Springer MRW: [AU:0, IDX:0] - link.springer.com · Zervikal-, Thorakal-, Lumbal- und Sakralnerv im...

18
Nervenwurzelläsionen Peter Berlit und Manfred Stöhr " Läsionen der spinalen Nervenwurzeln werden durch unter- schiedlichste Pathomechanismen hervorgerufen, wobei zahlenmä- ßig aufgrund der anatomischen Beziehung zur Wirbelsäule die mechanischen Ursachen infolge degenerativer Wirbelsäulen- und Bandscheibenveränderungen oder Trauma überwiegen. Bei den multisegmentalen Schädigungen stehen entzündlich und metabo- lisch bedingte Radikulopathien im Vordergrund. Der allgemeine Teil dieses Kapitels befasst sich mit den topografisch-anatomischen Gegebenheiten, der klinischen Zuordnung radikulärer Syndrome sowie den diagnostischen Verfahren, die Aufschluss über die Ursa- che der Störung geben. Im speziellen Teil werden die ätiologisch unterschiedlichen Nervenwurzelläsionen unter Berücksichtigung typischer klinischer Bilder und therapeutischer Ansätze bespro- chen. 1 Allgemeiner Teil Anatomie Das periphere Nervensystem rekrutiert sich aus 31 dem Rü- ckenmark entspringenden Spinalnervenpaaren: 8 Zervikalner- ven, 12 Thorakalnerven, je 5 Lumbal- und Sakralnerven und 1 N. coccygeus. Dabei verlassen die Zervikalnerven den Spinalkanal oberhalb des gleichnamigen Wirbelkörpers, alle übrigen darunter . Die dorsalen und die ventralen Wurzeln jedes Spinalnervs treten mit 510 Fila radicularia aus dem entsprechenden Rückenmarksegment aus und verlaufen abgesehen von den oberen Zervikalsegmenten entlang der Rückenmark- oberäche abwärts, da die Austrittsstelle tiefer liegt. Nach dem Erreichen des zugehörigen Zwischenwirbelkanals bie- gen sie stumpfwinklig ab und vereinigen sich innerhalb des Kanals zum N. spinalis. Dieser kurze Nerv teilt sich bereits beim Austritt aus dem Foramen intervertebrale in zwei Äste auf: Der R. dorsalis verläuft um den Gelenkfortsatz nach dorsal zur Innervation der Haut und Muskulatur von Nacken und Rücken, während der R. ventralis Haut und Muskulatur der übrigen Rumpfabschnitte und der Gliedmaßen versorgt (Abb. 1). Da die anatomisch korrekten Begriffe Spinalnerv bzw. Zervikal-, Thorakal-, Lumbal- und Sakralnerv im medi- zinischen Alltag wenig gebräuchlich sind, wird in der folgen- den Darstellung meist der dort übliche Begriff Nervenwurzel als Synonym für N. spinalis gebraucht, zumal dieser nichts anderes als die Vereinigung der Vorder- und Hinterwurzeln darstellt. Eine ventrale Wurzel enthält etwa 200.000 Nervenfasern. Diese sind zum größten Teil Fortsätze der großen und kleinen motorischen Vorderhornzellen (α- und γ-Motoneurone). Die ventralen Wurzeln C8L2 besitzen zusätzlich efferente sym- pathische Fasern aus dem Seitenhorn, die Wurzeln S2S4 efferente parasympathische Axone. Schließlich verlaufen in den Vorderwurzeln auch noch zahlreiche marklose, überwie- gend Schmerzimpulse leitende Fasern. Die dorsalen Wurzeln enthalten das 1,5- bis 3-Fache des Faserbestandes der ventralen Wurzeln. Die dort verlaufenden Nervenfasern stellen die zentralen Fortsätze der Spinalgan- glienzellen dar. Das jeder Hinterwurzel zugehörige Spinal- ganglion bendet sich knapp proximal des Zusammentritts von Hinter- und Vorderwurzel zum Spinalnerv und liegt somit extradural im Foramen intervertebrale. Lediglich an den sakralen Wurzeln liegen die Spinalganglien medial der Zwischenwirbellöcher innerhalb des Sakralkanals. Von großer praktischer Bedeutung sind die topischen Beziehungen zwischen Wirbelsäule und Nervenwurzeln. Aus der Höhenverschiebung zwischen Rückenmark und Wirbel- säule ergibt sich nämlich eine von zervikal nach lumbosakral zunehmende Länge der Nervenwurzeln. In den zervikothora- kalen Abschnitten treten die Nervenwurzeln nach kurzem intraspinalem Verlauf in der Nähe ihres Ursprungsortes durch P. Berlit (*) Deutsche Gesellschaft für Neurologie, DGN, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Stöhr Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Berlit (Hrsg.), Klinische Neurologie, Springer Reference Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-44768-0_44-1 1

Transcript of Springer MRW: [AU:0, IDX:0] - link.springer.com · Zervikal-, Thorakal-, Lumbal- und Sakralnerv im...

Nervenwurzelläsionen

Peter Berlit und Manfred Stöhr

" Läsionen der spinalen Nervenwurzeln werden durch unter-schiedlichste Pathomechanismen hervorgerufen, wobei zahlenmä-ßig aufgrund der anatomischen Beziehung zur Wirbelsäule diemechanischen Ursachen infolge degenerativer Wirbelsäulen- undBandscheibenveränderungen oder Trauma überwiegen. Bei denmultisegmentalen Schädigungen stehen entzündlich und metabo-lisch bedingte Radikulopathien im Vordergrund. Der allgemeineTeil dieses Kapitels befasst sich mit den topografisch-anatomischenGegebenheiten, der klinischen Zuordnung radikulärer Syndromesowie den diagnostischen Verfahren, die Aufschluss über die Ursa-che der Störung geben. Im speziellen Teil werden die ätiologischunterschiedlichen Nervenwurzelläsionen unter Berücksichtigungtypischer klinischer Bilder und therapeutischer Ansätze bespro-chen.

1 Allgemeiner Teil

AnatomieDas periphere Nervensystem rekrutiert sich aus 31 dem Rü-ckenmark entspringenden Spinalnervenpaaren: 8 Zervikalner-ven, 12 Thorakalnerven, je 5 Lumbal- und Sakralnerven und1 N. coccygeus. Dabei verlassen die Zervikalnerven denSpinalkanal oberhalb des gleichnamigen Wirbelkörpers,alle übrigen darunter.

Die dorsalen und die ventralen Wurzeln jedes Spinalnervstreten mit 5–10 Fila radicularia aus dem entsprechendenRückenmarksegment aus und verlaufen – abgesehen vonden oberen Zervikalsegmenten – entlang der Rückenmark-oberfläche abwärts, da die Austrittsstelle tiefer liegt. Nachdem Erreichen des zugehörigen Zwischenwirbelkanals bie-

gen sie stumpfwinklig ab und vereinigen sich innerhalb desKanals zum N. spinalis. Dieser kurze Nerv teilt sich bereitsbeim Austritt aus dem Foramen intervertebrale in zwei Ästeauf: Der R. dorsalis verläuft um den Gelenkfortsatz nachdorsal zur Innervation der Haut und Muskulatur von Nackenund Rücken, während der R. ventralis Haut und Muskulaturder übrigen Rumpfabschnitte und der Gliedmaßen versorgt(Abb. 1). Da die anatomisch korrekten Begriffe Spinalnervbzw. Zervikal-, Thorakal-, Lumbal- und Sakralnerv im medi-zinischen Alltag wenig gebräuchlich sind, wird in der folgen-den Darstellung meist der dort übliche Begriff Nervenwurzelals Synonym für N. spinalis gebraucht, zumal dieser nichtsanderes als die Vereinigung der Vorder- und Hinterwurzelndarstellt.

Eine ventrale Wurzel enthält etwa 200.000 Nervenfasern.Diese sind zum größten Teil Fortsätze der großen und kleinenmotorischen Vorderhornzellen (α- und γ-Motoneurone). Dieventralen Wurzeln C8–L2 besitzen zusätzlich efferente sym-pathische Fasern aus dem Seitenhorn, die Wurzeln S2–S4efferente parasympathische Axone. Schließlich verlaufen inden Vorderwurzeln auch noch zahlreiche marklose, überwie-gend Schmerzimpulse leitende Fasern.

Die dorsalen Wurzeln enthalten das 1,5- bis 3-Fache desFaserbestandes der ventralen Wurzeln. Die dort verlaufendenNervenfasern stellen die zentralen Fortsätze der Spinalgan-glienzellen dar. Das jeder Hinterwurzel zugehörige Spinal-ganglion befindet sich knapp proximal des Zusammentrittsvon Hinter- und Vorderwurzel zum Spinalnerv und liegtsomit extradural im Foramen intervertebrale. Lediglich anden sakralen Wurzeln liegen die Spinalganglien medial derZwischenwirbellöcher innerhalb des Sakralkanals.

Von großer praktischer Bedeutung sind die topischenBeziehungen zwischen Wirbelsäule und Nervenwurzeln. Ausder Höhenverschiebung zwischen Rückenmark und Wirbel-säule ergibt sich nämlich eine von zervikal nach lumbosakralzunehmende Länge der Nervenwurzeln. In den zervikothora-kalen Abschnitten treten die Nervenwurzeln nach kurzemintraspinalem Verlauf in der Nähe ihres Ursprungsortes durch

P. Berlit (*)Deutsche Gesellschaft für Neurologie, DGN, Berlin, DeutschlandE-Mail: [email protected]

M. StöhrAugsburg, DeutschlandE-Mail: [email protected]

# Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019P. Berlit (Hrsg.), Klinische Neurologie, Springer Reference Medizin,https://doi.org/10.1007/978-3-662-44768-0_44-1

1

das entsprechende Foramen intervertebrale. Im lumbalen undsakralen Spinalkanal – unterhalb des Rückenmark-Endes beiLWK1/2 – ziehen die Wurzeln L2–S5 als sog. Cauda equinaabwärts, um nach unterschiedlich langem Verlauf durch densegmental zugehörigen Intervertebralkanal auszutreten.

Symptomatik von NervenwurzelsyndromenDie Schädigung einer Nervenwurzel kann je nach Intensitätzu Reiz- und/oder Ausfallserscheinungen führen. Die durcheine Läsion der kutanen Hinterwurzelafferenzen hervorgeru-fenen sensiblen Reizerscheinungen, werden dabei in dasDermatom der betroffenen Wurzel projiziert (Abb. 2). Dabeiversteht man unter Dermatom jenen Teil der Hautoberfläche,der seine sensible Versorgung von einer bestimmten Nerven-wurzel erhält. Die sorgfältige Analyse der Lokalisation vonSchmerzen und/oder Parästhesien erlaubt meist die korrekteIdentifizierung der betroffenen Wurzel.

Sofern radikuläre Schmerzen zum Zeitpunkt der Untersu-chung fehlen, lassen sich diese, besonders bei den häufigenvertebragenen Wurzelläsionen, öfter provozieren, und zwareinerseits durch Husten, Pressen oder Niesen, andererseitsdurch aktive und passive Bewegungen in dem erkranktenWirbelsäulenabschnitt (z. B. Kopfneigung zur Seite, Dre-hung des Oberkörpers bzw. Rumpfbeugung oder -streckung).Allerdings können durch passive Kopfbewegungen auch Rei-zungen sensibler Bahnen im Halsmark ausgelöst werden, dienicht immer –wie z. B. das Lhermitte-Zeichen – bilateral undüber ausgedehnten Hautbezirken auftreten, sondern auchstreifenförmig nur einen Arm betreffen können. SolcheStrangirritationen führen jedoch in der Regel nur zu Paräs-thesien und nicht wie Nervenwurzelirritationen auch zuSchmerzen.

In den Nervenwurzeln verlaufen auch von inneren Orga-nen bzw. von Muskeln, Knochen und Gelenken kom-mende Tiefenafferenzen, deren Affektion öfter „atypische“

Schmerzprojektionen hervorruft, so z. B. in das Hüftgelenkund die Leistenregion bei Irritation der Wurzel L5 oder in dieHerzgegend bei einer Läsion der Wurzel C7. Seltener alssensible Reizerscheinungen sind motorische Irritationsphä-nomene wie Faszikulationen, Myokymien (Muskelwogen)und Krampi.

Von großer praktischer Bedeutung ist die Tatsache, dassim Zusammenhang mit Wirbelsäulenerkrankungen auchnichtradikuläre Schmerzausbreitungen (sog. pseudoradiku-läre Schmerzen) auftreten können. Diese beschränken sichin der Regel auf den Schultergürtel-Oberarm- bzw. denBeckengürtel-Oberschenkel-Bereich, lassen sich keinemDermatom exakt zuordnen und sind häufig auf begleitendeMyogelosen und Tendomyosen zurückzuführen. Demgegen-über können Muskelerkrankungen mit axialem Schwerpunktwie die myotone Dystrophie Typ 2 oder die fazioskapulohu-merale Muskeldystrophie zu therapierefraktären Lumbalgienführen und ein Bandscheibenleiden vortäuschen (Kottlorset al. 2010).

Nervenwurzelschädigungen, die nicht zu einer Irritation, son-dern zu einem Funktionsverlust dort verlaufender Hautafferen-

Abb. 1 Aus der Vereinigung von Hinterwurzel und Vorderwurzelresultiert der N. spinalis, welcher sich in einen kleinen dorsalen undeinen dicken ventralen Ast aufzweigt

Abb. 2 Anordnung der Dermatome. Zur Identifizierung einer Nerven-wurzelläsion sind im Bereich der Extremitäten besonders die distalstenAnteile des jeweiligen Dermatoms bedeutsam

2 P. Berlit und M. Stöhr

zen führen, bedingen eine Beeinträchtigung der Oberflächen-sensibilität. Wegen der starken Überlappung der Dermatomefindet sich meist nur ein schmaler hypästhetischer bzw. hypal-getischer Streifen im Zentrum des jeweiligen Dermatoms.

Der Funktionsausfall der in einer Nervenwurzel verlau-fenden motorischen Nervenfasern führt zu Lähmungen imbetreffenden Myotom. Dabei zählen zum Myotom alle Mus-keln, die von dieser Wurzel einen funktionell bedeutsamenTeil ihrer motorischen Innervation erhalten. Von besondererdiagnostischer Bedeutung sind dabei diejenigen Muskeln, dieden überwiegenden Teil ihrer motorischen Versorgung übereine Wurzel bekommen und deshalb als Kennmuskelnbezeichnet werden. So erhalten die Fuß- und Zehenheberden größten Teil ihrer motorischen Innervation von der Wur-zel L5, sodass ein Funktionsausfall dieser Wurzel eine meistausgeprägte Fuß- und Zehenheberschwäche zur Folge hat.Die Kennmuskeln der am häufigsten geschädigten Wurzelnsind in Abb. 6 zusammengestellt.

Bei der differenzialdiagnostischen Abgrenzung von Wur-zel- gegenüber Nervenläsionen ist die Tatsache wichtig, dasskein Muskel ausschließlich von einer einzigen Nervenwurzelinnerviert wird, sodass auch bei deren komplettem Ausfallkeine Paralyse, sondern nur eine mehr oder weniger schwereParese resultiert. Wegen dieser plurisegmentalen Versorgungist der Verteilungstyp der Lähmungen für die Annahme einerWurzelschädigung aufschlussreich, der dabei ein radikuläres– und kein nervales –Muster aufweist. Dieser Verteilungstypmuss durch eine motorische Funktionsprüfung aller inBetracht kommenden Muskelgruppen herausgearbeitet wer-den. Dabei ist auf durch Schmerzschonung bedingte Pseudo-paresen zu achten, die eine echte Lähmung imitieren und dasAusfallsmuster verwirren können. Darüber hinaus müssennicht alle einem Myotom zugehörigen Muskeln in gleichemAusmaß betroffen sein: meist sind die paraspinalen, die dis-talen bzw. die proximalen Muskeln eines Myotoms in abstei-gender Intensität einbezogen.

Muskelatrophien sind ein Spätsyndrom und daher dia-gnostisch von untergeordneter Bedeutung. Sie betreffen wiedie Paresen alle zu dem betroffenen Myotom gehörigen Mus-keln und sind am ausgeprägtesten in den jeweiligen Kenn-muskeln zu sehen. Sehr selten finden sich bei chronischenRadikulopathien umschriebene Muskelhypertrophien, diesich elektromyografisch auf pathologische Spontanaktivitätzurückführen lassen.

Ein Ausfall oder eine Abschwächung von Muskeleigenrefle-xen resultiert bei partieller oder totaler Leitungsunterbrechungim afferenten oder efferenten Schenkel des Reflexbogens. Diebei den wichtigstenWurzelsyndromen vorkommenden Eigenre-flexstörungen sind in Abb. 6 und 7 zusammengefasst. Auto-nome Störungen sind in der Regel nicht nachweisbar bis auf einHorner-Syndrom bei C8-Th1-Läsionen sowie Störungen derSchweißsekretion bei Ausfällen zwischen Th2 und L3.

Ergeben sich aufgrund von Anamnese und klinischemBefund Unsicherheiten, ist eine ergänzende elektromyografi-sche Diagnostik indiziert. Hiermit lassen sich klinisch stummeVeränderungen in einzelnenMuskeln aufdecken, und es gelingteine sichere Differenzierung zwischen einer echten und einerPseudoparese infolge Schmerzschonung oder Aggravation.

Das Vorgehen ist hierbei ähnlich wie bei der motorischenFunktionsprüfung, d. h., man versucht durch Analyse ver-schiedener Muskeln einen radikulären Verteilungstyp heraus-zuarbeiten (Abb. 3). Eine große Hilfe bei der Differenzierungradikulärer gegenüber nervalen Läsionen stellt die Ableitungvon der autochthonen Nacken- bzw. Rückenmuskulaturdar; der etwaige elektromyografische Nachweis von Dener-vierungszeichen in dieser vom R. dorsalis des Spinalnervsversorgten Muskulatur belegt den proximalen Sitz der Läsionund schließt eine im Plexus- bzw. Nervenbereich gelegeneSchädigung aus (Abb. 4). Im Bedarfsfall kann die Nadelelek-tromyografie durch verschiedene neurografische Technikenergänzt werden (F-Antworten, H-Reflex, SEP-Ableitungennach Nerven- oder Dermatomstimulation,Magnetstimulation).

Von großer differenzialdiagnostischer Bedeutung istschließlich die sensible Neurografie (Abb. 5). Selbst eineausgeprägte Nervenwurzelschädigung mit Sensibilitätsver-lust im entsprechenden Dermatom führt zu keiner Amplitu-denreduktion des sensiblen Nervenaktionspotenzials, wäh-rend Läsionen im Spinalganglion oder distal davon eineAmplitudenabnahme bis hin zum Potenzialverlust bewirken.

" Bei Vorliegen von Sensibilitätsstörungen spricht die Ampli-tudenabnahme bei der sensiblen Neurografie für eineperiphere Nervenläsion und gegen eine radikuläre Genese.

Bezüglich der Indikation zu radiologischen Untersuchun-gen ist zu sagen, dass diese nicht in der Lage sind, eineNervenwurzelschädigung nachzuweisen. Um Fehldiagnosenund -behandlungen zu vermeiden, sollte die radiologischeDiagnostik daher erst dann eingesetzt werden, wenn auf-grund von Exploration, neurologischer und elektromyografi-scher Untersuchung die Diagnose einer Radikulopathie (z. B.eines C7- oder S1-Syndroms) zweifelsfrei gestellt werdenkonnte. Danach sollten die verschiedenen Verfahren (CT,MRT, Myelografie) je nach der vermutlichen Ursache dif-ferenziert und gezielt eingesetzt werden. Nur wenn dabeifestgestellte morphologische Veränderungen mit der klini-schen Diagnose übereinstimmen, können diese als Ursacheder klinischen Symptomatik akzeptiert werden. Dabei mussdarauf geachtet werden, dass im Einzelfall Segmentationsstö-rungen (viergliedrige oder sechsgliedrige LWS) die neuro-anatomischen Verhältnisse verändern können (Kottlors undGlocker 2010).

Selbst hochgradige radiologischeVeränderungen können kli-nisch stumm bleiben, sodass man deren kausale Beziehung zueiner bestimmten Symptomatik in jedemEinzelfall kritisch über-

Nervenwurzelläsionen 3

a b

Abb. 3 a, b Elektromyografische Analyse einer Nervenwurzelläsionam Beispiel der Wurzel S1. Für eine radikuläre Schädigung sprechenpathologische EMG-Befunde (z. B. Fibrillationen und steile positive

Wellen) in den Kennmuskeln des betreffenden Myotoms sowie in derparavertebralen Muskulatur

Abb. 4 EMG-Ableitung aus derparavertebralen Muskulatur, dievom R. dorsalis des Spinalnervsinnerviert wird. Einpathologischer Befund in dieserMuskulatur belegt den proximalen(in der Regel radikulären)Läsionsort und schließt einePlexus- oderNervenschädigung aus (nachStöhr M 2005)

4 P. Berlit und M. Stöhr

prüfen muss, v. a. dann, wenn ein operatives Vorgehen erwogenwird. Auch ohne Beschwerden finden sich lumbale Bandschei-benvorfälle bis zum 60. Lebensjahr kernspintomografischbei 20–30 % der Bevölkerung und bei mehr als 60 % aller über60 Jahre alten Menschen (Jensen et al. 1994).

Spezielle Symptomatik

Zervikale Nervenwurzelläsionen Schädigungen der nurselten betroffenen oberen Zervikalwurzeln (C1–C4) lassensich meist durch die Lokalisierung von Parästhesien oderSchmerzen in das betreffende Dermatom nachweisen. BeiLäsionen der Wurzeln C3 und besonders C4 kommt es außer-dem zu einer partiellen einseitigen Zwerchfellparese, diemittels Durchleuchtung oder elektromyografisch nachweis-bar ist.

Die Symptomatik von Nervenwurzelläsionen C5–C8 ist inAbb. 6 zusammengefasst. Hierbei ist zu beachten, dass sen-sible Reizerscheinungen wie Schmerzen und Parästhesienmeist im gesamten Dermatom verspürt werden, während sichetwaige Sensibilitätsausfälle in der Regel auf das Zentrumdes Dermatoms beschränken. Die Paresen sind bevorzugt inden jeweiligen Kennmuskeln klinisch und ggf. elektromyo-grafisch nachweisbar. Zur Abgrenzung z. B. eines C5-Syndroms gegenüber einer N.-axillaris-Parese oder einesC8-Syndroms gegenüber einer N.-ulnaris-Parese oder aucheiner unteren Armplexuslähmung sind die bereits erwähnten

Methoden der paravertebralen EMG-Ableitung und der imSeitenvergleich durchgeführten sensiblen Neurografie vonBedeutung.

Untersuchungstechnik Bei Verdacht auf eine Zervikalwur-zelläsion erfolgt zunächst beim stehenden Patienten dieKraftprüfung des M. deltoideus: Elevation und Abduktionder Arme im Schultergelenk (C5). Im Liegen schließt sich diemotorische Funktionsprüfung der Unterarmbeuger (C6) und-strecker (C7) sowie die der Fingerbeuger und der Handmus-keln (C8) an. Die Reflexprüfung umfasst den Bizeps- (C6),Brachioradialis- (C6), Trizeps- (C7) und Fingerbeugereflex(C8). Mit dem Nadelrad wird im Seitenvergleich nach hypal-getischen Bezirken gefahndet, besonders gründlich inHautarealen, in denen Schmerzen oder Parästhesien angege-ben werden.

Thorakale Nervenwurzelläsionen Schädigungen einzelnerThorakalwurzeln (= thorakaler Spinalnerven) finden sichselten im Zusammenhang mit traumatischen, entzündlichenund v. a. tumorösen Prozessen im Bereich der BWS sowie beidort lokalisierten operativen Eingriffen (z. B. Tumorresek-tion, Korrektur von Traumafolgen oder Wirbelsäulenver-krümmungen). Die Symptomatik besteht in gürtelförmigenSchmerzen oder Parästhesien, die dem Verlauf des jeweiligenDermatoms folgen (Abb. 2). Motorische Ausfälle finden sichbei einer Schädigung der thorakalen Spinalnerven 1–6 nicht.Wenn aber die kaudalen Spinalnerven Th7–12 betroffen sind,

Abb. 5 Sensible Neurografie zurDifferenzierung radikulärer undinfraganglionärer Läsionen.Betrifft eine Schädigung denSpinalnerv (Nervenwurzel),bleiben das Spinalganglion unddessen distale Fortsätze intakt,sodass die sensible NeurografieNormalbefunde erbringt. Dagegenresultiert bei einer Schädigung imSpinalganglion oder distal davoneine Waller-Degeneration dersensiblen Axone mit konsekutiverAmplitudenminderung dessensiblenNervenaktionspotenzials bis hinzu dessen Ausfall.

Nervenwurzelläsionen 5

kann sich eine Bauchwandparese („paralytische Bauchwand-hernie“) manifestieren. Diese Vorwölbung der Bauchwand istam besten sichtbar im Stehen unter gleichzeitiger Anwen-dung der Bauchpresse, bei der auch eine paradoxe Bewegungder gelähmten Anteile eintritt: So werden z. B. bei bilateralerParese der kaudalen Bauchdeckenmuskulatur Unterbauchund Nabel nach kranial verzogen („Nabelwandern“). DerBauchhautreflex ist in der betroffenen Etage nicht auslösbar.

Eine thorakale Radikulopathie mit Betroffensein meistmehrerer Nervenwurzeln (uni- oder bilateral) findet sich nichtselten im Rahmen einer diabetischen Schwerpunktneuropa-thie und bei der Neuroborreliose, z. T. als einzige Manifesta-tion der Erkrankung. Neben gürtelförmigen Schmerzen, dievielfach zu einer ergebnislosen abdominellen Diagnostikführen, sind die Bauchwandparesen das führende Symptom.Elektromyografisch lässt sich sowohl in der paravertebralenals auch in der Bauchmuskulatur die partielle oder kompletteDenervierung nachweisen.

Die Differenzierung einer thorakalen Spinalnerven-(„Nervenwurzel-“)Läsion von einer weiter peripher, z. B.im Bereich der Interkostalnerven gelegenen Schädigung istklinisch oft schwierig. Für Ersteres sprechen die Provokationradikulärer Reizerscheinungen durch passive Bewegungenim betreffenden Wirbelsäulensegment sowie der elektromyo-grafische Nachweis von pathologischer Spontanaktivität inder paravertebralen Muskulatur.

Lumbosakrale Nervenwurzelläsionen Die seltenen Schä-digungen der Wurzeln L1–L3 lassen sich durch die in dasentsprechende Dermatom projizierten Schmerzen oder Paräs-thesien in Kombination mit einer Hüftbeugerschwäche dia-gnostizieren. Bei einer L3-Wurzelkompression kann dieSchmerzausstrahlung eine Kniegelenkerkrankung vortäu-schen (Hirabayashi et al. 2009).

Die häufigen und praktisch wichtigen radikulären Läsio-nen L4–S1 sind in Abb. 7 zusammengefasst. BeimL5-Syndrom besteht außer der Fuß- und Zehenheberschwä-

Abb. 6 Synopsis der wichtigsten zervikalen Nervenwurzelsyndrome

6 P. Berlit und M. Stöhr

che oft auch eine Parese der seitlichen Glutealmuskulatur mitpositivem Trendelenburg-Zeichen. Beim S1-Syndrom sindneben den Fuß- und Zehensenkern auch die ischiokruraleMuskulatur und der M. glutaeus maximus betroffen (klinischund/oder elektromyografisch).

Der gleichzeitige Ausfall von zwei oder mehr Wurzelnkommt im Lumbosakralbereich durch den parallelen Verlaufmehrerer Wurzeln nicht selten vor, wobei kombinierte Schä-digungen der Wurzeln L4 und L5 bzw. L5 und S1 am häu-figsten sind. Die jeweiligen Reiz- und Ausfallserscheinungenentsprechen einer Summation der in Abb. 7 dargestelltenmonoradikulären Syndrome.

Das Kaudasyndrom beruht auf einer Schädigung der imlumbosakralen Spinalkanal verlaufenden Cauda equina,wobei die hieraus resultierende Symptomatik vom Schädi-gungsniveau abhängt. Bei einer Läsion in Höhe LWK5/SWK1 finden sich bilaterale Lähmungen der Unter-schenkel-, Fuß- und Zehenbeuger, des M. glutaeus maximussowie eine Blasen-Mastdarm-Lähmung mit Harn- und Stuhl-verhaltung sowie Inkontinenz. Der Analsphinktertonus istherabgesetzt, der Analreflex ausgefallen. Außerdem bestehtein bilateraler Ausfall des Triceps-surae-Reflexes (Achilles-sehnenreflexes). Die Sensibilitätsstörungen sowie etwaige

Schmerzen betreffen sakrale Dermatome, d. h. die Dammre-gion mit der angrenzenden Oberschenkelinnenseite (sog.Reithosenanästhesie) sowie die Rückseite der Beine undden äußeren Fußrand.

Abweichungen von dieser Symptomatik ergeben sich,wenn die Cauda equina weiter rostral eine Schädigung erfährt.In diesem Fall gesellen sich je nach Lokalisation bilateraleAusfälle der Wurzeln L5 (v. a. Schwäche der Fuß- und Zehen-hebung), L4 (v. a. Quadrizepsschwäche, Ausfall des Quadri-zepsreflexes) und ggf. L2/3 (Hüftbeuger- und Adduktorenpa-resen) hinzu. Die Sensibilitätsstörungen umfassen in diesemFall auch noch die betroffenen lumbalen Dermatome.

Eine Schädigung der Cauda equina nach Abgang derWurzel S1 führt ausschließlich zu Blasen, Mastdarm- undPotenzstörungen sowie zu Sensibilitätsstörungen im Damm-und Gesäßbereich. Die Differenzialdiagnose gegenübereinem Conus-medullaris-Syndrom ist in solch einem Fallnur möglich, wenn die begleitende Sensibilitätsminderungeinen dissoziierten Charakter aufweist, da isolierte Störun-gen des Schmerz- und Temperatursinns nur bei der Conus-medullaris-Schädigung auftreten.

Da Schädigungen der Cauda equina oft nicht sicher vonSchädigungen des untersten Rückenmarkabschnitts unter-

Abb. 7 Synopsis der wichtigsten lumbosakralen Nervenwurzelsyndrome sowie des Kaudasyndroms

Nervenwurzelläsionen 7

schieden werden können, sollte man es sich zur Regelmachen, bei der MRT bzw. Myelografie nicht nur den unterenlumbalen und sakralen Spinalkanal darzustellen, sondernauch den in Höhe LWK1/2 endenden Conus medullaris undeinige Segmente darüber zu erfassen.

Untersuchungstechnik Beim Verdacht auf eine Läsion lum-bosakraler Nervenwurzeln hat sich folgende Untersuchungs-technik bewährt (Tab. 1): Die Untersuchung beginnt im Stehenmit der Abfolge Einbeinstand (Trendelenburg-L5), Kniebeuge(L3/4), Fersenstand (L5) sowie Zehenstand (S1). Diese Prü-fungen werden zunächst am rechten und dann am linken Beindurchgeführt. Im Anschluss daran setzt man den Patienten aufden Rand der Untersuchungsliege, wobei die Kniekehlen mitder Bettkante abschließen und die Unterschenkel locker herun-terhängen. In dieser Position werden die Hüftbeuger (L2/3)durch Anheben des Knies gegen Widerstand getestet. Darauffolgt die Prüfung des Quadrizeps- (L3/4) und des Triceps-surae-Reflexes (S1), die in dieser Haltung am zuverlässigstenzu untersuchen sind. Schließlich wird in Rückenlage dieUntersuchung des Adduktoren- (L3) und des Tibialis-poste-rior-Reflexes (L5) sowie die Kraftprüfung der Zehenstre-cker (L5), der Zehenbeuger (S1) und der Adduktoren(L3) durchgeführt, schließlich in Bauchlage die Funktionsprü-fung der Kniebeuger (S1) und des M. glutaeus maximus (S1).Die Sensibilitätsprüfung mit dem Nadelrad erfolgt am bestenim autonomen Hautareal identischer Dermatome im Seitenver-gleich: Tibiainnenkante (L4), medialer Fußrücken zwischenerstem und zweitem Mittelfußknochen (L5) sowie lateralerFußrand (S1). Beim geringsten Verdacht auf ein Kaudasyn-drom muss die Dammregion in die Sensibilitätsprüfung ein-bezogen sowie eine Prüfung des Analreflexes und des Anals-phinktertonus durchgeführt werden. Bereitet die Zuordnungeiner Symptomatik zu einer Wurzelläsion Schwierigkeiten,können eine intakte Schweißsekretion in sensibel betroffenenHautarealen, regelrechte sensible Nervenaktionspotenziale bei

der sensiblen Neurografie sowie der Nachweis pathologischerSpontanaktivität bei paravertebraler EMG-Ableitung den radi-kulären Sitz der Erkrankung untermauern.

2 Spezieller Teil: Ursachen vonNervenwurzelläsionen

Eine Übersicht über Ursachen von Nervenwurzelschädigun-gen sowie assoziierte Lokalisationsschwerpunkte und Beson-derheiten der Symptomatik gibt Tab. 2.

2.1 DegenerativeWirbelsäulenerkrankungen(Osteochondrose und Spondylarthrose)

Unter dem Begriff Osteochondrose subsumiert man die mitzunehmendem Lebensalter immer häufigeren regressivenVeränderungen der Zwischenwirbelscheibe mit reaktiverOsteophytenbildung an den Wirbelkanten. Durch Einrisseim Faserring der Bandscheibe können Teile des Gallertkernsdurch diesen hindurchtreten und sich gegen den Spinalkanalvorwölben. Die Prognose einer solchen Bandscheibenprotru-sion ist relativ günstig, da das intakte hintere Längsband zueiner Rückverlagerung des Nucleus pulposus führen kann.Wird das hintere Längsband perforiert, liegt ein Diskuspro-laps vor; sofern sich der Diskus von seinem Ursprungsortgelöst hat, spricht man von einem Bandscheibensequester,welcher epidural und sehr selten auch intradural gelegen seinkann (Abb. 8).

2.1.1 HalswirbelsäulePathogenese, Klinik und DiagnostikDie durch die Höhenminderung des Zwischenwirbelraumsbedingte Gefügelockerung des betroffenen Bewegungsseg-ments führt zu einer Fehlbelastung der Wirbelgelenke undbegünstigt die Entstehung einer Spondylarthrose, die beson-ders im zervikalen Bereich oft einen wichtigen pathogeneti-schen Teilfaktor bei vertebragenen Wurzelläsionen darstellt(Abb. 9).

An der Halswirbelsäule reichen infolge der Enge derForamina intervertebralia bereits leichtere zusätzliche Ein-engungen aus, um eine Wurzelkompression hervorzurufen,wobei entsprechend der Mobilität der HWS die SegmenteC5/6 sowie C6/7 – und damit die Wurzeln C6 und C7 – mitAbstand am häufigsten betroffen sind. Die knöcherne Einen-gung eines Foramen intervertebrale erfolgt meist von medialund ventral durch lippenartig vorspringende unkovertebraleExostosen, von dorsal durch den arthrotisch veränderten undz. T. subluxierten oberen Gelenkfortsatz des nächsttieferen

Tab. 1 Untersuchungstechnik bei Verdacht auf lumbosakrale Nerven-wurzelläsionen (L3–S1)

Untersuchungsposition Untersuchung

Stehend Einbeinstand (Trendelenburg-Zeichen?)KniebeugeFersenstandZehenstand

Sitzend Kraft der HüftbeugerQuadrizeps- und Triceps-surae-Reflex

Rückenlage Kraftprüfung der Adduktoren,Zehenbeuger und -streckerAdduktoren- und Tibialis-posterior-ReflexSensibilitätsprüfung der Dermatome L3 bisS1 im Seitenvergleich

Bauchlage Kraftprüfung der Kniebeuger und desM. glutaeus maximus

8 P. Berlit und M. Stöhr

Halswirbelkörpers. Für die Raumbeengung in einem Inter-vertebralkanal können daneben laterale Bandscheibenprotru-sionen und -vorfälle sowie eine Höhenminderung zwischenden angrenzenden Wirbelkörpern verantwortlich sein. Wegendes horizontalen Verlaufs der zervikalen Wurzeln wird voneiner erkrankten Bandscheibe in der Regel nur eine Wurzelirritiert (Abb. 9).

Die Symptome einer Zervikalwurzelläsion wurden bereitsoben dargestellt. Im Rahmen der schmerzreflektorischenRuhigstellung des erkrankten Bewegungssegments bestehtmeist ein palpabler Hartspann der Nacken-Schulter-Mus-kulatur mit Bewegungseinschränkung der HWS, teilweise

auch eine fixierte Fehlhaltung des Kopfes in Entlastungsstel-lung.

Eine bildgebende Diagnostik ist dann erforderlich, wennaufgrund der Schwere der neurologischen Ausfallserschei-nungen oder wegen therapieresistenter Schmerzen ein opera-tives Vorgehen erwogen wird. Zervikalwurzelkompressionenkönnen mittels MRT oder durch die Kombination von zervi-kaler Myelografie mit nachfolgender Computertomografie(„Myelo-CT“) nachgewiesen werden.

TherapieDie konservative Therapie zervikaler Wurzelkompressions-syndrome besteht in der kurzfristigen Ruhigstellung der

Abb. 8 Verlaufsstadien der Bandscheibendegeneration

Tab. 2 Ursachen von Nervenwurzelschädigungen. (Nach Stöhr und Riffel 1988)

Ursachen Lokalisationsschwerpunkte und Besonderheiten der Symptomatik

Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen (Osteochondrose undSpondylarthrose)

Monoradikuläre Syndrome mit Bevorzugung der Wurzeln C5–C7

sowie L4–S1Beim medialen Massenprolaps im LWS-Bereich: Kaudasyndrom

Enger lumbaler Spinalkanal Neurogene Claudicatio beim Gehen oder variable uni- oder bilateraleradikuläre Syndrome

Sonstige vertebragene Prozesse (Spondylolisthesis, Morbus Bechterew,Traumen, Tumoren, Entzündungen, Osteoporose mit Spontanfraktur)

Uni- und bilaterale Läsionen von Nervenwurzeln oder Kaudasyndromoder neurogene Claudicatio

Tumoren von Nervenwurzeln und angrenzenden Strukturen(Schwannome, Meningeome, Karzinom- und Sarkommetastasen,Plasmozytom, maligne Lymphome, Leukosen. Differenzialdiagnose:Abszesse und Hämatome)

Initial meist einseitiges monoradikuläres Schmerzsyndrom; bei (z. B.epiduraler) Tumorausbreitung auch mehrwurzelige und bilaterale bzw.Kaudasyndrome

Lumbosakral lokalisierte Missbildungstumoren und Ependymome Konus- bzw. Kaudasyndrom

Meningeosis carcinomatosa und sarcomatosa; Abtropfmetastasen (z. B.bei Medulloblastom)

Polyradikuläre Symptomatik

Radikulitiden(Zoster, Herpes simplex, Neuroborreliose, fokale Immun-Neuropathien)

Hautveränderungen: Zoster- bzw. Herpes-simplex-Bläschen;Erythema migrans; Eiweiß- und Zellerhöhung im Liquor

Metabolische Radikulopathien Besonders bei älteren Diabetikern einzelne oder mehrere thorakaleoder lumbosakrale Nervenwurzeln betroffen

Dysrhaphische Störungen und Tethered-Cord-Syndrom Konus-Kauda-Syndrome, besonders bei Kindern im Zusammenhangmit Wachstumsschüben

Arachnopathien Mono- oder polyradikuläre Reiz- und Ausfallssymptome

Punktion und Injektion Mechanische oder toxische Nervenwurzelläsionen; seltenKaudasyndrom

Radiogene Nervenwurzelläsionen Schmerzlos sich ausbildende Muskelatrophien und Paresen an beidenunteren Extremitäten

Nervenwurzelläsionen 9

HWS mittels einer individuell angepassten Halskrawatte inKombination mit Analgetika, Muskelrelaxanzien und lokalerEisanwendung. Physiotherapie in Kombination mit manuel-ler Therapie und Bewegungsübungen sollten frühzeitig ein-gesetzt werden.

Therapieempfehlungen• Die Analgetika müssen in angemessenen Intervallen

verabreicht werden (z. B. alle 8–12 h 50–100 mgDiclofenac oder alle 6–8 h 100–200 mg Tramadol inretardierter Form). Bei starken Schmerzen könnenkurzfristig retardierte Opioide indiziert sein.

• Zur Muskelrelaxation empfehlen sich Wirkstoffeaus der Benzodiazepinreihe (z. B. Tetrazepam in8-stündigen Intervallen), wobei die sedierende Wir-kung besonders bei ambulanten Patienten zubeachten ist.

• Gegen neuropathische Schmerzen wirksame Sub-stanzen wie Pregabalin oder Amitryptilin könnenergänzend gegeben werden.

Das beim Versagen dieser Behandlung bzw. bei hinzutreten-den funktionell bedeutsamen Paresen indizierte operativeVorgehen hängt vom Ausmaß und von der Lokalisation derdegenerativen HWS-Veränderungen ab. Wenn man sich zueinem operativen Vorgehen entschließt, sollte der Eingriffinnerhalb der ersten Tage nach dem Auftreten von Paresenvorgenommen werden, da bei frühzeitiger Wurzelentlastung

mit einer besseren Rückbildungstendenz gerechnet werdenkann. Die neurochirurgische Dekompression der knöchernkomprimierten Nervenwurzel erfolgt in Abhängigkeit vomKompressionsort entweder von ventral oder von dorsal. Beilateralen und intraforaminalen Bandscheibenvorfällen kom-men eine ACDF („anterior cervical discectomy with fusion“)oder eine PCF („posterior cervical foraminotomy“) in Frage.Bei medianen und paramedianen Bandscheibenvorfällensowie medialen spondylotischen Neubildungen sollte derventrale Zugang gewählt werden. Neben der ACDF kommtder Bandscheibenersatz mit Prothese in Frage.

Im Gefolge eines operativen Eingriffs ist eine kranken-gymnastische Behandlung mit folgenden Zielen indiziert:Haltungsschulung, Beseitigung von Muskelverspannungensowie Kräftigung der Schulter-Nacken-Muskulatur. Einemanuelle Therapie ist hier kontraindiziert.

2.1.2 LendenwirbelsäulePathogenese, Klinik und DiagnostikIm Bereich der Lendenwirbelsäule dominieren die Bandschei-benvorfälle zwischen LWK4 und 5 sowie zwischen LWK5und Os sacrum mit einer Kompression der Wurzeln L5 bzw.S1. Weit lateral gelegene Hernien können – besonders wennsie außerdem etwas nach kranial gerichtet sind – isoliert oderzusätzlich die nächsthöhere Wurzel komprimieren (Abb. 10).Die gleichzeitige Schädigung von zwei lumbosakralen Wur-zeln ist besonders bei größeren mediolateralen Bandscheiben-vorfällen keineswegs selten.

Bei einem medialen Massenprolaps resultieren bilateraleKompressionen aller in der betreffenden Etage vorbeizie-henden Nervenwurzeln der Cauda equina (KaudasyndromAbschn. 1 „Lumbosakrale Nervenläsionen“).

Beim Zustandekommen einer lumbosakralen Wurzelkom-pression spielen außer dem Bandscheibenvorfall die kon-stitutionell oder durch knöcherne Anbauten festgelegte Weitedes Spinalkanals (v. a. des Recessus lateralis), die Höhe des

Abb. 9 Pathogenetische Mechanismen bei zervikalen Wurzelkompres-sionssyndromen infolge Osteochondrose. Mögliche Ursachen einerKompression zervikaler Nervenwurzeln sind laterale (links) oder intra-foraminale (rechts) Bandscheibenprotrusionen bzw. -vorfälle, knöcher-ne Anbauten an der dorsalen Wirbelkörperkante sowie eine Einengungdes Foramen intervertebrale im Zusammenhang mit einer Wirbelgelen-karthrose

Abb. 10 Bandscheibenvorfall in der Etage LWK4/5. Ein mediolateralgelegener Vorfall in der genannten Etage führt zur Kompression derWurzel L5 (links), während ein weit lateral gelegener und nach obenverlagerter Vorfall eine Kompression der Wurzel L4 bedingt (rechts)

10 P. Berlit und M. Stöhr

Zwischenwirbelraums, Verschiebungen der Wirbelkörpersowie – besonders bei voroperierten Patienten – narbigeVeränderungen eine pathogenetisch manchmal entschei-dende Rolle.

Die Diagnose eines lumbalen Bandscheibenvorfalls mitWurzelkompression ist meist einfach. Oft weisen vorausge-gangene belastungsabhängige Lumbalgien („Hexenschuss,Lumbago“) bereits auf das Bandscheibenleiden hin. Oft imZusammenhang mit einer Belastung der LWS (Heben oderTragen einer Last, Erschütterung, ungeschickte Bewegung)tritt akut ein radikulärer Schmerz, meist gemeinsam mit einerLumbago auf. Typischerweise wird der radikuläre Schmerzdurch Husten, Pressen und Niesen sowie durch Bewegungenim schmerzreflektorisch ruhiggestellten erkrankten Bewe-gungssegment provoziert, wobei es gleichgültig ist, ob manz. B. eine Rumpfbeugung oder ein Anheben des gestrecktenBeins in Rückenlage (Lasègue-Zeichen) durchführt. Bei Irri-tationen der Wurzeln L3 und L4 kann man ein umgekehrtesLasègue-Zeichen finden, in Form einer Schmerzprovokationdurch Überstreckung des Hüftgelenks. Bei weit lateral imRecessus lateralis gelegenen Bandscheibenvorfällen ist öftersein ausschließlich radikulärer Schmerz ohne begleitendeLumbalgie und ohne bewegungsabhängige Verstärkung vor-handen. Bei extraspinalen hohen lumbalen Diskushernienkönnen Rückenschmerzen weitgehend fehlen.

Ein besonderes diagnostisches Problem stellen lumbosakraleWurzelsyndrome nach vorangegangener Bandscheibenopera-tion dar, wobei intraoperative Schädigungen, postoperativeNachblutungen und – nach längerem Intervall – Narbenbildun-gen sowie Rezidivvorfälle verantwortlich sind. Ausschließlichbelastungsabhängig auftretende Schmerzen können auf einerpostoperativen Instabilität des operierten Bewegungssegmentesberuhen.

Zur Diagnose eines Bandscheibenvorfalls genügt meistbereits die Durchführung einer Computertomografie derLWS, welche kostengünstiger ist als eine Magnetresonanz-tomografie und annähernd gleich gute diagnostische Ergeb-nisse liefert. Bei typischer Anamnese und fehlenden funk-tionsbehindernden Paresen kann man bei etwa zwei Drittelnaller Patienten auf eine Bildgebung verzichten, da sich dieSymptomatik unter konservativer Therapie innerhalb von8–10 Tagen ganz oder weitgehend zurückbildet.

TherapieDie konservative Therapie der lumbosakralen Wurzelkom-pressionssyndrome beschränkt sich in der akuten Phase aufvorübergehende Bettruhe in flacher Rückenlage oder in Stu-fenlagerung (je nach Schmerzlinderung). Bettruhe solltedabei nur in der Akutphase verordnet werden. Eine früheMobilisierung und leichte bis mäßige Belastung ist wichtig.

Eine frühzeitige und ausreichende analgetische Therapiemit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR; Roelofs et al.2008) und muskelrelaxierender Therapie in Kombination mit

lokaler Eis- oderWärmeanwendung (z. B. in Form von Fango-packungen) sollte erfolgen. Das Ziel dieser Maßnahmen istnicht nur eine unmittelbare Schmerzlinderung, sondern aucheine Durchbrechung der schmerzreflektorischen Fixierung derbetroffenen Bewegungssegmente. Bei starken Schmerzen kön-nen kurzfristig auch (retardierte) Opioide indiziert sein.

" Cave Lokale epidurale Kortikosteroid-Injektionen könnenzwar einen günstigen Effekt auf die Schmerzen durchBeeinflussung der sekundären Entzündungsreaktionenzeigen, sind jedoch in aller Regel entbehrlich und wegender Gefahr einer Spritzenschädigung oder Infektion ge-fährlich.

Mit einsetzender analgetischer Wirkung erfolgt die vorsich-tige Remobilisation in Form einer krankengymnastischenÜbungsbehandlung, evtl. unter Ausschaltung der Schwer-kraft im Bewegungsbad. Diese aktive Übungsbehandlungmuss über die Symptomfreiheit hinaus fortgesetzt und nacheinigen Wochen durch ein tägliches selbstständig durchzu-führendes Übungsprogramm zur Kräftigung der Bauch- undRückenmuskulatur abgelöst werden. Während dieserBehandlungsphase muss der Patient darüber hinaus zu einem„bandscheibengerechten“ Verhalten erzogen werden: korrek-tes Stehen und Sitzen am Arbeitsplatz, Heben von Lasten ausder Hocke anstatt aus dem Kreuz heraus, symmetrischeBelastung beim Tragen von Lasten, adäquates Schuhwerk.

Eine Indikation zur elektiven Operation besteht bei gesi-cherter morphologischer Ursache der Schmerzsymptomatikund Versagen der konservativen Therapie innerhalb von 1–3Wochen, bei progredienten Paresen oder beim Vorliegenfunktionell relevanter neurologischer Ausfälle.

Eine Notfalloperation ist bei den seltenen Kaudasyndro-men infolge eines medialen Massenprolaps vorzunehmen, dabereits ein Zuwarten über mehrere Stunden zu irreversiblenBlasen-Mastdarm-Lähmungen und Potenzstörungen führenkann. Für die Mehrzahl der Patienten ist nach wie vor einoffenes operatives Vorgehen am zweckmäßigsten.

Eine in mikrochirurgischer Technik durchgeführte Dis-kektomie erbringt bessere Resultate als die konventionelleOperationsmethode und weist seltener perioperative Kompli-kationen auf. Lediglich die Häufigkeit einer postoperativenDiszitis liegt bei beiden Verfahren in einer vergleichbarenGrößenordnung (0–2,3 %). Die Ergebnisse der Bandschei-benchirurgie sind in erster Linie von der sorgfältigen Aus-wahl geeigneter Patienten abhängig und erst in zweiter Linievon den chirurgischen Verfahren. Nur bei eindeutig radikulä-ren Syndromen mit damit korrelierendem Befund in derBildgebung werden befriedigende Ergebnisse erreicht.

Perkutane Operationsverfahren sind nur dann zu erwägen,wenn eine Sequestrierung von Bandscheibenmaterial sicherausgeschlossen ist und keine begleitenden knöchernen Ein-engungen bestehen. Die verschiedenen perkutanen Techniken

Nervenwurzelläsionen 11

erreichen die Entlastung der komprimierten Nervenwurzel aufzwei prinzipiell unterschiedlichen Wegen:

Bei der perkutanen Diskektomie wird der Prolaps mit einemendoskopischen Instrumentarium über einen posterolateralenZugang direkt erreicht und entfernt. Ein anderes Verfahrenstrebt eine intradiskale Dekompression durch Punktion desNucleus pulposus an und zwar durch mechanisches Abtragenund Aspirieren von Bandscheibenmaterial mit einem sog. Nu-kleotom. Das Outcome ist nach Diskektomie und Mikrodiskek-tomie besser als nach minimalinvasiven Eingriffen (Arts et al.2009).

Weitgehend verlassen sind die Induktion einer enzymati-schen Proteolyse mit Chymopapain oder eine intradiskaleVaporisierung des Nucleus pulposus mittels Laserenergie(perkutane Laserdiskektomie).

In seltenen Fällen von postoperativer Segmentinstabilitätkann eine operative Spondylodese indiziert sein.

Chronifizierte Rückenschmerzen ohne radikuläre Ausstrah-lung sind durch operative Maßnahmen nicht zu verbessern!Beim Übergang vom akuten in ein chronisches Stadium kön-nen Physiotherapie, schmerzdistanzierende Antidepressivaund psychotherapeutische Verfahren (Verhaltenstherapie,Schmerzbewältigungsprogramme) sich sinnvoll ergänzen.

2.2 Lumbale Spinalkanalstenose

PathogeneseIm Grunde beruhen alle Wurzelkompressionssyndrome imZusammenhang mit degenerativen Wirbelsäulenveränderun-gen auf einem Missverhältnis zwischen dem vorhandenenund dem von den Nervenwurzeln benötigten Raum. Bei einermehr oder weniger akut einsetzenden Raumbeengung durcheinen Bandscheibenvorfall wird jedoch nicht von einer Spi-nalkanalstenose gesprochen, sondern lediglich bei einer chro-nischen Enge, die sich oft auf der Basis einer relativen kon-genitalen Stenose entwickelt.

Normalerweise beträgt der Sagittaldurchmesser des lum-balen Spinalkanals über 14 mm; bei Werten zwischen12–14 mm wird von einer relativen, bei Werten unter12 mm von einer absoluten Spinalkanalstenose gesprochen.Einschränkend ist zu diesen Messwerten zu sagen, dass nichtnur die knöcherne Begrenzung pathogenetisch bedeutsam ist,sondern auch die Weichteile (z. B. die Dicke der Ligg. flava).Eine über die anlagemäßige Stenose hinausgehende Einen-gung kann durch jede der begrenzenden Strukturen erfolgen,z. B. durch eine Hypertrophie der Gelenkfortsätze, Osteo-phyten, eine Hypertrophie des Lig. flavum, aber auch durcheine Verlagerung der Wirbelkörper gegeneinander wie bei derSpondylolisthesis. Außerdem kann eine bei normalen räum-lichen Verhältnissen belanglose Bandscheibenprotrusion im

Fall einer konstitutionellen Enge zur Entwicklung von Wur-zelkompressionssyndromen beitragen, was bei einer etwai-gen operativen Therapie zu berücksichtigen ist. Insbesonderenach einer länger dauernden Kortikoidtherapie kann einespinale Lipomatose eine Rolle spielen.

Außer dem Gesamtdurchmesser des Spinalkanals ist dieWeite des Recessus lateralis von Bedeutung. Dieser stellt denlateralen Teil des – im unteren LWS-Bereich – dreieckförmi-gen Spinalkanals dar, durch den die zugehörige Nerven-wurzel wie in einer Rinne verläuft, bevor sie den Spinalkanalam Unterrand der Bogenwurzel durch das Foramen interver-tebrale verlässt. Der Recessus lateralis wird dorsal begrenztdurch das Lig. flavum und den kranialen Gelenkfortsatz desnächsttieferen Wirbelkörpers, lateral durch die Bogenwurzelund ventral durch die Hinterkante des Wirbelkörpers und denlateralen Teil der Bandscheibenhinterfläche. Eine Einengungdes Recessus erfolgt vornehmlich von dorsal durch eineHypertrophie der Gelenkfortsätze, aus der auch die „Klee-blattform“ des Spinalkanals resultiert (Abb. 11). Auch eineErniedrigung einer Bandscheibe durch Degeneration oderoperative Entfernung mit konsekutivem Rückwärtsgleitendes kranialen Wirbelkörpers sowie Vorrücken des kranialenGelenkfortsatzes des nächsttieferen Wirbelkörpers kommt alsUrsache einer Einengung des Recessus lateralis in Betracht.Dabei wird ein anteroposteriorer Durchmesser von 2 mm unddarunter als sichere, ein Durchmesser von 2–3 mm als rela-tive Einengung betrachtet.

Einengungen des Spinalkanals werden als zentrale Ste-nose, Einengungen des Recessus lateralis als laterale Stenose

Abb. 11 Pathogenetischer Mechanismus der bilateralen Schädigungeinzelner lumbosakraler Nervenwurzeln mit Aussparung der kaudalenSakralwurzeln. Ein medialer Bandscheibenvorfall kann in Kombinationmit einer Enge des lumbalen Spinalkanals (v. a. der Recessus lateralisinfolge hypertrophierter Gelenkfortsätze) eine isolierte bilaterale Kom-pression der in Höhe des Vorfalls lateral gelegenen Nervenwurzelnhervorrufen, während die medial gelegenen kaudaleren Wurzeln derKompression entgehen

12 P. Berlit und M. Stöhr

bezeichnet, wobei diese beiden Stenoseformen sowohl iso-liert als auch in Kombination vorkommen.

KlinikIn Abhängigkeit von der Lokalisation und dem Ausmaß einerSpinalkanalstenose können sich unterschiedliche klinischeBilder entwickeln. Im Vergleich zu den Bandscheibenvor-fällen zeichnen sich diese durch eine eher subakute bis chro-nische Verlaufsform aus. Im Einzelnen finden sich uni- undbilaterale monoradikuläre Syndrome, uni- und bilaterale Syn-drome von 2–3 benachbarten Wurzeln (Abb. 11), Kauda-syndrome sowie besonders das Syndrom der neurogenenClaudicatio.

Als neurogene Claudicatio intermittens wird eine Symp-tomatik beschrieben, die ausschließlich intermittierend nachkürzeren oder längeren Gehstrecken auftritt. In Analogie zumintermittierenden schmerzbedingten Stehenbleiben bei derarteriellen Verschlusskrankheit wurde der Begriff der neuro-genen Claudicatio intermittens geprägt: Da sich die Sympto-matik auch beim aufrechten Stehen entwickelt, spricht mankorrekter von einer haltungsabhängigen intermittierendenEinklemmung der Cauda equina bzw. einzelner lumbosakra-ler Nervenwurzeln. Je nachdem, ob die gesamte Caudaequina oder – was wesentlich häufiger vorkommt – nureinzelne lumbosakrale Nervenwurzeln (ein- oder beidseitig)komprimiert werden, entwickeln sich uni- oder bilateraleBeinschmerzen nach einer unterschiedlich langen Gehstre-cke. Am häufigsten sind dabei die Dermatome L4, L5 und/oder S1 betroffen. In schwereren Fällen können auch Paräs-thesien und Paresen auftreten, von denen sich besonders dieFußheber- und die seltenere Kniestreckerschwäche negativauf das Gangbild auswirken.

" Im Unterschied zur arteriellen Verschlusskrankheit führtdas Stehenbleiben in aufrechter Haltung nicht zum Nach-lassen der Schmerzen, sondern lediglich das Vorwärtsbeu-gen des Rumpfes (im Stehen oder Sitzen) bzw. das Hinle-gen mit angebeugten Beinen (Entlordosierung). ImUnterschied zur vaskulären Claudicatio intermittens kön-nen die Patienten beschwerdefrei über viele Kilometer Radfahren.

Die Symptomatik kommt dadurch zustande, dass sich beiaufrechter Haltung der Durchmesser des Spinalkanals ver-kleinert; bei der lumbalen Myelografie sieht man oft einenKontrastmittelabbruch bei Lordose der LWS, der sich unterKyphosierung auflöst. Demgemäß entwickeln sich bei denPatienten die Beschwerden beim Bergabgehen rascher alsbeim Bergaufgehen.

DiagnostikDie Diagnose einer neurogenen Claudicatio intermittens stehtund fällt mit einer exakten Anamnese, da der neurologische

Untersuchungsbefund im Intervall oft unauffällig ist. In derUntersuchungssituation kann man die segmental angeordne-ten Schmerzen oft durch längeres Stehen in Hyperlordosie-rung der LWS provozieren. Die bildgebende Diagnostik istnur im Zusammenhang mit einer typischen klinischen Symp-tomatik beweiskräftig, wobei neben einer lumbalen MRTauchdie Kombination von lumbaler Myelografie und anschließen-der Computertomografie („Myelo-CT“) möglich ist.

TherapieDie Therapie der genannten Engesyndrome ist in aller Regeloperativ, wobei der Umfang des Eingriffs je nach klinischerSymptomatik und räumlichen Verhältnissen sowie altersab-hängig von der Facettektomie bis zur Laminektomie übermehrere Etagen unter Belassung der Gelenkfortsätze reicht.Aus Stabilitätsgründen sollte versucht werden, mit einer in-terlaminaren Dekompression auf einer oder mehreren Etagenmit Erhaltung der Dornfortsätze und der interspinalen Liga-mente auszukommen, um eine postoperative Instabilität zuverhindern. Der Nutzen einer gleichzeitigen Spondylodesebei Dekompressionsoperation ist umstritten (Forsth et al.2016). Bei der isolierten Enge des Recessus lateralis ist dieDekompression der betroffenen Nervenwurzel durch Entda-chung des Wurzelkanals angezeigt. Ob die Kurzzeitprognoseoder das Outcome nach 2 Jahren postoperativ tatsächlichbesser ist als bei einem konservativen Vorgehen (Weinsteinet al. 2010), ist nicht endgültig geklärt (Zaina et al. 2016).

2.3 Sonstige vertebragene Prozesse

2.3.1 SpondylolisthesisLediglich zwei Formen sind von praktischer Bedeutung:

1. die spondylolytische Form, die auf eine Stressfraktur amIsthmus der Bogenwurzel mit Pseudarthrose und u. U.Kallusbildung im Spaltbereich zurückgeführt wird,

2. die degenerative Form des Wirbelgleitens (Pseudo-spondylolisthesis) mit Subluxation der Gelenke infolgeeiner Bandscheibenerniedrigung und Lockerung desBandapparats.

Viele an einer solchen Erkrankung leidenden Patientenbleiben symptomfrei oder verspüren lediglich intermittie-rende Kreuzschmerzen. In Abhängigkeit vom Ausmaß derVeränderungen können aber auch intermittierende oder kon-stante radikuläre Symptome bis hin zur Kaudalähmung auf-treten, wobei folgende Pathomechanismen zugrunde liegen:

• Bei der spondylolytischen Form bildet sich häufig imBereich der Pseudarthrose Granulations- oder Kallusge-webe, welches die hieran adhärente Nervenwurzel uni-oder bilateral komprimieren kann.

Nervenwurzelläsionen 13

• Eine chronische ein- oder beidseitige Wurzelkompressionresultiert ebenso bei der Einengung des Foramen interver-tebrale infolge von Höhenminderung, Gleitvorgängenund/oder knöchernen Anbauten.

• Bei der spondylolytischen Form tritt bei starkem Wirbel-gleiten eine Zerrung der Cauda equina über die Hinterkantedes nächsttieferen Wirbelkörpers ein, die zu permanentenoder intermittierenden Reiz- und Ausfallssymptomenführen kann.

Bei der degenerativen Form, bei der die Bogenanteile mitin den Gleitvorgang einbezogen sind, resultiert außerdemeine Verkleinerung des Sagittaldurchmessers des Spinalka-nals mit der möglichen Konsequenz einer Kaudakompres-sion.

In Abhängigkeit von den jeweils vorliegenden pathogene-tischen Mechanismen kommen uni- und bilaterale Schädi-gungen einer oder mehrerer Wurzeln ebenso vor wie einCauda-equina-Syndrom. Manche Patienten leiden lediglichin aufrechter Körperhaltung, d. h. beim Stehen oder Gehen,an radikulären Reiz- und evtl. Ausfallserscheinungen imSinne einer neurogenen Claudicatio (s. oben). Infolge derabnormen Belastung kommen selbstverständlich sowohl inder Etage des Gleitwirbels als auch in den darüber- oderdarunterliegenden Segmenten Bandscheibenvorfälle mitmöglichen hierdurch bedingten Nervenwurzelläsionen vor.

2.3.2 Morbus BechterewDie ankylosierende Spondylitis kann in der aktiven Krank-heitsphase mit Läsionen einzelner thorakaler oder lumbosa-kraler Nervenwurzeln einhergehen, wobei in der Regel ledig-lich radikuläre Schmerzen auftreten. Als Spätkomplikationkommen sehr langsam progrediente Cauda-equina-Syn-drome teilweise in Kombination mit Blasen-Mastdarm-Läh-mungen vor. Schmerzen in der Dammregion und/oder in denBeinen können das Kaudasyndrom einleiten oder begleiten.Das Computertomogramm zeigt eine für dieses Syndromcharakteristische Kombination von dorsalen Arachnoidalzys-ten und korrespondierenden Erosionen in den Wirbelbögenund Dornfortsätzen kaudal von LWK1.

Die Pathogenese des Kaudasyndroms bei der Bechterew-Erkrankung ist unklar. Am wahrscheinlichsten ist ein krank-heitsbedingter Elastizitätsverlust des kaudalen Duralsacks mitzusätzlichen Adhäsionen an den umgebenden Strukturen, waszu einer verminderten Reagibilität auf intermittierende Liquord-ruckerhöhungen führt. Die ungedämpften Liquordrucksteige-rungen scheinen die Nervenwurzeln im Sinne einer repetitivenMikrotraumatisierung zu schädigen, wobei erste Hinweise vor-liegen, dass durch die Anlage eines lumboperitonealen Shuntseine weitere Progression verhindert werden kann.

2.3.3 Weitere vertebragene Erkrankungen, diezur Schädigung einzelner Nervenwurzelnbzw. zu einem Kaudasyndrom führenkönnen

Hier sind v. a. Wirbelsäulenverletzungen, Spondylitiden undSpondylodiszitiden sowie Spontanfrakturen von Wirbelkör-pern aufzuführen.

2.4 Tumoren von Nervenwurzeln undangrenzenden Strukturen

Nervenwurzelläsionen kommen im Zusammenhang mit ver-schiedenartigen, von den Nervenwurzeln oder unmittelbarbenachbarten Strukturen ausgehenden Tumoren vor; dabeisind Neurinome und Meningeome intradural, metastatischeProzesse mit wenigen Ausnahmen extradural gelegen. Dieklinische Verdachtsdiagnose ergibt sich aus dem Vorliegeneines oft allmählich einsetzenden und in der Folgezeit pro-gredienten radikulären Syndroms.

2.4.1 Neurinome (Schwannome)Schwannome entwickeln sich am häufigsten intradural imHinterwurzelbereich und können über lange Zeit ausschließ-lich radikuläre Schmerzen hervorrufen. Sobald die betroffeneWurzel stärker in Mitleidenschaft gezogen wird, resultierendaneben sensible, motorische und Reflexausfälle im betrof-fenen Segment. Häufig werden die Symptome je nachTumorlokalisation über Monate oder Jahre hinweg als „Zer-vikobrachialgie“, „Interkostalneuralgie“ bzw. „Ischias“ fehl-gedeutet. Sofern in seltenen Fällen ein Tumor das Syndromder neurogenen Claudicatio intermittens hervorruft, ist auchdie Verwechslung mit einer Spinalkanalstenose möglich.

Bei der Neurofibromatose muss mit einem multiplen Vor-kommen von Neurinomen mit Häufung im Kaudabereichgerechnet werden. Bei der kernspin- oder computertomografi-schen Abgrenzung gegen andere Tumoren ist von Bedeutung,dass Schwannome ebenso wie Meningeome Kontrastmittel auf-nehmen und dass sie meist zu einer Knochenarrosion führen.

2.4.2 MeningeomeDiese Tumoren sind im Hinblick auf die initiale Symptoma-tik, die Häufigkeit und die langsame Wachstumstendenz mitden Neurinomen vergleichbar, breiten sich aber in der Regelnur innerhalb des Spinalkanals aus, sodass sie früher als diesezu Symptomen von Seiten der langen Bahnen führen.

2.4.3 TumormetastasenDie mit Abstand häufigsten und fast immer extraduralgelegenen Tumoren, die zur Schädigung einer oder mehrererNervenwurzeln führen, sind Karzinommetastasen. Daher

14 P. Berlit und M. Stöhr

sind radikuläre Schmerzen bei vielen Patienten das Initial-symptom von spinalen Tumormetastasen und für deren früh-zeitige Erkennung von allergrößter Bedeutung. Bei Metasta-sierungen in die Wirbelbögen bleiben die Symptome auch imweiteren Verlauf oft auf die Nervenwurzeln beschränkt, wäh-rend sich in den übrigen Fällen in der Regel nach Wochen bisMonaten die zusätzlichen Symptome eines spinalen Quer-schnitts- bzw. Kaudasyndroms ausbilden.

Die wichtigsten Primärtumoren sind Bronchial-, Prosta-ta-, Mamma-, Schilddrüsenkarzinome und Hyperne-phrome, die sich z. T. direkt, häufiger aber im Anschlussan einen Wirbelbefall im Epiduralraum absiedeln. In etwaeinem Drittel der Fälle finden sich – teils asymptomatische –multiple epidurale Metastasen, sodass bei der bildgebendenDiagnostik die gesamte Wirbelsäule erfasst werden sollte(sofern therapeutische Konsequenzen zu erwarten sind).

Außer den Karzinommetastasen können sich zahlreicheandere gut- und bösartige Geschwülste direkt oder über einenWirbelbefall im Epiduralraum ausbreiten und Nervenwurzel-läsionen hervorrufen. Am wichtigsten sind das Plasmo-zytom,maligne Lymphome, Leukosen und Sarkommetas-tasen. Differenzialdiagnostisch muss bei allen extraduralenRaumforderungen immer auch an Abszesse und Hämatomegedacht werden. Epidurale Abszesse kommen mit und ohneWirbelkörperbefall vor und sind am häufigsten die Folgeeiner fortgeleiteten oder hämatogenen Staphylokokken-Infektion. Tuberkulöse Abszesse folgen in der Regel einerspezifischen Spondylitis.

2.4.4 Intramedulläre Tumoren im Konus-Kauda-Bereich

Unter den vorwiegend intramedullär wachsenden Tumorensind im Zusammenhang mit einem peripheren Ausfallsmus-ter die Ependymome des Conus medullaris und des Filumterminale am wichtigsten. Diese können monate- oder jahre-lang mit umschriebenen radikulären Reiz- und später Aus-fallserscheinungen einhergehen, ehe sich ein Konus-Kauda-Syndrom entwickelt. Bei der Abgrenzung gegenüber einerPolyneuropathie, deren Annahme bei symmetrischen distalbetonten sensomotorischen Ausfällen naheliegt, sind diefrühzeitig hinzutretenden Blasen-Mastdarm-Störungen vonentscheidender Bedeutung.

Seltenere, oft im Zusammenhang mit Missbildungen anzu-treffende Raumforderungen, die u. a. zu einem Kaudasyndromführen können, sind Lipome, Dermoidzysten, Epidermoideund Teratome. Beim spontanen oder auch intraoperativenEinbruch einer Dermoidzyste in den Subarachnoidalraum wirddas Bild durch eine toxische Meningitis überlagert, die durchdie Reizwirkung der im Liquor nachweisbaren Cholesterin-kristalle bedingt ist. Schließlich sind die bevorzugt im Sakral-bereich lokalisierten Chordome zu erwähnen.

Beim Vorliegen eines Kaudasyndroms empfiehlt es sich,primär eine MRT und nicht eine Myelografie durchzuführen,

um ein Anpunktieren des jeweiligen Krankheitsprozesses mitder Punktionsnadel zu vermeiden. Diese Regel gilt im ver-stärkten Maß bei der Möglichkeit eines epiduralen Abszesses.

2.4.5 Meningeosis carcinomatosa undAbtropfmetastasen mit Wurzelbefall

Eine letzte Gruppe von Tumoren, die zu radikulären Sympto-men führen können, sind diffuse Tumorinfiltrationen in denweichen Rückenmarkhäuten und/oder in den Nervenwurzelninnerhalb des Liquorraums. So können sich z. B. bei Medul-loblastomen und Ependymomen Abtropfmetastasen v. a. anden lumbosakralen Nervenwurzeln festsetzen.

Polyradikuläre Symptome mit symmetrischen oder asym-metrischen sensomotorischen Reiz- und Ausfallserscheinun-gen an den Beinen finden sich bei der spinalen Meningeosissarcomatosa und carcinomatosa, wobei Letztere am häufigs-ten bei Magen-, Darm-, Bronchial- und Mammakarzino-men sowie Melanomen vorkommt. Etwa 20 % weisen alsklinisches Frühsymptom zervikale und besonders lumbosa-krale Wurzelsyndrome auf.

Bei einer Tumoranamnese sollten solche Symptomeimmer Anlass zu einer sorgfältigen liquorzytologischenUntersuchung sein, wobei Pleozytosen bis zu 100 Zellen/μlin Kombination mit Proteinerhöhung und Glukoseerniedri-gung typisch sind. Ein Nachweis von Tumorzellen gelingt beider Erstpunktion nur bei etwa der Hälfte der Patienten; beibegründetem Verdacht sind u. U. mehrfache Lumbalpunktio-nen notwendig. Mitunter lassen sich knötchenförmigeVeränderungen oder diffuse Verdickungen von Nervenwur-zeln in der MRT nachweisen.

2.5 Radikulitiden

Entzündliche Nervenwurzelprozesse finden sich bei einigengeneralisierten Erkrankungen des peripheren Nervensystemswie dem Guillain-Barré-Syndrom und der diphtherischenPolyneuritis (Kap. ▶ „Entzündliche Polyneuropathien (Poly-neuritiden)“). Der Schwerpunkt der Veränderungen imBereich der Nervenwurzeln wird bei diesen Erkrankungenauf die dort weniger dichte Blut-Nerven-Schranke mit hie-raus resultierender höherer Anfälligkeit gegen Toxine undAntikörper zurückgeführt. Insbesondere bei HIV-Patientenkommen außerdem Radikulitiden durch Tuberkelbakterienoder Kryptokokken vor.

2.5.1 ZosterDie durch das Varicella-Zoster-Virus hervorgerufene Gürtel-rose geht v. a. auf das Spinalganglion und angrenzende Ner-venwurzeln betreffende entzündliche Veränderungen zurück.Dies führt zu mono- oder polysegmentalen Schmerzen an einerExtremität bzw. Rumpfhälfte, z. T. in Kombination mit senso-motorischen Ausfallserscheinungen, die im Rumpfbereich

Nervenwurzelläsionen 15

meist unbemerkt bleiben. Beim Befall einer kaudalen Thora-kalwurzel treten umschriebene Bauchwandparesen auf, wäh-rend sich an den betroffenen Extremitäten schlaffe Lähmungenin einem oder mehreren Myotomen finden. In klinisch inappa-renten Fällen lässt sich die Mitbeteiligung der Vorderwurzelndurch den elektromyografischen Nachweis von Denervie-rungszeichen in der paraspinalen Muskulatur des betreffendenSegments erbringen.

Zur Verhinderung einer postzosterischen Neuralgie ist diemöglichst frühzeitige und wirksame (d. h. parenterale)Behandlung mit Aciclovir indiziert (5 mg/kg KG 3-mal täg-lich im Abstand von 8 h über 6–8 Tage). Eine Impfung beiPersonen über 60 Jahre beugt dem Zoster segmentaliseffektiv vor.

2.5.2 Herpes simplexRadikuläre Schmerzen und Dysästhesien finden sich beim rezi-divierenden Herpes simplex, besonders wenn dieser im Gesäß-und Genitalbereich lokalisiert ist (Typ 2). Führende Symptomesind uni- oder bilaterale Schmerzen und Parästhesien bevor-zugt im Versorgungsbereich der sakralen Nervenwurzeln,evtl. begleitet von einer Blasen-Mastdarm-Lähmung sowieschlaffen Paresen und Reflexausfällen an den Beinen. DerLiquor zeigt eine lymphozytäre Reaktion neben einer Eiweiß-und IgG-Erhöhung. Pathogenetisch wird eine aszendierendeNeuritis sakraler Wurzeln durch das über Haut und Schleimhauteindringende Herpes-simplex-Virus vermutet.

2.5.3 NeuroborrelioseDie Meningoradikulitis Bannwarth geht auf eine Borrelien-infektion zurück, die durch Zeckenbisse, aber auch Insekten-stiche übertragen wird. In einem Teil der Fälle entsteht an derBiss- bzw. Stichstelle ein Erythema migrans, welches mitallgemeinem Unwohlsein, Kopfschmerzen und Arthralgienverbunden sein kann. In der Folgezeit entwickeln sich häufignächtlich verstärkte Schmerzen in dem betroffenen Körper-abschnitt, gefolgt von Parästhesien und sensomotorischenAusfallserscheinungen. Diese können auf eine Extremitätbeschränkt sein, sich aber auch auf die kontralaterale Extre-mität ausbreiten; auch kommen zusätzliche Hirnnervenläh-mungen (v. a. ein- oder beidseitige Fazialisparesen) vor,während eine klinisch manifeste zentralnervöse Mitbeteili-gung selten ist. Der Liquor zeigt in der Regel eine Pleozytose(30–300 Zellen/μl) in Kombination mit einer Proteinerhö-hung und einer deutlich erhöhten autochthonen IgG-Produktion mit spezifischen IgG- und IgM-Antikörpern.

Das klinische Erscheinungsbild variiert in Abhängigkeitvon den jeweils betroffenen Nervenwurzeln. Beim Befall derkaudalen Thorakalwurzeln (thorakoabdominale Manifestati-onsform) stehen Schmerzen in den betreffenden Segmentenund Bauchmuskellähmungen im Vordergrund, wobei dieLähmung der Bauchmuskulatur nur bei gezielter Untersu-chung erfasst wird.

Beim bilateralen Befall der sakralen Nervenwurzeln ent-steht die Symptomatik des Elsberg-Syndroms mit entspre-chend lokalisierten sensomotorischen Ausfallserscheinungenund einer Blasen-Mastdarm-Lähmung. (Andere möglicheUrsachen für dieses Syndrom sind der bereits erwähnte Her-pes simplex und bei subakutem Verlauf die Sarkoidose.)

Die Behandlung erfolgt parenteral mittels Cephalospori-nen der 3. Generation (z. B. Ceftriaxon 1-mal 2 g täglich oderCefotaxim 3-mal 2 g täglich, wobei eine Therapiedauer von2 Wochen in der Regel ausreichend ist). Ausweichpräparatbei Unverträglichkeit ist Doxycyclin.

2.6 Diabetische Radikulopathien

Im Zusammenhang mit Stoffwechselstörungen, besondersdem Diabetes mellitus, resultieren nicht nur ausgebreitetesymmetrische Polyneuropathien, sondern auch umschriebeneRadikulopathien (bzw. Plexoradikulopathien) mit Bevorzu-gung des thorakolumbalen Abschnitts.

2.6.1 Diabetische AmyotrophieDie häufigste Form ist das als diabetische Amyotrophiebekannte Krankheitsbild, wobei neuropathologische Studienursächlich eine diabetische Mikroangiopathie der Vasa ner-vorum nahelegen. Die klinische Symptomatik ist variabel.Betroffen sind überwiegend Patienten im 6. oder 7. Lebens-jahrzehnt, bei denen der Diabetes im Erwachsenenalter auf-trat und meist befriedigend eingestellt ist. Die Symptomebeginnen in der Regel akut oder subakut, wobei in den erstenTagen starke, in der Nacht exazerbierende Schmerzen undDysästhesien bevorzugt am ventralen Oberschenkel im Vor-dergrund stehen. Bereits nach einigen Tagen tritt eine er-hebliche Muskelschwäche hinzu, die bevorzugt denM. quadriceps femoris betrifft, der in der Folgezeit eine oftausgeprägte Atrophie entwickelt. Häufig sind auch die Hüft-beuger und die Adduktoren betroffen mit Abschwächungoder Ausfall des Quadrizeps- und Adduktorenreflexes. Sen-sible Ausfälle treten demgegenüber in den Hintergrund, dochwerden öfter Berührungsmissempfindungen bevorzugt an derVorderinnenseite des Oberschenkels angegeben.

2.6.2 Thorakoabdominale RadikuloneuropathieEin analoges, aber die weiter rostral gelegenen Nervenwur-zeln betreffendes Krankheitsbild stellt die diabetische thora-koabdominale Radikuloneuropathie dar. Diese manifestiertsich mit meist akut einsetzenden und danach persistierendenSchmerzen im Bereich des Thorax oder Abdomens. DieSchmerzzone und eine etwaige begleitende Hypästhesie oderHyperpathie erstrecken sich oft über mehrere Segmente,wobei ein uni- und bilaterales Auftreten möglich sind, ebensomultiple Lokalisationen. Ein Teil der Patienten weist Paresender Bauchdeckenmuskulatur mit umschriebener Vorwölbung

16 P. Berlit und M. Stöhr

besonders beim Pressen auf. Elektromyografisch lässt sichDenervierungsaktivität sowohl in der Bauchdecken- als auchin der paravertebralen Muskulatur der betroffenen Segmentenachweisen.

In der Mehrzahl der Fälle weist eine bilaterale Abschwä-chung des Triceps-surae-Reflexes und des Vibrationsempfin-dens an den Zehen auf eine gleichzeitig bestehende symmetri-sche diabetische Polyneuropathie hin. Im Liquor findet sichhäufig eine Eiweißerhöhung, wobei der fehlende Nachweisvon Tumorzellen wichtig ist bei der Abgrenzung gegenübereiner Meningeosis carcinomatosa mit multiradikulärem Befall.

Trotz des dramatischen Beginns, der heftigen Schmerzenund der häufig bestehenden Allgemeinsymptome (Appetitlo-sigkeit, Gewichtsverlust, Adynamie) ist die Prognose derdiabetischen Radikulopathien günstig. In der Regel kommtes nach einigen Wochen bis Monaten zur Besserung derSchmerzen und in der Folgezeit zu einer allmählichen Rück-bildung der Paresen. Bei etwa 20 % der Patienten entwickeltsich im Verlauf von Monaten bis Jahren ein Rezidiv, wobei indiesen Fällen öfter ein andersartiges oder auch identischesAusfallsmuster auf der Gegenseite beobachtet wird.

2.7 Dysrhaphische Störungen

Missbildungstumoren wie Lipome, Epidermoide, Dermoideund Teratome sind öfter vergesellschaftet mit dysrhaphischenStörungen wie Spina bifida, Meningozele, Meningomyelo-zele, Diastematomyelie und Hydromyelie. Im Zusammen-hang damit entwickelt sich nicht selten eine Fixierung(„tethering“) des kaudalen Rückenmarkabschnitts an dasumgebende Gewebe infolge einer Adhärenz des neuralen anmesodermales Gewebe (Tethered-Cord-Syndrom). Der z. B.durch ein verdicktes Filum terminale oder ein Lipom fixierteConus medullaris kann die im Rahmen des Längenwachs-tums normalerweise eintretende Kranialverschiebung gegen-über der Wirbelsäule nicht mitmachen und weist daher einenTiefstand auf. Außerdem wird bei jeder Anteflexion desRumpfes ein verstärkter Längszug auf das Rückenmark mitkonsekutiver Durchblutungsstörung ausgeübt, die als Haupt-ursache der klinischen Symptomatik angesehen wird. Diesebesteht meist in stetig oder schubweise progredientenSchmerzen und sensomotorischen Ausfällen an den Beinenmit begleitenden Muskelatrophien, einer Abschwächung derBeineigenreflexe sowie Fußdeformitäten. Sehr häufig sindauch Blasenstörungen vom peripheren Typ mit erhöhtenRestharnmengen anzutreffen. Seltener und als vaskuläreFernschädigung zu interpretieren sind zusätzliche zentraleParesen und Blasen-Mastdarm-Störungen, die sich meistschon im Kindesalter im Zusammenhang mit Wachstumssch-üben manifestieren. Da die Rückbildungstendenz bereitsmanifester Ausfälle gering ist, sollte eine Frühdiagnose und-behandlung angestrebt werden. Letztere besteht in einer

Durchtrennung des verdickten Filum terminale und andererfixierender Strukturen, einer Entfernung des lipomatösenGewebes und einem Duraverschluss mit lyophilisierter Dura,um eine erneute postoperative Fixierung zu verhindern.

2.8 Arachnopathien

Chronisch progressive Arachnopathien entwickeln sich teilsspontan, teils im Anschluss an intrathekale Medikamenten-gaben, Wirbelsäulen- und Rückenmarktraumen oder -opera-tionen sowie spinale Meningitiden. In der Regel ist der Kau-dalsack isoliert oder bevorzugt betroffen, sodass Reiz- undggf. Ausfallserscheinungen von Seiten der lumbosakralenWurzeln im Vordergrund stehen.

2.9 Nervenwurzelläsionen durch Punktionund Injektion

Die lumbosakralen, seltener auch die thorakalen und zervikalenNervenwurzeln können bei der Paravertebral-, der Peridural-und der Spinalanästhesie eine Schädigung erfahren. In derRegel handelt es sich hierbei um eine mechanische Verletzungvon neuralen und/oder vaskulären Wurzelanteilen durch diePunktionsnadel, den Katheter oder den Injektionsdruck (etwabei rascher intraneuraler Injektion größerer Flüssigkeitsvolumi-na). Besonders vulnerabel sind die Nervenwurzeln an ihremFixationspunkt im Bereich des Foramen intervertebrale, wäh-rend sie innerhalb des Subarachnoidalraums der vordringendenNadel leichter ausweichen können. Die Symptomatik dieserRadikulopathien ist durch einen initialen Schmerz von radikulä-rer Ausstrahlung charakterisiert. Nach dem Abklingen einer derInjektion folgenden Anästhesie verbleiben radikuläre Ausfällez. T. in Kombination mit quälenden Schmerzen.

2.10 Radiogene Nervenwurzelläsionen

Nervenwurzelläsionen als Strahlenspätfolge sind eine Rarität,da zumindest in den zervikothorakalen Abschnitten die Strah-lentoleranz des Rückenmarks geringer ist als die der Nerven-wurzeln. Radiogene Wurzelläsionen kommen daher nur imLumbosakralbereich vor und wurden ursprünglich als „amyo-trophische Form der Strahlenmyelopathie“ infolge selektiverSchädigung motorischer Vorderhornzellen beschrieben. Auf-grund klinischer, elektrophysiologischer und neuropathologi-scher Befunde handelt es sich jedoch meist um eine polyradi-kuläre Läsion mit bevorzugtem Betroffensein motorischerNervenfasern. Die Patienten entwickeln Monate bis Jahrenach Abschluss der Bestrahlung progrediente Muskelatro-phien und Paresen, z. T. mit begleitenden Faszikulationen.Blasen-, Mastdarm- sowie Sensibilitätsstörungen fehlen oder

Nervenwurzelläsionen 17

sind nur in diskreter Form vorhanden; die Paresen sind in derRegel stetig oder schubweise progredient.

In der Differenzialdiagnose gegenüber anderen Kauda-syndromen, z. B. infolge Metastasierung eines bestrahltenMalignoms, sind die fehlenden Schmerzen, die fehlendenoder höchstens diskret vorhandenen Sensibilitäts- undBlasenstörungen sowie die zurückliegende Bestrahlungmit applizierten Strahlendosen meist über 50 Gy von Bedeu-tung.

3 Facharztfragen

1. Nennen Sie die Leitsymptome der häufigsten zervikalenund lumbosakralen Wurzelläsionen.

2. Welche neurophysiologische Diagnostik hilft in der Dif-ferenzierung Wurzelläsion versus periphere Nervenläsionweiter?

3. Nennen Sie die Leitsymptome eines Kauda- und einesKonussyndroms.

4. Wann muss bei einer Lumboischialgie operiert werden?5. Was ist eine neurogene Claudicatio und wie kommt sie

zustande?6. Nennen Sie nichtdegenerative Ursachen von mono- und

pluriradikulären Symptomen.7. Welche Formen der diabetischen Radikulopathie kennen

Sie?

Literatur

Arts MP, Brand R, van den Akker ME, Koes BW, Bartels RH, Peul WC,Leiden-The Hague Spine Intervention Prognostic Study Group(SIPS) (2009) Tubular diskectomy vs conventional microdiskectomyfor sciatica: a randomized controlled trial. JAMA 302:149–158

Forsth P, Olafsson G, Carlsson T et al (2016) A randomized, controlledtrial of fusion surgery for lumbar spinal stenosis. N Engl J Med374:1413–1423

Hirabayashi H, Takahashi J, Hashidate H et al (2009) Characteristics ofL3 nerve root radiculopathy. Surg Neurol 72:36–40

Jensen MC, Brant-Zawadzki MN, Obuchowski N et al (1994) Magneticresonance imaging of the lumbar spine in people without back pain.N Engl J Med 331:69–73

Kottlors M, Glocker FX (2010) Dermatomyotomal supply in patientswith variations in the number of lumbar vertebrae. J Neurosurg Spine12:314–319

Kottlors M, Kress W, Meng G et al (2010) Facioscapulohumeral mus-cular dystrophy presenting with isolated axial myopathy and bentspine syndrome. Muscle Nerve 42:273–275

Roelofs PD, Deyo RA, Koes BW, Scholten RJ, van Tulder MW (2008)Non-steroidal anti-inflammatory drugs for low back pain. CochraneDatabase Syst Rev:CD000396

Stöhr M (2005) Atlas der klinischen Elektromyografie und Neurografie,5. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

Stöhr M, Riffel B (1988) Nerven- und Nervenwurzelläsionen. VCH,Weinheim

Weinstein JN, Tosteson TD, Lurie JD et al (2010) Surgical versusnonoperative treatment for lumbar spinal stenosis: four-year resultsof the Spine Patient Outcomes Research Trial. Spine 35:1329–1338

Zaina F, Tomkins-Lane C, Carragee E et al (2016) Surgical versusnon-surgical treatment for lumbar spinal stenosis. Cochrane Data-base Syst Rev:CD010264. https://doi.org/10.1002/14651858

18 P. Berlit und M. Stöhr