Spielzeitschwerpunkt Henze

20
1 HENZE Eine Annäherung HANS WERNER Saison 2012/13

description

Das Magazin der Semperoper Dresden zu Maestro Hans Werner Henze, dem ein Konzerte, Opern- und Ballettproduktionen umfassender Spielzeitschwerpunkt 2012/13 an der Semperoper Dresden gewidmet ist.

Transcript of Spielzeitschwerpunkt Henze

Page 1: Spielzeitschwerpunkt Henze

1

HenzeE i n e A n n ä h e r u n g

hAns wErnEr

s a i s o n 2 0 1 2 /1 3

Page 2: Spielzeitschwerpunkt Henze

2

Von der schönen Aussicht auf eine Henze-Hommage in Dresden

Jede Generation hat stets nur ein paar Hand-voll Künstler hervorgebracht, deren Schaffen die folgenden Jahrhunderte überdauert. Das ist in allen Kunstgattungen so, auch in der Musik. Zwar haben sich zu jeder Zeit unfass-bar viele Menschen mit den bildenden und darstellenden Künsten beschäftigt, haben ge-schrieben, komponiert und musiziert – doch im Menschheitsgedächtnis verbleiben zu-meist nur die wenigsten. Die Ausnahmen halt.

Michael Ernst

Hans Werner Henze – Humanist der Musik

Hans Werner Henze be i e iner Konzer t -

probe für das fünf te Symphoniekonzer t

der S taatskape l le Dresden am

21. Oktober 1966

Page 3: Spielzeitschwerpunkt Henze

3

Hans Werner Henze ist unbestreitbar eine solche Lichtgestalt des 20. und 21. Jahrhun-derts, von der mit Fug und Recht behauptet werden darf, dass er in ferner Zukunft zu den wesentlichsten Vertretern der europäischen Nachkriegsmoderne gerechnet werden darf. Ja muss! Denn seit Henzes erstem Beschrei-ten der musikalischen Bühne 1943 mit sei-nem Concerto für Violine und Ensemble hat er sich beständig erneuert, ohne je das Be-wahrenswerte des eigenen Stils zu verleug-nen. Der Maestro ist anhaltend kreativ tätig und vermag es nach wie vor, selbst wohlmei-nende »Kenner« immer mal wieder zu über-raschen. So hält er es seit Jahrzehnten.Dieser Komponist, diese Ausnahme Hans Werner Henze wurde am 1. Juli 1926 in Gü-tersloh geboren. Wie glückhaft ist es, gut achteinhalb Jahrzehnte später kein Resümee eines schaffensreichen Lebens notieren zu müssen, sondern mit Rückblicken auf vielfäl-tige Dresden-Bezüge im Wirken des Künst-lers eine Aussicht wagen zu dürfen. Die schöne Aussicht auf eine Dresdner Henze- Hommage! Der Mann hat ja tatsächlich für so ziemlich alle Musiksparten etwas geschrie-ben – und so können sich die Semperoper Dresden, das Semperoper Ballett sowie die Sächsische Staatskapelle Dresden aus dem äu-ßerst reichhaltigen Fundus von Hans Werner Henze-Werken bedienen.Wer ist dieser Hans Werner Henze? Muss da-nach heute wirklich noch gefragt werden? Manchem wird der Name vielleicht gar nichts sagen – dies alsbald breitenwirksam zu ver-ändern, kann auch Chance einer solchen Hommage sein. Anderen gilt er als perfekte Verschmelzung von Musik mit literarischer Sprache. Natürlich, die enge Künstlerbezie-hung zu Ingeborg Bachmann hat sich als prägend herumgesprochen. Henzes frühe Opernstoffe zu Heinrich von Kleist (»Der Prinz von Homburg«) und Wilhelm Hauff (»Der junge Lord«) gehen ebenso auf diese fruchtbare Zusammenarbeit zweier feinsinni-ger Seelen zurück wie Lieder und Nachtstü-cke, Gesangsszenen und Paraphrasen. Er hat Opern zu Libretti des Romanciers Hans- Ulrich Treichel (»Das verratene Meer«, nach Yukio Mishima) sowie des in Dresden gebo-renen Lyrikers und Pfarrers Christian Lehnert

Page 4: Spielzeitschwerpunkt Henze

4

(»Phaedra«) verfasst. Ein früheres Werk ist »Ein Landarzt« nach dem gleichnamigen Gru-sel von Franz Kafka. Und doch ist Hans Werner Henzes Metier, bei allen Bezügen zu Sprache und Literatur, das der Musik. Darin hat der heranreifende Meis-ter Experimente gewagt, Probates gesichert sowie immer wieder Türen und Tore aufgeris-sen, um sich als virtuoser Beherrscher von Wagnis und Wirkungsmacht zu erweisen.Zu unterschiedlichen Zeiten und an unter-schiedlichen Orten ist er mit dem Stempel des politischen Künstlers bedacht worden. Darin konnte Anerkennung ebenso wie Ab-lehnung stecken, mitunter aber auch pure Skepsis. Oder Unwissenheit. Er ist weder in die Schublade des Sinfonikers, noch in die des Kammermusikers zu stecken, denn er hat ausführlich beide Genres bedient. Und mehr noch: Solisten wie Chöre dürfen sich an den vokalen Herausforderungen messen, Instru-mentalkonzerte sind von seiner Handschrift geprägt, Experimente führten ihn zu elektro-nischen Medien. Bei aller Anziehungskraft freier Tonalität und Zwölftönerem bewahrte sich Henze seine Treue, die gewiss eine ach-tungsvolle Liebe ist, zu »klassisch« tonalem Material. Die hat er gepflegt, die pflegt er noch heute. Im Schaffen für Musiktheater kommen seine Humanität, oft gepaart mit deutlich linken Idealen, am stärksten zum Tragen. Nicht zuletzt setzen aber auch seine 9. Sinfonie nach dem Roman »Das siebte Kreuz« von Anna Seghers sowie die zahlrei-chen eigenen Texte deutliche Zeichen.

Genie für dreimal drei Leben

Braucht es denn heute noch Worte über Hans Werner Henze? Er ist ein Genie. Das dürfte genügen, denn es sagt in der Tat alles. Wer es oberflächlicher mag, zitiert den Titel des mu-sikalischen Aristokraten. Des Snobs, der sei-nen Jaguar liebte und für die Belegschaft von Mannesmann protestierte. Der seinen harten Whisky und den süffigen Rotwein inzwischen gegen die Sanftheit von Martini und Pernod eingetauscht hat. Bei stärkerem Blick auf die Inhalte, mit denen Henze sich mühte, die ihn mitunter auch quä-lend umtrieben, werden persönliche Bot-

schaften des Künstlers sichtbar. Seine Musik war und ist damit immer sehr deutlich ange-füllt gewesen. Denn Henze verstand sich nie als Elfenbein-Schreiber, allem lange erträum-ten und spät erst gelebten Hang zum Noblen zum Trotz. Er wollte sich einmischen, sah das als seine vornehme Aufgabe an.Hans Werner Henzes Vita, die reicht für drei-mal drei Leben. Da ist die triste Jugend im Nationalsozialismus unter einem Vater, der Homosexualität als eine Sache fürs Konzent-rationslager wertete. Da sind die Enttäu-schungen in der Nachkriegs-Bundesrepublik, die vom Restaurativen mehr hielt als von ehr-licher Vergangenheitsbewältigung. Sich zu-mindest mehr davon versprach. So berech-nend war der Musiker jedoch nie, wollte es gar nicht sein. Freilich könnte man seinem Weggang gen Süden auch wohlfeile Absich-ten unterstellen – aber nahmen sie nicht die alldeutsche Sehnsucht nach wirklich gelebter Italianità nur vorweg? Mit den seit 1953 selbstgewählten Stationen auf Ischia, in Nea-pel sowie in und bei Rom hat sich der Gü-tersloher Künstler europäischen Geistes ganz seiner Wahlheimat einverleibt und vor einem halben Jahrhundert in Marino in den Albaner Bergen sein bleibendes Zuhause gefunden. Zahlreiche Kompositionen geben ein Klang-bild davon ab, ob sie nun »Musen Siziliens«, »Canzoni napoletane« oder schlicht »Ariosi« (zu Tasso-Gedichten) heißen.

Musik als »geistige Rede«

Hans Werner Henze ist mit diesem Gang in den Süden auch im doppelten Wortsinn der Kälte in Deutschland entflohen. Wie er just in Italien zu einer anderen Weltflüchtigen fand, zur nur eine Woche vor ihm geborenen Inge-borg Bachmann, das steht auf einem anderen Blatt. Es füllte ebenso ganze Kapitel im Le-bensroman dieses Künstlers wie die Bezie-hung zum Adoptivsohn und Lebenspartner Fausto Moroni, der 2007 mit nur 63 Jahren verstarb. Doch bleiben wir bei der Musik. Die verstand Henze stets als »geistige Rede«. Ent-sprechend wichtig waren und sind ihm deren inhaltliche Komponenten.Bei diesem permanent wachsenden Werk konnten Ost und West nicht umhin, das Œuvre

Page 5: Spielzeitschwerpunkt Henze

5

aufmerksam zu registrieren. Mitunter auch wachsam di-stanziert, eine Pflege mit Kunstpausen. Die Offenher-zigkeit des nicht zum Diplo-maten geborenen Lehrer-sohns, der seiner Mutter, geborene Geldmacher, in der Oper »Gisela! oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks« mit der Partie der Gisela Geldmaier ein bleibendes Denkmal ge-setzt hat, stößt in jüngerer Vergangenheit mit seiner altersweisen Noblesse nur noch sanft an. In früheren Zeiten erfolgte das wesentlich härter, rigider, konsequent mit biografischen Brüchen.Und da ist sie also, die geteilte Wahrnehmung des mit sehr unterschiedlichen Mitteln gern provozierenden Künstlers in den beiden bis 1989 real existierenden Deutschländern. Hier der Bürgerschreck, da der Dandy, mal ein Kommunistennarr, mal ein Streiter für die Wer-te der Arbeiterklasse, erst ein musikalischer Vorkämpfer, dann ein in den Eigenklang ver-liebter Elfenbeintürmler. All diese Begriffe wer-den dem seit fast sechzig Jahren in Italien le-benden Deutschen, der zeitweise Mitglied der KPI war, der Kommunistischen Partei Italiens, nie auch nur annähernd gerecht. Vereinfa-chend könnte man ihn Sturkopf nennen, west-fälischen Sturkopf, um die Individualität dieses Einmaligen zu umreißen. Erklären müsste man aber auch dann die Sanftmut des unermüdlich Schaffenden, dem seine Arbeit Genuss ist.

Interpret des eigenen Werks

Ausgerechnet im beziehungsreichen Jahr 1968 verweist Henzes Werkverzeichnis ledig-lich auf den »Versuch über Schweine«; übel-wollende Zeitgenossen könnten ihm das heute noch krumm nehmen oder aber – je nach Standpunkt – als Weitsicht attestieren. Doch nein, Henze war und ist gewiss alles andere als ein Hellseher. Sternendeuterei dürfte ihn wohl auch kaum interessiert haben. Er hat stets auf das Hier und Jetzt geschaut, das er mit Klangsprache zu kommentieren versuchte.

Auch als Interpret der eige-nen Werke. Als solcher ist er wiederholt in aller Welt tätig gewesen. Sowohl vor als auch nach 1989 beispiels-weise in Dresden. Hier hat Hans Werner Henze bereits 1966 ein komplettes Sinfo-niekonzert mit ausschließ-lich eigenen Werken gelei-tet, wurde ein Jahr später zur 300-Jahr-Feier der Oper sein »Junger Lord« aufge-führt, tauchte sein Name auch immer mal wieder in den Konzertplänen auf. Von

kontinuierlicher Pflege jedoch kann bis zu den 1990er Jahren keine Rede sein. Aber gab es die andernorts? Zu unberechen-bar war und ist mitunter die Offenheit für das Neue verbrei-tet, aus rein musikalischen Gründen schon gab und gibt es Phasen größerer Hinwendung und sträflicher Vernachlässigung.Das parteipolitische Gebundensein Henzes mag in Ost und West verschieden gewertet worden sein, es reichte jedoch weder zu völ-liger Ablehnung noch zu einer Vereinnah-mung des befristeten »Italokommunisten«. Hübsch liest sich im Nachhinein, was 1985 zur hiesigen Erstaufführung seines »Tristan« verfasst wurde: »Da Henze sich als ein Kom-ponist versteht, der sich der Sache der Arbei-terklasse annähert, aber nach wie vor eben als ein bürgerlicher Komponist, schreibt er neben politischen Musiken allerdings immer noch Werke, die mit dem bürgerlichen Kon-zertsaal rechnen. Es ist dies eine äußerst bunte, teils virtuose, teils lyrische Musik mit entweder sinnlich-einschmeichelnden oder abweisend-stolzen Klängen.«Längst spielen derlei – das Originäre und In-dividuelle im Kreativen geringschätzende – Kategorien keine Rolle mehr, wenn es um den Namen Hans Werner Henze geht; seit nunmehr über zwanzig Jahren ist sein Wirken auch in Dresden permanent präsent und stößt auf breites Interesse. Wie schön klingt da die Aussicht auf eine Hommage an Hans Werner Henze.

Michael Ernst is t Autor und Maler.

Page 6: Spielzeitschwerpunkt Henze

6

Von alten und neuen ZeichenMichael Kerstan im Gespräch mit Hans Werner Henze

Michael Kerstan: Lieber Hans, wann warst Du eigentlich zum ersten Mal in Dresden?

Hans Werner Henze: Ich weiß nicht mehr, wann das genau war, lieber Michael, aber ich weiß noch sehr genau, wie erschüttert ich war beim ersten Anblick des zerstörten Dres-den, einer gespenstischen Ruinenlandschaft. Ich dachte an Tod und Vergeltung. Einmal, viele Jahre nach Kriegsende, dirigierte ich dort auf der Bühne des Schauspielhauses ein Symphoniekonzert mit der Staatskapelle, dem Kreuzchor und der Sopranistin Edda Moser. Auf dem Programm standen die Kan-taten »Being Beauteous« auf ein Gedicht von Arthur Rimbaud, »Musen Siziliens« auf Verse des Vergil und schließlich meine 5. Sinfonie, die Leonard Bernstein 1963 in New York ur-aufgeführt hatte.Dresden: Ich erinnere mich sehr gerne an die Probentage dort und an interessante und an-regende Gespräche mit den zauberhaften In-strumentalisten der Staatskapelle. Ihre Erleb-nisse mit Partituren und Dirigenten, ja, und Fragen der Gestaltung schöpferischen Kom-ponierens wurden erörtert! Das waren wich-tige Augenblicke für mich in einem Lernpro-zess, der auch heute noch, im späten Alter, weitergeht.

Gab es einen Unterschied zwischen dem Musizieren in der DDR und dem in Westdeutschland?

Das könnte ich nicht hundertprozentig kor-rekt beantworten. Wenn ich mich nicht irre, standen sowohl im Osten als auch im Westen immer wieder und mit Recht die Bemühun-gen um eine wahrheitsgetreue Musizierpra-xis im Vordergrund.

Du warst vielleicht der einzige lebende Komponist, der gleichermaßen in der DDR wie in der BRD gefeiert wurde. Neben Rostock, der Komischen Oper in Berlin und dem Gewandhaus zu Leip-zig war die Staatsoper in Dresden stets eine künstlerische Heimat für Deine Werke. So waren z.B. 1961 »Des Kaisers Nachtigall« und »Fünf neapolitanische Lieder« und 1964 Dein Bläserquintett und Deine Sinfonie Nr. 1 zu hören. Und im Jahr 1967 erlebte die komische Oper »Der junge Lord« mit dem Libretto von Ingeborg Bachmann in Dresden ihre Erstaufführung in der DDR.

Buch und Partitur zum »Jungen Lord« stellen einen Versuch dar, die uns so fremd geworde-ne Denkart des Biedermeier mit Hilfe der heu-tigen Moderne und deren zitatenreiche Kunstauffassung ins Be- wusstsein zu rücken. In-geborg Bachmanns Miss-fallen an der allgemein ›deutschen Art‹ äußert sich in einem feinnervi-gen, geradezu liebevollen

»Gise la ! oder : D ie merk- und denkwürdigen

Wege des Glücks« mi t Nadja

Mchanta f und Giorg io Berrugi

Page 7: Spielzeitschwerpunkt Henze

7

Umgang mit dem Vokabular der bürgerlichen Welt in alter Zeit. Mit meiner Musik wollte ich alte und neue Zeichen in Zusammenhang mit dem erzählerischen Stil des Librettos bringen. Es entstand also eine sonderliche Bildhaftig-keit, worin das Böse und das Liebenswerte Umgang miteinander pflegen. Bachmann und ich hatten viel Vergnügen bei der Erfindung dieses Opus mit seiner Skurrilität und seiner Bangemacherei und den Örtlichkeiten, bei de-nen für das Missverhältnis zwischen frühem 19. und spätem 20. Jahrhundert ein geeigne-ter Spielraum zur Verfügung steht, wo wenig Glückliches und viel Kümmerliches und Tod-trauriges zu finden ist.

Dein Klavierkonzert »Tristan« wurde ja zweimal in Dresden aufgeführt, einmal 1985 als DDR-Erstaufführung von der Staatskapelle im Kulturpalast in einem Sonderkonzert der Dresdner Musik-festspiele und einmal als Ballett in der

Semperoper, choreografiert von John Neumeier. Das Ballett »Undine« wurde in der Semperoper vier Jahre nach ihrer Wiedereröffnung gegeben. 1997 schließlich erlebten dort die »Bassari-den« ihre Dresdner Erstaufführung.

In jenem Werk haben der überaus bewegli-che Orchesterklang und die dichterischen Tiefen und Schrecknisse des Dramas erfolg-reich zusammengewirkt. Der große englische Dichter W.H. Auden und sein amerikanischer Gehilfe Chester Kallman hatten sich anläss-lich der neuen dichterischen Gestaltung des euripideischen Fragments, »Die Backchen«, vorgenommen, mich ein bisschen mehr für Leben und Werk ihres angebeteten Richard Wagner einzunehmen. Es gelang ihnen tat-sächlich, meine Aufmerksamkeit ein wenig auf dieses erstaunliche Phänomen »Wagner« zu lenken. Wenn sie mich, wie ich hoffe, den-noch nicht ganz vom Genie dieses Herrn

Page 8: Spielzeitschwerpunkt Henze

8

überzeugt haben, dann verdanken wir das der Präsenz von Größeren und Größerem im Universum der europäischen Musik- und

Kunstwelt. Die Produk-tion der »Bassariden« in der Semperoper hat mir und meinem Werk wohlgetan. Ganz ge-

wiss hat dazu auch das Fluidum beigetragen, das von dem tragikumwitterten Opernhaus, einem der schönsten der Welt, ausgeht.

Die Dresdner Produktion der »Bassa-riden« hast Du dann auch in Madrid gesehen, wo später auch »L’Upupa«, so der italienische Name für den Wiede-hopf, in der Inszenierung der Salzburger Festspiele gezeigt wurde, die das Werk in Auftrag gegeben hatten. 2009 hat es Nikolaus Lehnhoff an der Semperoper einstudiert.

Meine Beschäftigung mit dem Genre Musik-theater hat sich kontinuierlich weiterentwi-ckelt. Auch heute noch interessiert mich diese Art von Kunstübung ungemein. Ein signifikan-ter Meilenstein auf dem oftmals schwierigen Weg meiner Beschäftigung mit Musik und Theater, das ist »L’Upupa«. Zum ersten Mal habe ich ein Libretto alleine geschrieben, was mir einen freizügigen Umgang mit der Spra-che und mit den Elementen der arabischen Märchenwelt erlaubte, besonders den Ge-schichten aus 1001 Nacht.

Obwohl Du nach der Fertigstellung von »L’Upupa« verkündet hattest, dies sei Deine letzte Oper, hast Du anschließend

zwei weitere komponiert, »Phaed-ra« für die Berliner Staatsoper und dann »Gisela!«, ein gemeinsamer Auftrag der Kulturhauptstadt Euro-pas Ruhr.2010 und der Semperoper Dresden.

Mit der »Phaedra«, die 2007 in Berlin uraufgeführt wurde, wollte ich ein Mu-sikdrama schreiben, in welchem die gro-ßen – und auch die kleinen – Gefühle kammermusikartig dargestellt werden können. Tatsächlich braucht es nur fünf Sänger und 23 Instrumentalisten.

Bei der Lektüre des Librettos ist mir aufgefallen, dass einige wichtige Ereignisse aus den großen klassischen Quellen in Deiner Oper nicht vorkommen und dass stattdessen neue dramatische Vorgänge eingefügt wurden, was sich besonders im 2. Akt bemerkbar macht.

Seit Jahrhunderten ist es Usus, Impulse aus klassischen Werken zu beziehen, unter Um-ständen auch zu verwandeln, in ihrer Bedeu-tung umzukehren und für einen neuartigen Gebrauch zu adaptieren.Bevor wir uns über »Gisela!« unterhalten, müssen wir einen Rückblick vollziehen auf die Kinderoper »Pollicino«. Im Jahr 1980 er-scheint da erstmals in meinem Arbeitspro-zess etwas rein Zweckgebundenes. Ich schrieb »Pollicino« in Zusammenarbeit mit dem italienischen Schriftsteller Giuseppe di Leva, um damit die musikinteressierten Kin-der und Jugendlichen von Montepulciano zu animieren – in der Tat waren die jungen Leu-te kaum jemals älter als zehn Jahre und ihr Musikstudium in ihren Anfängen. Es ging uns darum, die jungen Leute durch praktische Übungen, wie sie im Theater notwendig sind, heimlich und unausgesprochen zu Fleiß und zur Steigerung ihrer persönlichen Ausdrucks-mittel zu bewegen. Bei der Uraufführung in Montepulciano im Sommer 1980 waren di Leva und ich gerührt von dem Erfolg unserer Bemühungen. Das Stück funktionierte ganz

Hans Werner Henze be i der Premiere se iner »Gise la !« in der Semperoper

Page 9: Spielzeitschwerpunkt Henze

9

© Hans Werner Henze, Michael Kerstan

Marino (Roma) , 1 . Februar 2012

gut und erzeugte musisch-künstlerische Ent-faltung auf allen Gebieten. Diese Tatsache äußerte sich in besonders erfreulicher Weise auch dadurch, dass dieser »Pollicino« mit den Jahren an vielen Schulen, Gemeindehallen und Theatern nachgespielt wurde und auch heute immer wieder nachgespielt wird.

Also, was lag näher als der Gedanke, das Experiment »Pollicino« für junge Erwachsene zu wiederholen.

Natürlich mussten für »Gisela!« neue Inhalte erfunden und der technische Anspruch er-höht werden. Am Zustandekommen dieser Musiktheaterarbeit hat außer Dir und mir der Dresdner Dichter Christian Lehnert mitge-wirkt. Von ihm stammen die drei in die Hand-lung verwobenen Sonette, bei der Urauffüh-rung a cappella von einem Jugendchor vorgetragen, außerdem Rezitative und Arien für die drei Gesangsstudenten in Hauptrollen und mehrere kleinere, aber wichtige Partien für Solisten aus dem Chor. Das Instrumenta-rium ist das eines normalen Opernorchesters von heute.

Mimen, das können auch Schauspieler oder Tänzer sein, übernehmen in unserer »Gisela!« wichtige Aufgaben. Sie interpretieren in beiden Teilen jeweils eine zweite Handlungsebene, zunächst als Theater im Theater, wo sie eine süditalienische, genauer: napole-tanische Commedia spielen, dann als Träume Giselas, in denen sie Gestalten und Motive der deutschen Märchenwelt darstellen.

Der ganzen Sache übergeordnet ist das dia-lektische Prinzip der Sonatenform, dargebo-ten mit den Ausdrucksmitteln, Darstellungs-formen von heute und von gestern, wie zum Beispiel der kulturelle Konflikt zwischen dem nördlichen und dem südlichen Europa und deren speziellen Charaktereigenschaften, ganz besonders sichtbar gemacht durch die Schwierigkeiten in der Liebesgeschichte Gi-sela – Gennaro, dem Pulcinella-Darsteller. An

der Schilderung der Konflikte sind gewisser-maßen alle Mitwirkenden beteiligt, bis zum Ausbruch, bis zur Explosion.

Im September schon können wir Deine Theaterarbeit »Wir erreichen den Fluss« an der Semperoper erleben. Deren Aufführung 1978 in Stuttgart verhalf mir zu einer ersten Begegnung mit Deiner Musik, sie bedeutete für mich einen stark bewegenden und nachhaltigen Ein- stieg in Deine Klangwelt.

Auch für mich bezeichnet dieses Stück einen neuen Weg, nicht zuletzt gewiesen von dem Dramatiker Edward Bond. Er hat mir ein Lib-retto gemacht, worin die Polyphonie und an-dere musikalische Grundgestalten es sind, welche die dramatischen und emotiven Er-eignisse des Werks hervorbringen. Es gibt also in diesem Stück keine begleitende, aus-schmückende und auch keine erzählerische Musik, ...

... sondern die Musik wird quasi selbst zur Szene und zur handelnden Person.

Daher gibt es ja drei Orchestergruppen, von denen jede eine Anzahl Schauplätze markiert. Im zweiten Teil befindet sich ein Irrenhaus. Dort berichten die Kranken von den Ereignis-sen, die zu ihrer Erkrankung geführt haben. Dort ist auch der General untergebracht, der durch die Schrecknisse des von ihm ausge-lösten Krieges seelisch gescheitert ist.

Was für eine Rolle spielt denn der tanzende Kranke, ein Schlagzeuger, in diesem Zusammenhang?

Er skandiert die Zeit, das Kommen und Ge-hen der Tage und Nächte. Außerdem skan-dieren die Rhythmen, die er vorbringt, die Bewegung der Allerseelen, der derangierten Herzen.

Der Regisseur, Dramaturg und Autor Michael Kerstan

lebt in Nürnberg und Rom, wo er s ich a ls Freund und

engster Mitarbei ter um Hans Werner Henze kümmert .

Page 10: Spielzeitschwerpunkt Henze

10

Unbestritten ist Hans Werner Henze einer der wichtigsten – wenn nicht der wichtigste – Mu-siktheaterkomponist der Nachkriegszeit, sind seine Kompositionen mittlerweile fester Be-standteil des Repertoires der Opernhäuser. Weniger bekannt aber sind seine Werke für den Tanz, was angesichts ihres Variantenreich-tums erstaunlich ist und sich nur mit der chro-nischen Unterschätzung von Ballettmusik er-klären lässt. Dass für Henze selbst die Gattung gegenüber dem Musiktheater durchaus nicht zweitrangig ist, zeigt sich in zahlreichen Paral-lelen: Beide spiegeln die bewegte Biografie des Komponisten, insbesondere seine Politisierung im Kontext der 1968er Revolte. Mit zahlreichen künstlerischen Partnern wie Ingeborg Bach-mann, Luchino Visconti oder Edward Bond arbeitete er sowohl im Musik- wie im Tanzthe-ater zusammen. Vor allem aber unternimmt Hans Werner Henze auch in seinen Komposi-tionen für den Tanz immer wieder neu den Versuch, die Charakteristika und Grenzen der Gattung – ihr Verhältnis zur Tradition sowie die experimentellen Möglichkeiten – auszuloten.

Drei Erfahrungen scheinen Henzes Verhältnis zum Tanz geprägt zu haben. Wie viele im Krieg Geborene war er als junger Komponist süchtig danach, das jahrelang Versäumte, Ver-botene kennen zu lernen. So schildert er den Besuch eines einwöchigen Gast-spiels des Sadler’s Wells Ballett 1948 in seiner Auto-biografie »Reiselieder mit Böhmischen Quinten« ein-drücklich: »Was nun folgte, waren Interaktio-nen zwischen den musikalischen Vorgängen im Orchester und den tänzerischen Ereignis-sen auf der Bühne, ein Wechselspiel, ein Ge-dankenaustausch. […] Ich war wie von einem Zauberstab berührt. Bei jeder Wiederbegeg-nung […] vermochte ich weitere überraschen-de und hochinteressante Einzelheiten der Dreiecksbeziehung Musik, Bewegung und Raum zu entdecken. […] Ich begann zu verste-hen, dass es ganz magische und sensuelle Verbindungen gibt zwischen den Gedanken der Musik und den Gesten, Positionen und Flugversuchen, der kühl abgezirkelten, mit-vollziehbaren Gesetzmäßigkeit des traditionel-len Balletts. Es ging mich etwas an.« Das Re-sultat dieser ersten Begegnung mit dem Tanz

waren dann die handlungslosen »Ballett-Variationen« (Konzertante Uraufführung 1949). Seine Tätigkeit als Künstlerischer Leiter und Dirigent des Balletts am Staatstheater Wiesbaden von 1950–53 machte ihn dann mit den Regeln des Metiers vertraut. In dieser Zeit entstand etwa auch »Das Vokaltuch der Kammer-sängerin Rosa Silber«. Immer wieder schließlich finden sich in Henzes Schrif-ten Verweise auf die »Ballets Russes«

»Tr is tan« , Choreograf ie

von John Neumeier, 1992

(auch Se i te 12/13 & 16)

Er war als junger

Komponist süchtig

danach, das jahrelang

Versäumte, Verbotene

kennen zu lernen.

Sophie Becker Alle Saiten der menschlichen Empfindungsskala berührenZu Hans Werner Henzes Kompositionen für den Tanz

Page 11: Spielzeitschwerpunkt Henze

11

Sergej Diaghilews, der nach Ansicht des Kom-ponisten »eigentlich eine neue Kunstform« begründet habe, die für Henze als Vorbild diente: »Ein Ballett ist ein geistiges Produkt, es vermag alle Saiten der menschlichen Empfin-dungsskala zu berühren, ein empfindlich orga-nisierter Mechanismus, reagiert es auf den kleinsten Fehler mit einem Defekt. Die Deko-ration muss die Atmosphäre des Tanzes ent-halten und die Klangfarbe der Musik reflektie-ren, der Tanz ist der Kontrapunkt zur Farbe, während seine Bewegungsskalen, immer glei-che und geheiligt unveränderliche, von der Musik hervorgerufen werden…«

Vier höchst unterschiedliche Auseinanderset-zungen mit der Gattung »Ballettmusik« sollen hier kurz vorgestellt werden.Am stärksten der Tradition verpflichtet ist ohne Zweifel Henzes gemeinsam mit Frederik Ash-ton geschaffenes Handlungsballett »Undine« – Henze selbst hatte den Grundstein für die Zu-sammenarbeit gelegt, indem er nach dem für ihn beglückenden Erlebnis des Gastspieles Ashton eine Aufnahme der »Ballett-Variatio-nen« schickte. Nicht nur, dass die zugrunde liegende gleichnamige Erzählung de la Motte-Fouqués mit seiner Thematisierung der Liebe zwischen einem Menschen und einem Ele-

Sophie Becker Alle Saiten der menschlichen Empfindungsskala berührenZu Hans Werner Henzes Kompositionen für den Tanz

Page 12: Spielzeitschwerpunkt Henze

12

Page 13: Spielzeitschwerpunkt Henze

13

Page 14: Spielzeitschwerpunkt Henze

14

Page 15: Spielzeitschwerpunkt Henze

15

»Undine« , Choreograf ie von Hara ld Wandtke , 1989

»Er brüllte und winselte

und spuckte die von

Tatjana effektvoll und

ruchlos aus Bibel- und

Dostojewski-Zitaten zu-

sammengestellten Sätze

aus sich heraus, dass

die Wände wackelten.«

mentarwesen – hier zwischen dem Ritter Pa-lemon und der Nymphe Undine – exakt den Vorlieben des romantischen Balletts entsprach, wie es insbesondere in »La Sylphide« und »Gi-selle« dargestellt wird (wobei der Undinen-Stoff selbst seine entscheidenden Ausprägun-gen in der Oper erfahren hat, mit den gleichnamigen Werken von E.T.A Hoffmann und Albert Lortzing). Auch die Zusammenar-beit zwischen Komponist und Choreograf ent-sprach in weiten Teilen exakt der von Marius Petipa und Peter I. Tschaikowsky: Ashton hatte Henze eine sogenannte »Minutage« geschickt, einen in Szenen eingeteilten Ablauf der Handlung, in dem der Choreograf ex-akte Angaben zu Zeitdauer, Tempo, Metrum und sogar Instrumentation gemacht hatte. Die Uraufführung 1958 in Covent Garden mit Margot Fonteyn in der Titelrolle war ein umjubelter Er-folg, Henzes Musik wurde in den fol-genden Jahren und Jahrzehnten von zahlreichen Choreografen gestaltet wie Tom Schilling (Berlin), Heinz Spoerli (Basel), Harald Wandtke (Dresden) und zuletzt Stijn Celis in Essen. Der »Undine« vorangegangen waren zwei Kompositionen, die auf unter-schiedliche Weise die Grenze zum Schauspiel überschreiten. 1952 ent-stand für Tatjana Gsovsky »Der Idiot« nach dem Roman von Dostojewski. Für die erste Fassung des sogenannten Mi-modrams für Tänzer und einen Schauspieler hatte die Choreografin selbst Texte aus dem Roman sowie der Bibel ausgewählt, die von Klaus Kinski gesprochen wurden: »Klaus Kin-ski in der Rolle des Fürsten Myschkin war na-türlich das Größte. Er brüllte und winselte und

spuckte die von Tatjana ef-fektvoll und ruchlos aus Bibel- und Dostojewski-Zitaten zu-sammengestellten Sätze aus sich heraus, dass die Wände wackelten«, so Henze in sei-ner Autobiografie. 1953 (Ur-

aufführung 1960) überarbeitete Henze mit Gsovskys Zustimmung das Werk dahinge-hend, dass Ingeborg Bachmann, die dann be-kanntlich auch die Libretti für die beiden Opern »Der Prinz von Homburg« und »Der

junge Lord« schreiben würde, neue Monologe für die Rolle des Fürsten Myschkin verfasste. »Maratona« wiederum verdankt seine Exis-tenz Luchino Visconti. Dieser war fasziniert von Tanzmarathons, die seinerzeit in italieni-schen Vorstädten sehr beliebt waren und von denen Horace McCoys Roman »They shoot horses, don’t they« handelt. »Maratona« schil-dert, durchaus gesellschaftskritisch, einen Wettbewerb, dessen Gewinner Gianni im Mo-ment des Sieges vor Erschöpfung stirbt. Das Werk erlebte 1957 bei den Berliner Festspie-len seine Uraufführung. Als »kein Ballett im

herkömmlichen Sinn, sondern eher ein ›Schau-Spiel‹, das Tanzen zum Vorwurf nimmt«, bezeichnet Henze die Kreation. Ob-wohl ein Choreograf, Dick Sanders, engagiert wurde, war die eigentlich treibende Kraft der Regisseur Visconti: »Ihm [Dick Sanders, Anm. d. Red.] wurde die genaue Ausarbeitung der Tänze anvertraut, aber Visconti behielt die Fä-den in der Hand, er baute alles selbst auf, glie-derte, setzte Kulmination gegen Ruhe, Zartes gegen Grobes, zauberte den realismo, beweg-te die Massen, die Farben. Der Maler, der Choreograf und ich waren seine Werkzeuge, und wir akzeptierten diese sonst nur sehr un-gern gespielten und wenig wünschenswerten Rollen in diesem Falle und ihm zuliebe mit Vergnügen, und jeder von uns reduzierte sei-ne Mittel, wo es geboten, mobilisierte sie, wo es angebracht war.« Viscontis Konzeption hat-

Page 16: Spielzeitschwerpunkt Henze

16

te auch Konsequenzen für die Musik: So gibt es zum einen zwei Jazz-Kapellen auf der Büh-ne, die – wie in der Realität – abwechselnd die Wettbewerbspaare begleiteten und »zu be-stimmten Morgen- oder Nachtstunden durch ein schäbiges Grammophon ersetzt werden«. Zum anderen sitzt im Graben ein »traditionel-les« Orchester, dessen Aufgabe es nach Hen-ze ist, betont barock zu klingen, »nach Mat-thäuspassion und Gluck, damit der Kontrast zwischen der bitteren auf der Bühne darge-stellten Realität und einer im Orchestergraben zum Ausdruck gebrachten Idealvorstellung von Edelmut und klassisch-olympischer Ge-sinnung schreiend deutlich« erkennbar ist. Visconti motivierte dann noch ein weiteres Werk Henzes, seinen »Prinz von Homburg«, indem er dem Komponisten glaubhaft mit der Beendigung ihrer Freundschaft drohte, sollte er diesen Stoff, an dessen Eignung für die Oper Henze einigen Zweifel hatte, nicht ver-komponieren.Von den elf Ballettmusiken, die das Werkver-zeichnis aufzählt (»Jack Pudding« von 1950 erfuhr 1997 unter dem Titel »Le disperazioni del Signor Pulcinella« als Teil der »Tanz-stunden«-Trilogie eine Neubearbeitung, eben-so wie das 1952 komponierte »Labyrinth«, das seinen Namen behielt; »Pas d’action« wurde 1966 zu »Tancredi«, choreografiert von Rudolf Nurejew), entstand ein Großteil in den 1950er und 1960er Jahren. In Henzes Leben folgte nun bekanntlich eine Phase verstärkten politi-schen Engagements – im Kontext der studen-tischen 68-Revolte, auf Kuba, schließlich seine kulturpolitische Arbeit zum Beispiel für den von ihm 1976 gegründeten »Cantiere interna-zionale d’arte« in Montepulciano. All diese Er-eignisse finden ihren Niederschlag in seinem

– nach »Undine« – zweiten abendfüllenden Handlungsballett, »Orpheus«. Schon länger hatte Hans Werner Henze sich mit dem Mythos beschäftigt, der 2. Cantiere stand ganz im Zei-chen von »Orpheus«-Vertonungen, ergänzt durch einen Vortrag des Gräzisten Franco Ser-pa, der Henze so sehr beeindruckt hatte, dass er Edward Bond, seinen Librettisten von »We come to the River«, bat, ihm ein Szenario zu schreiben. Bonds Version setzt gegenüber der Überlieferung höchst eigene Akzente, so stirbt Eurydike in Zusammenhang mit politisch mo-tivierten Ausschreitungen, und am Ende steht die Emanzipation der Menschen von den Göt-tern: Vor Zorn über den erneuten Verlust sei-ner Geliebten zertrümmert Orpheus die ihm von Apoll geschenkte Leier. Doch als er auf dem zerbrochenen Instrument spielt, ertönt eine neuartige, utopische Musik! Die Urauffüh-rung der »Geschichte in sechs Bildern« fand 1979 am Staatstheater Stuttgart statt, mit einer Traumbesetzung: Richard Cragun (Orpheus), Birgit Keil (Eurydike) und Reid Anderson (Apoll). Choreograf des Abends war William Forsythe, der ein Jahr zuvor bereits, ebenfalls in Montepulciano, Henzes »Aria de la folia es-pañola« choreografiert hatte. Knapp zehn Jahre später, 1988, erlebte dann eine instrumentale Neufassung des Werkes in der Regie und Cho-reografie der Gret Palucca-Schülerin Ruth Berghaus in Wien ihre Uraufführung. Viel wäre zu berichten über weitere Ballett-Kompositionen Henzes, die einzelnen Choreo-grafien, die Bedeutung des Tanzes für sein Opernschaffen, wie sie sich am deutlichsten in seiner »Oper in einem Akt für Sänger und Tänzer« von 1993/95, »Venus und Adonis«, zeigt – eine vertiefte Auseinandersetzung, die ein kursorischer Überblick nicht leisten kann. War zu Beginn von den Parallelen zwischen Henzes Musiktheater- und Tanztheaterwerken die Rede, so ist mit Bedauern festzustellen, dass das Interesse des Komponisten am Tanz, im Gegensatz zur Oper, in den letzten Jahren offensichtlich etwas nachgelassen hat. So bleibt zu hoffen, dass die Feierlichkeiten zum 85. Geburtstag Hans Werner Henzes Anlass sind, sich erneut mit seinen Ballettmusiken zu beschäftigen.

Sophie Becker ist Dramaturgin an der Semperoper.

Page 17: Spielzeitschwerpunkt Henze

17

Oper und Ballett

Der junge Lord 14. Januar 1967

Undine 11. März 1989

Tristan 13. Dezember 1992

Die Bassariden 6. Februar 1997

L’Upupa und der Triumph der Sohnesliebe 1. Juni 2009

Gisela! oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks 20. November 2010

Hans Werner Henze an der Sächsischen Staatsoper

Konzerte

Des Kaisers NachtigallFünf neapolitanische Lieder6. Dezember 1961

Quintett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott18. Februar 1964

Symphonie Nr. 1 28. Oktober 1964

Sonatine für Flöte und Klavier 6. September 1966

Musen SiziliensKonzert für zwei Klaviere, Bläser, Pauken und Chor21. Oktober 1966

Being BeauteousKantate auf das gleichnamige Gedicht aus »Les Illumina-tions« von Arthur Rimbaud für Koloratur-Sopran, Harfe und vier Violoncelli 21. Oktober 1966

Symphonie Nr. 5 Für großes Orchester21. Oktober 1966

Six Absences Für Cembalo allein 22. & 23. Oktober 1968

TristanPreludes für Klavier, Tonbänder und Orchester 30. Mai 1985

Being BeauteousKantate auf das gleichnamige Gedicht aus »Les Illumina-tions« von Arthur Rimbaud für Koloratur-Sopran, Harfe und vier Violoncelli 22. Oktober 1996

Gastspiele an der Sächsischen Staatsoper

Pollicino25. Mai 1984 Volkstheater Rostock

El cimarrón27. Mai 1984Volkstheater Rostock

Boulevard Solitude20. November 1991Junges Forum MusiktheaterHamburg

Page 18: Spielzeitschwerpunkt Henze

18

Hans Werner Henze 10 Fragen

Mein Morgenritual ist …

chaotisch und wird täglich anders erfunden.

Mein Traum vom Glück …

endete, als ich siebzehn war, und das ist gut so.

Abschalten kann ich am besten …

wenn ich keine Lust habe, mit der Außenwelt zu kommunizieren.

Das Unvernünftigste, was ich je getan habe …

war, einigen Kretins das »Du« anzubieten.

Schwach werde ich …

in der Erinnerung an solche unvernünftigen Missetaten.

In meiner Hosentasche habe ich …

mal dies, mal das.

Mein letzter Lustkauf war …

der erste.

Wenn ich einen anderen Beruf ausüben müsste, wäre es …

recht traurig für mich.

Wenn ich einen Tag unsichtbar wäre, würde ich …

mich danach sehnen, wieder feste Konturen anzunehmen.

Mein Liebslingort in Dresden …

ist der Zwinger.

Page 19: Spielzeitschwerpunkt Henze

19

Der 85-jährige Komponist Hans Werner Henze ist eine Epochengestalt der zeitgenössischen deutschen und europäischen Musik geworden. Der Weg aus dem westfälischen Lehrerhaus-halt in die Opernhäuser und Konzertsäle der Welt begann mit einer musikalischen Ausbil-dung an der Staatsmusikschule Braunschweig. In den späten 1940er Jahren kam er mit dem Serialismus und den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik in Berührung, denen er nicht uneingeschränkt folgte. Unglücklich über die mangelnde Aufarbeitung des Dritten Reichs in der Nachkriegsrepublik einerseits und den äs-thetischen Dogmatismus in der Neuen Musik andererseits, verließ Henze 1953 nach Engage-ments am Theater Konstanz und am Hessi-schen Staatstheater Wiesbaden seine Heimat

und ließ sich in Italien nieder. 1962 bis 1967 unterhielt er eine Meisterklasse für Kompositi-on am Mozarteum Salzburg, Lehraufträge führten ihn in die USA und nach Kuba. In Köln hatte Henze von 1980 bis 1991 eine Professur an der Staatlichen Hochschule für Musik inne. Verpfl ichtungen als Composer in Residence führten ihn 1983 und 1988 bis 1996 an das Berkshire Music Center in Tanglewood/USA sowie 1991 zu den Berliner Philharmonikern. Bereits 1976 gründete Henze das Cantiere In-ternazionale d’Arte in Montepulciano. Im Jahr 1988 rief er die Münchener Biennale (Interna-tionales Festival für neues Musiktheater) ins Leben, die er bis 1996 leitete.Henze wurde mit zahlreichen Preisen ausge-zeichnet. Im Zentrum von Henzes Kompositi-onen für Orchester stehen die zehn Sinfonien. Daneben umfasst sein umfangreiches Kompo-sitionsschaffen Solokonzerte, Sinfonien, Ora-torien, Liederzyklen und Kammermusik. Mit seinen über 40 Werken für Musiktheater wur-de Henze zu einem der meist gespielten zeit-genössischen Komponisten unserer Tage. »Boulevard Soltitude« (1951), eine Vertonung des Manon Lescaut-Stoffes, »Elegie für junge Liebende« (1956/61, rev. 1987), »Die Bassari-den« (1964/65, rev. 1992), »Pollicino« (1979/80) gehören zu seinem vielfältigen Opernrepertoire. Mit Ingeborg Bachmann schuf Henze die Opern »Der Prinz von Hom-burg« (1958) und »Der junge Lord« (1964). An der Semperoper wurden zuletzt sein Lustspiel »LUpupa und der Triumph der Sohnesliebe« und sein Musiktheater »Gisela! oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks« aufgeführt. »Opfergang – Immolatione« feier-te im Jahr 2010 in Rom seine Uraufführung. Die Kulturhauptstadt Europas RUHR 2010 widmete dem Komponisten mit dem Henze-Projekt eine umfassende Werkschau.

Page 20: Spielzeitschwerpunkt Henze

20

Oper

Wir erreichen den Fluss /We come to the RiverPremiere 13. September 2012Vorstellungen20., 25., 26., 29. September 2012

Gisela! oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks 19., 28. September 2012

El cimarrón29., 30. September 2012

Ballett

Das Vokaltuch der Kammersängerin Rosa Silber(Teil des Ballettabends Bella Figura)Premiere27. OktoberVorstellungen31. Oktober (14 & 19 Uhr), 2., 11. November 2012

Henze-Programm in der Spielzeit 2012/13

Konzert

1. Aufführungsabend27. September 2012

3. Symphoniekonzert14., 15., 16. Oktober 2012

3. Aufführungsabend15. Mai 2013

Sonderkonzert II zum 200. Geburtstag von Richard Wagner 21. Mai 2013

Informat ionen zu Anrechten und Paketen im Serv ice te i l ab Se i te 149