entscheidungen beeinflussen, wenn sie es schaffte, ihren politischen

Vorstellungen verpflichtete Beamte in administrativen Schlüsselpositionen einzusetzen. Diese

Funktionäre blieben dabei nahe am Zentrum der Macht und waren mit dem

Regierungsapparat verwoben. Allerdings tendierten diese Systeme auch zu relativ großen und

schwer finanzierbaren Verwaltungsapparaten, die wegen des Klientelismus den dort tätigen

Beamten zusätzliche Privilegien zusprachen. Die Abgabe von Kompetenzen die sub-nationale

Ebene (z.B. Gemeinden) konnte so vermieden werden, was einerseits der Regierung, aber

andererseits auch der nationalen Verwaltung größere Macht verleiht. Doch nicht immer war

die strikte Zentralisierung von Vorteil. Da es sich bei Argentinien und Chile um besonders

flächenmäßig ausgedehnte Länder mit regionalen Eigenheiten handelt, führte die

Zentralisierung der Bildung (z.B. der Curricula) dazu, dass auf die Bedürfnisse der Regionen

und des Marktes nicht ausreichend reagiert werden konnte. Die strikte Standardisierung, die

mit der Zentralisierung einher ging, war in der Praxis zu unflexibel. In der Wohnbaupolitik

war wiederum das Gegenteil der Fall. Um mit dem Wohnungsdefizit umzugehen wurden über

die Jahrzehnte hinweg in beiden Staaten unterschiedliche Behörden geschaffen, die mit der

Materie betraut waren. Dabei entstand ein Chaos bei den Zuständigkeiten, das letztendlich

durch die Schaffung einer Oberbehörde beseitigt werden konnte.

Schließlich sollte erwähnt werden, dass in Zeiten demokratischer Systeme weitaus mehr

Akteure die Sozialpolitik beeinflussten. Demokratische Systeme sind schließlich per

Definition auf die Partizipation ihrer Bürger ausgerichtet. Das erkennt man auch an der

Anzahl der Vetospieler im System, die eine geplante Policy blockieren können. Weiters

müssen mehr Interessensgruppen bei der Schaffung der Policy berücksichtigt werden. Jeder

will ein Stück des Kuchens und kann auch versuchen, es über verschiedene Wege (z.B.

Intervention bei Politikern, Streiks, Gewerkschaften, Wahlen) zu erlangen. Das führte oftmals

auch zu problematischen Blockaden im System, denn selbst für die Allgemeinheit auf lange

Sicht sinnvolle Reformen konnten am Protest privilegierter Interessensgruppen scheitern, die

um ihre Sonderrechte fürchteten. Das war nicht zuletzt der Grund, der für das Scheitern der

SV-Reform in Chile unter Frei gesorgt hatte.

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Demgegenüber standen auch Merkmale, die vor allem unter autoritären Systemen vorzufinden

waren. Dazu zählten die Vereinheitlichung und Rationalisierungs-Maßnahmen, sowie eine

erhöhte Repression und die Sorge um die interne Sicherheit (bedroht durch den

Kommunismus). Es kam ab den 1970ern unter den Diktaturen auch vermehrt zu Wellen der

Dezentralisierung, doch dies ist wahrscheinlich nur teilweise auf das politische System

zurückzuführen und eher der Umstellung auf die neoliberale Wirtschaftspolitik geschuldet.

Vereinheitlichungen verschiedener Sozialleistungen (z.B. SV, FBHF) wurden unter den

Diktaturen vor allem als Sparmaßnahmen vollzogen. Die fragmentierten Systeme, die unter

den Demokratien geschaffen wurden, verursachten hohe administrative Kosten und ein

durcheinander an Regelungen. Wie bereits angesprochen, war dieses Problem bereits von den

demokratischen Regierungen erkannt worden, die allerdings aufgrund von Protesten keine

Reformen durchsetzen konnten. Obwohl eine Diktatur auch vom sozialen Frieden abhängig

ist, hat sie einen größeren Spielraum um unliebsame Policies durchzusetzen (z.B. Mietpreis-

Deregulierung), bevor sich die gesamte Gesellschaft gegen sie auflehnt. Die Limitierung des

Versammlungsrechts unter Diktaturen macht es zudem schwerer den Widerstand zu

organisieren. Durch die Vereinheitlichung fielen zahlreiche administrative Posten weg. Diese

Rationalisierung diente der Senkung der staatlichen Lohnkosten und der Verkleinerung des

Staatsdienstes. Zusätzlich passte dies auch zum damals aufkommenden Wirtschaftsdogma des

Neoliberalismus. Allerdings ist die Vereinheitlichung nicht ein ausschließliches Merkmal von

Diktaturen, da derartige Maßnahmen zum Teil auch unter Demokratien durchgeführt wurden

(z.B. KV in Argentinien 1990er). Des Weiteren waren manche Gebiete der

Sozialgesetzgebung bereits bei ihrer Schaffung relativ einheitlich, wodurch Reformen obsolet

wurden. Dies war beispielsweise beim Mutterschutz oder den Arbeitslosen- bzw.

Entlassungsregelungen in Argentinien der Fall.

Es ist wenig erstaunlich, dass autoritäre Systeme stärker zu Repression neigen, doch diese

Tendenz zeigt sich nicht ausschließlich in Form von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Sie spiegelt sich auch in gewissen Bereichen der Sozialgesetzgebung wieder. Primär waren

von Repression und Zensur Gewerkschaften und Bildungseinrichtungen betroffen, da man in

beiden Horte des Kommunismus vermutete. Als Orte, an denen eine große Zahl von

Menschen zusammenkommen und „gefährliche“ Ideen austauschen konnte, standen die

autoritären Regime ihnen skeptisch gegenüber. Der Sicherheitsgedanke nahm während Zeiten

der Diktatur einen höheren Stellenwert für die Regierenden ein und verschärfte deren

Vorgehen gegen vermeintliche Feinde im Inneren. An den Schulen äußerte sich dies an der

ideologischen Indoktrinierung durch neue nationalistische Schultexte, die Verbannung von als

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„subversiv“ erachteten Büchern, sowie der Warnung vor dem Kommunismus. In beiden

untersuchten Staaten wurden zudem Gesetze erlassen, die die Arbeit von Gewerkschaften

deutlich erschwerten und die Mitgliedschaft in diesen Organisationen für Arbeiter unattraktiv

machen sollten. Letzteres zeigte allerdings nur in Chile Erfolg, da Gewerkschaften in

Argentinien aufgrund ihrer Sozialleistungen einen höheren normativen und praktischen Wert

hatten. Der letzte Bereich, der in der Sozialpolitik mit Repressionen zu kämpfen hatte, war der

Staatsdienst. Viele der zuvor besprochenen Rationalisierungsmaßnahmen wurden mitunter zur

Säuberung des Verwaltungsapparats von Beamten verwendet, die dem alten System treu

waren. Gleichzeitig erleichterten sie die Postenbesetzung mit regierungstreuen Amtsträgen.

Auch in Diktaturen entschied nicht allein die Regierungsjunta über Policies. Normalerweise

hatte sie allerdings mehr Macht bei Entscheidungen als eine demokratisch gewählte

Regierung, da sie nicht von (Koalitions-)Partnern abhängig war und nicht um Mehrheiten im

Parlament kämpfen musste. Da es sich bei den untersuchten Fällen um Militärdiktaturen

handelte, mussten Militär und Polizei zufrieden gestellt werden, damit die Junta nicht von der

eigenen Institution weggeputscht wurde. Grund dafür ist der Druck, den sozialen Frieden zu

erhalten, was sich oft trotz der Vereinheitlichung von Sozialleistungen in eigenen (und

besseren) Regelungen für diese Interessensgruppen äußerte (z.B. Ausnahmen bei PV, eigene

Militärspitäler). Da es sich bei Generälen selten um Berufspolitiker handelte, bedienten sie

sich an externen Experten, die sie beauftragten, ihre sozio-ökonomischen Ziele umzusetzen.

Insbesondere die Wirtschaftsexperten nahmen in den Regierungen eine wichtige Rolle ein und

hatten durch das Fehlen einer politischen Opposition mehr Freiheit bei der Umsetzung ihrer

teils radikalen Reformen. Der einzige Vetospieler, der blieb, war das Militär selbst.

Aus dieser Analyse ging deutlich hervor, dass nicht nur demokratische Regierungen

Sozialpolitik betreiben (H1: Demokratie ist nicht notwendig für Sozialgesetzgebung). Auch in

Diktaturen erwarten Bürger, dass der Staat sich bis zu einem gewissen Grad um sie kümmert.

Allerdings liegt die Schwelle für Protest höher. Wenn es im Interesse der autoritären

Regierung ist, kann sie sogar neue Leistungen einführen oder bisher ausgeschlossene

Gesellschaftsgruppen in das System inkludieren, um beispielsweise die Produktionskraft

dieser Gruppen zu steigern (Olsen 1993: 569). Viel mehr beeinflussten die drei erklärenden

Variablen – soziale Normen, sozialer Friede und internationale Faktoren – unabhängig vom

politischen System, die Entstehung von Sozialgesetzen. Die zweite Annahme der Arbeit (H2:

das politische System beeinflusst die Sozialgesetzgebung) war auch am stärksten an die

Forschungsfrage gekoppelt und war gleichzeitig am schwersten eindeutig zu beantworten.

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Einerseits beeinflusste jede Regierung die Sozialgesetzgebung unabhängig von ihrer

politischen Ausrichtung und der Art ihres Zustandekommens. Andererseits konnten einige

Merkmale eher mit autoritären Regimen in Verbindung gebracht werden (repressive

Maßnahmen, Vereinheitlichung). Diktaturen hatten des Weiteren mehr Macht, unbeliebte

Reformen umzusetzen, wobei eine hohe Machtkonzentration in der demokratischen Exekutive

zu einer ähnlichen Durchsetzungskraft führen kann (z.B. Menem 1990er Argentinien). Doch

selbst Militärdiktaturen, die mit dem Einsatz von Gewalt drohen können, haben keine

absolute Freiheit in ihren sozialpolitischen Entscheidungen. Insbesondere müssen Akteure,

die existentiell wichtig für den Machterhalt der Regierung sind (z.B. Militär),

zufriedengestellt werden. In Chiles Fall konnten alle drei Arten der Policy-Reformen unter

Pinochets Regierung vorgefunden werden. Oft blieb das Endziel einer Policy gleich. Somit

wurden viele bestehende Policy-Instrumente beibehalten und nur ihre „settings“ verändert

(z.B. SV, FBHF, Wohnbau). In anderen Fällen verwarf man verbreitete Policy-Instrumente

als ineffektiv und änderte diese (z.B. Arbeitslosengeld, tw. Privatisierung Bildung & KV). Zur

angenommenen kompletten „revolutionären“ Umorientierung bei den Zielen der Policies kam

es allerdings selten. In diese Kategorie fiel höchstens die Einführung der neuen

Familienförderung und das Abweichen von Beschäftigungsstabilität als primärem Ziel der

Arbeitsmarktpolitik. In Argentinien wiederum wurden die meisten bestehenden Policies – mit

Ausnahme von Leistungen, die dezentralisiert wurden – übernommen und angepasst (Hall

1993: 278). Ebenso wie H1, konnte die Annahme, dass autoritäre Regierungen einen

negativen Effekt auf Sozialgesetze haben (H3), widerlegt werden. Es kam zum Vorschein,

dass das politische System nicht notwendigerweise mit dem Ausbau oder der Einschränkung

von sozialen Rechten in monokausal Verbindung steht. Betrachtet man lediglich die

Gesetzgebung, so kam es unter Diktaturen nicht grundsätzlich zu einer Reduktion des

Wohlfahrtstaates, sondern eher einer Angleichung von Leistungen über gesellschaftliche

Gruppen hinweg. Der Klientelismus, der unter demokratischen Regierungen vorherrschte,

erhöhte nicht nur die Kosten für den Staat, sondern führte auch zu einer ungleichen

Umverteilung der Ressourcen bzw. zu einer erhöhten Stratifizierung. Die Privatisierung von

Sozialleistungen, die von vielen Bürgern als eine Beschneidung ihrer sozialen Rechte

empfunden wurde, geschah sowohl unter einem autoritären (Chile) als auch einem

demokratischen System (Argentinien).

Wie festgestellt, kam es bei der Änderung des politischen Systems in Chile und Argentinien

zum Wandel bei den notwendigen Komponenten des Sozialsystems. Das traf allerdings nicht

für alle Komponenten gleichermaßen zu und selbst die tatsächlichen Veränderungen waren

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nur sekundär auf die Regierungsform zurückzuführen. Weit wichtiger waren internationale

Faktoren, soziale Normen und der Erhalt des sozialen Friedens, die unabhängig des

politischen Systems die Sozialpolitik erklären.

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Anhang

Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenversicherung

Chile Argentinien

Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt

1925 DFL 857 Privatangestellte: Angestellte mit mind. 2

Beitragsjahren in Pensionsversicherung

dürfen Teil der Beiträge als Darlehen

während ersten 2 Jahren der

Arbeitslosigkeit beantragen (später

zurückzuzahlen)

1889 Ley 2.637 Handelsgesetzbuch: sieht bei Entlassung

und bei „tadellosem Verhalten“ des

Angestellten Entschädigung in Höhe

eines Monatslohns (ML) vor

1928 Dto. 2.148 Gewerkschaften in Industrie haben Recht

für Mitglieder eine

Arbeitslosenversicherung zu schaffen

1934 Ley 11.729 Ändert Ley 2.637: Recht auf Abfertigung

bei Entlassung (halber ML pro

gearbeitetem Jahr), bei fristloser

Entlassung Recht 2 ML bei über 5 Jahren

Anstellung, sonst ein ML 1930 Dto. 3.740 Öffentliche Bedienstete: Recht auf

Entschädigung bei Entlassung oder

Kündigung in Höhe von einem

Monatslohn pro gearbeitetem Jahr

1943 Dto. 16.672 Staatsbedienstete: Recht auf

Entschädigung bei nicht gerechtfertigter

Entlassung (50 % des ML/Arbeitsjahr,

min. 1 ML)

1931 DFL 178 Arbeitsgesetzbuch: Angestellte bei

Entlassung Recht auf Entschädigung

(1 ML/Arbeitsjahr, max. 1000,- pro Jahr)

außer bei bestimmten Gründen,

Gewerkschaften dürfen für Mitglieder

Arbeitslosenversicherung anlegen

1945 Dto. 33.302 Aller unselbständigen Beschäftigter: bei

Entlassung ohne gesetzlich

gerechtfertigte Gründe oder bei

Auftragsmangel in zwei Jahren nach

Gesetzeserlass Recht auf doppelte

Abfertigung aus Ley 11.729, danach

einfache

1932 Dto. 2.259 Eisenbahner: Recht auf Entschädigung

bei Entlassung, voller Lohn im 1. Monat,

50 % im zweiten

1948 Dto. 14.133 Legt fest, dass AG Entschädigung

entweder direkt zahlen kann oder einen

Fond für Entschädigungszahlungen

anlegen kann (1 ML/Arbeitsjahr)

Tabelle 18: Lateinamerikanische Präsidenten und Militärregierungen im 20. Jahrhundert

Chile Argentina

1896 - 1901 Federico Errázuriz Echaurren 1898 - 1904 Julio Argentino Roca

1901 - 1906 Germán Riesco Errázuriz 1904 - 1906 Manuel Quintana

1906 -1910 Pedro Montt 1906 - 1910 José Figueroa Alcorta

1910 - 1915 Ramón Barros Luco 1910 - 1914 Roque Sáenz Peña

1915 - 1920 Juan Luis Sanfuentes 1914 -1916 Victorino de la Plaza

1920 - 1925 Arturo Alessandri 1916 - 1922 Hipolito Yrigoyen

1925 Putsch + Gegenputsch 1922 - 1928 Marcelo Torcuato Alevar

1925 - 1927 Emiliano Figueroa 1928 - 1930 Hipolito Yrigoyen

1927 - 1931 Carlos Ibañez 1930 - 1932 Jose Uriburu

1931 - 1932 Abfolge von sieben Präsidenten 1932 - 1938 Agustino Pedro Justo

1932 Sozialistische Republik (Militär): Puga & Dávila 1938 - 1942 Roberto Macelino Ortiz

1932 - 1938 Arturo Alessandri 1942 - 1943 Ramón Castillo

1938 - 1941 Pedro Aguire Cerda 1943 - 1946 Revolución del 43: Rawson, Ramírez & Farrell

(Perón)

1942 - 1946 Juan Antonio Ríos Morales 1946 - 1955 Juan Domingo Perón

1946 - 1952 Gabriel Gonzalez Videla 1955 - 1958 Revolución Libertadora: Lonardi & Aramburu

1952 - 1958 Carlos Ibañez 1958 - 1962 Arturo Frondizi

1958 - 1964 Jorge Alessandri 1963 - 1966 Arturo Illia

1964 - 1970 Eduardo Frei 1966 - 1973 Revolución Argentina:

Ongania, Levingston, Lanusse

1970 - 1973 Salvador Allende 1973 - 1974 Juan Domingo Perón

1973 - 1990 Augusto Pinochet 1974 - 1976 Maria Estela Martinez de Perón

1990 - 1994 Patricio Aylwin 1976 - 1983 Reorganización Nacional: Videla, Viola,

Galtieri, Bigone

1994 - 2000 Eduardo Frei (Sohn) 1983 - 1989 Raúl Alfonsin

1989 - 1999 Carlos Menem

Anm.: Militärregierungen in Kursiv

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1937 Ley 6.020 Schafft Spezialfond für Arbeitslosigkeit

für private Angestellte, Finanzierung

über Beiträge (1 % Angestellter, 8,33 %

Arbeitgeber, mit Obergrenze), bei

Beendigung des Arbeitsverhältnisses

ausbezahlt, Recht verfällt bei

Pensionierung (bleibt im Fond)

1956 DL 326 Hausarbeiter: bei Entlassung Recht auf

50 % des ML/Arbeitsjahr

1937 Ley 6.037 Handelsmarine: Schafft SV für HM,

Recht auf 2 Jahre Arbeitslosengeld in

Höhe des Monatslohns bei 10 Jahren

Beiträgen bzw. 15 Monate bei 5-10

Jahren Beiträgen, nur bei Entlassung

nicht Kündigung, bei Wiedereinstellung

Rückzahlung

1960 Ley 15.785 Privatangestellte: erhöht Obergrenze von

Ley 11.729, mind. 1 ML, Arbeitgeber

kann für Entschädigungen eine von

Gewinnsteuer befreite Reserve anlegen

(Einzahlung pro Jahr auf Basis der

jährlichen Entschäd. der letzten 3 Jahre

oder 2 % der Löhne pro Jahr)

1942 Ley 7.295 Ändert Ley 6.020: mindestens 12

Beitragsmonate für Auszahlung nötig,

nicht bei Kündigung durch Angestellten,

Arbeitslosengeld nur 90 Tage ausbezahlt,

darf pro Monat nicht 75 % unter

Mindestlohn liegen, Klausel zu

Pensionierung gestrichen

1966 Ley 16.881 Unselbstständige Privatwirtschaft:

Entschädigung bei Entlassung wegen

Auftragsmangel, Ablauf des

Arbeitsvertrags, Bankrott der Firma ist

50 % des ML/Arbeitsjahr (min. 1 ML)

bzw. 100 % des ML/Arbeitsjahr bei nicht

gerechtfertigtem Entlassungsgrund

(Höhe: min. 2 ML, max. in Höhe von 3

Mindestlöhne/Arbeitsjahr), bei fristloser

Kündigung 1 bzw. 2 ML

1943 Ley 7.390 Arbeiter in Gemeinden haben bei

Entlassung ohne Eigenverschuldung

Recht auf Entschädigung (30 Tageslöhne

pro Arbeitsjahr), finanziert durch

Gemeinden

1967 Ley 17.391 Derogiert Ley 16.881, ändert Ley 11.729:

Recht auf Entschädigung bei nicht

gerechtfertigter Entlassung (1

ML/Arbeitsjahr bzw. 50 % des ML/Jahr

bei Entlassung wegen Auftragsmangels),

neue Obergrenze

1946 Ley 8.569 Bankmittarbeiter: selbe Richtlinien wie

Gesetz 7.295, über Versicherung der

Bankangestellten geregelt

1973 Ley 20.172 Staatsbedienstete: bei Entlassungen

wegen Umstrukturierungen,

< 10 Dienstjahre = 1 ML/Jahr,

10-20 Dienstjahre = 1,5 ML/Jahr,

> 20 Dienstjahre = 2 ML/Jahr

1952 Ley 10.475

Dto. 2.588

Privatangestellte: ab 90. Tag ohne Arbeit

können Beiträge als Darlehen in Höhe

des Monatslohns ausgezahlt werden (nur

wenn kein Recht auf Alters- oder

Invaliditätspension besteht), muss ab

nächstem Arbeits-Verhältnis

zurückgezahlt werden

1974 Ley 20.744 Unselbstständige (außer Staatsbedienstete

und Hausarbeiter), gleich wie Ley

16.881, nicht bei Alterspension oder

Kündigung durch Arbeitnehmer,

Entschädigung min. 2 ML

1953 DFL 234 Arbeiter: Arbeitslosengeld erst ab 2.

Monat ohne Arbeit, 50 % des Lohns,

max. 4 Monate gewährt, mind. 280

Beitragswochen in SV, wird nur gewährt,

wenn Arbeiter sich beim staatl.

Arbeitsamt meldet, finanziert über

Arbeitgeberbeitrag (2 %)

1976 Ley 21.724 Entlassung Staatsbedienstete: Recht auf 1

ML/Arbeitsjahr monatlich ausbezahlt,

kein Anrecht, wenn Person

paramilitärischen Gruppen angehört,

durch subversive Tätigkeiten auffällt, die

eine reale oder potentielle Störung für

den Betrieb darstellen, die in laufenden

Verfahren verurteilt werden

1959 Ley 13.305 Ändert DFL 234: Unterscheidung: totale

und partielle Arbeitslosigkeit (letztere bei

Arbeitszeitreduktion), mind. 156

Beitragswochen, max. 6 Monate gewährt,

75 % des Lohns

1976 Dto. 390 /

Ley 20.744

Ähnlich wie Version 1974, aber gilt

zusätzlich nicht für Agrararbeiter:

Entschädigung min. 1 ML

1971 Ley 17.398

Dto. 1.333

Verfassungsänderung: jeder hat Recht auf

SV, Gesetz muss Schutz bei

Arbeitslosigkeit regeln

1974 DL 603 Schafft einheitliches System für

Arbeitslosengeld (öffentl. + privat): 75 %

des letzten Lohns für 90 Tage (max. 3-

mal verlängerbar), nur bei Entlassung,

Registrierung Arbeitslosenregister, bei

Ablehnung einer Stelle verloren

gestrichen, mind. 52 Wochen in eine SV

einbezahlt haben, freiwillige „versicherte

Mindestarbeit“ von max. 15 h/Woche bei

⅓ des Mindestlohns, schafft Fond für

Arbeitslose, keine extra Beitrag nötig, für

Staatsbedienstete gleich

1976 DL 1.588 Ändert DL 603: die 52 Wochen an SV

dürfen auch wenn man SV-System

gewechselt hat.

1980 DL 3.501 Neue SV-Beiträge: Arbeitslosenfond

ausschließlich durch Staat finanziert

1982 DFL 150 Einheitliche Version Arbeitslosengeld:

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Seite | 97

man kann zu Gemeindearbeit verpflichtet

werden, bei Verweigerung Verlust des

Arbeitslosengeldes, Familienbeihilfe und

Arbeitslosengeld aus einem Fond bezahlt

1982 Ley 18.134 AG bekommt finanzielle Förderung,

wenn er Arbeitslose einstellt

1985 Ley 18.413 Ändert DFL 150: min. 30h/Woche

Gemeindearbeit zu leisten, min. 15

h/Woche bei versicherter Mindestarbeit,

Höhe des Geldes verringern sich je länger

man es in Anspruch nimmt

Unfallversicherung und Invaliditätspension

Chile Argentinien

Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt

1916 Ley 3.170 Unselbständige (privat): betrifft jeden

Arbeitsunfall, der arbeitsunfähig macht

(außer höhere Macht und grobe

Fahrlässigkeit Arbeiter), Arbeitgeber

muss für alle Behandlungs- und

Arzneikosten aufkommen bis Arbeiter

wieder arbeitsfähig, auch Entschädigung

(temporär: 50 % des Tageslohns/Tag

arbeitsunfähig // partielle Invalidität: bis

2 Jahreslöhne // totale Invalidität:

Pension 50 % des Lohns bzw. bei Tod an

Ehefrau oder Kinder)

1915 Ley 9.688

(bis 1991

gültig)

AN in Industrie inkl. Leiharbeiter (die

weniger als 3.000,-/Jahr verdienen): AG

verantwortlich für Unfälle am

Arbeitsplatz (außer grobe Fahrlässigkeit),

AG muss für Behandlungskosten

aufkommen bis Arbeiter wieder

arbeitsfähig, beinhaltet auch Krankheiten,

bezog sich eher auf Maschinenarbeit, AG

können freiwillig Versicherung für

Entschädigungen abschließen =

„Garantiekasse“ (temporär: 50 % des

Tagelohns bis Genesung // partielle

Invalidität: je nach Grad der Behinderung

// totale Invalidität: in Höhe von 1000

Tageslöhnen (bei Tod an Frau/Kinder)

1924 Ley 4.054 Arbeiterversicherung (inkl. Invalidität):

Beitragspflicht (2 % AN, 3 % AG, 1 %

Staat), nur wenn Unfall nicht Absicht

war, Entschädigung bei Arbeitsunfällen

lt. Ley 4.055 geregelt

1916 Dto. / Reglementiert Ley 9.688: beschränkt sich

auf Buenos Aires und abhängige

Territorien, definiert Arbeitsunfälle,

„Garantiekasse“ als Teil der

Pensionsversicherung (verwaltet

Entschädigung, bezahlt sie monatlich

aus), Hygiene und

Sicherheitsvorschriften

1924

(1925)

Ley 4.055

(Dto. 238 &

379)

Reform Ley 3.170: Staatsdienst auch,

fügt arbeitsbedingte Krankheiten hinzu,

Beweislast beim AG, AG zur

Unfallprävention verpflichtet,

Entschädigung (erhöht: Pension 60 % Jahreslohn bei permanenter Arbeitsunf.,

max. 30 % bei partieller Behinderung,

Angehörige bei Tod) außer wenn AN

gegen Arbeitsunfälle versichert ist

1925 Dto. 2.643 Provinzen müssen ab sofort auch

Bestimmungen von Ley 9.688 umsetzen

1926 Dto. 217 Regelt Unfallprävention aus Ley 4.055:

beinhaltet auch Hygienevorschriften

1940 Ley 12.631 Ändert Ley 9.688: Paragraf zu

Maschinenarbeit gestrichen, Familie oder

Bekannte, die gelegentlich aushelfen aus

Entschädigung ausgeschlossen

1931 DFL 178 Arbeitsgesetzbuch: Normen aus 4.055

bleiben überwiegend erhalten und werden

geordnet

1944 Dto. 21.425 Neues Verfahren zur Einklage der

Entschädigung und deren Feststellung,

AN darf Arzt aussuchen, dessen Kosten

werden nur bedingt vom AG gedeckt

1941 Dto. 655 Aktualisierte Regelung zu Hygiene- und

Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz:

strengere Vorschriften, Prävention

1946 Dto. 13.937 Versicherung Industrie: deckt auch

Unfälle außerhalb der Arbeit ab (ab min.

10 Arbeitsjahren), auch mentale

Arbeitsunfähigkeit, sondern

temporärer/permanenter Arbeits-

unfähigkeit, min. 10 Dienstjahre (außer

bei Arbeitsunfällen), Definition

Behinderungsgrade, totale Behinderung:

3,33 % der normalen Pension mal min.

20 Arbeitsjahre // partiell: von

Behinderungsgrad Abhängig

1952 Ley 10.383 Reform Pflichtversicherung: Beiträge der

AN (5 %), AG (10 %) und Staat (5,5 %),

Anspruch auf Krankengeld bei Unfällen

außerhalb der Arbeit, Pensionshöhe min.

30 % des Durchschnittslohns im Beruf,

1955 DL 650 Ändert Ley 9.688: alle Unselbstständigen

abgedeckt, Arbeitsweg auch

eingeschlossen, Obergrenze für alle

Entschädigungen erhöht, AG muss

Kosten für Prothesen übernehmen

Page 98: Sozialgesetzgebung unter lateinamerikanischen Diktaturen ...

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Anspruch auf Pension auch bei Unfällen

außerhalb der Arbeit (wenn total/partiell

arbeitsunfähig), min. 52 Wochen

Beiträge, unter 65 Jahre

1968 Ley 16.744

(gilt bis

heute)

Schafft universelle, verpflichtende

Unfallversicherung für Unselbstständige:

Arbeitsvertrag als Basis, Finanzierung

über AG-Beitrag (1 %), auch Arbeitsweg

abgedeckt, auch während Gewerkschafts-

tätigkeit, ausgeschlossen durch höhere

Macht oder nicht arbeitsbedingt, starke

(finanzielle) Anreize zur Prävention z.B.

erhöhte Beiträge, Recht auf gratis

Behandlungen, Entschädigung und

Umschulung bei Invalidität vom ersten

Arbeitstag weg, Recht auf 85 % des

Lohns bei temp. Arbeitsunfähigkeit (max.

52 Wochen), Umschulung bei Invalidität,

(leichte partielle Invalidität: einmalige

Entschädigung // schwere partielle Inval.:

Pension 35 % des ML // totale Inval.:

Pension 70 % des Lohns, wird um 30 %

erhöht, falls Hilfskraft benötigt wird)

1958 DL 4.834

(Aramburu)

Ändert Ley 9.688: Volljährige AN

können Entschädigungen als einmalige

Zahlung verlangen

1968 DFL 1 Statut des Militärs: eigenes System für

Unfälle und Krankheiten durch Dienst,

tw. Je nach Schwere des Unfalls bis zu

gleichem Lohn eins gleichrangigen,

aktiven Mitgliedes, auch Recht auf

medizinische Versorgung

1960 Ley 15.448 Ändert Ley 9.688: Hebt Obergrenze bei

Todesfällen und totaler Behinderung an,

bei temporärer Arbeitsunfähigkeit wird

Tageslohn bezahlt

1973 Dto. 313 Reglementiert Art. 3 der Gesetzes 16.744

zur Unfallversicherung für Schüler und

Studenten (Unfälle zuhause

ausgeschlossen), Recht auf Behandlung

1968 Ley 18.018

(Ongania)

Ändert Ley 9.688: temporäre

Arbeitsunfähigkeit: Anspruch auf 75 %

des Tageslohns pro Tag; ab 30. Tag

100 %

1980 DL 3.500 Neues Pensionssystem: Beiträge AN

(10 %), nur bei Unfällen in Freizeit (bei

Arbeit gilt weiterhin Ley 16.744)

Invaliditätspension solang kein Recht auf

Alterspension, Recht auf min. 50 % des

ML, steigt pro Jahr um 5 %, Invalidität

muss von 3 Chirurgen festgestellt werden

1971 Ley 18.913 Ändert Ley 9.688: Schließt ab sofort

auch ausdrücklich öffentliche Bedienstete

ein, alle Unselbstständigen

1980 DL 3.501 Senkt Beiträge für Unfallversicherung

von 1 % auf 0,85 %

1972 DL 19.587

Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz:

gilt für jeden Arbeitsplatz, Schutz des

Lebens, Prävention, schafft Services für

Hygiene und Arbeitsmedizin (Check-

Ups, Statistiken, etc.), bei Umsetzung

Verpflichtungen für AN und AG

1988 Ley 18.768 Erhöht Beiträge für Unfallversicherung

von 0,85 % auf 0,90 %

1979 Dto. 351 Reglementiert DL 19.578: Gebäude-

vorschriften, Lärm, Handhabung von

Maschinen, Hygienevorschriften am

Arbeitsplatz, Brandschutz, Sanktionen

bei Nichterfüllung, etc., ab min. 150

Arbeitern muss einen internen medizini-

schen und hygienischen Dienst haben

Streik- und Gewerkschaftsrecht

Chile Argentinien

Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt

1917 Dto. 4.353 Arbeitskonflikt: Schlichtungsverfahren,

Streikankündigung 5 Tage zuvor (10

wenn Wasserversorgung, etc.), evtl.

Zwang zu Schlichtungsverfahren

1937 Dto. 15.772 Konditionen für Gewerkschaften, um

juridische Persönlichkeit zu erlangen z.B.

Interessensvertretung, dürfen sich nicht

in Politik und Religion einmischen

1924 Ley 4.056 Schafft Schlichtungsräte und

Schiedsgerichte für Streitfälle zw. AG

und AN, Verfahren, um Einigung zu

erreichen, Streiks als Mittel anerkannt,

aber nur ultima ratio, eher

unternehmensintern und nicht

übergreifend vorgesehen

1943 Dto. 2.669

(1943

derogiert)

Reglementiert Funktion von

Gewerkschaften: AN- oder AG-

Organisationen, freiwillige

Mitgliedschaft, um eigene Interessen zu

fördern, Einmischungsverbot in Politik,

dürfen keine Ideologie vertreten die nicht

„nationalen Werten“ entspricht, dürfen

nicht aus Ausland oder von Parteien

finanziert werden, AN-Gewerkschaften

dürfen nicht durch AG finanziert werden

Page 99: Sozialgesetzgebung unter lateinamerikanischen Diktaturen ...

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1924 Ley 4.057 „Industrielle Gewerkschaften“: nur

unternehmensintern, nur Ausnahmefälle

mehrerer Unternehmen, Arbeiter +

Angestellte (bis 4000 pesos), ab 25

Mitarbeitern, zwingend, Aufgaben sind

Verbesserung der Arbeitsbedingungen

und Löhne (Interessensvertretung),

vertreten durch gewähltes u. bezahltes

Direktorium, Kollektiv-verträge //

„Berufsgruppen-Gewerkschaften“:

Personen der gleichen Berufsgruppe,

freiwillig, ausgeschlossen öffentl. Dienst,

über Unternehmensebene hinweg,

Verteidigung gemeinsamer Interessen,

automat. Austritt bei Arbeitslosigkeit

1945 Dto. 23.852 Regelt Gewerkschaften:

Vereinigungsfreiheit (nach Beruf,

Industrie, Unternehmen, etc.),

Interessensvertretung (u.a.

Versicherung), Abstufung der

Gewerkschaften nach „Graden“,

„gewerkschaftliche Persönlichkeit“ als

rechtlicher Status

1927 DFL 2.100 Arbeitsgerichte (Privatwirtschaft):

Aufbau, Funktionsweise, in erster Linie

Konflikt zw. Arbeit und Kapital, wie bei

Klage vorzugehen ist,

Berufungsverfahren, etc.

1945

DL 536

(1955

derogiert)

Öffentliche Sicherheit: Anstachelung zu

Streik im öffentlichen Dienst mit 6

Monaten - 3 Jahren Haft geahndet, 1

Monat - 2 Jahren Haft bei Fortführung

eines illegal deklarierten Streiks in

Privatwirtschaft, 2 Monate – 3 Jahre Haft

bei Streiks in Privatwirtschaft, die aus

nicht mit Arbeitsbedingungen

zusammenhängen

1928 Dto. 2.148 Reglementiert Ley 4.057: Oberbehörde

Wohlfahrtsministerium, nur arbeitende

Mitglieder Gewerkschaft, administrative

Tätigkeiten und Werbung für

Gewerkschaft außerhalb der Arbeitszeit,

öffentl. Dienst ausgeschlossen,

1949 Verfassung

von 1853

Verfassungsreform: Vereinigungsfreiheit

(Gewerkschaften), Interessensvertretung

1931 DFL 178 Arbeitsgesetzbuch: Vereinigungsrecht

(außer öffentl. Dienst, Staatsbetriebe,

Agrarsektor) und Streikrecht, industrielle

& Berufsgruppen-Gewerkschaft, Aufbau

(Direktorium), Gewerkschaftsführer

dürfen nicht grundlos entlassen werden,

reglementiert Arbeitsgerichte,

Schlichtungsverfahren verpflichtend

(durch permanenten Schlichtungsrat) vor

Streik, bei Gefährdung der Öffentlichkeit

durch Streik kann Regierung Arbeiter

einsetzen, Schiedsgericht wenn

Schlichtung fehlschlägt, Schiedsspruch

verpflichtend (min. 6 Monate)

1957 DL 10.596

(1958

derogiert)

(Aramburu)

Arbeitskonflikt: Arbeitsdirektion kann in

jeden Konflikt intervenieren, Schlichtung

angestrebt (innerhalb v. 15 Tagen), dann

Schiedsverfahren, Streik durch AN &

AG während Verfahren und im öffentl.

Dienste & Gesundheit illegal, sonst

Streik mit 3 Tagen Vorwarnung legal

1937 Ley 6.026 Interne Sicherheit: Anstiftung und

Aufrechterhaltung von Streiks, die Ziel

haben öffentl. Ordnung zu stören &

Streik im öffentl. Dienst sind Delikte

1957 Verfassung

von 1853

Verfassungsreform: Führt Art. 14 bis.

(über Arbeitsrechte) ein, Recht auf

Vereinigungsfreiheit und Streikrecht

1941 Ley 7.295 Privatangestellte: Gemischte

Mindestlohn-Kommission (AG & AN

bzw. Gewerkschaft pro Region)

1958 DL 934

(Aramburu)

Streikverbot für 40 Tage vor Wahl (durch

Übergangsregierung/Junta beschlossen),

auch Entlassungs- und Versetzungsverbot

1945 Dto. 839

(Rios)

Ändert Arbeitsgesetzbuch: regelt

Arbeitskonflikte, kein Streik oder „lock-

out“ solange nicht alle Mittel erschöpft

wurden, Verfahren für Forderungen

(zuerst Petition an AG, Schlichtungs-

verfahren und Schiedsgericht)

1958 Ley 14.455

(1973

derogiert

20.615)

Regelt Gewerkschaften: garantiert

Vereinigungsfreiheit, Gewerkschaften

haben Recht sich mit ähnlichen

zusammenzuschließen (auch

Konföderationen), Gewerkschaften um

Interessen den AN zu vertreten, zwei

Arten der Gewerkschaften

(unternehmensintern & nach

Berufsgruppen), zw. Mitgliedern darf

nicht diskriminiert werden, dürfen auf

soziale Dienste anbieten und

Mitgliedsbeiträge einheben,

Gewerkschaftsführer haben geschützten

Arbeitsplatz, nicht-Einmischung AG 1947 Ley 8.811

(Gonzalez-

Videla)

Gewerkschaften Agrarsektor: eigene

Normen, viele Restriktionen z.B. bei

Streikrecht, dürfen nur pro Farm

gegründet werden (ab 20 Arbeitern),

während Saat- und Erntezeit dürfen keine

Forderungen gestellt werden,

Forderungen einmal jährlich, Besitzer

darf Zusammenkunft auf Grundstück

verweigern, bei Verbesserungen, auf alle

Arbeiter anwendbar

1959 Ley 14.786 Arbeitskonflikt: bevor direkte

Kampfmaßnahmen ergriffen werden

Meldung an zuständige Behörde und

verpflichtendes Schlichtungsverfahren

(max. 15 Tage), nur wenn alle Mittel

erschöpft wurden legaler Streik möglich,

nicht Landwirtschaft & Hausarbeit

1948 Dto. 5.839 Gesetz zur Verteidigung der Demokratie: 1966 Ley 16.936 Arbeitskonflikt (Übergangslösung): Staat

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(Gabriel

Gonzalzs)

(derogiert

1958)

Organisationen und Aktionen, die

Kommunismus vertreten bzw. generell

anti-demokratisches Gedankengut

verbreiten, sind verboten, auch Personen

die öffentl. Sicherheit gefährden

(darunter auch Anstiftung zu illegalen

Streiks), hohe Geldstrafen, Streiks im

öffentl. Dienst illegal, Gewerkschafts-

recht wird hochgehalten

kann zu Schiedsgericht verpflichten wird

innerhalb von 5 Tagen begonnen

(gleichzeitig Verbot von Streiks), im

Falle das nationale Wirtschaft bzw.

sozialer Friede gefährdet sind oder wenn

mehrere Provinzen betroffen sind,

Beweise vorzubringen, Schiedsspruch

gleicht Kollektivvertrag (1 Jahr gültig)

1953

(1960)

DFL 256

(DFL 338

Alessandri)

Öffentlicher Dienst: Streikverbot bei

Androhung von fristloser Entlassung,

(dürfen sich nicht in Gewerkschaft

zusammenschließen oder beitreten)

1966 Dto. 969 Reglementiert Ley 14.455: Definition

Gewerkschaftsarten und -grade

1958 Ley 12.927 Innere Sicherheit: jeder Streik oder

„lock-out“ im Bereich öffentlicher

Dienstleistungen oder gilt als Delikt

(auch Anstiftung dazu), besonders bei

wichtigen Industrien

1970 Dto. 2.477 Gewerkschaften 1. Grades (AN gleicher

Berufsgruppen), Gewerkschaften 2.

Grades (Zusammenschluss mehrere

Gewerkschaften 1. Grades), Gewerk-

schaften 3. Grades (Zusammenschluss

mehrere Gewerkschaften 2. Grades)

1966 Ley 16.455 Arbeitsverträge: Gewerkschaftsführer

und -Vertreter, sowie Anwärter auf

solche Posten genießen

Entlassungsschutz,

1970 18.610 Regelt Obras Sociales: verbindet Obras

Sociales legal mit öffentl. Dienst oder

Gewerkschaften, Budget primär für

Gesundheitsversorgung zu verwenden,

Arbeitsvertrag notwendig (Familie

mitversichert), Beitragsfinanzierung (2 %

AG, 1 % AN + 1 % für Familie bzw. 2 %

bei Pensionisten)

1967 Ley 16.625 Bauerngewerkschaften: Vereinigungs-

freiheit, min. 100 bzw. 25 Mitglieder

(nicht auf Farm beschränkt, abhängig von

Region), dürfen Föderationen bilden, (Bis

1970 400 Gewerkschaften mit 100.000

Mitgliedern), auch AG Gewerkschaften,

verheiratete Frauen brauchen keine

Zustimmung zum Beitritt, Interessens-

vertretung, Kollektivverträge, Aufbau,

landwirtschaftl. Schlichtungsverfahren

und Schiedsgerichte, Streikrecht

(unabkömmliche Arbeiten müssen aber

gesichert sein z.B. Erhaltung Ernte),

Bildung in Arbeits-/Gewerkschaftsrecht

1973 Ley 20.615

(Peron)

(1979

derogiert)

Regelt Gewerkschaften:

Vereinigungsfreiheit, Grade, Aufgaben,

Struktur, Recht Beiträge von Mitgliedern

zu fordern bzw. Quote von denen, die

Sozialleistungen in Anspruch nehmen

wollen (nichts zu nicht-Mitgliedern),

„unredliche Praktiken“ nur auf Seiten der

AG (Subversion d. Gewerkschaften,

Einmischung, Verhandlung verweigern),

Gewerkschafter geschützter

Arbeitsplatz , verbietet staatl.

Intervention in Gewerkschaften

1970 Dto. 519

(Frei)

Verfassungsänderung Art 14: Freiheit der

Arbeit und Schutz Vereinigungsfreiheit

und Streikrecht, Gewerkschaften sind frei

1974 Dto. 1.045 Reglementiert Ley 20.615: auch Arbeiter,

die nicht Gewerkschaftsmitglieder sind,

müssen Beiträge zahlen

1970 Dto. 825 Reglementiert und schafft triparitätische

Kommission: für Kollektivlohn-

verhandlungen, je nach Berufsgruppe, 3

AN- & 3 AG-Vertreter und 3

Regierungsrepräsentanten

1974 Ley 20.638

(Peron)

Ley 16.936 retroaktiv ab 01.01.74 gültig:

leicht abgeändert, Gesetz wurde

permanent

1973 DL 12 Entzieht CUT (Central Unica de

Trabajadores) juristische Persönlichkeit

und verbietet sie komplett, wegen

Einmischung in Politik

1974 Ley 20.840 Nationale Sicherheit: gegen jede Form

der Subversion, 1 – 3 Jahre Haft bei

Anstiftung zur Fortführung eines illegal

deklarierten Streiks, 2 – 6 Jahre Haft bei

mutwilliger Beschädigung von Firmen-

eigentum

1973 DL 198

(Junta)

Übergangsnormen zu Gewerkschaften:

dürfen in keinem Fall polit. Aktivitäten

nachgehen, legt fest wie viel Arbeitszeit

Funktionär für Gewerkschaft aufwenden

darf, während Kriegs- oder Belagerungs-

zustand gilt, dürfen Gewerkschaften sich

nur für Informationsveranstaltungen oder

zur internen Organisation treffen

1976 Ley 21.261 Hebt übergangsmäßig das Streikrecht auf

bzw. verbietet alle Handlungen, die

Produktion behindern

1975 Dto. 890 Staatssicherheit: allgemeines Streikverbot

wenn nicht an Gesetz gehalten, Androhung von Haft bei illegalem Streik

und Haft oder Geldstrafe bei lock-out

1976 Ley 21.270 Intervention in Zusammenschluss der

Gewerkschaften (CGT): Vorwurf nicht mehr im Interesse der Arbeiter zu

handeln, blockiert alle Konten und Fonds

der CGT, erlaubt vorläufig staatliche

Intervention in Gewerkschaften

1979 DL 2.200 Arbeitsrecht: Ab 15 permanenten

Arbeitern, sollen diese für

Verhandlungen mit AG Vertreter stellen

(falls keine Gewerkschaft), Vertreter sind

auch vor Entlassung geschützt

1976 -

1982

Div. Suspendiert vorläufig Art. 18 (Ley

20.615), der Intervention staatliche in

Gewerkschaften verbietet

1979 DL 2.756 Organisation Gewerkschaften:

Vereinigungsfreiheit (privat & öffentl.),

1976 Ley 21.400 Streikrecht bzw. Fabrikschließung (AG –

„lock-out“) können jederzeit als

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Entlassung wegen Zugehörigkeit

unzulässig, neue Kategorien (Betriebs-

gewerkschaft, mehrerer Unternehmen,

Selbständiger, Bauwesen); Interessen-

svertretung und -artikulation,

Kontrollfunktion, min. Mitgliederzahl

erhöht, Bauerngewerkschaften aufgelöst

aufgehoben werden, falls nationale

Sicherheit gefährdet, bei Zuwiderhandeln

Geld- und Gefängnisstrafen (letztere nur

für AN)

1979 DL 2.758

(derogiert

1987)

Kollektivverhandlungen: einmal jährlich,

öffentliche Verwaltung ausgeschlossen,

kann von Gewerkschaft ausgehen, muss

es nicht, nicht an Verhandlungen

teilnehmen dürfen Lehrlinge und

Personen mit Führungsposten oder

Personen, die entlassen/einstellen dürfen,

Streikrecht wenn Verhandlungen

scheitern, AG Recht auf lock-out, AG

muss keine SV-Beiträge während Streik

zahlen, nach 60 Tagen Streik

„freiwillige“ Kündigung, Streikverbot in

öffentlicher Dienstleistungen (die

Wirtschaft, Gesundheit oder nat.

Sicherheit schaden können) in diesen

Fällen verpflichtender Schiedsspruch,

Gewerkschafts-föderationen und -

konföderationen dürfen nicht verhandeln,

Fokus eher auf Individualverhandlungen,

nur Lohn oder Arbeitskonditionen

verhandelbar, schützt Gewerkschaftsrecht

und Verhandlungsrecht,

1977 Dto. 385 Derogiert Dto 1.045/74: nur von

Gewerkschaftsmitgliedern Beiträge

1979 DL 2.950 Ändert DL 2.758: Streikende dürfen von

5. Tag vor Streik bis zum 60. Tag nach

Anfang nicht entlassen werden

1979 Ley 22.105

Gewerkschaftsrecht: Recht auf Bildung

v. Gewerkschaften (außer polit. Gründe),

Ausübung der Interessensvertretung eher

auf Provinz beschränkt, freiwilliger

Beitritt bzw. nicht Beitritt, Geldspenden

von externen Quellen unzulässig, Pflicht

zu verhandeln

1980 DL 3.464 Bestätigt neue Verfassung: Streikverbot

öffentliche Bedienstete, Vereinigungs-

freiheit bzw. Gewerkschaftsrecht

garantiert, Gewerkschaften dürfen nicht

in Politik eingreifen bzw. Partei ergreifen

1980 Ley 22.269 Obras Sociales: bleiben bestehen, dürfen

nicht mehr von Gewerkschaften

finanziert werden, Unabhängigkeit von

Gewerkschaften. öffentl. Dienst von

eigen Gesetz geregelt, Beitrags-

finanzierung (4,5 % AG, 3 % AN + 1 %

pro Familienmitglied), Budget von

Umverteilungsfond verwaltet, man kann

aus Obra Social austreten

Mutterschutz

Chile Argentinien

Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt

1917 Ley 3.186 Verpflichtende Kinderkrippen in

Unternehmen mit mehr als 50

Arbeiterinnen, Babies bis 1 Jahr, Stillen

erlaubt

1924 Ley 11.317 Reguliert Arbeit von Kindern und

Frauen, Industrie und Gewerbe,

verpflichtenden Karenz 6 Wochen nach

Geburt (außer Familienbetriebe) in

Gewerbe und Industrie, geschützter

Arbeitsplatz, Entlassungsverbot,

Kinderkrippen

1924 Ley 4.054 Schafft verpflichtende Versicherung für

Arbeitende, Arbeiterinnen haben

Anspruch auf medizinische Betreuung

während und nach der Schwangerschaft,

professionelle Geburtshilfe, 50 % Lohn-

zuschuss erste 3 Wochen nach Geburt

1925 Dto. 2.699 Reglementiert Kinderkrippen in

Unternehmen, ab 50 Arbeiterinnen

verpflichtend, Babies bis 1 Jahr, dürfen

stillen

1925 DL 442 Mutterschutz: Industrie und Gewerbe,

Recht auf Karenz (40 Tage vor + 20 Tage

nach Geburt), geschützter Arbeitsplatz,

Entlassungsverbot,

Kinderkrippen ab 20 Arbeiterinnen

1934 Ley 11.933 Mutterschutz: Industrie und Handel,

Arbeitsverbot (30 Tage vor + 45 Tage

nach Geburt), Karenz bei vollem Lohn,

Beitragsfinanzierung (Arbeiterin,

Arbeitgeber, Staat), geschützter

Arbeitsplatz, Entlassungsverbot

1931 DFL 178 Arbeitsgesetzbuch: Arbeitsverbot (6

Wochen vor + 6 Wochen nach Geburt),

geschützter Arbeitsplatz,

1934 Ley 12.111 Mutterschutz für staatliche Bedienstete:

Karenz 6 Wochen vor + 6 Wochen nach

Geburt, volle Entlohnung, geschützter

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Entlassungsverbot, während Karen 50 %

des Lohns, Kinderkrippen und Stillrecht

Arbeitsplatz, Entlassungsverbot

1931 DFL 226 Gesundheitsgesetzbuch: kostenlose

medizinische Versorgung in allen

während Schwangerschaft bis nach

Geburt, Einkommensschwache auch ohne

Versicherung, Stillpflicht bis 5. Monat,

Verbot Muttermilch zu verkaufen

1936 Dto. 80.229 Schaffung der Mutterschaftskasse: davor

SV zuständig, Staatsbedienstete zahlen

nicht ein, Recht auf professionelle

Feststellung der Schwangerschaft,

Behandlungen für Schwangere,

Geburtshilfe

1952 Ley 10.383 Ändert Gesetz 4.054, Mitversicherung

Kernfamilie, med. Untersuchungen und

Geburtshilfe für Ehefrauen, Schwangere,

die mind. 6 Monate Beiträge gezahlt

haben, haben Recht auf vollen Nettolohn,

Arbeitsverbot 6 vor + 6 Wochen nach

Geburt, Heimarbeiterinnen

ausgeschlossen

1936 Ley 12.341 Schafft Direktion für Mutterschaft &

Kindheit: Oberbehörde, zuständig für

Statistiken, Hygienepropaganda,

Kontrolle der Leistungen an Schwangere

und Kinder, Servicezentren in allen

Provinzen, führt Stillpflicht von Müttern

ein

1953 Ley 11.462 Ändert Kapitel zu Mutterschutz in

Arbeitsgesetzbuch: ALLE Arbeiterinnen

+ Angestellte + Agrarsektor +

Hausarbeiterinnen stehen 6 Wochen

Karenz vor + 6 Wochen nach Geburt zu

bei vollem Lohn, während

Schwangerschaft und 3 Monate danach

schwere Arbeiten (z.b. schwer schleppen)

verboten

1947 Ley 13.012 Gesundheitsgesetzbuch: kostenlose

Gesundheitsversorgung für alle armen

und unversicherten Bürgern in staatlichen

Krankenhäusern, spezielle Leistungen an

Schwangere inbegriffen

1966 Ley 16.511 Ändert Arbeitsgesetzbuch: Kinder bis 2

Jahre dürfen in Kinderkrippen in

Unternehmen bleiben

1968 Ley 18.017 Finanzielle Transferleistungen:

einmaliger Betrag für Kind bei Geburt,

voller Lohn während Karenz als

„Mutterschaftsbeihilfe“

1968 DFL 725 Ändert Gesundheitsgesetzbuch: Gesund-

heitsversorgung der Mutter bis 6 Monate

nach Geburt, Muttermilch ist Eigentum

des Kindes, Stillpflicht (ohne Limit)

1968 Dto. 3.082 Inkludiert auch Staatsbedienstete in Ley

18.017

1973 Ley 17.928 Ändert Arbeitsgesetzbuch: Karenz auf 12

Wochen nach Geburt verlängert bei

vollem Lohn

1974 Ley 20.744 Arbeitsvertrags-Gesetz: Karenz 45 Tage

vor und 45 Tage nach Geburt (oder 30 +

60 Tage), Kündigungsschutz 7,5 Monate

vor und nach Geburt, Unternehmens-

krippen vorgesehen, aber nie geregelt

1978 DL 2.200 Änderung Arbeitsgesetzbuch:

Mutterschutz gilt für alle

Unselbstständigen im öffentlichen Dienst

und Privatwirtschaft, Kündigungsschutz

während gesamter Schwangerschaft und

1 Jahr nach Geburt, Finanzierung

Kinderkrippen allein Arbeitgeber

1975 Dto. 1.405 Kinderbeihilfe bereits während der

Schwangerschaft, Arbeitnehmerinnen im

öffentlichen Dienst werden bezüglich des

Mutterschutzes in Gesetz 20.744

inkludiert, nicht jedoch Arbeiterinnen in

Staatsbetrieben

1985 Ley 18.418 Lohn, der während Schwangerschaft

ausgezahlt wird, wird ab sofort durch

Familienbeihilfs- und Arbeitslosenfond

verwaltet, dadurch geht Finanzierung an

Staat

1978 Ley 21.824 Fügt bei Gesetz 20.774 hinzu, dass bei

Frühgeburt, die Karenzzeit, die wegen

verfrühter Geburt nicht in Anspruch

genommen wurde, nach Geburt

angehängt werden kann

Unentgeltliche Bildung

Chile Argentinien

Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt

1860 Lei Jeneral

de

Instruccion

Primaria

Primärbildung: staatlich, unentgeltlich,

für Jungen & Mädchen, 1 Schule/1000

Einwohner, KEINE Schulpflicht

1884 Ley 1.420 Grundschulbildung: 6 Jahre Schulpflicht,

Bildung unentgeltlich, säkular, vorerst

nur Großraum Buenos Aires und

abhängige Territorien

1885 Ley sobre

Instruccion

Secundaria

y Superior

Sekundär- und Tertiärbildung: min. 1

Bildungseinrichtung pro Provinz, beides

unentgeltlich

1905 Ley Láinez

(4.874)

Gesetz 1.420 auf gesamtes Staatsgebiet

ausgeweitet, „nationale Schulen“ in

Provinzen gebaut (lt. Verfassung Bildung

Kompetenz der Provinzen), hilft dabei

Nationalbewusstsein zu bilden

1920 Ley 3.654 Führt 4 Jahre Grundschulpflicht ein 1943 Dto. 18.411 Religionsunterricht wird in Primär- und

Sekundärbildung wieder in regulären

Lehrplan aufgenommen

1928 DL 7.500 Bildungsreform: Bildung ist Aufgabe des

Staates, Schulpflicht muss zw. 7 – 15

Jahren erfüllt werden

1944 Dto. 14.538 Regelt Berufsausbildung in

Sekundärstufe, neuer Schultyp

„Fabriksschulen“ (escuela fabrica)

1930 Dto. 5.291 Primärbildung: Schulpflicht 6 Jahre, 1947 Ley 13.047 Staatl. Subvention an private Bildung,

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muss bis zum 16. Lebensjahr erfüllt

werden, Arbeitsverbot bis 18 wenn dies

nicht gewährleistet ist, staatl. Subvention

an Privatschulen, die unentgeltlich sind

nur wenn Schule Regeln des Bildungs-

ministeriums akzeptiert, staatl. Lehrplan,

Schutz Lehrer vor unbegründeter

Entlassung, Mindestlohn, Register von

Privatschulen erstellt, Gebühren staatl,

geregelt

1949 Dto. 5.969 Regeln für Schülervertretung und extra-

curriculare Aktivitäten, letztere v.a. durch

Schüler organisiert, sollen

Persönlichkeitsbildung dienen und

fließen in „Charakternote“ ein

1952 Ley 14.184 Zweiter „Fünfjahresplan“ Regierung

Perón, mehr spezialisierte Schulen ab

Sekundärstufe, mehr Fokus auf

moralischer & ethischer Entwicklung

1951 Ley 9.864 staatl. Subvention pro Schüler (v.a. für

staatl. Primär- und Sekundärschulen, aber

auch unentgeltliche Privatschulen), deckt

50 % der Kosten pro Schüler ab

1952 Ley 14.126 Buch „Razon de mi Vida” der

„spirituellen Chefin der Nation“ Eva

Perón als Pflichtlektüre in Primär- und

Sekundärschulen

1953 DFL 191 Schafft Schülerbeihilfs-Service: für alles

was Schüler brauchen (Materialien,

Uniformen, etc.), 80 % des Budgets für

Nahrung reserviert

1955 Ley 14.401 Schafft Religionsunterricht wieder ab

1964 Ley 15.720 Schafft nationalen Rat für Schülerbeihilfe

und Stipendien: Ziel ist Chancen-

gleichheit für alle, richtet sich noch

stärker an arme Schüler & Großfamilien,

80 % Regelung für Nahrung gestrichen

1958 Ley 14.473 Das „Lehrendenstatut“: Legt

weitreichende Rechte und Pflichten des

Lehrpersonals fest (Reglementiert durch

Dto. 17.003)

1965 Dto. 27.952 Bildungsreform: Aufbauendes

Bildungskonzept (Kindergarten bis

Universität), 8 Jahre Schulpflicht

1960 Dto. 12.179 Privatschulen: legt Funktionsweise und

Prüfungsmodalitäten fest, staatliche

Inspektionen

1973 DL 179 Reorganisation des Bildungssystems

aufgrund „unhaltbaren Zustands der

Anarchie“ deklariert (sehr allgemein)

1964 Dto. 371 Privatschulen: Integration der

Privatschulen ins Bildungssystem,

Bedingungen für Anerkennung,

Mindeststandards, Lehrpläne, etc.

1974 DL 456 Subvention von unentgeltlichen

Privatschulen

1970 Ley 18.586 Kompetenztransfer zurück an Provinzen,

derogiert Ley Láinez (aber eher de jure

als de facto)

1974 Dto. 824 Dezentralisierung: regionale

Koordinationsstellen für Bildung werden

eingerichtet, sollen Dezentralisierung im

Schulbereich vorantreiben

1975 Dto. 2.770,

2771, 2772

Drei zentrale Dekrete zur internen

Sicherheit, Vorgehen gegen Subversion,

1975 Dto. 786 Verordnet Kosteneinsparung durch Staat,

besonders stark im Bildungsbereich

gespart

1978 Ley 21.809 Kompetenztransfer der Vor- und

Grundschule an Provinzen,

Effizienzargument (offiziell), auch

Finanzierung (geplante Kostensenkung)

1975 DL 1.131 Subvention DL 456 nun pro Schüler

bezahlt

1979 Ley 22.047 Schafft Föderalen Rat für Kultur und

Bildung: soll koordinieren, beraten und

die allgemeinen nationalen Bildungs-

prinzipien festlegen, Mindeststandards

1975 Dto. 29 Förderung des Patriotismus und

Nationalismus z.B. verpflichtendes

Aufmarschieren und singen der Hymne

1975-

1982

div. Dekrete Verbot zahlreicher Bücher (z.B. Historia

de la Revolución, La Historia Presente),

wegen subversiver Inhalte bzw.

„Glorifizierung des Terrorismus“

1978 Dto. 917 Schrittweise Kompetenzabgabe im

Bildungsbereich an Gemeinden:

1980 Dto. 2.620 Führt „Bildung in Moral und

Staatsbürgerkunde“ als verpflichtenden

Teil der Primär- und Sekundärstufe ein,

um nationale Werte zu stärken und

argentinische Geschichte zu lehren

1980 DL 3.476 Subvention an unentgeltliche

Privatschulen, müssen gewisse

Bedingungen erfüllen, monatl. Zahlung

1980 Dto. 8.144 Reglementiert DL 3.476: subventionierte

Schule muss staatl. Lehrplan akzeptieren,

min. & max. Schüleranzahl pro Klasse,

Subvention auch von tatsächlich

Anwesenheit abhängig

1990 Ley 18.962 Gesetz im Verfassungsrang über Bildung:

Mindeststandards Primär- und Sekundär-bildung, staatliche und Gemeinde-

kompetenzen, breite Definition von

„Bildungseinrichtung“, nationale

Ordnung und Sicherheit zentrale Punkte

des Gesetzes, nur Primärbildung

verpflichtend und unentgeltlich, Bildung

darf nicht politisch gefärbt sein, kein

ausdrückliches „Recht auf Bildung“,

Fokus auf Marktöffnung

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Familienbeihilfe

Chile Argentinien

Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt

1937 Ley 6.020 Private Angestellte: zur Verbesserung

ihrer wirtsch. Situation, Familienbeihilfe

für alle legitimen Kinder (für illegitime

Kinder optional), Frau und Mutter (ohne

anderes Einkommen), Kinder bsi 18 J.

außer behindert, Finanzierung über

Beiträge von AN (2 %) und AG (2 %),

von Versicherung verwaltet, Höhe von

Gehalt unabhängig und von Versicherung

festgelegt

1940 Ley 12.637 Bankenstatut: basierte auf

Kollektivvertragsvereinbarung, monatl.

Betrag, für abhängige Kinder bis 16

1941 Ley 6.915 AN Finanzamt: Recht auf

Familienbeihilfe 75 pesos pro Frau, 50

pro Kind

1957 DL 7.913 Handel: Familienbeihilfe für Arbeiter

und Angestellte, hängt mit

Versicherungspflicht zusammen, monatl.

150 pesos pro Kind unter 15 J.

(unabhängig von Gehalt), schreibt

Gründung des Familienbeihilfsfonds

finanziert durch AG-Betrag (4 % aller

Löhne) vor

1942 Ley 7.295 Reformiert Ley 6.020: Beiträge von AG

(1 %) und AN (2 %)

1957 DL 7.914 Industrie: gleich wie DL 7.913, finanziert

durch AG-Betrag (5 % aller Löhne) vor

1943 Ley 7.452 Militär: Recht auf 60 pesos pro Unter-

haltspflichtigen (inkl. uneheliche Kinder

und unverheiratete Töchter jeden Alters),

Kinder bis 21

1957 DL 14.984 Familienbeihilfe im öffentl. Dienst und

Staatsbetrieben (außer gewählte Politiker

und im Ausland arbeitende): gleich wie

DL 7.913, finanziert durch AG-Betrag

(5 % aller Löhne) vor

1943 Ley 7.562 Bildungsministerium: 60 p. pro Kind (bis

18), Frau und Mutter, Kinder bis 21 falls

noch in Ausbildung

1957 DL 16.811 Schafft und reguliert Familienbeihilfs-

kasse für Handel: Arbeitsvertrag als

Voraussetzung, wenn beide Eltern im

Handel tätig sind, wird Beihilfe an Vater

bezahlt

1944 -

1950

Div. Recht ausgeweitet auf Polizei,

Gemeindebedienstete, Bankmitarbeiter,

Hafenarbeiter und Landarbeiter in

Abhängigkeitsverhältnis,

Staatsbedienstete (1945)

1959 Dto. 10.382 Erhöht Familienbeihilfe auf 250,-/Kind

1952 Ley 11.051 Familienbeihilfe für Ehefrau und

gemeinsame Kinder muss vom AG direkt

an die Frau gezahlt werden

1959 Ley 15.223 Inkludiert weitere Gruppen in Privat-

wirtschaft (v.a. Transport) und erhöht

Beihilfe: zusätzl. 100,- wenn Kind Schule

besucht und Familienbeihilfe bis 18 bei

Weiterbildung

1953 DFL 245 Ausweitung: alle versicherten AN Recht

auf Familienbeihilfe, für Ehefrau, Kinder

bis 15, behinderte Kinder, Kinder bis 18

wenn in Ausbildung (erst 1957), für

abhängige Elternteile, gleicher Betrag pro

Unterhaltspflichtigem, Beträge der AG

(11 %) und AN (2 %), Selbständige trotz

Versicherung ausgeschlossen, SV als

Kontrollorgan

1966 Dto. 1.881 Öffentlicher Dienst: Familienbeihilfe pro

Kind & Ehefrau je 2.800,- , pro

abhängigem Elternteil 500,-

1956 Dto. 615 Auch Bezieher von Invaliditätspension

können Familienbeihilfe erhalten

1966 Dto. 2.967

Dto. 4.247

Familienbeihilfe von Dto. 1.881 wird auf

Militär, sowie Personal der Judikative

und Legislative ausgeweitet

1961 Ley 14.688 Ändert Ley 7.295: fügt Schülerbeihilfe

für Kinder (6 – 15) von AN hinzu, die

nicht mehr als 2 Mindestlöhne verdienen,

Beitragspflicht AG, AN, Staat je 2,5 %

1966 Dto. 2.798 Familienbeihilfskassen sollen Geld in

Nationalbank anlegen (Zentralisierung),

nicht Privatbanken

1964 Ley 15.966 Familienbeihilfe bereits während

Schwangerschaft, auch Frauen von

Arbeitern, nur Privatwirtschaft

1968 Ley 17.617 Industrie: Erhöhung Familienbeihilfe für

Kinder und Frau auf 2.700 pesos, + 400

wenn Kind zur Schule geht (dann bis 18),

AG-Beitrag erhöht (11 % aller Löhne)

1970 Ley 17.365

(FREI)

Ändert Ley 7.295: Beiträge AN (2 %)

und AG (21,5 %)

1968 Ley 18.017 Vereinheitlichung und Zentralisierung:

für alle Unselbstständigen (inkl. öffentl.

Dienst), AG-Beitrag (10 %) erhöht Beihilfe, neue Gruppen, extra Beihilfe

Großfamilien (ab 3. Kind unter 21),

Förderung bei Heirat (30.000,-),

Mutterschaftslohn während Karenz =

Lohn, Geburtsbeihilfe (20.000,-), 2.700

pro Ehepartner, 3.200 pro Kind, extra

wenn Kind Grundschule besucht, mehr

extra wenn in Sekundär- oder

Tertiärbildung, geringer für Landarbeiter,

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Heimarbeiter ausgeschlossen,

Familienbeihilfsfond darf Beiträge nur in

Nationalbanken anlegen

1973 DL 97 Schafft einheitliches System der

Familienbeihilfen (ESFB): Entweder

Monats- oder Tagessätzen

1972 Ley 19.523 Ändert Ley 18.017: Jedes Jahr zu

Schulanfang extra 60,- pro Grundschüler

1973 DL 307 Reglementiert ESFB: alle private und

öffentliche AN, alle Selbstständigen, die

bisher Recht darauf hatten, Pensionisten

&Witwenpensionsempfänger. Für

Ehefrau, Kinder bis 18 bzw. 24 (in

Ausbildung) usw., bei Invalidität

doppelter Betrag, Mutterschaftsgeld

während Schwangerschaft in Höhe der

Fbhf., Empfänger ist Person in Familie,

die für Kosten prinzipiell aufkommt,

Finanzierung AG-Beitrag, Schulbeihilfe

aufgehoben,

1973 Ley 20.568 Alle Familienbeihilfen werden auf alle

Pensionisten der Nation ausgeweitet

1974 Dto. 75 Regelt ab wann man als Invalid gilt, muss

alle 3 Jahre überprüft werden (um

Beihilfe weiter zu erhalten), während

Schwangerschaft Fbhf. + wenn arbeitend

Mutterschaftsgeld

1975 Ley 21.063 Personen die Invaliditäts- und

Alterspension beziehen, haben auch

Anrecht auf Familienbeihilfe

1975 DL 869 Behinderte über 18 können entweder

Invaliditätspension beantragen oder als

Unterhaltspflichtige angegeben werden

1976 -

1982

Div. Mehrmals Erhöhung der Beihilfen aus

Ley 18.017

1980 DL 3.501 Beiträge neues SV-system: Fbhf. Ab

sofort nur durch Staat finanziert,

1979 Ley 21.988 Ändert Ley 18.017, Dezentralisierung:

Familienbeihilfsfond darf ab sofort Geld

auch in Provinz- und Gemeindebanken

anlegen

1981 Ley 18.020 Schafft „subsidio familiar“ (SF:

Familienförderung): für Familien mit

geringem Einkommen, armutsgefährdete

Kinder, für Kinder bis 5 Jahre, Mutter

erhält Geld, gleich hoch wie „asignacion

familiar“ (AF: Familienbeihilfe), nur

wenn man nicht asignacion familiar

erhält (bzw. arbeitslos ist)

1981 –

1986

div. 1981: Für Kinder bis 8, ab 6 nur wenn

Schule besucht wird / 1982: auch

Schwangere dürfen für SF ansuchen /

1984: Kinder bis 15, Gesundheitschecks

bis 8 verpflichtend / 1986: Neuvergabe

SF wird begrenzt, nur so viele wie im

selben Jahr erlöschen

1982 DFL 150 Vereinheitlicht Normen zu AF:

Familienbeihilfe und Arbeitslosengeld

aus gleichem Fond, neue Empfänger

hinzugefügt

1987 Ley 18.611 Ändert Ley 18.020: schafft eigenen SF-

Fond, rein staatliche Finanzierung, Erhalt

der SF auf 3 Jahre begrenz, kann

verlängert werden, Mutter bei

Auszahlung bevorzugt

Wohnbaupolitik

Chile Argentinien

Jahr Gesetz-nr. Inhalt Jahr Gesetz-nr. Inhalt

1906 Ley 1.838 Schafft Rat für Arbeiterwohnungen, legt

Kreditkonditionen fest, fördert Schaffung

von Baugesellschaften, Bau hygienischer,

leistbarer Unterkünfte

1905 Ley 4.824 Fördert Bau „billiger Wohnungen“ für

Arbeiter, Tagelöhner und Angestellte mit

geringem Einkommen

1907 Ley 1.969 Erlaubt Finanzierung von RAW über

staatliche Kredite

1911 Ley 8.172 Hypothekarbank darf ab sofort Kredite

für Wohnbau vergeben

1916 Dto. 2.491 Entfernung zw. Fabrik und

Siedlungsgebiet

1915 Ley 9.677 Schafft Nationale Kommission für billige

Häuser (NKBH), fördert Bau billiger,

hygienischer Wohnungen durch Private

und Gesellschaften, Steuerbefreiungen

etc.

1925 DL 261 Mietgesetz: Preisregulierung bei 1917 Dto. / Reglementiert Gesetz 9.677 (genau

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unhygienischen Unterkünften,

Delogierungsverbot, kreiert

Wohnbaugerichte

Bauvorgaben, NKBH darf Grundstücke

erwerben)

1925 DL 308 Zum Bau „billiger Wohnungen“, schafft

dafür Wohlfahrtsrat, unbebaute

Grundstücke in Stadtnähe müssen Bebaut

werden, sonst werden sie besteuert (10 %

p.a.), Wohnbaukredite

1943 DL 1.580 Mietgesetz: limitiert Mietpreise, alle

Delogierungsverfahren eingestellt,

Mindestvertragsdauer von 1,5 Jahren

1926 DL 765 Steuern zu Immobilien, „billige

Arbeiterwohnungen“ ausgenommen

1945 Dto. 11.157 Schafft Nationale Behörde für Wohnbau,

Bau leistbarer und hygienischer

Wohnungen, Wohnbauförderung,

Kredite, Mindeststandards

1931 DFL 33 Schafft zentralen Rat für

Volkswohnungen, Ziel hygienischen und

leistbaren Wohnraum zu schaffen,

verbieten Neugründung von Siedlungen

ohne Infrastruktur

1948 Ley 13.512 Lässt erstmals Aufteilung von Gebäuden

auf mehrere Besitzer zu („propiedad

horizontal“), Wohnungskauf über staatl.

Kredite gefördert, regelt Nachbarschaft

1932

1936

DL 402 Ley

5.950

Schafft Abteilung für Wohnbau

Schafft Kasse f. Volkswohnbau

1949 Ley 13.581 Leerstehende Gebäude müssen gemeldet

und vermietet werden

1934 Dto. 4.882 Baugesetz: Gemeinden für

Baubewilligung und –pläne zuständig,

Mindeststandards müssen vor Bau erfüllt

werden

1954 Ley 14.394 Schafft Rechtsstatus „Familiengut“ für

Eigentum, kann nicht wegen Schulden

gepfändet werden, Registrierung

notwendig, Ehepartner muss bei Verkauf

einwilligen

1937 Ley 6.071 Lässt erstmals Aufteilung von Gebäuden

auf mehrere Besitzer zu, reglementiert

Gemeinschaftsbereiche

1955 DL 6.404 Schafft Nationale Kommission für

Wohnbau, Erforschung der Wohn-

ungsmarktes, Ausarbeitung v. Strategien

für sozialen Wohnbau

1939 Ley 6.334 Schafft Körperschaft für Wiederaufbau

und Hilfe

1956 DL 89 Schafft Generaldirektion für Wohnbau

(eher für Buenos Aires)

1941 Ley 6.844 Mietgesetz: limitiert Mietpreis,

Mieterschutz, Familien mit Kindern

dürfen nicht ausgeschlossen werden

1963 DL 9.004 Schafft Sparkasse und Kreditinstitut für

Wohnbau, Kreditzugang für Bürger

erleichtern, soll Investition privater

Firmen ankurbeln

1948 Ley 9.135 Steuerbefreiungen für sozialen Wohnbau,

reguliert Preise für billige Wohnungen

1964 Ley 16.601 Plan zur Auflösung von Elendsvierteln

(kurz PEVE), staatl. Wohnbau stärken

um Elendsviertel zu verringern, bestimmt

Kreditkonditionen

1950 Ley 9.545 legt jährliche Förderung der Stiftung für

Notfallunterkünfte fest

1965 Ley 16.765 Schafft Sekretariat für Planung und

Wohnbau, Pläne auf Basis von Studien,

auch Infrastrukturprobleme

1952 Dto. 6.077 Soforthilfe für Bewohner in

Elendsvierteln (technische, sanitäre und

materielle Hilfsmaßnahmen bis

Umsiedelung möglich ist)

1967 Ley 17.605 Neue Version Plan PEVE,

Übergangsquartiere, langfristig

Wohnungsprogramm, Kredite für Kauf,

Enteignungen

1953 DFL 224 ändert Baugesetz: Stadtplanung

wichtiger, Enteignungen, Infrastruktur

muss vor Bau bestehen

1969 Dto. 8.468 Steuerbegünstigungen für Wohnbau je

nach Kategorien, auch Material-

vorschriften nach Kategorie

1953 DFL 150 Neues Statut für das umbenannte

„Ministerium für Wohnbau“

1971 Ley 19.124 Steuerbegünstigung für Vermietung in

sozialem Wohnbau

1953 DFL 285 Schafft Körperschaft für Wohnbau

(CORVI), staatlicher soz. Wohnbau,

Stadtplanung, auch Eigenfinanzierung

gefördert

1972 Ley 19.929 Schafft Nationalen Wohnbaufond

(FONAVI) , Zentralisierung sozialen

Wohnbaus, Kredite, stärkerer Fokus auf

arme Bürger

1954 Ley 11.622 Mietgesetz: Mietpreise limitiert,

Mieterschutz, maximale Kaution, Artikel

über Miete an Familien gestrichen, keine

grundlose Mietkündigung möglich

1974 Dto. 1.408 Technische Spezifizierungen für

Wohnbau der durch FONAVI

durchgeführt wird

1959 DFL 2 Reguliert Normen für „leistbare

Wohneinheiten“ (vivienda economica) ,

Material, max. Fläche,

Steuerbegünstigungen, Anreize für

privaten Sektor geschaffen, mehr

Kompetenzen an CORVI

1974 Ley 20.625 Verpflichtung zur Mietvertrags-

verlängerung selbst wenn Vertrag

ausgelaufen ist, Vertragskündigung

verboten, Preisregulierung

1960 DFL 20 Schafft „Zentrale Sparkasse und Kreditinstitut“

1974 Ley 20.686 Lässt Enteignungen im öffentlichen Interesse zu, um dort Wohnsiedlungen zu

errichten

1965 Ley 16.391 Schafft Ministerium für Wohnbau und

Stadtplanung (MINVU), soll alle staatl.

Wohnbauinstitutionen zentral verwalten,

Planung, Studien

1976 Ley 21.342 „Normalisierung der Mietsituation“:

Anpassung der Mietpreise an Marktwert,

bei Zahlungsunfähigkeit sofortige

Mietkündigung möglich

1968 Ley 16.741 Über irreguläre Wohnverhältnisse und

Eigentumstitel, definiert Rolle v. Siedlern

und Staat, Eigentumstitel nur wenn

Gebiet Infrastruktur besitzt, Schutz vor

illegalem Verkauf nicht

1977 Ley 21.498 Hebt Gesetz 20.686 zu Enteignungen

wieder auf

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„urbanisierter“ Gründe

1972 Ley 17.663 Regelt Konditionen für Wohnbaukredite,

regelt auch Vergabe v. Wohnbaukrediten

an Militär

1977 Ley 21.499 Lässt Enteignungen im „öffentlichen

Interesse“ zu, keine genaue Definition

was das bedeutet

1974 DL 519 Regulierung über „Notviertel“, definiert

zwei Arten: Typ A bekommt

Infrastruktur, Typ B wird abgerissen, soll

Wohnsituationen legalisieren

(Eigentumstitel), Umsiedlungspläne,

Enteignungen, für Umsetzung

Gemeinden verantwortlich

1977 Ley 21.581 Finanzierung und Reglementierung von

FONVI, primäres Ziel staatl. sozialer

Wohnbau, stärkere Zentralisierung,

Arbeitgeberbeitrag (5 %) zur

Finanzierung, 20 % bei Selbstständigen,

Punktesystem für Vergabe

Urbanisierungsmaßnahmen, Fokus auf

Einkommensschwachen

1975 Dto. 268 Reguliert Vergabe von soz. Wohnbauten

die Staat bauen lies, Punktesystem, je

nach Sparkraft zwei Kategorien, eigenes

Spar-guthaben als Grundvoraussetzung

für Programm, dann langfristige

Abbezahlung des Rests

1977 Dto. 699 Schafft Sekretariat des Staates für urbane

Entwicklung und Wohnbau, nationale

Hypothekarbank und Föderale Sparkasse

für Wohnbaudarlehen unterstehen dieser

Institution ab sofort

1975 DL 964 Weiterhin Mietspreisregulierung, keine

unbegründete Delogierung, Mieterschutz

1978 Ley 21.771 Soll Immobilienmarkt

„wiederaufbauen“ (Zusatz zu Ley

21.342), Steueranreize für Bau, Gewinn

für soz. Wohnbau nicht besteuert

1975 DL 1.088 Schafft „Programm für sozialen

Wohnbau“, Dezentralisierung,

Gemeindekomitee für Wohnbau als

Hauptorgan für Gestaltung und

Umsetzung von soz. Wohnbau

1980 Ley 22.293 Schafft Arbeitgeberbeitrag für FONAVI

wieder ab

1975 DL 314 Reglementiert DL 1.088 genauer, Regeln

für Enteignung im Namen des sozialen

Wohnbaus

1976 DFL 458 Neues Stadtplanungs- und Baugesetz,

beinhaltet Kapitel zu „leistbaren

Wohnungen“

1977 Dto. 355 Vereint vier staatliche Wohnbau

Institutionen in „Wohnbau und

Urbanisierung Service“ (SERVIU),

darunter auch CORVI

1977 Dto. 622

Dto. 1.292

Legt Bedingungen für Vergabe von

Aufträgen im soz. Wohnbau durch

öffentlicher Ausschreibungen fest

1978 Dto. 188 Reglementiert Vergabe von neuer

„Wohnförderung“ für Immobilien-kauf

am privaten Markt, f. Familien mit

geringem-mittlerem Einkommen, ohne

Rückzahlung

1979 DL 2.552 Derogiert DL 1.088 und schafft neues

Programm, dass sich noch spezifischer an

ärmste Familien richtet, statt

Gemeindekomitees nun SERVIU

zuständig, Spezifizierung der

Notstandwohnungen

1982 Ley 18.138 Übergibt Gemeinden weitreichende

Kompetenzen um soz. Wohnbau-

programme zu erstellen und umzusetzen,

Mindeststandards, Enteignungen nur in

illegalen Elendsvierteln möglich

1984 Dto. 62 System zur Vergabe von Wohnungen für

besonders bedürftige Familien,

Punktesystem, Bausparkonto bei staatl.

Bank nötig

1984 Dto. 74 Einmalige Wohnbauförderung für

Personen mit Bausparkonto, nicht

kompatibel mit anderen Wohnbau-

förderungen, ohne Rückzahlung

1986 Dto. 167 Wohnbauförderung für ländliche Gebiete,

auch an arme Familien gerichtet,

einmalige Zahlung, keine Rückzahlung

1988 Dto. 44 Schafft „einheitliches System für

Wohnbauförderungen“, trotzdem bleiben

andere Förderungen erhalten