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    KAPITEL II AUFBRUCH NACH EUROPA

    TyrannischerAufklrer

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    FOTOCREDIT

    Peter der Groe modernisierte das Land

    mit Gewalt. Als Flottenbauerund Feldherr formte er aus seinem Reicheine europische Gromacht.

    Schlacht von Narwa

    im November 1700

    Gemlde von 1846

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    AUFBRUCH NACH EUROPA

    Von MATHIAS SCHREIBER

    Der ideale Herrscher istnicht nur klug und ener-gisch, sondern auch ground stark diesesWunschbild wurde in der

    Geschichte manchmal wahr. Ein zupa-

    ckender Riese ist der Russe Pjotr Alexe-jewitsch Romanow (1672 bis 1725) be-reits in jungen Jahren. Dem 13-Jhrigenbescheinigt 1685 ein niederlndischerGesandter in Moskau, er habe nicht nurangenehme Gesichtszge, sondern seiso lebhaft am Militrischen interes-siert, dass man von ihm eines Tagesgewiss khne Aktionen und heroischeTaten erwarten knne. Zu diesemZeitpunkt trgt er schon drei Jahre denrussischen Herrschertitel: Zar Peter I.

    Als Erwachsener verfgt Peter berdas Gardema von gut zwei Metern, dademonstriert er schon mal seine Kraft,indem er mit bloen Hnden aus einemsilbernen Teller einen Klumpen knetet.Aber den Ruhmestitel der Groe ver-dient sich der Tatmensch Peter vieleJahre spter am Ende des NordischenKrieges.

    Brutalitt ist ihm lange vertraut. Mitnur zehn Jahren wird er im MoskauerKreml-Palast Augenzeuge eines Blut-bades. Auslser ist eine vertrackte Mi-schung aus Familienzwist und politisch-sozialem Aufstand. Der Familienstreit

    folgt einem klassischen Muster: PetersVater, der reformfreudige Zar AlexejMichailowitsch (1629 bis 1676), hataus zwei Ehen 16 Kinder. Zwischenden Clans der beiden Mtter schwelteine Dauerfehde, genhrt vom Wunsch,dass der nchste Zar aus ihrer Liniestamme.

    Gleichzeitig brodelt es bei den Streli-zen, einer Elitetruppe, die 20000 Mannumfasst. Die Soldaten beschuldigen ihreObristen der Unterschlagung von Soldund der Misshandlung. Die Regierunglsst sie gewhren.

    Die Strelizen genieen diesen Macht-gewinn und ergreifen angeblich umden Staat vor seinen Feinden zu scht-zen Partei im Nachfolgestreit der ver-feindeten Zarensippschaften. Im Mai1682 verwstet eine tobende Soldateskadie Residenz der Zaren. Die Strelizen t-ten etliche Verwandte und Freunde Pe-ters, darunter zwei seiner Onkel. Sie wer-den ber Balustraden und Balkonbrs-tungen in darunter aufgerichtete Lanzenund Hellebarden gestrzt, in Stcke ge-hackt und unter spttischem Geschrei S.

    34:CULTURE-IMAGES/FAI;S.36:AKG

    Zar Peter I. grndet

    St. Petersburg als neue Hauptstadt

    Gemlde von 1862

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    nahe der Basilius-Kathedrale zur Schaugestellt.

    Nun setzen die Strelizen durch, dasszusammen mit dem zehnjhrigen Peter,

    der kurz zuvor zum Zaren gewhlt undvom Patriarchen besttigt worden war,auch sein sechs Jahre lterer, geistig behin-derter Halbbruder Iwan gekrnt wird.Fr die beiden Unmndigen bernimmtIwans energische und fhige SchwesterSofija, 24 Jahre alt, die Regentschaft, diesie sieben Jahre lang ausben wird.

    Niemals, schreibt der HistorikerErich Donnert in seiner Biografie Peterder Groe (1987), habe Zar Peter diegrauenvollen Szenen vergessen, die sichvor seinen Augen abspielten, als Ange-hrige seiner Familie von Strelizen zu

    Tode gespiet wurden.Der Strelizen-Alptraum sucht Peter

    sieben Jahre spter abermals heim. Mitnun fast schon 18 Jahren steht er kurzvor der Volljhrigkeit, doch seine Halb-schwester Sofija will die Macht nicht ab-geben. Weil er sich dagegen strubt,schrt sie neue Unruhen.

    I

    n einer August-Nacht des Jahres1689 melden zwei Kremlwch-ter dem jungen Zaren, der sichmit seiner Mutter in einem Dorf

    bei Moskau aufhlt, Soldatenaus der Hauptstadt seien im Anmarschund wollten ihn tten. Peter flieht inpanischer Angst, springt barfu, imNachtgewand, auf ein Pferd und galop-piert in den nchsten Wald. Diener brin-gen ihm Kleidungsstcke. Dann reitet ernach Norden in das befestigte Sergius-Dreifaltigkeitskloster. Ihm wird klar:Eine Entscheidung ist fllig, Sofija mussdem jungen Zaren weichen oder ihnentmachten.

    Der oberste Kirchenpatriarch ergreiftPeters Partei, die auslndischen Offizie-

    re, die russische Sldnertruppen in Mos-kau befehligen, fgen sich den Anord-nungen aus dem Kloster. Die RegentinSofija muss den Kreml verlassen und insNeue Jungfrauenkloster im MoskauerSdwesten ziehen. Drei Scharfmacherder Strelizen werden gefoltert und ge-kpft.

    Peters Position festigt sich, auchwenn seine Auseinandersetzung mit denwiderspenstigen Strelizen damit nochnicht beendet ist. Vorerst plagen ihn

    andere Sorgen: Schon als 16-Jhriger hater in einem Dorfschuppen ein halbver-rottetes englisches Segelboot entdeckt,das er von einem hollndischen Zimmer-mann herrichten lie. Spter nennt erdiesen kleinen Kahn liebevoll das Gro-vterchen der russischen Flotte ebendiese Armada aufzubauen ist der grteEhrgeiz des volljhrigen Zaren. Das Pro-blem dabei: Russland besitzt nur in Ar-changelsk, das im hohen Norden gelegenist, einen eigenen Zugang zum Meer,doch der ist den langen Winter ber zu-gefroren.

    Ohne einen eisfreien Zugang zur Ost-see oder zum Schwarzen Meer kannRussland weder als Handelsmacht nochmilitrisch ressieren. Der sprichwrt-lich gewordene Drang zum Meerbestimmt Peters Strategie. Sie mndetin zwei Kriege: gegen die Krimtatarenund Trken im Sden und danach ge-

    Um als Handels- und Militrmacht zu ressieren, brauchtRussland einen eisfreien Zugangzum Meer.

    Zar auf EuropatourDie wichtigsten Auslandsreisen von Peter I. Die Groe Gesandtschaft 1697/98

    1716/17

    400 km

    Nordsee Ostsee

    Schwarzes

    Meer

    Moskau

    Riga

    Reval

    Libau

    Prag

    BrestWarschau

    Kiew

    Krakau Lemberg

    Knigsberg

    Danzig

    Berlin

    SchwerinHamburg

    Stettin

    Wien

    Coppen-brggePyrmont

    Kopenhagen

    AmsterdamLondon

    Portsmouth

    Paris

    BrsselAachen

    Straburg

    Dresden

    Petersburg

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    AUFBRUCH NACH EUROPA

    gen die Schweden im Nordwesten,welche die baltische Ostseekste be-herrschen.

    Nach einem ersten, gescheiterten Ver-such, die Trkenfestung Asow auf demLandweg zu erobern, beweist er ein-drucksvoll seinen fr Russlands Aufstiegentscheidenden Charakterzug: ungeheu-

    re Willenskraft, zhe Zielstrebigkeit ge-rade auch nach Rckschlgen.

    An einem Nebenfluss des Don erwei-tert Peter lokale Bootsbauwerkstttenzu einer groen regelrechten Werft, wo

    er in wenigen Monaten 30 Galeeren undHunderte von kleineren Barken auf Kiellegen lsst. Arbeitskrfte lsst er zwangs-weise rekrutieren.

    Bald ist es so weit: Peter kann die Ver-sorgung Asows ber die See blockieren.Vier Wochen nach der zweiten Belage-rung kapituliert die Festung. Ein lange

    verstopftes Nadelhr zum SchwarzenMeer ist geffnet. Auf einen Schlag istPeter eine europische Berhmtheit.

    Doch der Zar lsst sich vom frischenRuhm nicht blenden. Er wei sehr wohl,dass er ohne auslndische Schiffsbauer,Navigatoren und Artilleristen die Tr-ken nicht besiegt htte.

    So beschliet er am Jahresende 1696,eine Groe Gesandtschaft der Lernbe-gierigen nach Westeuropa zu schickenund selbst daran teilzunehmen.

    Diese Gesandtschaft ist jedoch ein

    provozierender Versto gegen eine jahr-hundertealte Tradition. Der obersteHerrscher Russlands, der Beschtzerder Kirche verlsst niemals zu Friedens-zeiten die russische Erde, schon garnicht monatelang und inkognito.

    Peters Bruch mit der Tradition ermu-tigt seine Gegner, eine Verschwrung

    anzuzetteln. Wieder sind Strelizen be-teiligt; die Parole lautet: Wer das hei-lige Russland an das Ausland verrt, dersoll sterben. Doch die Putschistenfliegen auf. Peter rcht sich furchtbar.Unter der Folter gestehen die Verschw-rer, mit der entmachteten Sofija konspi-riert zu haben. Ihnen werden reihen-

    weise die Gliedmaen und die Kpfeabgehackt.

    Sechs Tage nach diesem barba-rischen Schlachtfest, im Mrz

    1697, bricht die Groe Ge-sandtschaft gen Westen auf,eines der anrhrendsten und

    komischsten Reiseabenteuer der Ge-schichte. Die Gesandtschaft, das sindmehr als 250 Leute, darunter einige Dut-zend Adlige, Leibgardisten, drei ber-setzer, ein Stallmeister, vier Kmmerer,

    CULTURE-IMAGES/FAI

    Moskaus reaktionre Eliten verbeln dem Zaren seineFreundschaft mit den Deutschen.

    Schiffe zu Zeiten von Zar Peter I.

    lgemlde von 1911

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    zwei Goldschmiede, sechs Trompeter,70 besonders grogewachsene Soldaten,auerdem rzte, Geistliche, Kche, vierZwerge, ein Affe.

    Die Reise der Kutschen, Reiter undBagagewagen dauert 18 Monate. Siefhrt ber Riga und das Polen zugehri-ge Kurland wo die trinkfreudigen Rus-

    sen wirken wie getaufte Bren nach Knigsberg. Hier absolviertPeter einen Kurs in Artillerie-technik. Und er trifft den bran-denburgischen Kurfrsten Fried-rich III., den spteren Preuen-knig Friedrich I.

    In Knigsberg bleibt der Zarfast zwei Monate, dann gelangter ber Berlin nach Coppenbrg-ge bei Hameln. Der genussfreu-dige Peter lernt bei einem vier-stndigen Abendessen mit Musikund Tanz zwei Damen des west-lichen Hochadels schtzen: dieKurfrstin Sophie von Hannoverund ihre hbsche, gebildete Toch-ter Sophie Charlotte. Ihnen er-scheint Peter trotz burischerManieren als ein auerordent-licher Mann.

    Die nchsten Stationen derwunderlichen Russenreise sindAmsterdam und die nicht weit da-von entfernte Werftstadt Zaan-dam. Schon am Tag nach der An-kunft lsst sich ein gewisser Pe-

    ter Michailow bei einer privatenWerft, mit Werkzeug und in znf-tiger Arbeitskleidung, als Zim-mermann anstellen. Doch die In-kognito-Maskerade und derDeckname Michailow knnennicht verhindern, dass schon balddie Leute neugierig nach Zaan-dam eilen, um diese seltsamenRussen zu bestaunen wie Zoo-Tiere. Derimpulsive Zar ohrfeigt einen besonderszudringlichen Gaffer.

    Ein Teil der Gesandtschaft setzt aufeinem britischen Kriegsschiff ber nach

    England, wo Knig William III. fr denrussischen Gast eine kleine Seeschlachtinszenieren lsst. Peter interessiert sichhier fr eine Kanonengieerei, englischeSrge, ein Hospital und das britischeMnzwesen, das er zum Vorbild russi-scher Geldreformen whlt.

    ber Dresden und Prag reist die Za-ren-Crew dann nach Wien.

    Hier erreicht ihn die Nachricht, vierRegimenter der Strelizen, die an der pol-nisch-litauischen Grenze stationiert wer-den sollten, marschierten meuternd auf

    Moskau zu. Der Herrscher bricht dieReise ab, er gelangt nach Krakau, wo ererfhrt, General Patrick Gordon habe dieRebellion niedergeschlagen.

    Jetzt findet Peter noch Zeit fr einTreffen mit dem Sachsen August II.(der Starke) in der Nhe von Lemberg.Der sinnenfrohe Kurfrst ist zugleich

    neuer polnischer Knig. Peter verstehtsich mit ihm blendend und gewinnt sei-ne Untersttzung fr den Versuch, dieSchweden aus dem Baltikum zu jagen.

    Der Groe Nordische Krieg zwi-

    schen Russland samt seinen Alliiertenund Schweden wirft seinen Schattenvoraus. Aber vorher hat der rachschti-ge Zar daheim noch eine Rechnung zubegleichen.

    Und wie er sie begleicht: Am 27. Sep-tember beginnt er auf dem LandsitzPreobraschenskoje Verhre von Streli-zen, wobei Folterungen mit der gekno-teten Lederpeitsche, mit glhendemHolz oder Eisen und ber offenem Feuerdie Regel sind. Verhrt und gemartert(Nase abschneiden, Zunge krzen) wird

    Tag und Nacht, und das mehrere Monatelang. In dem kleinen Ort brennen stn-dig rund 30 Scheiterhaufen. Bis Februar1699 werden 1182 Strelizen aufgehngtoder gekpft, etliche auch auf dem RotenPlatz und an den Stadttoren Moskaus.Zum Neuen Jungfrauenkloster, in demSofija interniert ist, werden 230 Rebellen

    geschafft und im dortigen Klos-tergarten an mehreren Galgenaufgeknpft.

    Peter legt selbst bei Folterun-gen mit Hand an. Fnf Strelizensollen, erzhlt man sich spter, so-gar von ihm selbst zur Erffnungdes Blutgerichts gekpft wordensein.

    Der heimgekehrte Zar be-schert seinen Landsleuten nochandere Zumutungen. Eben ersthat der Hochadel die Ankunft desReisenden gefeiert, da nimmtsich Peter eine Schere und schnei-det etlichen Bojaren die langenBrte ab. Wie die Brte, so lsstPeter auch die langen hemdarti-gen Kaftansche, Mntel undGewandrmel stutzen. Prakti-schere ungarische oder deutscheKleider werden den Stdtern ver-ordnet, auch mal als modischesMuster ans Stadttor gehngt.Moskaus reaktionre Eliten ver-beln dem Zaren seine Freund-schaft mit Deutschen, die in der

    Hauptstadt leben. Die aber faszi-nieren ihn als modern, gebildetund gut organisiert.

    Mit diktatorischem Furor ver-einfacht Peter auch die russischeSchrift, modernisiert die Verwal-tung und das Militr und passtden russischen an den westeuro-pischen Kalender an (das neue

    Jahr beginnt nicht mehr am 1. Septem-ber, sondern am 1. Januar). Schlielichschafft er die Unsitte ab, dass der Unter-gebene bei der tiefen rituellen Verbeu-gung vor dem Herrscher mit der Stirn

    den Boden berhren muss. Treue undDiensteifer schtze er mehr als solcheSelbsterniedrigung, lsst Peter verlauten.

    Der rastlose Zar: Whrender seine erste Ehefrau inein Kloster verbannt undberkommene Traditio-nen kappt, holt er aus zu

    einem politischen Doppelschlag. Im Juli1700 schliet er in Konstantinopel, nachzweijhrigem Waffenstillstand, Friedenmit der Trkei. Und kaum hat er im S-CU

    LTURE-IMAGES/FAI

    Peters Halbschwester Sofia

    im Neuen Jungfrauenkloster

    Gemlde von Ilja Repin, 1879

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    AUFBRUCH NACH EUROPA

    den den Rcken frei, erklrt er im Au-gust Schweden den Krieg.

    Die Ostsee-Gromacht wird regiertvon dem gerade mal 18 Jahre alten KnigKarl XII., einem Wittelsbacher, auchHerzog von Bremen und Verden. ImBndnis mit Sachsen-Polen und Dne-mark will der Zar das schwedische Bal-

    tikum in die Zange nehmen. Doch das

    misslingt grndlich. Trotz ihrer zahlen-

    migen berlegenheit erleiden die Rus-sen in einem Schneesturm eine schwereNiederlage bei Narwa.

    Ihr Blutzoll ist hoch, etwa 10 000 Toteund Verwundete werden gezhlt, fnf-mal so viele wie die Opfer auf schwedi-scher Seite; 20000 Russen, darunterzehn Generle, werden gefangen genom-men.

    In ganz Europa wird Karl XII. als be-gnadeter Feldherr bewundert. Der Er-folg steigt dem Schweden zu Kopf.

    Der gedemtigte Zar resigniert abernicht. In uerster Anspannung des Vol-

    kes, auch durch immer neue Steuern,macht Peter sein Land wieder kampf-fhig. Immer grere Teile der Bevlke-rung mssen Rekruten stellen. Aus jederdritten Kirche werden Glocken geholt,geschmolzen und zu Kanonen verarbei-tet eine frhe Form totaler Mobilma-chung. Neue Eisenwerke, Leder- und

    Tuchmanufakturen liefern der ArmeeWaffen, Schuhe und Uniformen. Schonein Jahr nach der Niederlage von Narwaverfgen die Russen ber 300 neue Ka-nonen, die Armee kommt bald auf200000 Soldaten.

    Schon im Sommer 1701 geht Peterwieder in die Offensive. Der Zar erobert

    weite Teile von Livland und Estland,

    whrend Karl XII. in Polen Krieg fhrt.

    Peters Truppen hausen furchtbar in die-sen Gebieten, brennen Drfer und Hfenieder, plndern Lagerhuser, verws-ten Felder, verschleppen Familien derFeind soll nichts Essbares, nichtsBrauchbares mehr finden. VerbrannteErde.

    Im Mai 1703 erobern die Russen dieFestung Nyenschanz nahe der Mndungder Newa in den Finnischen Meerbusen.Die neue Festung, die Peter mitten imMndungsdelta bauen lsst, erhlt eineKirche, benannt nach den Aposteln Pe-ter und Paul. Der Zar tauft den Ort, den

    er zur Hauptstadt des Landes machenwird, Sankt-Piterburch, St. Petersburg Personenkult im religisen Gewand(siehe Seite xx).

    Doch Karl XII., hnlich willensstarkwie sein russischer Gegner, gibt nichtauf. Nachdem es ihm gelungen ist, Au-gust den Starken aus dem Bndnis mit

    Russland herauszubrechen, marschierter am Jahresende 1706 mit einer gln-zend ausgersteten Armee von 40000Mann gen Moskau. Die Russen kombi-nieren eine Strategie des Rckzugs insLandesinnere mit gezielten Nadel-stichen gegen die Nachschublinien desFeindes. Wo auch immer die Schweden

    durchziehen, finden weder Tiere nochSoldaten Nahrung.Schon bald dezi-mieren Hunger,Klte und Krank-heit die schwedi-sche Armee, wieein Jahrhundertspter die Trup-pen Napoleons.

    Im Sommer1709 kommt eszur Entschei-dungsschlacht vorder ukrainischenFestung Poltawa.Karl XII. verfgtnur noch ber22000 Soldaten.Ihnen stehen etwa42000 Russen ge-genber. Karl ver-liert die Bataille.Zusammen mit ko-sakischen Verbn-deten flieht er

    ber die Grenze in die Trkei. 7000

    Schweden sind tot, 3000 geraten in Ge-fangenschaft. Auf russischer Seite sindetwa 1300 Soldaten gefallen.

    Peters Sieg bei Poltawa bringt im Nor-dischen Krieg die endgltige Wende.Rasch aktiviert der Zar die Bndnissemit Sachsen-Polen und Dnemark, auchBrandenburg-Preuen tritt der Allianzbei. Peter beherrscht nun die baltischenGebiete des schwedischen Knigreichs.Bemerkenswert ist die Toleranz, mit derder russische Monarch den Stdten undden Ritterschaften ihre Religionsfreiheitund Privilegien garantiert. Der Zar be-

    sttigt Deutsch als Amtssprache unterden Schweden gab es solche Freirumenicht.

    1721 finden im schwedisch-finni-schen Nystad die Verhandlungen bereinen Friedensvertrag statt, sie dauernber drei Monate. Ihr Ergebnis: Schwe-den tritt Livland, Estland und Ingerman-

    BRIDGEMANART.COM

    Aus jeder dritten Kirche werden Glocken geholt,geschmolzen und zu Kanonen verarbeitet.

    Rebellische Strelizen harren

    auf dem Roten Platz in Moskau

    ihrer Hinrichtung (lgemldevon Wassili Surikow, 1881)

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    land, die Provinz rund um St. Petersburg,fr ewige Zeiten an Russland ab, erhltaber Finnland zurck.

    Der Friede von Nystad stellt fr Peterden grten Erfolg seines Lebens(Erich Donnert) dar. Russland ist jetztdie Fhrungsmacht im nordosteuropi-schen Raum. Im Oktober treten in St. Pe-

    tersburg der Senat und der Heilige Sy-nod zusammen, jene von Peter einge-setzten obersten Instanzen weltlicherund geistlicher Kompetenz, die dem Za-ren zuarbeiten wie Ministerien. Sie bit-ten, scheinbar von sich aus, den Herr-scher um die Annahme der EhrentitelVater des Vaterlandes, Allrussischer Kai-ser und Peter der Groe. Der Zarnimmt an: festlich in der Dreifaltigkeits-kathedrale, auslndische Wrdentrgersind zugegen. Der Kaisertitel, in dem dasgestiegene russische Selbstbewusstseinzum Ausdruck kommt, erinnert auch anden alten Anspruch Moskaus, es sei nachdem Fall von Byzanz 1453 das DritteRom.

    Peter bleibt der unermdliche Er-neuerer. 1722 fhrt er fr alle Beamtenund Wrdentrger in Staat und Militreine Rangtabelle mit 14 Klassen ein.Nicht Abstammung und Familien-Nim-bus allein sollen ber die gesellschaftli-che Stellung entscheiden, sondern per-snliche Fhigkeiten und Verdienste:Der Dienstadel tritt dem Erbadel zurSeite.

    Whrend der Zar auch noch diese Re-form auf den Weg bringt, brechen seineSoldaten 1722 zum persischen Feldzugauf. Es ist der Versuch, am KaspischenMeer Fu zu fassen. Die Russen besie-gen die Perser, Baku wird russisch.

    1724 grndet der Monarch in St. Pe-tersburg die russische Akademie derWissenschaften. Gesprche darber hater wohl schon 1711 mit dem GttingerPhilosophen Gottfried Wilhelm Leibnizgefhrt. Die neue Institution soll unterden Russen solche ausfindig machen, diegelehrt sind, was zunchst ziemlich

    schwierig ist. Unter den ersten 17 Aka-demiemitgliedern befindet sich kein ein-ziger Russe. Im Mai 1724 krnt Peter sei-ne Frau Katharina zur Kaiserin, ohne sieausdrcklich als seine Nachfolgerin aus-zurufen, was sie dann aber 1725 fr zweiJahre wird.

    Die dramatische Art, wie der Zar An-fang 1725 stirbt, passt zu seinem turbu-lenten Herrscherleben: Auf einer In-spektionstour nahe der Newa-Mndungentdeckt Peter ein Boot, das der Sturmauf eine Sandbank geworfen hat. Einige

    Soldaten, die nicht schwimmen knnen,kmpfen in der rauen See um ihr ber-leben, andere versuchen, den gekenter-ten Kahn wieder flottzumachen. Peterlsst sich zur Sandbank rudern, ungedul-dig springt er schon vor der Sandbankber den Bootsrand, um schneller helfenzu knnen.

    Das eiskalte Wasser bekommt ihmschlecht: In der Nacht qulen ihn Fieberund Schttelfrost, sein notorisches Bla-sen- und Nierenleiden meldet sich heftigzurck. Scheinbar erholt er sich wiederund erlaubt sich noch auf einem nach-weihnachtlichen Fest exzessiven Alko-holgenuss. In der Nacht zum 8. Februarruft er nach seiner Tochter Anna, derspteren Herzogin von Holstein-Gottorf.Als sie kommt, ist er schon bewusstlos,er stirbt gegen sechs Uhr morgens.

    Wer war nun Peter derGroe? Gro war ergewiss nicht nur kr-perlich. Den einengilt er als Genie, das

    dem breiigen Riesenland eine erkennba-re und bersichtliche Form gegebenhabe; den anderen gilt er als Mrder, alsgekrnter Tiger, als Vernichter altrus-sischer Identitt, als ungewhnlich grau-samer Tyrann; wieder anderen als Sit-tenverderber wegen seiner Unterwer-fung der Kirche unter die Autoritt desStaates und wegen seiner Liebe zu den

    Frauen sowie zu den regelmigen Nar-ren- und Saufkonzilen.Peter hat Russland im Kreis der eu-

    ropischen Mchte etabliert. Er zivili-sierte das Reich durch barbarische For-men des Kampfes gegen die alte Barba-rei, durch politische, militrische undalltagskulturelle Reformen; zugleich hater durch den Ostsee-Zugang die Han-delsbeziehungen zu England, Holland,Frankreich und den deutschen Staatenentscheidend intensiviert. So war ertrotz vieler taktischer Fehler, die der im-pulsive, launische, vielleicht manisch-

    depressive Mann machte, ein bedeuten-der Stratege.

    Gawril Derschawin, ein russischerDichter des 18. Jahrhunderts, stellt mitBlick auf Peter den Groen die rhetori-sche Frage: War Gott es nicht, der inihm niederstieg? Eins war er gewiss:ein kolossal auergewhnliches, wider-sprchliches, zugleich sympathischeswie abstoendes Individuum. Und frdas Russland jener Jahre war er trotzseiner despotischen Wutausbrche: einGlcksfall.CU

    LTURE-IMAGES/FAI

    PETERS ZWEITE EHEFRAU

    Analphabetin

    auf dem Thron

    Eine 19-jhrige baltische Schn-

    heit faszinierte den Herrscher:Martha Skawronskaja, frhere

    Hausmagd des lutherischenPropstes in Schwedisch-Livland,

    wurde im Herbst 1703 die Gelieb-te des Zaren. Ein Jahr zuvor war

    sie mit ihrem Hausherrn in russi-sche Gefangenschaft geraten. Im

    Februar 1712 heiratete Peter I. die

    zur orthodoxen Kirche bergetre-tene Bauerntochter, die den Na-

    men Katharina erhielt. Seine zwei-te Ehefrau begleitete ihn sogar

    bei Feldzgen, etwa nach Moldau.

    Katharina erwies sich als Sttzeund migende Beraterin ihresimpulsiven Gatten. Der Zar nannte

    sie zrtlich Katherinuschka. Er

    dankte ihr, indem er sie im Mai1724 in der Uspenski-Kathedrale

    im Kreml zur Herrscherin krnen

    lie. Nach Peters Tod im Februar1725 avancierte sie fr zwei Jahre

    zur russischen Herrscherin. Die

    Regierungsgeschfte lie dieAnalphabetin ihren VertrautenAlexander Menschikow erledigen,

    der schon ihrem Mann gedienthatte. Menschikow und Katharina

    verband ihre einfache Herkunft

    und ein Hang zur Verschwendung.Dies frderte die Korruption der

    Untergebenen. Hufige Trinkgela-ge bei Hofe zerrtteten Kathari-

    nas Gesundheit. Sie starb im Mai1727 im Alter von 43 Jahren.

    ZarinKatharina I.