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Markus SpiekerÜbermorgenland

www.fontis-verlag.com

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Für Tabitha,meinen Sonnenaufgang1

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Markus Spieker

Übermorgenland

Eine Weltvorhersage

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.deabrufbar.

© 2019 by Fontis-Verlag Basel

Umschlag: Olaf Johannson, Spoon Design, LanggönsBild Umschlag U1: IIIerlok_Xolms/Shutterstock.com

Foto Umschlag U4: Markus SpiekerBild Umschlag U4 (unten): Canicula/Shutterstock.com

Satz: InnoSet AG, Justin Messmer, BaselDruck: Finidr

Gedruckt in der Tschechischen Republik

ISBN 978-3-03848-164-5

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Inhalt

PrologNacht(Hammelburg & Berlin) ....................................................... 9

Erster TeilGesternlandWarum wir die Welt nicht mehr verstehen........................ 17

1. Hilfe, wir haben uns selbst geschrumpft!Warum wir immer weniger wichtig werden .................. 21

2. Sorry, aber wir sind gerade mit uns selbst beschäftigtWie Asien an uns vorbeizieht ........................................ 25

3. Wir WeltverbessererAuf dem falschen Trip mit dem Außenminister .............. 31

4. Von Marco Polo zu Pippi LangstrumpfWir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt ................. 36

5. Das Judas-PrinzipWas Macht mit uns macht............................................. 44

6. Des einen Leid ist des anderen KarrieresprungbrettDer morbide Charme der Medien ................................... 49

7. Fake HistoryWie uns moderne Mythen in die Irre führen .................. 53

8. Guru-DämmerungGrau ist alle Gender-Theorie. Oder: Welchen Expertenwir vertrauen kçnnen ................................................... 61

9. Besuch beim Herrn des UniversumsWie die Welt wirklich tickt ............................................ 67

10. Generation HannoWarum die Jugend von heute von gestern ist ................. 72

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Zweiter TeilMorgenlandWohin die Welt sich wirklich entwickelt ........................... 75

1. Die Welt wird widersprüchlicherIrre! Uns geht es schlechter, weil es uns besser geht ....... 79

2. Die Welt wird vollerMehr Berghain wagen ................................................... 82

3. Die Welt wird wärmerMorgenstund hat Staub im Mund .................................. 92

4. Die Welt wird jüngerIsch mach disch Altersheim! .......................................... 97

5. Die Welt wird wütenderVçlker, hçrt die Randale! ............................................... 105

6. Die Welt wird härterLast Exit Duisburg ........................................................ 115

7. Die Welt wird klügerEs war einmal eine Bildungsnation................................ 124

8. Die Welt wird weiblicherMännerbeben ................................................................ 130

9. Die Welt wird autoritärer und populistischerDer Sufi, der von Hitler schwärmte ............................... 141

10. Die Welt wird ungleicherBreaking News: Das obere eine Prozent … sind wir selbst! 151

11. Die Welt wird sichererSchlagzeilen sind vom Mars, das Kleingedruckte ist vonder Venus...................................................................... 163

12. Die Welt wird unruhiger – vor allem für ChristenStell dir vor, es ist Krieg, und keiner sieht hin ................ 172

13. Die Welt wird frommer (außer bei uns)Der heißeste Trend des Jahrhunderts ............................. 181

14. Die Welt wird islamischerMullahs ante portas ...................................................... 192

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15. Die Welt wird sinnloserWarum es immer mehr Gottlose gibt, aber sie sichtrotzdem nicht vermehren ............................................ 202

16. Die Welt wird künstlicherHilfe, die Liebesroboter kommen! .................................. 208

17. Die Welt wird schmutzigerDie Revolution verfüttert ihre Kinder ............................ 219

18. Die Welt wird familienorientierterVolle Drçhnung Oxytocin .............................................. 225

19. Die Welt wird exklusiverZurück zum Stammesfeuer............................................ 230

20. Die Welt geht unterDer Killer-Trend ............................................................ 235

Dritter TeilÜbermorgenlandWie wir besser, krisenfester und unsterblich werden ....... 239

1. Volk ohne TraumFokus verändern ........................................................... 244

2. Wo vorne ist, und wie wir dahin kommenStärken stärken ............................................................ 248

3. Zurück zu King KongTradition ist der neue Fortschritt .................................. 254

4. Lob des SozialkapitalismusGemeinschaft festigen ................................................... 259

5. Wo der Dalai Lama Recht hat – und wo nichtKonsumdiät machen ..................................................... 264

6. Und die beste Religion aller Zeiten ist …Sinn suchen .................................................................. 269

7. Der Engel von KarachiGlück bringen ............................................................... 278

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8. Erleuchtung im HimalayaGott glauben ................................................................. 285

9. Jenseits von links und rechtsWegweiser finden ......................................................... 290

10. Agenda 2030Kirche leben .................................................................. 299

EpilogTag(Brooklyn, New York) .......................................................... 309

Anmerkungen ..................................................................... 314

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Erster Teil

Gesternland

Warum wir die Weltnicht mehr verstehen

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Vor dem Aufbruch ins Morgen kommt der Abschied vom Ges-tern.

Ich gehe zwanzig Jahre zurück: 1999. Damals begann meinejournalistische Laufbahn. Die Regierungschefs hießen Schrç-der, Blair, Clinton, Jelzin, der islamistische Terrorismus warnur eine ferne Bedrohung, China immer noch ein bloßer Ge-heimtipp und Deutschland zehn Jahre nach dem Fall derMauer obenauf.

Bei der Millennium-Party am Brandenburger Tor feierte ichmit einer Million Menschen aus Ost und West den Anbruch desneuen Jahrtausends. Modern Talking sang «You’re My Heart,You’re My Soul», und Otto Waalkes riss seine alten Kalauer. DieShow müffelte nach Vergangenheit, aber die Atmosphäre wardennoch von Aufbruchsstimmung geprägt.

Mittlerweile ist das so weit weg, dass ich mich insgeheim fra-ge, warum die abgespeicherten Bilder in meinem Kopf nichtschwarzweiß sind. Die Selbstverständlichkeit von damals ist je-denfalls futsch, genau wie die Idee, das Ende der Geschichte seierreicht und man kçnne die nächsten Jahrhunderte im Chill-Mo-dus verbringen. 1989 ging nicht die Geschichte zu Ende, sondernnur das kommunistische Projekt. Mittlerweile ist auch das libe-ral-kapitalistische Projekt in der Krise.

«Wir leben in verrückten Zeiten», hçre ich oft. Das erinnertmich an den berühmtesten Theaterhelden: Hamlet.

«Die Zeit ist aus den Fugen», klagt er, weil er die Ereignisse umsich herum nicht einsortiert kriegt. Dabei ist das Hauptproblemer selbst. Er schwankt zwischen Aktionismus und Zaudern. AmEnde liegen fast alle Protagonisten, er selbst eingeschlossen, totauf der Bühne.

Ganz so schlimm wird es uns schon nicht treffen. Mit «uns»meine ich vor allem uns Deutsche, aber auch uns Europäer,uns Westler, uns Bewohner des christlichen Abendlandes. VonHamlet kçnnen wir lernen, wie man es besser macht. Nämlich

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indem man die Zeichen der Zeit korrekt diagnostiziert unddann angemessen reagiert.

Es folgen einige sachdienliche Hinweise.

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1. Hilfe, wir haben uns selbst geschrumpft!Warum wir immer weniger wichtig werden

Auch Politiker haben Mantras: Sprüche, die sie so oft aufsagen,dass man glauben kçnnte, sie wollten damit die Welt verändern.Besonders gut gefällt mir das Mantra von Volker Kauder, demlangjährigen Vorsitzenden der Unions-Bundestagsfraktion. Ichkann mich an kaum ein Gespräch mit ihm erinnern, in dem eres nicht aufgesagt hat. Es lautet:

«Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit.»Er hat Recht. Nur kçnnte man seine Einsicht von der Politik

auf die gesamte menschliche Existenz erweitern. Klug ist, wersich der Realität stellt. Umgekehrt ist Wirklichkeitsverlust daswichtigste Kennzeichen von Wahnsinn.

Zur Wirklichkeitserfassung gehçrt die Einschätzung der eige-nen Wichtigkeit. Und hier fängt bei vielen Debatten in Deutsch-land das Problem an. Wir tun so, als würde der Rest der Welt mitgroßem Interesse auf uns schauen, als wären wir eine Groß-macht.

Sind wir aber nicht. Und zwar immer weniger.Vor hundert Jahren war einer von fünfundzwanzig Erdbewoh-

nern deutsch.Heute nur noch einer von hundert.1 Prozent.Das ist, jedenfalls in puncto Personenstärke, unser Gewicht in

der Welt. Am Ende des 21. Jahrhunderts werden es kaum mehrals 0,5 Prozent sein. Wir werden in der Welt dann ungefähr die-selbe Machtstellung haben wie heute das kleine Slowenien inEuropa.

Wir machen unsere geringere Quantität auch nicht durch ge-steigerte Qualität wett. Weil ich ein Bücherliebhaber bin, suche

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ich in allen Metropolen der Welt, die ich bereise, Buchläden auf.In der Abteilung «Klassiker» stoße ich immer noch auf die Werkevon Thomas Mann und Günter Grass. Neuere deutsche Literatur:Fehlanzeige. Und deutsche Kinofilme zeigt in den meisten Län-dern hçchstens das Goethe-Institut.

Der deutsche Export läuft zwar immer noch auf Hochtouren,aber einige Statistiken zeigen, dass unsere Wirtschaft sich imStagnations- oder sogar Abstiegsmodus befindet. Wir fallen zu-rück in den Kategorien Produktivität, Patent-Anmeldungen, Ge-samtwirtschaftsstärke.

Auch unsere Infrastruktur ist in vielen Bereichen entfernt vonder Weltspitze. Der Internet-Empfang ist in manchen Himalaya-Dçrfern besser als in einigen deutschen Landkreisen. Unserewichtigsten çffentlichen Bauvorhaben machen uns weltweit zurLachnummer:

In derselben Zeitspanne, in der es immer noch nicht gelungenist, den Berliner Flughafen BER fertigzustellen, sind alleine in In-dien hundert hochmoderne Flughäfen entstanden. Und in denmeisten davon geht die Abfertigung ruckzuck.

Ganz anders in Deutschland: Wenn ich von Frankfurt nachDelhi zurückflog, wurde manchmal gestreikt. Oder die Anfahrtverzçgerte sich wegen zahlloser Baustellen. Oder die Geräte beider automatischen Passkontrolle waren defekt. Oder die Schlan-gen beim Sicherheitscheck reichten fast bis zum nächsten Ter-minal, weil zu viele Sicherheitskräfte gerade krank waren.

Hochsommerliche Bahnfahrten in Deutschland wurden fürmich zur Tortur, weil immer wieder die Klimaanlage ausfiel.Und auf der Autobahn kam ich wegen der vielen Baustellen oftlangsamer voran als auf Wüstenpisten in Rajasthan.

Zukunftsfähigkeit sieht anders aus.Doch die meisten scheint das nicht zu stçren. Unsere wirt-

schaftliche Zukunftsfähigkeit treibt uns weniger um als das Ab-schneiden bei der Fußball-WM oder beim European Song Con-

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test. Wer unsere Zeitungen liest, kçnnte meinen, der entschei-dende Wettbewerb finde vor allem zwischen Parteien statt – umProzentpunkte bei Umfragen. Dabei ist der Wettbewerb zwi-schen Volkswirtschaften natürlich viel wichtiger. Es geht umMarktzugänge, Fachkräfte, Innovationen.

Junge deutsche Linke, die gegen die Milliardäre im eigenenLand wettern, lassen außer Acht, dass die meisten Milliardärelängst nicht mehr in Europa, auch nicht in Amerika, sondern inAsien zuhause sind – und irgendwann versuchen werden, auchAldi, Siemens und Mercedes aufzukaufen.

Es hat bekanntlich über hundert Jahre gedauert, bis unsereVorfahren den Schock der kopernikanischen Wende verdaut hat-ten. Jetzt kommt die nächste Zumutung, an der wir ebenfalls et-was länger kauen werden, bis wir sie herunterschlucken.

Die Welt dreht sich zwar, aber sie dreht sich nicht um uns undunsere Wünsche.

Deutschland, mit seinen sauber ausgearbeiteten Verwaltungs-vorschriften, erinnert mich immer mehr an einen Zoo, der all-mählich in die Jahre kommt. Die Welt da draußen ist ein Dschun-gel. Und dort herrscht das älteste und gnadenloseste Recht: dasdes Stärkeren. Es reicht nicht, gut zu sein, um sich durchzuset-zen. Man muss besser sein.

Dafür brauchen wir keine neuen Feindbilder. Denn eigentlichwill uns niemand etwas Bçses. Da, wo die Konkurrenz stärkerwird, findet man uns im Gegenteil ganz gut. Deutschland gehçrtseit Jahren konstant zu den beliebtesten Ländern schlechthin. InAsien, wo wir in den letzten Jahrhunderten anders als die Fran-zosen, Engländer und Amerikaner nicht durch Kolonialverbre-chen und Kriege negativ aufgefallen sind, haben wir vielleichtsogar die meisten Fans.

«I like Germany», habe ich fast jedes Mal gehçrt, wenn ichmich als deutsch geoutet habe. Als Begründung kam meistenseine der 3-M-Antworten: Merkel. München – nicht die Stadt, son-

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dern der FC Bayern. Und Mercedes – oder ganz allgemein Ma-schinen und Motorwagen. Wenn ich durch die Gassen in Delhilaufe, halten mir die Anwohner ihre hochgestreckten Daumenentgegen oder wollen Selfies mit mir knipsen.

Krasse Erkenntnis: Die Menschen mçgen uns.Wie der freundliche Unbekannte in Delhis vollster U-Bahn-

Station, der mir vom Fahrkartenschalter bis zum weit entferntenBahnsteig hinterherrannte – mit einem Geldschein, den ich lie-gen gelassen hatte. Zehn Rupien, umgerechnet zwçlf Cent. Ichwar perplex und sagte, er kçnne das Geld gerne behalten. Er be-stand darauf, dass ich es einsteckte, um dann zu fragen, woherich käme.

Auf meine Antwort hin strahlte er: «I like Germany.» Er nanntemir auch den Grund. Irgendwas mit M.

Beliebt statt stark und wichtig, vielleicht ist das gar keine soschlimme Entwicklung. Solange man akzeptiert, dass man sichdavon nicht so viel kaufen kann.

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2. Sorry, aber wir sind gerade mit uns selbstbeschäftigt

Wie Asien an uns vorbeizieht

Was habe ich gelacht damals. 1998 brachte der Comedian Rü-diger Hoffmann eine CD heraus. «Asien. Asien.» Eine spçttischeAuseinandersetzung mit dem Asien-Hype, den es damals schongab. Wirklich daran geglaubt, dass China und seine Nachbarnuns eines Tages überholen würden, haben außer dem 2015verstorbenen Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt aber die we-nigsten.

Wer nach Peking und Shanghai reiste, kam mit Uhren undDVD-Raubkopien im Gepäck zurück. Und mit der Gewissheit:Die sind noch lange nicht so weit.

Inzwischen ist uns das Lachen vergangen. Viele asiatischeLänder ziehen an uns vorbei – zumindest architektonisch.Neun der zehn hçchsten Gebäude der Welt befinden sich çstlichdes Bosporus, dazu viele andere Beton-, Stahl- und Glas-Extrava-ganzen.

Wer Doha besucht, die Hauptstadt des Golf-Staats Katar,kommt aus dem Kopfschütteln nicht heraus. Wer hat sich dieseZick-Zack-Türme, diese Ostereier-Hochhäuser ausgedacht, undwer hat das Geld dafür ausgegeben?

Mein futuristischer Lieblingsbau steht in Dubai, im Schattendes (momentan) weltweit hçchsten Gebäudes, des Burj Khalifa.Von dessen Aussichtsplattform kann man den «Dubai Frame» se-hen, eine Art Triumphbogen, der wie ein Bilderrahmen aussieht,hundertfünfzig Meter hoch.

Für mich hat der Rahmen eine symbolische Bedeutung. Stattdes Abendlands rückt neuerdings das Morgenland die Dinge insBild, setzt die Maßstäbe, gibt Orientierung. Das Momentum, dieDynamik, das grçßte Wachstumspotenzial liegen im Osten. Fast

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zwei Drittel der Weltbevçlkerung leben in Asien. Zählt man Is-tanbul dazu, befinden sich neun der zehn grçßten Städte derWelt auf diesem Kontinent.

Aber es kommt ja nicht nur auf die Grçße an.Eher bescheiden sind die Ausmaße der Wolkenkratzer in Sin-

gapur, sechstausend Kilometer weiter çstlich. Der Stadtstaat am¾quator wurde zur «Smartest City» weltweit gewählt. Nirgendwoist die Infrastruktur moderner, sind die Verkehrsmittel besseraufeinander abgestimmt, ist der Wohlstand grçßer. Ein riesigerEinkaufstempel mit den führenden Luxusläden reiht sich anden anderen. Und im Nationalmuseum erklärt der StaatsgründerLee Kuan Yew (1923–2015) in einem Video aus dem Jahr 1965das nationale Ziel: Man wolle ein multikulturelles Musterlandwerden.

Das ist gelungen, wenn auch um den Preis erheblicher Frei-heits-Einschränkungen und drakonischer Strafbestimmungen.Für Drogenschmuggel gibt es die Todesstrafe, für Graffiti-Schmie-rereien Prügel, für Kaugummi-Einfuhr Gefängnis oder eine hoheGeldstrafe. Singapur gilt, gerechnet auf das Pro-Kopf-Einkom-men und die Lebenshaltungskosten, als reichste Stadt Asiensund als teuerste Stadt der Welt.

Wer sich davon nicht vor Ort überzeugen will, kann das statt-dessen im Kino tun. Singapur ist der Schauplatz eines der erfolg-reichsten Kinofilme des Jahres 2018: «Crazy Rich Asians». Wieder Name verrät, geht es um obszçn wohlhabende Asiaten, dieeine dekadent opulente Hochzeit feiern.

Der Vorspann der knallbunten Komçdie spricht für sich:Rückblende in die neunziger Jahre. Eine Chinesin betritt in Lon-don ein Luxushotel und will die für sie reservierte Suite bezie-hen. Der Rezeptionist kann die Buchung nicht finden undschlägt ihr stattdessen herablassend vor, im Stadtviertel China-town nach einem Zimmer zu suchen: «Das passt bestimmt bes-ser für Sie.»

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Die Chinesin hat eine andere Idee. Sie geht kurz vor die Hotel-tür, erledigt einen Anruf, kauft das Hotel.

Szenen wie diese haben den Film vor allem bei Asiaten zu ei-nem Riesenhit werden lassen. Sie sind stolz darauf, es den arro-ganten Schnçseln im Westen zu zeigen.

Ein paar Filmszenen später folgt, zumindest für westliche Zu-schauer, die nächste Zumutung. Wir sehen die stolze Hotel-Käu-ferin in ihrem Palast in Singapur. Sie trifft sich mit anderen wohl-habenden Frauen – zum Bibelkreis. Gemeinsam studieren sie diePaulus-Briefe. Die Szene entspricht der Wirklichkeit: Christenbilden in Singapur die zweitgrçßte Religionsgemeinschaft. Imteuren Zentrum der Metropole gibt es ebenso viele Kirchen wieShopping-Malls.

Singapur ist da keine Ausnahme. Auch in anderen asiatischenLändern boomt das Christentum, vor allem in Südkorea, aberauch in China. Dort gibt es mittlerweile mehr Christen als inDeutschland. Nicht nur finanziell, auch christlich-spirituell läuftAsien dem Abendland den Rang allmählich ab.4

Technologisch sowieso.

Im Spätsommer 2018 habe ich Shanghai besucht. Schon dieFahrt vom Flughafen in die Innenstadt hat mich schwer beein-druckt. Mit 301 Stundenkilometern schießt der Transrapid durchdie Vororte. Theoretisch kçnnte der Zug noch 130 km/h zulegen,aber dafür ist die Strecke zu kurz.

Als ich aussteige, bin ich umzingelt von Wolkenkratzern, vondenen der «Shanghai Tower» mit 632 Metern am hçchsten ragt.An den Straßenlaternen hängen Plakate für die große «Künst-liche Intelligenz»-Weltkonferenz, die gerade stattfindet. Ich habeleider keine Zeit, selbst hinzugehen.

Und wie sieht es bei uns aus?

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Auf meinem Handy schaue ich nach, welche Nachrichtendie Kollegen in der deutschen Heimat beschäftigen. Es gibtmal wieder Riesen-Zoff in der GroKo. Der Streit um den Noch-Verfassungsschutzchef Maaßen spitzt sich zu. Es geht umsein zukünftiges Gehalt, um die hundertfünfzigtausend Euroim Jahr, ein paar Tausend Euro mehr als vorher. Die Aufregungist groß. Die Diskussionen darüber, wie er künftig eingrup-piert werden soll, wird die deutsche Nation tagelang in Atemhalten.

Von der Künstliche-Intelligenz-Konferenz lese ich dagegennirgendwo etwas. Auch nicht davon, dass die Stadt Shanghai inden nächsten Jahren fünfzehn Milliarden Euro für die Entwick-lung von Künstlicher Intelligenz ausgeben will.

Und China ist gerade in Spendierlaune. Ich erinnere mich aneine Schlagzeile, die erst ein paar Wochen her ist: Da hat die Re-gierung in Peking für Projekte in Afrika insgesamt sechzig Milli-arden Dollar lockergemacht.

Wir beschäftigen uns lieber mit uns selbst. Auch wenn es krassklingt: So führen sich Verlierer auf. Selbstbezogen und blind fürdas, was sich draußen zusammenbraut. Wenn wir uns vor äuße-ren Bedrohungen fürchten, dann vor den falschen. In der aktuel-len Rangliste der «¾ngste der Deutschen» stehen der amerikani-sche Präsident Donald Trump und seine Weltpolitik ganz vorne.5

Die Leute plappern hier die Phantom-¾ngste nach, die ihnen vonden Medien souffliert werden.

In Wirklichkeit werden unser Wertesystem und unser wirt-schaftlicher Wohlstand von ganz anderer Seite bedroht. Dashabe ich jedenfalls in vielen Gesprächen mit hochrangigen deut-schen Diplomaten gelernt. Sie sehen allesamt China als diegrçßte Herausforderung. Sie zeichnen gleichzeitig ein differen-ziertes Bild des Fernen Ostens. Der ist nämlich bei Weitem nichtso einig wie Europa, im Gegenteil. Sämtliche Nachbarn Chinas

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fürchten das Reich der Mitte und setzen deshalb auf Bündnissemit Europa und den Vereinigten Staaten.

Dass Asien unterschätzt wird, liegt auch an der Berichterstat-tung über den Kontinent. Hundert Tote in Afghanistan habenVorrang vor einem Hundert-Milliarden-Euro-Investment der Chi-nesen. Ich habe bei meinen eigenen Beiträgen nicht genau nach-gezählt, aber ich schätze, in den deutschen Nachrichtensendun-gen und auf den ersten Seiten unserer Tageszeitungen kommt«Terror Made in Asia» zehnmal çfter vor als «Business Made inAsia».

Umgekehrt würde es mehr Sinn ergeben. Denn scheiterndeStaaten wie Afghanistan sind traurige Ausnahmen einer ins-gesamt boomenden, hochdynamischen Region, für die Expertenein «Zeitalter des Ehrgeizes»6 ausgerufen haben. Die Innovatio-nen, die im asiatischen Raum geschaffen werden, die Energie-strçme, die hier freigesetzt werden, die Sogkräfte, die hier entste-hen, werden uns massiv verändern – und unter Druck setzen.

Vielleicht wollen wir uns damit einfach nicht beschäftigen,weil diese Entwicklung uns nicht in den Kram und ins Bild passt.

Asien, zumindest ein großer Teil davon, macht uns verrückt,weil einerseits der technologische Fortschritt und der wach-sende Wohlstand nicht zu leugnen sind. Und weil andererseitsdie Freiheitsrechte eingeschränkt werden und die Schere zwi-schen Arm und Reich auseinandergeht. Der Fortschritt ist un-übersehbar – aber er verläuft quer durch die bewährten Katego-rien links und rechts, progressiv und traditionell, liberal undautoritär. Und wir kommen nicht mehr mit.

Eines der berühmtesten Zitate der Filmgeschichte lautet: «Ver-giss es, Jake, das hier ist Chinatown.» Damit endet der Krimi-Klassiker «Chinatown» (1974). Ein naseweiser Detektiv, gespieltvon Jack Nicholson, muss erkennen, dass im asiatischen Teilvon Los Angeles vçllig andere Gesetze gelten und dass er mit

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seinen guten Absichten genau das Gegenteil erreicht hat. Ihmwird zum Verhängnis, dass er glaubt, sich auszukennen. Er hatdamit denselben Fehler gemacht wie viele deutsche Idealisten,die dem Irrtum aufsitzen: Am deutschen Levitenlesen wird dieWelt genesen.

Doch im Rest der Welt ist das Interesse an Moralin der Marke«Made in Germany» gering. Die Musik, nach der global getanztwird, kommt eben zunehmend aus Asien und nicht aus Europa.

Das muss keine schlechte Nachricht für uns sein.Erstens, weil Asien uns nicht als gegnerische Großmacht ge-

genübersteht. Dazu ist Asien viel zu heterogen und sind die dor-tigen Interessensgegensätze zu groß. Zwischen dem libanesi-schen Beirut und dem südkoreanischen Busan, zwischen demkasachischen Astana und dem jemenitischen Aden gibt es vielPlatz und keine gemeinsame Linie.

Zweitens, weil es nach jahrhundertelangem Wissenstransfervon West nach Ost zur Abwechslung wir selbst sind, die bei an-deren in die Schule gehen dürfen. Von Asien lernen heißt unteranderem: lernen, wie man seine eigenen Traditionen hoch-schätzt, wie man der Familie und überhaupt dem Kollektiv einegroße Bedeutung einräumt.

Drittens, weil die asiatische Herausforderung uns dazu zwingt,unseren Fokus zu verlagern: weg von unseren lähmenden Be-findlichkeitsdebatten hin zu dem, was uns in der globalisiertenWelt Wohlstand sichert und Frieden beschert.

Und schließlich tut es auch einfach gut, sich nicht immer fürdas Weltwohl und Weltweh hauptverantwortlich zu fühlen.

Sich dafür interessieren und sich für eine bessere Welt einset-zen sollte man trotzdem.

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