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ÖFFENTLICHES RECHT RA 2005, HEFT 6 -320- Öffentliches Recht Standort: Verkehrszeichen Problem: Bekanntgabe, Erkennbarkeit OVG NRW, BESCHLUSS VOM 25.11.2004 5 A 850/03 (NWVBL 2005, 176) Problemdarstellung: In der Entscheidung des OVG NRW ging es um die Frage, welche Anforderungen an die Erkennbarkeit eines Verkehrszeichens zu stellen sind. Ist es für den Verkehrsteilnehmer nicht erkennbar, ist es nämlich nicht wirksam geworden, kann mithin auch nicht als Grundlage für die Ahndung von Verstößen (Bußgelder oder wie hier Abschleppen mit anschließendem Kos- tenbescheid) herangezogen werden. Das Gericht stellt fest, dass - an die Erkennbarkeit der Verkehrszeichen für den ruhenden Verkehr geringere Anforderungen zu stellen seien als im fließenden Verkehr, weil der Parkende eine eigene Erkundigungs- und Informationspflicht über die bestehenden Parkregelungen habe, - das Verkehrszeichen nicht nur beim Aufstellen, son- dern wegen seiner Eigenschaft als Dauer-VA die gan- ze Zeit über erkennbar sein müsse und - eventuelle Unklarheiten über die Erkennbarkeit zu Lasten der Behörde gingen. Prüfungsrelevanz: Verkehrszeichen, die nach heute ganz h.M. Verwal- tungsakte in Form von Allgemeinverfügungen darstel- len (§ 35 S. 2 VwVfG, vgl. zum Streit über die Rechts- natur die Vertiefungshinweise), bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Bekanntgabe, § 41 VwVfG. Grund- sätzlich bedeutet Bekanntgabe den behördlich veran- lassten Zugang beim Betroffenen. Dass dies bei All- gemeinverfügungen nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Für diese wird daher häufig auf die öffentliche Bekanntgabe (§ 41 III 2 VwVfG) zurückgegriffen. Für Verkehrszeichen hatte die Rspr. ursprünglich ver- treten, dass sie - ihre Erkennbarkeit, nicht aber tatsäch- liche Kenntnisnahme vorausgesetzt - dem Verkehrs- teilnehmer beim erstmaligen Herannahen bekannt ge- geben werden und für ihn solange wirksam bleiben, wie sie fortbestehen. Bei jedem neuen Herannahen sollte es sich dann nur noch um eine sogen. “wieder- holende Verfügung” ohne eigenen Regelungscharakter handeln (BVerwGE 27, 181; 59, 221). Mittlerweile geht das BVerwG jedoch im Anschluss an eine Ent- scheidung des OVG Münster davon aus, dass ein Ver- kehrszeichen bereits mit dem Aufstellen gegenüber jedermann wirksam wird, also unabhängig vom Heran- nahen (BVerwGE 102, 316, 318; OVG NRW, NJW 1990, 2385). Hierfür spricht § 45 IV StVO, der eine anderweitige Bekanntgabe zulässt, “sofern die Aufstel- lung von Verkehrszeichen [...] nicht möglich ist.” Of- fen geblieben ist lediglich die i.d.R. rein akademische Frage, ob es sich dabei um einebesondere Form der öffentlichen Bekanntgabe nach § 41 III 2 VwVfG han- delt oder die StVO das VwVfG insgesamt verdrängt. Die Unterschiede zwischen alter und jetziger Recht- sprechung zeigen sich insbesondere im Hinblick auf die Rechtsschutzmöglichkeiten: Wird das Verkehrszei- chen mit Aufstellen bekannt gegeben, lässt sich mit dem Wortlaut des § 70 I VwGO gut vertreten, dass in diesem Moment für jedermann die Widerspruchsfrist beginnt (die mangels Rechtsmittelbelehrung nach § 58 I, II VwGO ein Jahr beträgt). Käme es auf das Heran- nahen an, würde erst beim erstmaligen Passieren des Verkehrszeichens die Frist beginnen, und zwar für je- den einzelnen Passanten gesondert. Beides ist nicht ideal: Im letzteren Fall würde nie Rechtssicherheit ein- treten, im ersteren Fall wird die Rechtsschutzmöglich- keit arg verkürzt. Zieht jemand bspw. in eine neue Stadt um, müsste er (vorbehaltlich §§ 70 II, 60 VwGO) das Halteverbot vor seiner neuen Wohnung trotz unterstellter Rechtswidrigkeit gegen sich gelten lassen, wenn es seit mehr als einem Jahr besteht, ob- wohl er überhaupt keine Möglichkeit hatte, dieses vor Fristablauf anzufechten, ja auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Gegen diese unschöne, von der aber h.M. durchaus gebilligte Konsequenz werden in der Litera- tur gelegentlich Stimmen laut, die dies mit Art. 19 IV GG für nicht vereinbar halten (z.B. Bitter/Konow, NJW 2001, 1386). In jedem Fall genügt aber für die Bekanntgabe das Aufstellen auch nach jetziger Rspr. nur dann, wenn ein durchschnittlich sorgfältiger Passsant das Verkehrs- zeihen “mit einem raschen und beiläufigen Blick” (- so wörtlich BVerwGE 102, 316, 318) erkennen konnte. Hierzu sollte man sich merken, dass dies - jedenfalls nach dem vorliegenden Beschluss des OVG NRW - nur für den fließenden Verkehr gilt, während für den ruhenden Verkehr dem Passanten eine Erkundigungs- pflicht auferlegt wird, an die Erkennbarkeit also deut- lich geringere Anforderungen gestellt werden.

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Öffentliches Recht

Standort: Verkehrszeichen Problem: Bekanntgabe, Erkennbarkeit

OVG NRW, BESCHLUSS VOM 25.11.20045 A 850/03 (NWVBL 2005, 176)

Problemdarstellung:In der Entscheidung des OVG NRW ging es um dieFrage, welche Anforderungen an die Erkennbarkeiteines Verkehrszeichens zu stellen sind. Ist es für denVerkehrsteilnehmer nicht erkennbar, ist es nämlichnicht wirksam geworden, kann mithin auch nicht alsGrundlage für die Ahndung von Verstößen (Bußgelderoder wie hier Abschleppen mit anschließendem Kos-tenbescheid) herangezogen werden. Das Gericht stelltfest, dass- an die Erkennbarkeit der Verkehrszeichen für denruhenden Verkehr geringere Anforderungen zu stellenseien als im fließenden Verkehr, weil der Parkendeeine eigene Erkundigungs- und Informationspflichtüber die bestehenden Parkregelungen habe,- das Verkehrszeichen nicht nur beim Aufstellen, son-dern wegen seiner Eigenschaft als Dauer-VA die gan-ze Zeit über erkennbar sein müsse und- eventuelle Unklarheiten über die Erkennbarkeit zuLasten der Behörde gingen.

Prüfungsrelevanz:Verkehrszeichen, die nach heute ganz h.M. Verwal-tungsakte in Form von Allgemeinverfügungen darstel-len (§ 35 S. 2 VwVfG, vgl. zum Streit über die Rechts-natur die Vertiefungshinweise), bedürfen zu ihrerWirksamkeit der Bekanntgabe, § 41 VwVfG. Grund-sätzlich bedeutet Bekanntgabe den behördlich veran-lassten Zugang beim Betroffenen. Dass dies bei All-gemeinverfügungen nicht möglich ist, liegt auf derHand. Für diese wird daher häufig auf die öffentlicheBekanntgabe (§ 41 III 2 VwVfG) zurückgegriffen. Für Verkehrszeichen hatte die Rspr. ursprünglich ver-treten, dass sie - ihre Erkennbarkeit, nicht aber tatsäch-liche Kenntnisnahme vorausgesetzt - dem Verkehrs-teilnehmer beim erstmaligen Herannahen bekannt ge-geben werden und für ihn solange wirksam bleiben,wie sie fortbestehen. Bei jedem neuen Herannahensollte es sich dann nur noch um eine sogen. “wieder-holende Verfügung” ohne eigenen Regelungscharakterhandeln (BVerwGE 27, 181; 59, 221). Mittlerweilegeht das BVerwG jedoch im Anschluss an eine Ent-scheidung des OVG Münster davon aus, dass ein Ver-

kehrszeichen bereits mit dem Aufstellen gegenüberjedermann wirksam wird, also unabhängig vom Heran-nahen (BVerwGE 102, 316, 318; OVG NRW, NJW1990, 2385). Hierfür spricht § 45 IV StVO, der eineanderweitige Bekanntgabe zulässt, “sofern die Aufstel-lung von Verkehrszeichen [...] nicht möglich ist.” Of-fen geblieben ist lediglich die i.d.R. rein akademischeFrage, ob es sich dabei um einebesondere Form deröffentlichen Bekanntgabe nach § 41 III 2 VwVfG han-delt oder die StVO das VwVfG insgesamt verdrängt. Die Unterschiede zwischen alter und jetziger Recht-sprechung zeigen sich insbesondere im Hinblick aufdie Rechtsschutzmöglichkeiten: Wird das Verkehrszei-chen mit Aufstellen bekannt gegeben, lässt sich mitdem Wortlaut des § 70 I VwGO gut vertreten, dass indiesem Moment für jedermann die Widerspruchsfristbeginnt (die mangels Rechtsmittelbelehrung nach § 58I, II VwGO ein Jahr beträgt). Käme es auf das Heran-nahen an, würde erst beim erstmaligen Passieren desVerkehrszeichens die Frist beginnen, und zwar für je-den einzelnen Passanten gesondert. Beides ist nichtideal: Im letzteren Fall würde nie Rechtssicherheit ein-treten, im ersteren Fall wird die Rechtsschutzmöglich-keit arg verkürzt. Zieht jemand bspw. in eine neueStadt um, müsste er (vorbehaltlich §§ 70 II, 60VwGO) das Halteverbot vor seiner neuen Wohnungtrotz unterstellter Rechtswidrigkeit gegen sich geltenlassen, wenn es seit mehr als einem Jahr besteht, ob-wohl er überhaupt keine Möglichkeit hatte, dieses vorFristablauf anzufechten, ja auch nur zur Kenntnis zunehmen. Gegen diese unschöne, von der aber h.M.durchaus gebilligte Konsequenz werden in der Litera-tur gelegentlich Stimmen laut, die dies mit Art. 19 IVGG für nicht vereinbar halten (z.B. Bitter/Konow,NJW 2001, 1386).In jedem Fall genügt aber für die Bekanntgabe dasAufstellen auch nach jetziger Rspr. nur dann, wenn eindurchschnittlich sorgfältiger Passsant das Verkehrs-zeihen “mit einem raschen und beiläufigen Blick” (- sowörtlich BVerwGE 102, 316, 318) erkennen konnte.Hierzu sollte man sich merken, dass dies - jedenfallsnach dem vorliegenden Beschluss des OVG NRW -nur für den fließenden Verkehr gilt, während für denruhenden Verkehr dem Passanten eine Erkundigungs-pflicht auferlegt wird, an die Erkennbarkeit also deut-lich geringere Anforderungen gestellt werden.

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Vertiefungshinweise:“ Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Verkehrszeichen:VGH Kassel, RA 1999, 457 = NJW 1999, 2057; Rinze,NZV 1999, 399; Klenke, NWVBl 1994, 288“ Verkehrszeichen als Verwaltungsakt: BVerwGE 27,181; 59, 221; 92, 32; 97, 214; BayVGH, NVwZ 1984,383; Prutsch, JuS 1980, 566“ Verkehrszeichen als Rechtsverordnung: BayVGH,NJW 1978, 1988; Renck, JuS 1967, 545; Obermayer,NJW 1980, 2387“ Klagebefugnis gegen Verkehrszeichen: BVerwG,RA 2004, 312 = DVBl 2004, 518

Kursprogramm:“ Examenskurs : “Die defekte Parkuhr”“ Examenskurs : “Das mobile Halteverbot”

Leitsätze:1. Damit straßenverkehrsrechtliche Ge- und Verbo-te die ihnen zugedachte Wirkung entfalten können,ist die zuständige Behörde gehalten, die Erkenn-barkeit der jeweiligen straßenverkehrsrechtlichenRegelung zu gewährleisten.2. Lässt sich nicht mehr aufklären, ob der Ver-kehrsteilnehmer bei Aufbringung der gebotenenSorgfalts- und Informationspflicht das Verkehrs-zeichen erkennen konnte, geht dies zu Lasten derBehörde, die die Abschleppmaßnahme veranlassthat und zur Deckung ihres Aufwands Gebührenerhebt.

Sachverhalt:Der Kläger ist Halter eines Pkw, den er zur Nachtzeitseitlich einer Toreinfahrt auf der Fahrbahn parkte.Dort befindet sich eine weiße Grenzmarkierung fürHalt- und Parkverbote (Zeichen 299), die nach Vortragdes Klägers zum Zeitpunkt des Parkvorgangs aufGrund Abnutzung nur noch in Farbresten vorhandenund daher - was vom Beklagten bestritten wird - beiDunkelheit nicht mehr erkennbar war. Ein Beamterdes Beklagten ließ das Kraftfahrzeug des Klägers amfolgenden Morgen abschleppen, da es einen Sattel-schlepper hinderte, durch die Toreinfahrt zu gelangen.Der Eigentümer des angrenzenden Grundstücks über-strich die Grenzmarkierung wenige Wochen nach demAbschleppvorgang mit weißer Farbe. Der Beklagtesetzte gegenüber dem Kläger eine Verwaltungsgebührfür das Abschleppen fest. Die hiergegen nach erfolglo-sem Widerspruchsverfahren erhobene Klage wies dasVG ab. Die Berufung des Klägers hatte Erfolg.

Aus den Gründen:Die dem Gebührenbescheid zu Grunde liegende Ab-schleppmaßnahme war rechtswidrig. Das Kraftfahr-zeug des Klägers war verkehrsordnungsgemäß abge-

stellt. Insbesondere lag kein Verstoß gegen ein Halt-oder Parkverbot vor, der das Vorgehen des Beklagtenhätte rechtfertigen können.

I. Verstoß gegen § 12 Abs. 3 Nr. 3 StVODas Parken war nicht unzulässig nach § 12 Abs. 3 Nr.3 StVO. Danach ist das Parken vor Grundstücksein-und ausfahrten verboten. Das jeweilige Verbot er-streckt sich nach dem Wortlaut der Vorschrift jedochnicht auf weiteren Straßenraum neben den Ein- bzw.Ausfahrten (vgl. auch Hentschel, Straßenverkehrs-recht, 35.Aufl., 1999, StVO, § 12 RdNr. 47). Entspre-chend dem Zweck dieses Parkverbots, die Anliegervor Behinderungen in der Benutzung der Einfahrt zuihrem Grundstück und der Ausfahrt von ihm durchparkende Fahrzeuge zu schützen, genügt es dahergrundsätzlich, dass die Fahrbahn in der Breite einernormalen Torausfahrt freigehalten wird (vgl. OLGKarlsruhe, Die Justiz 1979, 237). Verlangen besondereörtliche Gegebenheiten sowie die Art des zu erwarten-den Zufahrtverkehrs im Einzelfall die Freihaltung ei-nes längeren Fahrbahnabschnitts, so muss dies für denVerkehrsteilnehmer erkennbar sein (vgl. OLG Karls-ruhe, a.a.O.).Das Kraftfahrzeug des Klägers stand nicht unmittelbarvor der Ein- und Ausfahrt, sondern so versetzt, dassfür den normalen Straßenverkehr die Zu- und Abfahrtproblemlos möglich war. Für den Kläger war- jeden-falls bei Außerachtlassung der Grenzmarkierung- nichterkennbar, dass eine weitere Fläche jenseits des durchweiße Streifen markierten Ein- und Ausfahrtbereichszur Vermeidung von Behinderungen freizuhalten wä-re.

II. Verstoß gegen § 12 Abs. 3 Nr. 8 Buchst. d StVODas Parken war ebenfalls nicht gem. § 12 Abs. 3 Nr. 8Buchst. d StVO verboten, da es an einer wirksamenGrenzmarkierung für ein Parkverbot (Zeichen 299)fehlte. Offen bleiben kann, ob der Parkverbotsbereichnach § 12 Abs. 3 Nr. 3 StVO wirksam nur durch einedurchgehende Markierung des erweiterten Parkver-botsbereichs - also auch vor der Ein- und Ausfahrtselbst (so BayObLG, VRS 62, 145 f.; siehe auch OLGKöln, VRS 82, 140) oder auch durch eine bloße Mar-kierung der Flächen, um die die Parkverbotszone er-weitert werden soll (so OLG Karlsruhe, a.a.O.),gekennzeichnet werden kann.

1. Erkennbarkeit der RegelungAuch wenn keine durchgehende Markierung erforder-lich ist, soweit auf andere Weise deutlich wird, wel-cher Parkverbotsbereich jeweils verlängert wird, somuss die Markierung jedenfalls so beschaffen sein,dass sie für den Verkehrsteilnehmer bei Aufbringender im Verkehr gebotenen Sorgfalt erkennbar ist. Ausdem Rechtsstaatsprinzip folgt, dass straßenverkehrs-rechtliche Ge- und Verbote so angebracht sein müssen,

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dass der sorgfältig handelnde, dem Gebot des § 1StVO folgende Verkehrsteilnehmer die Anordnungohne weitere Überlegung eindeutig erfassen kann (vgl.OVG NRW, DÖV 1991, 120 f.).

2. Erstreckung auf die gesamte GeltungsdauerDieses Erfordernis gilt nicht nur bei der erstmaligenAnbringung. Damit die Ge- und Verbote fortdauernddie ihnen zugedachte Wirkung entfalten können, istdie zuständige Behörde gehalten, die ausreichendeErkennbarkeit der jeweiligen straßenverkehrsrechtli-chen Regelungen zu wahren und zu erhalten. Kommtdie zuständige Behörde dem nicht nach, und werdendie Regelungen aufgrund Abnutzung oder Witterungs-einflüssen derart unkenntlich, dass die Erkennbarkeitim oben beschriebenen Sinne nicht mehr gegeben ist,so verlieren sie ihre Wirksamkeit (vgl. OLG Stuttgart,VRS 95, 441, 442). Dabei sind an die Sichtbarkeit vonVerkehrszeichen, die den ruhenden Verkehr betreffen,niedrigere Anforderungen zu stellen als an solche desfließenden Verkehrs. Einen Verkehrsteilnehmer, dersein Kfz abstellt, treffen dementsprechend andereSorgfalts- und Informationspflichten hinsichtlich dermaßgeblichen örtlichen Verkehrsregelungen als einenTeilnehmer am fließenden Verkehr (vgl. OVG NRW,Beschluss vom 11.6.1997 - 5 A 4278/95).

3. Beweislast bei der BehördeLässt sich nicht (mehr) aufklären, ob der Verkehrsteil-nehmer bei Aufbringen der danach gebotenen Sorg-falts- und Informationspflicht das Verkehrszeichenwahrnehmen und erkennen konnte, gereicht dies derBehörde zum Nachteil, die zum Zwecke der Voll-streckung die Abschleppmaßnahme veranlasst hat undnunmehr zur Deckung ihres Aufwands Gebühren er-hebt. Sie trägt die materielle Beweislast dafür, dass die

rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für dieVollstreckungsmaßnahme erfüllt waren. So liegt der Fall hier. Der Senat vermag nicht dienotwendige Gewissheit zu gewinnen, der Kläger habedie Grenzmarkierung bei Abstellen seines Kfz in derNacht auch bei Aufbringen der gebotenen Sorgfalt er-kennen können. Der Kläger hat vorgetragen, auf derFahrbahn hätten sich lediglich Farbreste befunden, dieer in der Nacht aufgrund der Dunkelheit nicht habewahrnehmen können . Dagegen hat der d ieAbschleppmaßnahme veranlassende Beamte des Be-klagten erklärt, die Grenzmarkierung sei als solche gutzu erkennen gewesen. Für den Senat ist nicht feststell-bar, welche dieser widersprechenden Aussagen richtigist. Zwar hat der Kläger ein gewichtiges Eigeninter-esse, die Erkennbarkeit der Grenzmarkierung zu be-streiten. Indes spricht der Umstand, dass wenige Wo-chen nach dem hier streitigen Abschleppvorgang einNachzeichnen der Grenzmarkierung für nötig befun-den wurde, zumindest für einen entsprechenden Er-neuerungsbedarf, mag diese Maßnahme auch nicht vonder zuständigen Behörde durchgeführt worden sein.Das Gericht hat ebenfalls keinen Grund, an der Glaub-würdigkeit des Beamten der Beklagten zu zweifeln.Freilich beruht dessen Aussage, die Grenzmarkierungsei gut zu erkennen gewesen, nicht auf eigener Wahr-nehmung zur Nachtzeit, sondern ausschließlich aufseiner Einschätzung am Morgen. Dabei hat er zwarnach eigenem Bekunden einerseits die Sichtbehinde-rung aufgrund Dunkelheit bzw. Dämmerung, anderer-seits die dort vorhandene Straßenbeleuchtung be-rücksichtigt. Es bleibt jedoch ungewiss, ob der Beamtebei Tageslicht den Einfluss dieser Umstände auf dieErkennbarkeit der Markierung zur Nachtzeit genau ab-schätzen konnte.

Standort: Polizei- und Ordnungsrecht Problem: Zustandsstörer

OVG NRW, BESCHLUSS VOM 06.09.2004

13 A 3802/02 (NWVBL 2005, 177) Problemdarstellung:Im Beschluss des OVG NRW ging es um die Frage,welche Anforderungen an die Inanspruchnahme alsZustandsstörer nach dem Polizei- und Ordnungsrechtder Länder zu stellen sind.Durchgesetzt hat sich beim Verhaltens- wie beim Zu-standsstörer die Theorie der unmittelbaren Verursa-chung, wonach nur der Letztverantwortliche stört, alsoder, dessen Verhalten bzw. Sache auf einem imaginä-ren Zeitstrahl bis zum Eintritt der Gefahr den letztenKausalbeitrag leistet.Irrelevant sind hingegen Kriterien wie Verschuldenoder auch nur Kenntnis von der Gefahr. Das OVG be-

tont ausdrücklich, dass z.B. ein Grundstückseigentü-mer zur Entsorgung von Kampfstoffen in seinem Bo-den ebenso verpflichtet werden kann wie der Eigentü-mer eines Hangs zu Präventionsmaßnahmen gegeneinen Erdrutsch. Anders liegt es jedoch dann, wenn dieGefahrenquelle nicht - wie in den genannten Beispie-len - die Sache selbst ist, sondern diese nur in die Ge-fahrverursachung verstrickt wird. So kann ein Flugha-fenbetreiber nicht zu Präventionsmaßnahmen gegenterroristische Anschläge verpflichtet werden, weil die-se Gefahr - im Gegensatz zu den Erdrutschgefahren imBeispiel zuvor - nicht in dem Grundstück wurzelt.Ebenso lag es im zu entscheidenden Fall, in dem eineTochter der Deutschen Bahn AG für Schäden verant-wortlich gemacht werden sollte, die von in einem Tun-nel nistenden Tauben ausgingen.

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Prüfungsrelevanz:Die Kausalität zwischen einem Verhalten oder einerSache und dem Eintritt einer Gefahr ist in allen Bun-desändern Voraussetzung für die Inanspruchnahme zurStörungsbeseitigung. Liegt sie nicht vor, bleibt nur einan enge Voraussetzungen geknüpfter Rückgriff aufden sogen. Nichtstörer, dessen Heranziehung jedochstets subsidiär zu staatlichem Handeln ist, m.a.W. nurin Betracht kommt, wenn der Staat selbst außerstandeist, eine Gefahr zu bekämpfen.Die herrschende Theorie der unmittelbaren Verursa-chung ist grundsätzlich denkbar einfach zu handhaben.Stellt man sich die Frage, wer den letzten Beitrag aufdem Weg zum Eintritt der Gefahr geleistet hat, erhältman als Antwort den Störer. Ausnahmen bilden nurder sogen. Zweckveranlasser und der latente Störer.Beide setzen nur eine mittelbare Vorursache, sind abertrotzdem Störer. Der Zweckveranlasser, weil er dasletztlich gefährliche Verhalten will (so die subjektiveTheorie) bzw. man hätte vorhersehen können, dasssein Vorverhalten in eine Gefahr mündet (so die ob-jektive Theorie). Auf den latenten Störer wurde früher bei emittierendenAnlagen zurückgegriffen, bei denen nicht die Emissionselbst die Gefahr heraufbeschwor, sondern erst einweiteres Ereignis (z.B. hinzu kommende Umweltein-flüsse). Heute liegt die Lösung dieser Fälle eher imImmissionsschutzrecht, das die große Mehrzahl vonihnen eigens regelt.Die Theorie der unmittelbaren Verursachung ist übri-gens nicht unbestritten: Eine Mindermeinung vertrittdie Theorie der rechtswidrigen Verursachung, wonachStörer ist, wer rechtswidrig handelt, wer also m.a.W.seinen Rechtskreis überschreitet. Diese Theorie ver-mischt jedoch die Kausalität mit dem dem Polizei- undOrdnungsrecht fremden Kriterium der Rechtswidrig-keit, ja setzt diese Begriffe sogar gleich. Das ist nichtgerechtfertigt, denn hätten die Landesgesetzgeber diesgewollt, hätten sie die Rechtswidrigkeit - wie an zahl-losen anderen Stellen im deutschen Recht - in die Nor-men zu Bestimmung des Störers aufgenommen. Dieswäre auch nicht sinnvoll gewesen, denn auch recht-mäßige Verhaltensweisen müssen unterbunden werdenkönnen, wenn sie für andere gefährlich sind. Außer-dem bekommt die Theorie der rechtswidrigen Verursa-chung Probleme bei einer Gefahr für die öffentlicheOrdnung, die in vielen Bundesländern neben die öf-fentliche Sicherheit tritt. Wer gegen die öffentlicheOrdnung verstößt, handelt gerade nicht rechtswidrig,sondern verstößt gegen ungeschriebene, ethisch-mora-lische Verhaltensgebote, sodass es hier niemals einenStörer geben könnte, wollte man auf die Rechtswidrig-keit des Verhaltens abstellen.

Vertiefungshinweise:“ Theorie der unmittelbaren Verursachung und Äqui-

valenz: VGH Kassel, RA 2000, 12 = NJW 1999, 3650“ Theorie der unmittelbaren Verursachung und Ad-äquanz: OLG Koblenz, RA 2003, 678 = DVBl 2003,1342; VG Osnabrück, NdsVBl 2002, 87“ Theorie der rechtswidrigen Verursachung: Pietzker,DVBl 1984, 457, 459; Herrmann, DÖV 1987, 666“ Mittelbare Störer: BGH, NJW 2000, 2901; VG Ber-lin, RA 2001, 483 = AfP 2001, 437 m.Anm. Kreile

Kursprogramm:“ Examenskurs : “Waffen-SS”“ Examenskurs : “Die Vögel”

Leitsatz:Der Deutschen Bahn kann nicht als Zustandsstöre-rin aufgegeben werden, gegen das Nisten und Brü-ten von Tauben in einer Bahnunterführung auf ih-re Kosten ein Netz spannen zu lassen.

Sachverhalt:Nachdem sich der Beklagte seit 1994 zunächst selbstbemüht hatte, der Verschmutzung durch Tauben unterder Bahnunterführung G. in D. Herr zu werden, erließer gegen die Klägerin, eine Gesellschaft der DeutschenBahn, unter dem 24.6.1999 eine auf §§ 10, 13BSeuchG i. V. m. § 18 OBG NRW gestützte Ord-nungsverfügung, mit der er der Klägerin aufgab, in-nerhalb von vier Wochen nach Zustellung der Verfü-gung an der Bahnunterführung durch das Anbringeneiner Netzabspannung “das dauerhafte Ansammeln,Nisten und Brüten von Tauben unter der Brückenkon-struktion zu unterbinden”. Durch Urteil vom 17.7.2002 gab das VG der Klage mitder Begründung statt, die Klägerin könne nicht alsStörerin herangezogen werden, weil die Gefahr un-mittelbar durch das Verhalten der Tauben ausgelöstwerde, für das die Klägerin nicht verantwortlich sei.Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen:

A. ErmächtigungsgrundlageDer Beklagte stützt sich als Eingriffsnorm auf § 13Abs. l BSeuchG. Vom Vorliegen der Voraussetzungendieser inzwischen durch Regelungen des Infektions-schutzgesetzes vom 20.7.2000 (IfSG) abgelösten, aberauf den vorfliegenden Fall einer Anfechtungsklage, beider in der Regel auf die Rechtslage im Zeitpunkt desErlasses der letzten Verwaltungsentscheidung, hier desWiderspruchbescheides vom 8.2.2000, abzustellen ist,noch anwendbaren Vorschrift kann zu Gunsten desBeklagten ausgegangen werden, zumal die Parteienhierum nicht streiten.

B. StörereigenschaftDie Berechtigung für die Heranziehung der Klägerin

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entnimmt er § 18 Abs. l OBG NRW, was grundsätz-lich mangels entsprechender Regelung im Bundesseu-chengesetz statthaft ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom18.9.1987 - 3 B 21.87). § 18 OBG NRW regelt dieVerantwortlichkeit für den Zustand von Sachen wiefolgt: “Geht von einer Sache oder einem Tier eine Ge-fahr aus, so sind die Maßnahmen gegen den Eigentü-mer zu richten. Soweit nichts anderes bestimmt ist,sind die nachfolgenden Vorschriften entsprechend aufTiere anzuwenden.”

I. Theorie der unmittelbaren Verursachung§ 18 Abs. l OBG ist jedoch keine ausreichende Grund-lage für die Inanspruchnahme der Klägerin. Das ergibtsich daraus, dass die Gefahr, die von dem Taubenkotausgeht, nicht unmittelbar mit dem Zustand desBrückenbauwerks ursächlich in Verbindung steht.

1. Sache selbst als GefahrenquelleNach der Rechtsprechung besteht allerdings die Haf-tung eines Grundstückseigentümers als sog. Zustands-störer wegen der sog. Zustandsverantwortung für einGrundstück auch dann, wenn die Gefahr von in einGrundstück eingebrachten Sachen, etwa Kampfmit-teln, über die der Eigentümer des Grundstücks schonmangels Kenntnis von ihnen keine Sachherrschaft hat,oder wenn die Gefahr wie Felsbruch von einem Natur-ereignis ausgeht. Der Grund ist, dass sich aus der tatsächlichen undrechtlichen Sachherrschaft über das Grundstück wegender Sozialbindung des Eigentums nach Art. 14 Abs. lSatz 2 GG eine Pflicht ergibt, in Bezug auf diesesGrundstück für Störungsfreiheit zu sorgen (vgl.BVerwG, Buchholz, 402.41, Allg. PolizeiR Nr. 65 be-treffend vermutete Kampfmittel, und NJW 1999, 231,betreffend Felsabgänge). In diesen Fällen wird aus derSachqualität des Grundstücks und der Sachherrschaftüber das Grundstück die Unmittelbarkeit der Gefahr inBezug auf das Grundstück abgeleitet.

2. Gefahrverursachung durch höhere Gewalt oderDritteOb die Unmittelbarkeit - wie in den vorstehenden Fäl-len - noch gegeben ist, ist von Fall zu Fall in wertenderBetrachtung festzustellen. Der Zustand einer Sache und die Sachherrschaft übersie können im Verhältnis zu der Gefahr oder demSchaden auch eine nur entferntere, mittelbare Ursachedarstellen; solche mittelbaren Ursachen lösen die poli-zeiliche Zustandshaftung jedoch nicht aus. So liegt derFall etwa, wenn die Gefahr oder der Schaden unmittel-bar durch eine Missbrauchshandlung eines Drittenausgelöst wird, mag von der Sache auch ein gewisserAnreiz für diesen Missbrauch ausgehen. Deshalb istetwa der Betreiber eines Flughafens nicht aus allge-meinen Gründen der Gefahrenabwehr verpflichtet,(auf eigene Kosten) Schutz vor terroristischen Anschlä-

gen zu schaffen (vgl. BVerwG, DÖV 1986, 287). Indem vorstehend zitierten Urteil wird für das Erforder-nis einer Unmittelbarkeit als Grund angeführt, ohnediese würde die polizeiliche Zustandshaftung zu einerkonturenlosen Billigkeitshaftung, da andere haftungs-beschränkende Kriterien wie Rechtswidrigkeit oderSchuld fehlen. Dem schließt sich der Senat in Über-einstimmung mit dem angefochtenen Urteil an.

II. SubsumtionIm Rahmen der wertenden Betrachtung schlägt durch,dass die Verwirklichung der Gefahr von wilden Tierenausgeht, das Brückenbauwerk aber - anders als in denbeiden Fällen der Kampfstoffe und der Felsabgänge -die Gefahr nicht in sich selbst trägt. Um eine tatsäch-liche Verbindung zu der Brücke herzustellen, muss aufdie Nistplätze in dem Brückenbauwerk abgestellt wer-den, von denen selbst aber ebenfalls keine Gefahr aus-geht. Unter haftungsrechtlichen Gesichtspunkten istdie Nähe der Tiere zu dem Brückenbauwerk weiterdadurch relativiert, dass sich zwar die Tiere häufig,aber nicht notwendigerweise dort entleeren. Die feh-lende Unmittelbarkeit wird auch dadurch erhellt, dasses im Bereich des Beklagten - aktenkundig - nicht nurunter der fraglichen Brücke (und möglicherweise unterweiteren Brücken) Verunreinigung durch Tauben gibt,sondern auch anderenorts und in Großstädten allge-mein eine Taubenplage festzustellen ist (vgl. Frankfur-ter Allgemeine Zeitung vom 9.7.2004, Seite 7 “NeueHackordnung am Opernplatz”). Das Problem würdesich durch die angeordnete Netzabspannung allenfallsörtlich, aber nicht grundsätzlich verändern. Die Gefahrwürde sich nämlich verlagern, da kein Anhaltspunktdafür besteht, dass die Verhinderung des Nistens imBereich der Brücke zu einer insgesamt geringerenTaubenbelastung führen würde. Die Tauben als wildeTiere würden gegebenenfalls andere Nist- und Brut-plätze suchen, und ihren Kot anderenorts abgeben. ZuGunsten des Beklagten mag allerdings sprechen, dassdie Verlagerung der Nester nicht wieder zu einer ähnli-chen Konzentration der Tauben und der von ihnen aus-gehenden Gefahr führen müsste. Deshalb dürfte dasErfordernis der Eignung der angeordneten Netz-abspannung - eine weitere Voraussetzung der Rechtmä-ßigkeit einer Ordnungsverfügung-nicht wegen der blo-ßen Vertreibung der Tauben zu anderen Nistplätzenentfallen. Ein indizieller Gesichtspunkt bei der Bewer-tung der Unmittelbarkeit zwischen Gefahr undBrückenbauwerk bleibt die Verschiebung des Pro-blems trotzdem.Die fehlende Unmittelbarkeit ergibt sich in Bezug aufdas klägerische Brückenbauwerk ferner dadurch, dassnicht die Belästigung durch den von den Tauben abge-gebenen Kot schon die Gefahr bildet, sondern erst derUmstand, dass dieser auf der Straße trocknet und alsStaub von Menschen eingeatmet werden kann. Hin-zukommt, dass es sich damit zugleich auch um ein

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Problem der insoweit nicht ausreichenden Straßenreini-gung durch den dafür zuständigen Beklagten handelt. Diese zu dem Umstand, dass die Tauben wilde Tieresind, hinzukommenden Gesichtspunkte machen denFall entgegen dem Vorbringen des Beklagten auchunvergleichbar mit der Inanspruchnahme eines Grund-stückseigentümers wegen Ratten, die regelmäßig darinbesteht, dass ihm das Auslegen von Rattengift auf sei-nem Grundstück aufgegeben wird. Wenn der Beklagtemeint, bei der Auslegung des VG würde § 13 Abs. lBSeuchG ins Leere gehen, da grundsätzlich niemandals Störer in Anspruch genommen werden könne, istdem schon wegen der Fallgruppe der Handlungsstörernicht zu folgen. Außerdem ist grundsätzlich auch eineInanspruchnahme eines Grundstückseigentümers alsZustandsstörer nicht ausgeschlossen, wenn die Gefahrund das Grundstück hinreichend eng (unmittelbar) inBeziehung stehen, was z.B. im Zusammenhang mit

Ratten oftmals durch Lagerung von Unrat oder Abfalloder durch sonstige dem Grundstück eigeneAnziehungspunkte der Fall ist. Gegebenenfalls kommtferner eine Inanspruchnahme sogar nicht verantwortli-cher Personen nach § 19 OBG NRW in Betracht.Nicht immer, wenn eine Gefahr zu beseitigen ist, mussauch ein anderer in Anspruch genommen werden kön-nen. Ein weiterer Anwendungsbereich des § 13BSeuchG wäre im Übrigen gegeben, wenn sich derBeklagte, nachdem er seit zehn Jahren mit anderenMitteln versucht, des Taubenproblems Herr zu wer-den, entschließen würde, die Tiere zu töten, weil dieBehörde nach § 13 BSeuchG nämlich wirksam zu han-deln hat. Wie auch die Klägerin zutreffend ausgeführthat, würde ihm dann gegenüber den Regelungen desTierschutzgesetzes ebenfalls § 13 BSeuchG bzw. dieNachfolgeregelung zur Seite stehen.

Standort: Wiedereinsetzung Problem: Doppelverschulden

OVG NRW, BESCHLUSS VOM 29.09.2004

13 A 4479/02 (NWVBL 2005, 196)

Problemdarstellung:Wird eine gesetzliche Frist versäumt, kann nach § 32VwVfG im verwaltungsbehördlichen Verfahren Wie-dereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.Die Vorschrift setzt jedoch voraus, dass die Fristver-säumnis nicht auf ein Verschulden des Antragstellerszurückzuführen ist. Hiervon gibt es nach der überwiegenden Rechtspre-chung, der sich auch das OVG NRW im vorliegendenBeschluss anschließt, eine Ausnahme: Wenn nebendem Antragsteller auch die Behörde ein Verschuldenam Fristversäumnis trifft (Doppelverschulden), kannWiedereinsetzung gewährt werden. “Kann” bedeutet,dass je nach Einzelfall entschieden werden muss, obder Mitverschuldensanteil der Behörde so gravierendist, dass angesichts dessen vom Antragsteller nichtmehr in zumutbarer Weise erwartet werden konnte,dass er die Frist wahrt.

Prüfungsrelevanz:Die Entscheidung wirkt sich in allen Wiedereinset-zungsfällen aus, in denen ein Doppelverschulden inRede steht. Das OVG betont, dass der hier einschlägi-ge § 32 VwVfG dem im verwaltungsgerichtlichenVerfahren geltenden § 60 VwGO insoweit gleichzu-stellen sei. § 60 VwGO gilt wegen § 70 II VwGOnicht nur für gerichtliche Rechtsbehelfe, sondern auchfür die Widerspruchsfrist.Hinsichtlich weiterer Probleme zur Wiedereinsetzungsei auf die folgenden Vertiefungshinweise verwiesen.

Vertiefungshinweise:“ Keine Wiedereinsetzung in die Frist des § 47 IIVwGO möglich: OVG NRW, RA 2005, 252 = NVwZ-RR 2005, 290; VGH BW, NVwZ-RR 2001, 201 (offengelassen)“ Übertriebene Anforderungen an die Wiedereinset-zung: BVerfG, RA 2000, 2 = NJW 1999, 3701“ Wiedereinsetzung bei Wegfall des Hindernisseswährend der noch laufenden Frist: BVerwG, RA 1999,416 = NVwZ-RR 1999, 472

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Leitsatz:Trifft auch die Behörde für die Versäumung einerAntragsfrist ein Verschulden, so kann Wiederein-setzung in den vorigen Stand zu gewähren sein.

Sachverhalt:Die Klägerin beantragte im Mai 1995 die Verlänge-rung der Zulassung eines Arzneimittels, das erstmalsunter dem 18.11.1985 zugelassen worden war. In demVerlängerungsbescheid der Beklagten vom 23.9.1999heißt es, die Verlängerung werde für fünf Jahre erteilt.Im Oktober 2000 fragte die Klägerin bei der Beklagtenan, ob die Verlängerung bis zum 23.9.2004 oder biszum 18.11.2005 reiche; sollte die Verlängerung nurbis zum 18.11.2000 gelten, beantrage sie eine erneuteVerlängerung und die Wiedereinsetzung in den vori-gen Stand hinsichtlich der dann versäumtenDrei-Monats-Frist des § 31 Abs. 3 Satz l AMG. DieBeklagte lehnte den Antrag als unzulässig ab. Mit ihrerKlage auf Bescheidung in der Sache hatte die Klägerin

ÖFFENTLICHES RECHTRA 2005, HEFT 6

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in beiden Instanzen Erfolg.

Aus den Gründen:

A. Verschulden der KlägerinZwar hat die Klägerin die Drei-Monats-Frist des § 31Abs. 3 Satz 1 AMG (zur Auslegung des § 31 AMGund zur Fristberechnung vgl. Urt. des Senats v.27.4.2004 - 13 A 3596/01 -, noch nicht veröffentlicht,Revisionsaktenzeichen: BVerwG 3 C 22.04) versäumt.Dies war nach den Maßstäben des vorstehend genann-ten Senatsurteils, an denen festgehalten wird, auchschuldhaft.

B. Verschulden der BehördeJedoch hätte die Beklagte den insofern - nach den über-zeugenden Feststellungen des angefochtenen Urteils,die die Beklagte hingenommen hat, auch rechtzeitig -gestellten Wiedereinsetzungsantrag positiv bescheidenmüssen, was das VG nachgeholt hat und nachholenkonnte (vgl. OVG NRW, NWVBl. 1996, 156). Wie indem angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt, steht§ 31 Abs. l Nr. 3 AMG einer Statthaftigkeit der Wie-dereinsetzung gem. § 32 Abs. 1 VwVfG nicht entge-gen.

I. Zumutbarkeit der FristwahrungNach § 32 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ist dem Betroffenenauf Antrag Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn erohne Verschulden verhindert war, eine gesetzlicheFrist einzuhalten. Unverschuldete Fristversäumung er-fordert, dass dem Betroffenen nach den gesamten Um-ständen kein Vorwurf daraus zu machen ist, dass er dieFrist versäumt hat und ihm die Einhaltung der Fristzumutbar war. Es darf also nicht diejenige Sorgfalt au-ßer Acht gelassen werden, die einem gewissenhaftenund seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrneh-menden Verfahrensbeteiligten geboten und zumutbarist (vgl. etwa BVerwG, NJW 1990, 3103; NJW 1976,1332, wo zugleich ausgeführt wird, mit § 60 Abs. lVwGO [der § 32 Abs. l VwVfG entspricht] könntenHärten aufgefangen werden; die Vorschrift ermögli-che, dort zu helfen, wo dazu wegen der konkreten Ge-gebenheiten Anlass besteht).

II. Faires VerfahrenDas Kriterium der Zumutbarkeit räumt die Möglich-keit ein, den vom Gesetz nicht geregelten Fall eines

Verschuldens auch der Behörde zu berücksichtigen.Aus Art. 2 Abs. l i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG ergibt sichein allgemeines Grundrecht auf ein faires Verfahren.Aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgt u.a., dassein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Feh-lern, Unklarheiten oder Versäumnissen keine Verfah-rensnachteile ableiten darf (vgl. BVerfGE 78, 123,126). Ausdrücklich hat das BVerfG (Beschluss vom4.5.2004 - 1 BvR 1892/03, Rz. 11) formuliert: Beruheeine Fristversäumung auf Fehlern des Gerichts, seiendie Anforderungen an eine Wiedereinsetzung “mit be-sonderer Fairness” zu handhaben. Zwar sind die ge-nannten Entscheidungen des BVerfG jeweils zu ge-richtlichen Verfahren ergangen. Da es für den durchArt. 2 Abs. l GG geschützten Kreis aber keine Bedeu-tung hat, ob er durch überspannte Anforderungen beiGericht in seinem in Art. 19 Abs. 4 GG verankertenJustizgewährungsanspruch verletzt wird oder ob ersein Anliegen erst gar nicht vor Gericht bringen kann,weil er im Verwaltungsverfahren unfair behandeltwird, und sich Art. 20 Abs. 3 GG auch an die vollzie-hende Gewalt richtet, sieht sich der Senat nicht gehin-dert, das vom BVerfG betonte Fairnessgebot bei be-hördlichen Fehlern auch im Rahmen des § 32 VwVfGzu berücksichtigen (so auch BVerwG, NVwZ 1994,575).

C. Auswirkungen je nach EinzelfallWie und unter welchen Umständen eine behördlicheMitschuld geeignet ist, ein eigenes Verschulden desBetroffenen zu relativieren, ist von Fall zu Fall in wer-tender Betrachtung festzustellen. Ob behördliches(Mit-)Verschulden gegebenenfalls die Einhaltung ei-ner Frist unzumutbar macht oder dadurch das Ver-schulden des Betroffenen überlagert wird oder aufsonstige Weise entfallen lässt, ist eher eine akademi-sche Frage, die keiner Entscheidung bedarf. Das giltauch für die Möglichkeit, dass sich die Behörde aufdas Verschulden des Betroffenen bei ursächlichemeigenen Verschulden nicht berufen darf (so BVerwG,a.a.O.). Jedenfalls ist im vorliegenden Fall das Ver-schulden der Klägerin in einem solchen Maße durchUmstände aus der Sphäre der (beklagten) Behörde be-einflusst, dass hier die gebotene Fairness schon zu ei-ner Wiedereinsetzung durch die Beklagte selbst hätteführen müssen, sodass die Wiedereinsetzung durch dasVG nicht zu beanstanden ist. [...]

RA 2005, HEFT 6ÖFFENTLICHES RECHT

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Standort: § 38 VwVfG Problem: E-Mail und Schriftformerfordernis

OVG LÜNEBURG, BESCHLUSS VOM 17.01.2005

2 PA 108/05 (NVWZ 2005, 470)

Problemdarstellung:Das OVG Lüneburg verneint im vorliegenden Be-schluss die Frage, ob eine E-Mail dem Schriftformer-fordernis des § 38 I 1 VwVfG für die wirksame Abga-be einer Zusicherung genügt. Einschränkend weist dasGericht darauf hin, dass dies jedenfalls für solche E-Mails gelte, die nicht mit einer digitalen Signatur ver-sehen sind.Der Beschluss fügt sich nahtlos in die Linie andererGerichtsentscheidungen ein, in denen es um die Frageging, ob dem herkömmlichen Schriftformerfordernisdurch die Verwendung von modernen Kommunika-tionsmitteln genügt werden kann. Für das Telefax istdies mittlerweile in § 130 Nr. 6 ZPO, der über § 173VwGO auch im Verwaltungsprozess gilt, Gesetz ge-worden. Für sogen. “Computerfaxe”, also solche, diedirekt aus dem PC online versendet werden, ohne vor-her ausgedruckt und unterschrieben worden zu sein,hat sich die Rspr. in Person des Gemeinsamen Senatsder Obersten Bundesgerichte nach langem Hin undHer schließlich dazu durchgerungen, auch diese jeden-falls dann zuzulassen, wenn sie mit einer eingescann-ten Unterschrift versehen sind (siehe Vertiefungshin-weise). Hierzu lässt sich - mit aller Vorsicht - sagen,dass eine E-Mail mit digitaler Signatur von einem sol-chen Computerfax nicht mehr weit entfernt ist, manalso gespannt sein darf, ob sich in dieser Hinsicht dieRspr. weiterhin so konservativ zeigt wie hier dasOVG. Prüfungsrelevanz:Formprobleme lassen sich an vielen Stellen leicht inExamensaufgaben einbinden. Je nach Fallkonstellationverschieben sich Prüfungsstandort und Rechtsfolgen.Die wichtigsten Fälle sind (ohne Anspruch auf Voll-ständigkeit):1. Formfehler können sich zum einen auf die Wirksam-keit behördlicher Erklärungen auswirken, wenn diesbesonders angeordnet ist, wie hier nach § 38 I 1VwVfG auf die Wirksamkeit der Zusicherung einesVerwaltungsakts oder über §§ 57, 59 I VwVfG i.V.m.125 BGB beim öffentlich-rechtlichen Vertrag.2. Beim Verwaltungsakt selbst führt ein Verstoß gegeneine abweichend von § 37 II VwVfG ausnahmsweiseerforderliche Schriftform (z.B. im förmlichen Verfah-ren nach § 69 II VwVfG oder beim Widerspruchsbe-scheid nach § 73 III VwGO) hingegen grds. nur zur(formellen) Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, diezwar nicht nach § 45 VwVfG heilbar ist, jedoch nach §46 VwVfG unbeachtlich sein kann.

3. Wenn es um formgebundene Rechtsbehelfe geht,z.B. einen Widerspruch nach § 70 I VwGO oder eineKlageerhebung nach § 81 VwGO, wird auf die Wah-rung der Form häufig schon in der Frist einzugehensein, wenn der Rechtsbehelf fristgebunden ist. Dennnur ein formgerecht eingereichter Rechtsbehelf wahrtdie Frist. Gibt es keine Fristen, wie z.B. im Regelfallbei Leistungs- und Feststellungsklagen oder Anträgenim vorläufigen Rechtsschutz, muss die Formwahrungbei Problemen in einem eigenen Prüfungspunkt in derZulässigkeit erörtert werden. 4. Schließlich können auch Mitwirkungsakte des Bür-gers formgebunden sein (z.B. Anträge im förmlichenVerwaltungsverfahren nach § 64 VwVfG). In diesenFällen kommt die Form des Antrags unter den formel-len Voraussetzungen für einen Anspruch auf das be-gehrte Verwaltungshandeln zur Sprache.

Vertiefungshinweise:“ Zulässigkeit des Computerfaxes: GS-OBG, RA2000, 607 = NJW 2000, 2340; BGH, RA 1999, 15 =NJW 1998, 3649; BSG, NJW 1997, 1254; Düwell,NJW 2000, 3334; Schwachheim, NJW 1999, 621

Kursprogramm:“ Examenskurs : “Ausgespielt”

Leitsatz:Eine E-Mail ohne digitale Signatur wahrt auf kei-nen Fall die für eine wirksame Zusicherung erfor-derliche Schriftform.

Sachverhalt: Die ASt. begehrt Prozesskostenhilfe für den Rechts-streit über ihre Zulassung zum Hochschulstudium. ZurBegründung der Erfolgsaussichten eines solchen Pro-zesses beruft sie sich u.a. auf eine E-Mail der Ag.,welcher sie die verbindliche Zusicherung eines Stu-dienplatzes entnehmen will. Der Antrag blieb ohneErfolg.

Aus den Gründen:Soweit die Ast. mit ihrer Beschwerde erneut geltendmacht, das Internationale Büro der Ag. habe ihr unterdem 6.12.2004 die Zulassung zu dem von ihr ange-strebten Studium rechtswirksam zugesichert, kann diesnicht zum Erfolg ihrer Beschwerde führen. Die E-Maildes Internationalen Büros vom 6.12.2004, auf die sichdie Ast. beruft, genügt nicht den Anforderungen aneine Zusicherung i.S. des § 38 VwVfG, kann der Ast.also ebenfalls die erstrebte Hochschulzulassung nichtvermitteln, wie dies das VG in dem Beschluss vom22.12.2004 bereits zutreffend erkannt hat.

ÖFFENTLICHES RECHTRA 2005, HEFT 6

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I. E-Mail genügt nicht der SchriftformDies ergibt sich nach Auffassung des Senats bereitsdaraus, dass die E-Mail nicht dem Schriftformerforder-nis des § 38 I 1 VwVfG entspricht. Auch wenn diemodernen, insbesondere die elektronischen Kommuni-kationsformen im Rechtsverkehr eine immer größereBedeutung gewinnen, bedeutet dies nicht, dass eineschlichte E-Mail dem in § 38 I 1 VwVfG zum Schützeeiner Behörde vor übereilten Bindungen angeordnetenSchriftformerfordernis genügt. Hierbei kann der Senat offen lassen, ob unter Schrift-form i. S. des § 38 VwVfG nach dem Willen des Ge-setzgebers nur ein Papierdokument zu verstehen ist (soStelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2004, § 38Rdnr. 35 a). Denn nach dem Kenntnisstand dieses Pro-zesskostenhilfeverfahrens erfüllt die fragliche E-Mailvom 6.12.2004 schon deshalb nicht das Schriftformer-fordernis i. S. des § 38 I 1 VwVfG, weil nicht erkenn-bar ist, dass die E-Mail mit elektronischer Signaturversandt worden ist. Ohne die Sicherungen durch einedigitale Signatur kann aber nicht mit der erforderli-chen, von dem Schriftformerfordernis des § 38 I 1VwVfG aber gebotenen Sicherheit festgestellt werden,

ob die betreffende E-Mail vollständig und inhaltlichrichtig ist und ob sie tatsächlich von dem in ihr ange-gebenen Aussteller stammt.

II. Abgabe einer ZusicherungAber selbst wenn man die Schriftform durch die fragli-che E-Mail hier als gewahrt ansehen wollte - auch diesstellt eine selbstständig tragende Erwägung des Be-schlusses dar -, könnte die Ast. aus der E-Mail einenAnspruch auf Zulassung zu dem von ihr angestrebtenStudium nicht herleiten. Denn der Erklärung fehlt ent-gegen der Ansicht der Ast. der für eine Zusicherungerforderliche Bindungswille. Wie nämlich die in derE-Mail verwende Formulierung “voraussichtlich” auchfür Außenstehende hinreichend deutlich macht, sollteder Ast. die erstrebte Zulassung zum Studium nichtgarantiert, zu ihren Gunsten durch die E-Mail einentsprechender Anspruch auf Zulassung noch nichtbegründet werden. Vielmehr wurde der Ast. eine Zu-lassung nur in Aussicht gestellt. Dies reicht aber fürdie Annahme einer Zusicherung nach § 38 VwVfGnicht aus.

Standort: Berufung Problem: Bindung des OVG an Zulassung

BVERWG, URTEIL VOM 29.07.20045 C 65.03 (BAYVBL 2005, 283)

Problemdarstellung:Im Berufungsrecht der VwGO ist ganz grundsätzlichzwischen den Fällen zu unterscheiden, in denen dasVG die Berufung zulässt (§124a I bis III VwGO) unddenen, in denen das VG sich nicht zur Berufung äußert(§ 124a IV bis VI VwGO). Die theoretisch denkbaredritte Möglichkeit, eine explizite Nichtzulassung,schließt § 124a I 2 VwGO aus. Hier geht es um den ersten Fall, in dem das VG dieBerufung zugelassen hat. Die Entscheidung desBVerwG betrifft die Frage, ob das Oberverwaltungs-gericht eine solche Zulassung gebunden ist, oder eseine zugelassene Berufung gleichwohl mangels Vor-liegen eines Zulassungsgrundes (§ 124 II Nr. 3, 4VwGO) als unzulässig “verwerfen” (§ 125 II 1VwGO) darf. Auf den ersten Blick beantwortet § 124aI 2 VwGO diese Frage eindeutig, denn dort ist die Bin-dungswirkung ausnahmslos und unbedingt fest-geschrieben.Der VGH Mannheim kam allerdings auf die Idee, dassdies jedenfalls dann nicht gelten könne, wenn ein Ein-zelrichter nach § 6 VwGO entschieden habe. Denn einEinzelrichter dürfe nach § 6 I Nr. 1, 2 VwGO nur ent-scheiden, wenn die Sache weder tatsächliche nochrechtliche Schwierigkeiten aufweise und keine grund-sätzliche Bedeutung habe. Gerade diese grundsätzliche

Bedeutung sei in § 124 II Nr. 3 VwGO aber als Beru-fungszulassungsgrund genannt, so dass sich Übertra-gung auf einen Einzelrichter und Berufungszulassungnach § 124 II Nr. 3 VwGO ausschlössen.Das BVerwG kontert diese Argumentation mit zweiErwägungen: Zum einen entscheiden unterschiedlicheSpruchkörper über die “grundsätzliche Bedeutung”,nämlich im Übertragungsbeschluss die Kammer und inder Berufungszulassung der Einzelrichter. Zum ande-ren werden diese Entscheidungen zu unterschiedlichenZeitpunkten getroffen, nämlich am Beginn (Übertra-gungsbeschluss) bzw. am Ende der Instanz (Beru-fungszulassung). Ändere sich die Beurteilung dergrundsätzlichen Bedeutung im Prozessverlauf, könne -müsse aber nicht - der Einzelrichter nach § 6 IIIVwGO die Sache an die Kammer zurückübertragen.Dieses Ermessen zeige, dass ein Einzelrichter am Endeder Instanz durchaus mit einer Sache von grundsätzli-cher Bedeutung konfrontiert sein könne.

Prüfungsrelevanz:Aus dem Machtwort des BVerwG spricht die deutlicheTendenz, jede Aufweichung des § 124a I 2 VwGOdurch die Oberverwaltungsgerichte im Keim zu ers-ticken. In Examensaufgaben gibt es daher nach wievor keine Veranlassung, an der Bindungswirkung zuzweifeln. Sollte der Sachverhalt allerdings explizit diehier aufgeworfene Problematik aufgreifen, ist sieselbstverständlich zu erörtern.

RA 2005, HEFT 6ÖFFENTLICHES RECHT

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Daneben lohnt es sich auf die vom BVerwG in einemNebensatz ausgesprochene Anmerkung hinzuweisen,dass die Bindungswirkung des § 124a I 2 VwGO sichnur auf die Berufungszulassungsgründe bezieht, nichthingegen auf die sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzun-gen der Berufung wie ihre Statthaftigkeit (nur gegenUrteile i.S.d. § 124 I VwGO), die formelle Beschwer(ungeschriebene allgemeine Prozessvoraussetzung:Tenor entspricht nicht voll dem Antrag), die Postula-tionsfähigkeit (§ 67 I VwGO), Form und Frist (Mo-natsfrist für die Einlegung, Zweimonatsfrist für dieBegründung, § 124a II 1, III 1 VwGO; das Schriftfor-merfordernis ergibt sich aus § 124 III VwGO passim).

Vertiefungshinweise:“ Keine Umdeutung der Berufung in Antrag auf Zu-lassung der Berufung: BVerwG, RA 1999, 366 = NJW1999, 641

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Leitsatz:Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassungder Berufung durch den Einzelrichter gebunden.

Sachverhalt:Nachdem das Verwaltungsgericht durch einen Einzel-richter nach § 6 VwGO die Berufung zum Oberver-waltungsgericht gem. § 124a I VwGO zugelassen hat-te, verwarf dieses die vom Beklagten eingelegte Beru-fung als unstatthaft. Das BVerwG gab der Revisionstatt und verwies den Rechtsstreit an das OVG zurück.

Aus den Gründen:Die Revision ist begründet und führt zur Zurückver-weisung (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Zu Un-recht hat das Berufungsgericht die Berufung des Be-klagten als nicht statthaft verworfen. Seine Auf-fassung, die Berufung sei nicht wirksam zugelassenworden, verletzt Bundesrecht. Denn nach § 124 a Abs.l Satz 2 VwGO war das Berufungsgericht an die Beru-fungszulassung durch den Einzelrichter gebunden.

A. Zulassung durch das VGGegen Endurteile, wie hier das Urteil des Ver-waltungsgerichts Stuttgart vom 27.1.2003, steht denBeteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Ver-waltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zu-gelassen wird (§ 124 Abs. 1 VwGO). Das Ver-waltungsgericht lässt die Berufung indem Urteil zu,wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 (grundsätzli-che Bedeutung) oder Nr. 4 (Divergenz) vorliegen (§124a Abs. l Satz 1 VwGO). Das Oberverwaltungsge-richt ist an die Zulassung gebunden (§ 124 a Abs. 1Satz 2 VwGO).

B. Umfang der BindungswirkungDiese Bindung bezieht sich allerdings nur auf die Zu-lassung selbst, nicht dagegen auf andere Zulässigkeits-voraussetzungen wie die Statthaftigkeit der Berufungnur gegen grundsätzlich berufungsfähige Entscheidun-gen im Sinne von § 124 Abs. l VwGO (vgl. dazuBGH, MDR 2003, 41 = NJW 2003, 211). Mit § 124 aAbs. 1 Satz 2 VwGO hat der Gesetzgeber klargestellt,dass die Zulassungsentscheidung nicht der Überprü-fung durch das Oberverwaltungsgericht unterliegt,sondern dieses bindet (zur Bindung der Revisionszu-lassung nach § 132 Abs. 3 VwGO vgl. BVerwGE 102,95, 98 f. unter Hinweis auf BT-Drs. 11/7030 S. 33).

C. Einzelrichter als VerwaltungsgerichtDie Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zu-lassung der Berufung durch das Verwaltungsgerichtsieht auch das Berufungsgericht. Es verneint sie aberim Streitfall zu Unrecht mit der Begründung, der nach§ 6 Abs. l Satz 1 VwGO bestimmte Einzelrichter seinicht “Verwaltungsgericht” im Sinne des § 124 a Abs.l Satz 1 VwGO.

I. Gleichsetzung von Kammer und Einzelrichter alsSpruchkörperDenn der Einzelrichter, dem der Rechtsstreit nach § 6VwGO zur Entscheidung übertragen ist, entscheidetals Verwaltungsgericht. Er ist in § 5 Abs. 3 VwGOneben der Kammer ausdrücklich als Entscheidungs-organ des Verwaltungsgerichts genannt.

II. Kein Widerspruch zu § 124a I 1 VwGOZutreffend stellt das Berufungsgericht zwar heraus,dass die Voraussetzungen für die Übertragung desRechtsstreits auf den Einzelrichter nach § 6 Abs. l Satz1 VwGO, hier: keine grundsätzliche Bedeutung derRechtssache, und für die Zulassung der Berufung nach§ 124a Abs. l Satz 1 VwGO, hier: grundsätzlicheBedeutung der Rechtssache, gegenläufig sind. Dasrechtfertigt aber nicht die Annahmen des Berufungs-gerichts, der Gesetzgeber habe die Entscheidungszu-ständigkeit des Einzelrichters in Fällen grundsätzlicherBedeutung ausgeschlossen und der Einzelrichter sei andie Bewertung der Kammer, die Rechtssache habe kei-ne grundsätzliche Bedeutung, gebunden. Denn die be-zeichneten gegenläufigen Voraussetzungen beziehensich zwar auf denselben Rechtsstreit, aber auf zweiverschiedene Entscheidungen, die je zu einer anderenZeit, mit anderer Prüfungsdichte und von anderenRichtern zu treffen sind.Zwar lässt die Frage, ob eine Rechtssache grundsätzli-che Bedeutung hat, nur eine Antwort zu. Die Antworthängt aber ab vom Erkenntnisstand zur Zeit der Ent-scheidung und von der Beurteilung des/r entscheiden-den Richter(s).Es entspricht der beabsichtigten Verfahrensbeschleuni-gung, wenn die Entscheidung über die Übertragung

ÖFFENTLICHES RECHTRA 2005, HEFT 6

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auf den Einzelrichter in einem relativ frühen Verfah-rensstadium getroffen wird, in dem der Prozessstoffnoch nicht umfassend bearbeitet worden ist. Es ist des-halb nicht auszuschließen, dass sich die Beurteilungder grundsätzlichen Bedeutung bei weiterer Durch-dringung des Prozessstoffs im Laufe des Prozessver-laufs ändern kann.Es gehört zum Rechtsleben, dass Rechtsfragen abhän-gig von der Beurteilung des/r entscheidenden Rich-ter(s) entschieden werden und deshalb unterschiedli-che Entscheidungen zu identischen Rechtsfragen er-gehen. Dem trägt das Gesetz durch die Möglichkeiteiner Überprüfung im Rechtsmittelverfahren und bei-spielsweise auch einer unterschiedlichen Beurteilungder grundsätzlichen Bedeutung durch Verwaltungs-gericht und Oberverwaltungsgericht Rechnung.Dementsprechend ist es nicht ausgeschlossen, dass dieKammer bei ihrer Entscheidung über die Übertragungin der Beschlussbesetzung mit drei Berufsrichtern einegrundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verneintund den Rechtsstreit einem ihrer Mitglieder als Einzel-richter zur Entscheidung überträgt, dieser aber einegrundsätzliche Bedeutung der Rechtssache bejaht unddie Berufung in seiner Entscheidung des Rechtsstreitszulässt.

III. Keine Bindung des Einzelrichters an Auffassungder übertragenden KammerDie vom Berufungsgericht angenommene Bindung desEinzelrichters an die Bewertung der Kammer imÜbertragungsbeschluss, dass die Rechtssache keinegrundsätzliche Bedeutung habe, lässt sich dem Gesetznicht entnehmen. Anders als § 130 Abs. 3 und § 144Abs. 6 VwGO, die für den Fall der Zurückverweisungeine Bindung an die rechtliche Beurteilung der Rechts-mittelentscheidung regeln, bestimmt § 6 VwGO eineBindung an die der Übertragungsentscheidung zugrun-de liegende rechtliche Beurteilung nicht. Gebunden istder Einzelrichter an die Entscheidung der Kammer,also die Übertragung des Rechtsstreits auf ihn, nichtjedoch an die dieser Entscheidung zugrunde liegendeBeurteilung des Rechtsstreits. Mit der Übertragunggeht die Entscheidungsbefugnis für den Rechtsstreituneingeschränkt auf den Einzelrichter über; er, nichtdie ganze Kammer, entscheidet am Ende im Urteilnach seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrensgewonnenen Überzeugung (§ 108 Abs. l Satz 1VwGO) auch darüber, ob die Rechtssache grundsätzli-che Bedeutung hat und die Berufung zuzulassen ist.

IV. Keine Rückübertragungspflicht bei nachträglicherkannter grundsätzlicher BedeutungAusgehend von der zutreffenden Erkenntnis, dass esmöglich ist, dass die Kammer rechtsfehlerhaft diegrundsätzliche Bedeutung der Sache beim Übertra-gungsbeschluss verkannt hat, sieht das Berufungsge-richt ungeachtet der von ihm vertretenen Bindung desEinzelrichters an die Bewertung durch die Kammer(fehlende grundsätzliche Bedeutung) die Möglichkeit,dass der Einzelrichter entgegen der Einschätzung derKammer zur Auffassung gelangt, dass die Sachegrundsätzliche Bedeutung aufweise. Zu Unrecht ver-neint es jedoch die Befugnis des Einzelrichters, dieBerufung zuzulassen, mit der Begründung, in diesemFall liege eine wesentliche Änderung der Prozesslageim Sinne von § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO vor mit derFolge, dass das durch § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO einge-räumte Ermessen auf null reduziert und der Einzelrich-ter zur Rückübertragung verpflichtet sei.Zum einen darf der Einzelrichter die Sache, wenn erihre grundsätzliche Bedeutung bejaht, nur dann nach §6 Abs. 3 Satz 1 VwGO auf die Kammer zurücküber-tragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderungder Prozesslage ergibt, dass die Rechtssache grundsätz-liche Bedeutung hat oder die Sache besondere Schwie-rigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist,also nicht schon dann, wenn er sie anders als die Kam-mer als grundsätzlich ansieht (BGH, MDR 2004, 49 =NJW 2003, 2900 zu dem insoweit vergleichbaren §526 Abs. 2 Nr. l ZPO). Entgegen der Auffassung desBerufungsgerichts kann deshalb in der von der Kam-mer abweichenden Beurteilung der grundsätzlichenBedeutung durch den Einzelrichter nicht selbst einewesentliche Änderung der Prozesslage gesehen wer-den. Eine Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung,die sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozess-lage “ergibt”, kann nicht selbst die vorausgesetzte we-sentliche Änderung sein. [...]Zum anderen verpflichtet § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO denEinzelrichter nicht zur Rückübertragung, sondernräumt ihm, anders als § 6 Abs. l Satz 1 VwGO für dieÜbertragung selbst (soll übertragen), ein nicht inten-diertes Ermessen (kann zurückübertragen) ein. Wennder Einzelrichter aber bei grundsätzlicher Bedeutungnicht zurückübertragen muss, sondern kann, lässt dasGesetz die Entscheidung des Einzelrichters auch in Fäl-len von grundsätzlicher Bedeutung zu.

RA 2005, HEFT 6ZIVILRECHT

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Zivilrecht

Standort: § 847 BGB a. F. Problem: Schmerzensgeld wegen Anwaltsverschuldens

KG, URTEIL VOM 17.01.200512 U 302 / 03 (NJW 2005, 1284)

Problemdarstellung:Die in diesem Verfahren Bekl. war die Strafverteidige-rin des Kl. In einem Strafverfahren wegen Handels mitBetäubungsmitteln. Der Kl. bat die Bekl. u. a. deshalbum Rat, weil der Hauptverhandlungstermin mit einerReise des Kl. in seine Heimat Ghana, während dererauch seine Hochzeit stattfinden sollte, kollidierte.Obwohl schon frühzeitig auf dieses Problem aufmerk-sam gemacht, versäumte es die Bekl zunächst, bei Ge-richt eine entsprechende Terminsverlegung zu beantra-gen. Als der Kl. kurz vor seiner Abreise bei der Bekl.nachfragte, hielt diese ihn gleichwohl nicht von seinerReise ab. Das kurzfristig bei Gericht eingereichte Er-suchen um Terminsverlegung blieb erfolglos, weshalbgegen den im Hauptverhandlungstermin fehlendenhiesigen Kl. gem. § 230 II StPO Haftbefehl erging unddieser nach seiner Rückkehr nach Deutschland bis zumnächsten Hauptverhandlungstermin insgesamt 76 Tagein Untersuchungshaft verbrachte.Das KG nahm in diesem Fall eine schuldhafte Verlet-zung der anwaltlichen Pflichten der Bekl., die zu einerFreiheitsentziehung des Kl. geführt habe, an undsprach dem Kl. das begehrte Schmerzensgeld auf derBasis des § 847 BGB a. F. (vgl. § 253 II BGB n. F.,der einen Schmerzensgeldanspruch nunmehr auch aufder Basis vertraglicher Ersatzansprüche - etwa wegenSchlechterfüllung des mit dem Rechtsanwalt geschlos-senen Geschäftsbesorgungsvertrags - ermöglicht) zu.Es kürzte dieses jedoch verglichen mit der seitens desKl. angestrebten Höhe von rund 19.000,– i erheblich,da es ihm vorwarf, sich erst kurz vor seiner Abreisewieder um die Terminsverlegung gekümmert und trotzder negativen Antwort die Reise durchgeführt zu ha-ben.

Prüfungsrelevanz:Natürlich zählen die Rechtsgrundlagen und besonde-ren Rechtsprobleme der Gewährung von Schmerzens-geld zum examensrelevanten Zivilrecht. Diesbezüglichist hier etwa darauf hinzuweisen, dass ein Mitverschul-den des Geschädigten i. S. d. § 254 BGB, wie es dasKG auch im zu entscheidenden Fall angenommen hat,nicht zu einer quotalen Kürzung des Schmerzensgeld-anspruches führt, sondern lediglich zu den Be-

messungsfaktoren zählt, die bei der Ermittlung der imkonkreten Einzelfall “billigen Entschädigung in Geld”zu berücksichtigen sind (vgl. Palandt-Heinrichs, § 253Rz. 17, 30).Für die anwaltliche Berufspraxis wirft dieser Fall da-gegen die interessante Frage auf, inwieweit derartigeInanspruchnahmen durch die bestehende Berufshaft-pflichtversicherung abgedeckt sind. Findet sich in denzugrundeliegenden Versicherungsbedingungen dienicht seltene Formulierung, der zufolge Versiche-rungsschutz für den Fall besteht, dass der Versiche-rungsnehmer “wegen eines bei der Ausübung berufli-cher Tätigkeit [...] begangenen Verstoßes von einemanderen [...] für einen Vermögensschaden verantwort-lich gemacht wird.”, sind erhebliche Zweifel an-gebracht, da das Schmerzensgeld expressis verbis denSchaden “..., der nicht Vermögensschaden ist, ...” (vgl.§ 253 II BGB) ausgleichen soll.

Vertiefungshinweise:“ Zur Schadensersatzpflicht des Rechtsanwalts nachProzessverlust aufgrund eines Beratungsfehlers: BGH,RA 2001, 27 = NJW 2000, 3560“ Zum Erfüllungsort für die Gebührenforderung desRechtsanwalts: BGH, RA 2004, 109 = NJW 2004, 54

Kursprogramm:“ Examenskurs : “Die Verfolgung” “ Examenskurs : “Der geschädigte Kollege”

Leitsatz:Versäumt es der Strafverteidiger - trotz entspre-chender Absprache und Auftrags des angeklagtenMandanten - einen Antrag auf Verlegung des Ter-mins zur Hauptverhandlung zu stellen und denMandanten kurz vor dessen Reiseantritt zur Hoch-zeit in seinem Heimatland über das Risiko einerVerhaftung bei Versäumung des Termins aufzuklä-ren, und gerät der Mandant daraufhin in Haft, sosteht dem Mandanten gegen den Anwalt nach § 253II BGB (§ 847 BGB a. F.) ein Anspruch auf ange-messenes Schmerzensgeld wegen der erlittenenFreiheitsentziehung zu; bei der Bemessung der Hö-he ist gegebenenfalls das Mitverschulden des Man-danten nach § 254 I BGB anspruchsmindernd zuberücksichtigen.

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Sachverhalt:Der Kl. begehrt von der Bekl. die Zahlung eines an-gemessenen Schmerzensgeldes wegen erlittener Unter-suchungshaft in Höhe von (76 Tagen x 500,00DM/Tag = 38.000,00 DM =) 19.429 ,09 Euro sowieSchadensersatz in Höhe von 543,50 Euro (= 1.060,00DM: entgangener Verdienst an 53 Werktagen zu je20,00 DM) und Freistellung von Rechtsanwaltsgebüh-ren in Höhe von 279,16 Euro (= 546,00 DM). Der Kl.,nach seinen Angaben ghanaesischer Staatsbürger, be-auftragte die Bekl. mit seiner Verteidigung in einemgegen ihn geführten Strafverfahren wegen Handels mitBetäubungsmitteln. Nachdem in dem VerfahrenHauptverhandlungstermin für den 25.08.2000 anbe-raumt worden war, suchte er die Bekl. im Mai 2000auf und beauftragte diese mit seiner Verteidigung. Indiesem Zusammenhang wies der Kl. die Bekl. an, Ter-minsverlegung zu beantragen, weil er, der Kl., im letz-ten Drittel des Monats August 2000 nach Ghana fah-ren wollte, um dort seine damalige Lebensgefährtinund heutige Ehefrau A zu ehelichen. Die Ehefrau desKl. ist 1987 zur Rechtsanwalts- und Notargehilfin aus-gebildet worden, hat in dem Beruf jedoch nicht gear-beitet. Ein bis zwei Tage vor der Abreise des Kl. er-kundigte sich die Zeugin A im Auftrag des Kl. telefo-nisch bei der Bekl. nach der Terminsverlegung. NachDurchsicht ihrer Unterlagen stellte die Bekl. fest, dasssie den Verlegungsantrag nicht gestellt hatte. Der In-halt des Gesprächs im Weiteren ist zwischen den Par-teien streitig. Es existiert ein Gesprächsvermerk, wel-cher mit dem Datum des 20.08.2000 versehen ist. Pla-nungsgemäß reiste der Kl. am 21. oder 22.08.2000nach Ghana. Am Abend des 22.08.2000 beantragte dieBekl. per Fax die Verlegung des Hauptverhandlungs-termins. Es existiert ein Vermerk des zuständigenRichters beim AG vom 23.08.2000, in dem es heißt:„Ladung des Angeklagten erfolgte bereits am20.05.2000. Antritt einer Urlaubsreise in Kenntnis derLadung stellt keine Entschuldigung dar! Über § 230 IIStPO wird im Hauptverhandlungstermin entschieden,sofern der Angekl. tatsächlich ausbleibt.”Im Anschluss an den Hauptverhandlungstermin am25.08.2000 erließ das AG gem. § 230 II StPO gegenden Kl. Untersuchungshaft. Zur Begründung ist ausge-führt:„Der Angekl. ist trotz ordnungsgemäßer Ladung, ohnesein Ausbleiben genügend entschuldigt zu haben, zurheutigen Hauptverhandlung nicht erschienen. Durchdas Schreiben der Verteidigerin vom 22.08.2000 istdas Ausbleiben des Angekl. nicht ausreichend ent-schuldigt. Dieser konnte nicht darauf vertrauen, dassauf Grund der Mitteilung seiner Reiseplanung an seineVerteidigerin der Hauptverhandlungstermin zwingendverlegt werden würde, solange ihm das Gericht nichteine Terminsverlegung mitteilt. Angesichts der erheb-lichen Anklagevorwürfe wäre ihm zumutbar gewesen,seine Auslandsreise zu verschieben oder zu unterbre-

chen (...).”

Der Kl. wurde nach der Rückkehr aus Ghana am09.09.2000 am 22.09.2000 verhaftet und inhaftiert. ImHauptverhandlungstermin am 08.12.2000 wurde dasVerfahren ausgesetzt und der Haftbefehl aufgehoben.Der Kl. ließ die Bekl. mit Schreiben vom 02.01.2001unter Fristsetzung bis zum 17.01.2001 auffordern, anihn in Höhe der Klageforderung Schmerzensgeld undSchadensersatz zu leisten. Mit rechtskräftigem Urteilvom 11.10.2002 wurde der Kl. zu einer Gesamtfrei-heitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Die Voll-streckung der Strafe ist zur Bewährung ausgesetzt, dieBewährungszeit auf drei Jahre festgesetzt. Der Kl. istder Ansicht, er habe sich auf Grund Verschuldens derBekl. 76 Tage in Untersuchungshaft befunden, weildie Bekl. ihre anwaltlichen Sorgfaltspflichten vernach-lässigt habe, indem sie vergaß, rechtzeitig eine Ter-minsverlegung zu beantragen, ihm versichert habe, erkönne unbesorgt nach Ghana fahren und ihn nicht überdas Risiko einer unentschuldigten Abwesenheit unddie Möglichkeit des Erlasses eines Haftbefehls aufge-klärt habe.Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufungdes Kl. wurde die Bekl. zur Zahlung von 7.000,00 Eu-ro Schmerzensgeld verurteilt.

Aus den Gründen:Die Bekl. ist gem. § 823 I BGB, § 847 BGB a. F. ver-pflichtet, dem Kl. für die erlittene Haft ein angemesse-nes Schmerzensgeld in Höhe von 7.000,00 Euro zuzahlen.

A. Verursachung einer Freiheitsentziehung zu Lastendes Kl. durch die Bekl.Entgegen der Ansicht des LG war das fahrlässige Ver-halten der Bekl. ursächlich für die Verletzung der per-sönlichen Fortbewegungsfreiheit des Kl., einem abso-luten Rechtsgut i. S. von § 823 I BGB. Die erlitteneFreiheitsentziehung in der Zeit vom 22.09. bis zum08.12.2000 beruht zwar unmittelbar auf dem Haftbe-fehl des AG Berlin vom 28.08.2000. Das Verhaltender Bekl. war aber mittelbare Ursache der Freiheits-entziehung.

I. Verletzung der anwaltlichen Sorgfalt durch die Bekl.Die Bekl. hat es entgegen ihren anwaltlichen Pflichtenversäumt, trotz des dahin gehenden Auftrags des Kl.vom 22.05.2000, einen Verlegungsantrag in Bezug aufden am 25.08.2000 terminierten Termin zur Haupt-verhandlung zu stellen. Die Bekl. hat es entgegen ih-ren anwaltlichen Pflichten weiterhin unterlassen, denKl. in dem Telefonat kurz vor Reiseantritt über dasRisiko eines Haftbefehls bei Versäumung des Terminsaufzuklären. Dass diese Aufklärung nicht stattgefun-den hat, ergibt sich aus der eigenen Einlassung derBekl. in ihrer Anhörung vor dem LG. Entgegen der

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Ansicht des LG war die Bekl. aber gerade zu einer sol-chen Aufklärung verpflichtet. Der in der Ladung ent-haltene Hinweis („Wenn sie ohne genügende Ent-schuldigung ausbleiben, ist ihre Vorführung anzuord-nen oder ein Haftbefehl zu erlassen.”) ändert hierannichts. Unabhängig von der Frage seiner Deutsch-kenntnisse konnte der Kl. diesem Hinweis nicht ent-nehmen, wie groß für ihn das Risiko der Anordnungeiner länger andauernden Untersuchungshaft tatsäch-lich war. Auch konnte er diesem Hinweis nicht entneh-men, unter welchen Voraussetzungen er lediglich miteiner Vorführung rechnen musste. Im Übrigen hat dieBekl. selbst den Hinweis in der Ladung durch ihre aus-drückliche Warnung vor den zu erwartenden erhebli-chen Kosten gegenüber dem Kl. relativiert.

II. (Mit-) Ursächlichkeit des pflichtwidrigen Unterlas-sens für die Inhaftierung des Kl.Das vorstehend dargelegte Unterlassen war auch mit-ursächlich für die Verhaftung des Kl. nach dessenRückkehr aus seiner Heimat. Hätte die Bekl. entspre-chend der Auftragserteilung noch im Mai 2000 eineVerlegung des Termins zur Hauptverhandlung bean-tragt, so wäre der Termin entweder verlegt wordenoder der Bekl. hätte im Falle einer Ablehnung des Ver-legungsantrags ausreichend Zeit gehabt, seine Reise-und Hochzeitspläne den tatsächlichen Gegebenheitenanzupassen. Hätte die Bekl. den Kl. in dem Telefon-gespräch kurz vor Reiseantritt konkret über das Risikoeiner Verhaftung und einer sich daran anschließendenlängeren Haftzeit informiert, so hätte der Kl. einekurzfristige Absage seiner Reise veranlassen können.Umstände, aus denen geschlossen werden könnte, dasser die Reise trotz einer entsprechenden Aufklärungangetreten hätte, hat die Bekl. nicht dargelegt. Sie sindauch sonst nicht ersichtlich. Entgegen der Ansicht derBekl. ergibt sich dies insbesondere nicht aus dem Um-stand, dass der Kl. seine Reise trotz der Hinweise derBekl. auf die im Falle einer Versäumung der Haupt-verhandlung zu tragenden erheblichen Kosten angetre-ten hat. Auf Grund der unvollständigen Aufklärungdurch die Bekl. stellte sich dem Kl. nach dem Telefo-nat folgende Frage: Sollte er erhebliche Kosten da-durch verursachen, dass er die Reise und die Hochzeitin seinem Heimatland kurzfristig absagt oder sollte erReise und Hochzeit wie geplant durchführen und dieKosten der geplatzten Hauptverhandlung in Kauf neh-men? Aus dem Umstand, dass er sich nach dem Tele-fonat für einen Reiseantritt und die Hinnahme vonVerfahrensmehrkosten entschied, kann aber nicht ge-schlossen werden, dass er auch dann gefahren wäre,

wenn ihm bewusst gewesen wäre, dass er nach seinerRückkehr für einen längeren Zeitraum in Haft kom-men könnte. Es mag sein, dass der Kläger zusätzlicheKosten bewusst in Kauf genommen hat, um die Hoch-zeit in seiner Heimat nicht absagen zu müssen. Eskann aber nicht davon ausgegangen werden, dass erfreiwillig auch eine länger andauernde Untersuchungs-haft hingenommen hätte, um Reise und Hochzeit nichtverschieben zu müssen.

B. Rechtswidrigkeit und VerschuldenUmstände, aus denen sich ergeben könnte, dass derBekl. Fahrlässigkeit nicht vorzuwerfen ist, hat diesenicht dargelegt. Die Rechtsgutverletzungen durch dieBekl. waren auch rechtswidrig. Die Verletzung einesgem. § 823 I BGB absolut geschützten Rechts indiziertdie Rechtswidrigkeit des Unterlassens, soweit - wievorliegend - eine Pflicht zum Handeln bestand.

C. Zur Bemessung des dem Kl. gem. § 847 BGB a. F.zustehenden SchmerzensgeldesDem Kl. steht nach § 847 BGB a. F. eine Geldentschä-digung für den zugefügten immateriellen Schaden we-gen der erlittenen Freiheitsentziehung zu. Das Schmer-zensgeld hat im Wesentlichen zwei Funktionen. Essoll den durch die Rechtsverletzung erlittenen Schadenausgleichen und darüber hinaus auch zu einer wirkli-chen Genugtuung des Verletzten führen (BGHZ [GS]18, 149 = NJW 1955, 1675). Für die konkrete Höhedes Schmerzensgeldanspruchs war hier das konkreteMaß an Lebensbeeinträchtigung des Kl. während der76 Tage dauernden Untersuchungshaft zu berücksichti-gen. Während dieser Zeit hatte er keinen normalenKontakt zu seiner Umgebung, insbesondere zu seinerFrau. Daneben erlitt der Kl. die üblichen Belastungenseines Rufs im Freundes- und Familienkreis sowie inder Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite war gem. §254 I BGB das erhebliche Mitverschulden des Kl. an-spruchsmindernd zu berücksichtigen. Der Kl. hat seineInhaftierung dadurch selbst schuldhaft mit verursacht,dass er es unterlassen hat, in der Zeit vom Juni bisMitte August 2000 bei der Bekl. nach dem Stand derTerminsverlegung zu fragen. Dem Kl. ist auch vor-zuwerfen, dass er die Reise in sein Heimatland ange-treten hat, obwohl ihm kurz vor Reiseantritt bekanntgeworden war, dass der Hauptverhandlungsterminnicht verlegt worden war. Unter Berücksichtigung al-ler Umstände des Einzelfalls erscheint dem Senat einSchmerzensgeld in Höhe von 7.000,00 Euro als an-gemessener Ausgleich und angemessene Genugtuungfür den Kl.

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Standort: Sachenrecht Problem: Gutgläubiger Erwerb eines KfZ

BGH, URTEIL VOM 09.02.2005VIII ZR 82 / 03 (NJW 2005, 1365)

Problemdarstellung:Die hier auf Erlösherausgabe klagende Leasinggesell-schaft erwirbt im Rahmen ihres Geschäftsbetriebesregelmäßig Kraftfahrzeuge von erheblichem Wert -insbesondere LKW -, um diese im Wege des Finanzie-rungsleasing an ihre Kunden weiterzugeben. Der lie-fernde Vertragshändler des hier streitgegenständlichenLKW hatte diesen unter Eigentumsvorbehalt vom be-klagten Importeur erworben, der Kraftfahrzeugbriefwar bei einer Bank hinterlegt. Der Händler leitete denvon der Kl. erhaltenen Kaufpreis nicht an die Bekl.weiter, weshalb auch der Brief in Gewahrsam derBank verblieb. Als die Leasingnehmerin der Kl. denWagen dann an die Bekl. zurückgab und diese ihn -unter Aushändigung des KfZ-Briefes - an einen Drit-ten weiterveräußerte, stellte die Kl. sich auf den Stand-punkt, hier sei ihr von dem Vertragshändler der Bekl.erworbenes Eigentum veräußert worden und verlangtedie Herausgabe des Veräußerungserlöses.Der BGH verneinte allerdings den Eigentumserwerbder Kl., der aufgrund des fehlenden Eigentums desVertragshändlers ohnehin nur im Wege des gutgläubi-gen Erwerbs vom Nichtberechtigten denkbar gewesenwäre. Auch unter Berücksichtigung des § 366 I HGB,der im kaufmännischen Verkehr auch den guten Glau-ben in eine Verfügungsermächtigung des Veräußerersi. S. d. § 185 I BGB nach Maßgabe der §§ 932 ff BGBschützt, sei von der Bösgläubigkeit der Kl. auszuge-hen, da diese die geschäftsmäßigen Gepflogenheitenzwischen der Bekl. und deren Vertragshändlern in je-dem Fall habe kennen müssen und daher angesichtsdes ihr nicht ausgehändigten KfZ-Briefes nicht voneiner Verfügungsbefugnis des Vertragshändlers derBekl. habe ausgehen können.

Prüfungsrelevanz:Die Regelungen des Eigentumserwerbs an bewegli-chen Sachen in den §§ 929 ff BGB einschließlich der-jenigen zum gutgläubigen Erwerb vom Nichtberech-tigten gem. §§ 932 ff BGB gehören selbstverständlichzum unverzichtbaren Rüstzeug eines jeden Examens-kandidaten. Das vorliegende Urteil verdeutlicht nocheinmal, dass die §§ 932 ff BGB in ihrem direkten An-wendungsbereich ausschließlich den guten Glauben indas Eigentum des Veräußerers an der Sache schützen.Der gute Glaube an das Bestehen einer auf anderemWege herzuleitenden Verfügungsbefugnis - etwa einerErmächtigung nach § 185 I BGB - wird nur geschützt,wenn die Anwendbarkeit der §§ 932 ff BGB aus-

drücklich - wie eben in § 366 I HGB - angeordnetwird.Ferner wird deutlich, dass der Erhalt des KfZ-Briefeskeinesfalls Voraussetzung für den endgültigen Eigen-tumserwerb am Fahrzeug ist; es ist gem. § 952 II BGBanalog vielmehr der jeweilige Fahrzeugeigentümerautomatisch auch Eigentümer des Briefes (“Das Rechtam Papier folgt dem Recht aus dem Papier”, vgl.Palandt-Bassenge, § 952 Rz. 4, 7). Der KfZ-Brief istjedoch von entscheidender Bedeutung im Rahmen des§ 932 II BGB, da seine Nichtvorlage in verschiedenenFallkonstellationen, insbesondere bei Gebrauchtwa-genveräußerungen unter Privatleuten (vgl. zu den Ein-zelheiten Palandt-Bassenge, § 932 Rz. 13, 13a), zurBösgläubigkeit des Erwerbers führt, so wie es hier -für den Erwerb eines Neufahrzeugs vom Händler al-lerdings untypisch und nur durch die zu berücksichti-genden Branchenkenntnisse der Kl. zu erklären - eben-falls angenommen wurde.

Vertiefungshinweise:“ Grundlegende Darstellung der Systematik der §§932 ff BGB: Zeranski, JuS 2002, 341 ff Kursprogramm:“ Examenskurs : “Stibizki”“ Examenskurs : “Der Eigentümerwettlauf” “ Assessorkurs : “Seniorenzentrum”

Leitsatz:Eine gewerbliche Leasinggesellschaft, zu deren übli-chen Geschäften die Finanzierung von Lastkraft-wagen mit einem erheblichen wirtschaftlichen Wertgehört, erwirbt beim Kauf eines solchen Fahrzeugsvon einem Vertragshändler des Herstellers nichtgutgläubig das Eigentum an dem Fahrzeug, wennder Vertragshändler den Kraftfahrzeugbrief nichtübergibt und die Leasinggesellschaft auf Grundihrer zahlreichen einschlägigen Geschäfte weißoder wissen müsste, dass sich der Hersteller dasEigentum an dem Fahrzeug bis zur vollständigenWeiterleitung des Kaufpreises an ihn vorbehält,dass er die Verfügungsbefugmis der Händler ent-sprechend einschränkt und dass er den Kraftfahr-zeugbrief zur Verhinderung eines gutgläubigen Ei-gentumserwerbs durch Dritte zurückhält oder zumZwecke des Dokumenteninkassos einem Treuhän-der überlässt.

Sachverhalt:Die Kl., eine Finanzierungs- und Leasinggesellschaft,kaufte im März 2000 von der Firma G-GmbH (fortan:

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G) einen Lastkraftwagen V. Die Firma G war eine Ver-tragshändlerin der Bekl., die diese Fahrzeuge inDeutschland vertreibt. Der Lastkraftwagen wurde am30.03.2000 an die Leasingnehmerin der Kl., die FirmaS-GmbH & Co. KG (fortan: S), ausgeliefert. In denAGB des Händlervertrags zwischen der Bekl. und derFirma G war ein Eigentumsvorbehalt zu Gunsten derBekl. bis zur vollständigen Zahlung des Kaufpreisesdurch die Firma G bzw. deren Kunden vereinbart. Fer-ner wurde die Zustimmung der Bekl. für die Übereig-nung und Auslieferung von Fahrzeugen durch die Fir-ma G an deren Kunden von der Zahlung des Kaufprei-ses an die Bekl. abhängig gemacht. Die Kraftfahrzeug-briefe für die jeweiligen Fahrzeuge wurden - wie auchhier - von der Sparkasse B auf Grund eines von diesermit der Bekl. abgeschlossenen Rahmenabkommenstreuhänderisch bis zur Überweisung des Kaufpreisesverwahrt. Am 10.03.2000 übersandte die Kl. der FirmaG zur Begleichung des zu finanzierenden Kaufpreiseseinen Scheck über 143.750,00 DM. In dem Begleit-schreiben der Kl. heißt es:„Von unserem V-Scheck wollen Sie bitte nur Ge-brauch machen Zug um Zug gegen Übersendung desKfz-Briefs.”Die Firma G löste den Scheck am 29.03.2000 ein, lei-tete den Scheckbetrag jedoch nicht an die Bekl. weiter.Am 19.04.2000 kündigte die Bekl. den Händlervertragmit der Firma G, da Letztere in erhebliche Zahlungs-schwierigkeiten geraten war. Der Kraftfahrzeugbrieffür den von der Kl. gekauften Lastkraftwagen befandsich zu diesem Zeitpunkt noch bei der Sparkasse Bund wurde später an die Bekl. zurückgegeben. Die Fir-ma S zahlte bis Juli 2000 die vereinbarten Leasingra-ten an die Kl. Im Verlauf des Rechtsstreits gab der In-solvenzverwalter der Firma S am 23.04.2001 das Fahr-zeug an die Bekl. zurück. Diese veräußerte den Last-kraftwagen an einen Dritten, der auch den Kraftfahr-zeugbrief erhielt. Mit der Klage hat die Kl. zunächstHerausgabe des Kraftfahrzeugbriefs für den gekauftenLastkraftwagen Zug um Zug gegen Zahlung eines Be-trags von 50.000,00 DM, den die Firma G an die Kl.zurückgezahlt hätte, sowie Schadensersatz verlangt.Das LG hat dem Herausgabebegehren der Kl. entspro-chen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die Bekl.hat hiergegen Berufung eingelegt mit dem Ziel dervollständigen Klageabweisung. Die Kl. hat ebenfallsBerufung eingelegt und von der Bekl. nach der Veräu-ßerung des Fahrzeugs Herausgabe des erzielten Er-löses unter Anrechnung der Zahlung der Firma G so-wie Schadensersatz in Höhe der ihr entgangenen Lea-singraten der Firma S für die Zeit von August 2000 bisApril 2001 verlangt. Insgesamt hat sie zuletzt Zahlungvon 98.750,00 DM = 50.490,07 Euro nebst Zinsenbegehrt. Das BerGer. hat das angefochtene Urteil abge-ändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Die - zu-gelassene - Revision der Kl. hiergegen hatte keinenErfolg.

Aus den Gründen:

A. Entscheidung und Begründung des BerGerZur Begründung hat das BerGer unter Hinweis aufeine frühere Entscheidung in einem gleichgelagertenFall (OLG-Report 1997, 121) ausgeführt:Der Kl. stehe ein Zahlungsanspruch nach § 816 I 1BGB nicht zu, denn die Veräußerung des Fahrzeugsdurch die Bekl. sei keine Verfügung eines Nichtbe-rechtigten gewesen. Die Kl. habe von der Firma G dasEigentum an dem Fahrzeug nicht erwerben können.Auch ein gutgläubiger Erwerb der Kl. nach § 932BGB und § 366 HGB scheide aus, denn die Kl. habenicht in gutem Glauben gehandelt. Beim Verkauf vonKraftfahrzeugen spiele der Kraftfahrzeugbrief eineentscheidende Rolle. Er vermittele den Rechtsscheindes Eigentums, zumindest aber der Verfügungsbefug-nis über das Fahrzeug. Zwar könne eine Privatpersonbeim Neuwagenkauf im regulären Geschäftsverkehr inaller Regel darauf vertrauen, dass der Händler berech-tigt sei, das Fahrzeug gegen vollständige Bezahlung zuüberlassen. Anders sei dies jedoch im kaufmännischenGeschäftsverkehr, insbesondere bei Massengeschäften.Zu dem üblichen Geschäft der Kl. gehöre die Finanzie-rung von Lastkraftwagen mit einem erheblichen wirt-schaftlichen Wert. Die Kl. müsse deshalb die üblichenvertraglichen Absprachen zwischen Händler und Her-steller kennen. Anderenfalls begründe dies allein denVorwurf der groben Fahrlässigkeit. Insbesondere müs-se die Kl. damit vertraut sein, dass die Bekl. als Her-stellerin zur Sicherung ihres Eigentums regelmäßigeinen Eigentumsvorbehalt vereinbare, so dass derHändler erst mit Weiterleitung des vollständigen Kauf-preises Eigentum an der Kaufsache erwerben könne.Um einen gutgläubigen Eigentumserwerb durch Drittezu verhindern, werde der Hersteller den Kraftfahrzeug-brief üblicherweise zurückhalten oder im Wege desDokumenteninkassos einem Treuhänder überlassen, dader Brief eine der wenigen werthaltigen Sicherheitenfür das Fahrzeug sei. Diese Sicherungsinteressen derBekl. hätten der Kl. bei gehöriger Sorgfalt nicht ver-borgen bleiben können. Ein Anspruch auf Ersatz derseitens der Firma S ausgebliebenen Leasingraten steheder Kl. ebenso wenig zu. Da sie kein Eigentum an demLastkraftwagen erworben habe, habe ein Anspruch aufHerausgabe des Kraftfahrzeugbriefs gegenüber derBekl. nicht bestanden.

B Entscheidung des BGH in der RevisionDiese Ausführungen halten der revisionsrechtlichenNachprüfung stand, so dass die Revision zurückzuwei-sen ist. Das BerGer. hat zutreffend entschieden, dassdie von der Kl. zuletzt geltend gemachten Zahlungs-ansprüche aus §§ 816 I und 286 I BGB (gem. Art. 229§ 5 S. 1 EGBGB in der bis zum 01.01.2002 geltendenFassung, im Folgenden: a. F.) in Höhe von insgesamt98.750,00 DM = 50.490,07 Euro unbegründet sind.

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I. Kein Erlösherausgabeanspruch gem. § 816 I 1 BGBmangels Verfügung eines NichtberechtigtenEin Anspruch der Kl. auf Herausgabe des Ver-äußerungserlöses aus § 816 I 1 BGB würde voraus-setzen, dass die Bekl. bei der Veräußerung und an-schließenden Übereignung des Lastkraftwagens aneinen Dritten als Nichtberechtigte gehandelt hätte.Dies ist nicht der Fall.

1. Keine Verfügungsberechtigung der Firma G beiVeräußerung des LKW an den die Kl.Die Bekl. war seinerzeit noch Eigentümerin des Fahr-zeugs. Sie hat ihr Eigentum insbesondere nicht aufGrund der zwischenzeitlichen Veräußerung des Last-kraftwagens durch die Firma G an die Kl. verloren.Die Firma G ist wegen des Eigentumsvorbehalts derBekl. mangels Zahlung des Kaufpreises nicht Eigentü-merin des Fahrzeugs geworden. Die Bekl. hat der Fir-ma G auch keine unbeschränkte Befugnis eingeräumt,das Eigentum an dem Fahrzeug im Rahmen ihres Ge-schäftsbetriebs an einen Käufer zu übertragen. Viel-mehr durfte die Firma G nur bei Zahlung des Kauf-preises an die Bekl. über den Lastkraftwagen verfügen.Daher konnte die Kl. das Eigentum ihrerseits nur er-werben, wenn sie im Hinblick auf das Eigentum derFirma G an dem Fahrzeug (§ 932 II BGB) oder derenVerfügungsbefugnis hierüber (§ 366 I HGB) gutgläu-big gewesen wäre. Beides hat das BerGer. zu Rechtverneint.

2. Keine Gutgläubigkeit der Kl. hinsichtlich des Eigen-tums der Firma G gem. § 932 I 1, II BGBSoweit das BerGer. nicht von einem guten Glaubender Kl. an das Eigentum der Firma G ausgegangen ist,erhebt die Revision keine Einwendungen und bestehenauch sonst keine Bedenken.

3. Keine Gutgläubigkeit der Kl. hinsichtlich der Verfü-gungsbefugnis der Firma G gem. § 366 I HGB i. V. m.§ 932 II BGB Die Revision wendet sich allein dagegen, dass dasBerGer. einen Eigentumserwerb infolge Gutgläubig-keit in Bezug auf die Verfügungsbefugnis der Firma Gmit der Begründung abgelehnt hat, der Kl. sei derenFehlen infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt geblie-ben (§ 366 HGB, § 932 II BGB). Damit hat sie indes-sen keinen Erfolg.

a. Grobe Fahrlässigkeit der Kl. wegen fehlender Vor-lage des KfZ-BriefesUnter grober Fahrlässigkeit wird im Allgemeinen einHandeln verstanden, bei dem die erforderliche Sorgfaltden gesamten Umständen nach in ungewöhnlich gro-ßem Maße verletzt worden ist und bei dem dasjenigeunbeachtet geblieben ist, was im gegebenen Fall jedemhätte einleuchten müssen (Senat, BGHZ 77, 274 [276]= NJW 1980, 2245). Ob dem Erwerber einer Sache

grobe Fahrlässigkeit anzulasten ist, ist im Wesentli-chen Tatfrage, die einer Nachprüfung in der Revi-sionsinstanz nur insoweit unterliegt, als Verstöße ge-gen § 286 ZPO, Denkgesetze oder Erfahrungssätzevorliegen (Senat, BGHZ 77, 274 = NJW 1980, 2245;BGH, NJW 1994, 2022 [unter II 3 b]). Ein solcherFehler ist hier weder dargetan noch sonst ersichtlich.Nach der vom BerGer. zutreffend wiedergegebenenRechtsprechung des BGH handelt der Erwerber einesGebrauchtwagens in der Regel grob fahrlässig, wenner sich nicht den Kraftfahrzeugbrief zeigen lässt, dernach § 25 IV 2 StVZO zur Sicherung des Eigentumsoder anderer Rechte am Fahrzeug bei jeder Befassungder Zulassungsbehörde mit dem Fahrzeug, besondersbei Meldungen über den Eigentumswechsel (§ 27 IIIStVZO), vorzulegen ist und dadurch den Eigentümeroder sonst dinglich am Kraftfahrzeug Berechtigten vorVerfügungen Nichtberechtigter schützen soll. Bei demhier gegebenen Erwerb eines Neufahrzeugs von einemautorisierten und nicht als unzuverlässig erkanntenKraftfahrzeughändler ist das Fehlen des Briefs dage-gen nicht ungewöhnlich, etwa weil der Brief zunächstnoch ausgefertigt werden muss (BGHZ 30, 374 [380]= NJW 1960, 34; NJW 1996, 314 = WM 1996, 172[unter II 1 a u. b]; NJW 1996, 2226 = WM 1996, 1318[unter II 2 a]; ferner Reinking/Eggert, Der Autokauf,8. Aufl., Rz. 178, 1792, jew. m. w. N.). Letzteres giltjedoch nicht uneingeschränkt. Auch beim Kauf einesNeufahrzeugs kann dem Erwerber nach den Umstän-den des Einzelfalls der gute Glaube an die Verfügungs-befugnis des Händlers fehlen (vgl. Senat, WM 1965,1136 [unter III 2]; ferner Quack, in: MünchKomm, 4.Aufl., § 932 Rz. 83). So ist es hier.Das BerGer. hat unangegriffen festgestellt, dass sichdie Bekl. gegenüber ihren Vertragshändlern regelmä-ßig das Eigentum an den von ihr vertriebenen Last-kraftwagen bis zur vollständigen Weiterleitung desKaufpreises vorbehält, dass sie die Verfügungsbefug-nis der Händler entsprechend einschränkt und dass sieüblicherweise zur Verhinderung eines gutgläubigenEigentumserwerbs durch Dritte den Kraftfahrzeugbriefzurückhält oder zum Zwecke des Dokumenteninkassoseinem Treuhänder überlässt. Weiter hat das BerGer.unangegriffen festgestellt, dass die Kl. als gewerblicheLeasinggeberin in großer Stückzahl teure Wirtschafts-güter kauft und dass zu ihrem üblichen Geschäft auchdie Finanzierung von Lastkraftwagen mit einem erheb-lichen wirtschaftlichen Wert gehört. Unter diesen Um-ständen ist die tatrichterliche Annahme des BerGer.nicht zu beanstanden, der Kl. müssten die Gepflogen-heiten der diesbezüglichen Geschäftsabwicklung be-kannt sein und ihr sei grobe Fahrlässigkeit vorzuwer-fen, wenn sie die üblichen vertraglichen Absprachenzwischen Händler und Hersteller nicht gekannt unddementsprechend bei der Zahlung des Kaufpreises andie Firma G nicht beachtet habe.

RA 2005, HEFT 6ZIVILRECHT

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b. Keine Vergleichbarkeit der Geschäfte der Kl. mitgelegentlichem Erwerb eines NeufahrzeugsOhne Erfolg beruft sich die Revision demgegenüberdarauf, für die Anwendung des § 366 I HGB bleibekein Raum, wenn der Käufer eines Neuwagens wegendes üblichen Eigentumsvorbehalts des Herstellersnicht auf die Verfügungsbefugnis des Händlers ver-trauen dürfe. Die Revision verkennt insoweit, dass dieVerneinung eines gutgläubigen Eigentumserwerbs aufden vom BerGer. festgestellten besonderen Umständendes vorliegenden Falls beruht. Danach hat es sich nichtum den gelegentlichen Erwerb eines Lastkraftwagensgehandelt, sondern war die im gewerblichen Leasing-geschäft tätige Kl. - anders als der Käufer bei einem„normalen” Neuwagenkauf - auf Grund ihrer zahlrei-chen einschlägigen Geschäfte ohne weiteres in der La-ge, sich genaue Kenntnis von den üblichen Vereinba-rungen der Bekl. mit deren Vertragshändlern zu ver-schaffen. Hat sie sich gegebenenfalls dieser Kenntnisverschlossen, hat sie in einem unverständlich hohenMaße gegen die gebotene Sorgfalt gehandelt.

c. Möglichkeiten der Kl., auf den zu erkennenden Ei-gentumsvorbehalt der Bekl. zu reagierenDer Kl. wäre es auch ohne Schwierigkeiten möglich

gewesen, dem durch das Dokumenteninkasso gesicher-ten Eigentumsvorbehalt der Bekl. Rechnung zutragen. Dazu hätte sie den Kaufpreis lediglich etwaunter Einschaltung einer Treuhänderin, gegebenenfallsauch der von der Bekl. bereits eingesetzten Sparkasse,Zug um Zug gegen die Herausgabe des Kraftfahrzeug-briefs zahlen müssen. Soweit die Revision dagegenmeint, die Kl. habe dem Sicherungsinteresse der Bekl.bereits dadurch entsprochen, dass sie der Firma G mitSchreiben vom 10.03.2000 zur Auflage gemacht habe,über den beigefügten Verrechnungsscheck nur Zug umZug gegen Übersendung des Kraftfahrzeugbriefs zuverfügen, ist das nicht richtig. Diese Auflage war nichtgesichert. Damit hat die Kl. lediglich auf die Vertrag-streue der Firma G vertraut. Dieses Vertrauen schützt§ 366 I HGB jedoch nicht.

II. Kein Schadensersatzanspruch gem. § 286 BGB a.F. mangels durchsetzbaren Anspruchs der Kl.Damit ist auch dem von der Kl. geltend gemachtenSchadensersatzanspruch aus § 286 I BGB a. F. aufZahlung der von der Firma S nicht erbrachten Leasing-raten die Grundlage entzogen.

Standort: Kaufrecht Problem: Bedeutung der Beschaffenheit “fabrikneu”

BGH, URTEIL VOM 12.01.2005VIII ZR 109 / 04 (NJW 2005, 1422)

Problemdarstellung:Der BGH hatte in diesem Revisionsfall über die Fragezu entscheiden, ob ein PKW, der im Rahmen einersog. Tageszulassung bereits kurz auf den Händler zu-gelassen war, ohne von diesem benutzt worden zusein, noch als “fabrikneu” verkauft werden kann.Hiergegen könnte einerseits sprechen, dass alleindurch die Kurzzulassung bei einer späteren Weiterver-äußerung nicht mehr von einem Fahrzeug “aus 1.Hand” gesprochen werden und dieses sich negativ aufden Wiederverkaufswert auswirken könnte. Zudemkönnten sich die durch die erste Zulassung in Lauf ge-setzten Fristen etwa für die zeitlich begrenzte Herstel-lergarantie, die nach § 29 StVZO regelmäßig durch-zuführende Hauptuntersuchung oder die Möglichkeit,im Schadensfall von der Vollkaskoversicherung denFahrzeugneuwert erstattet zu bekommen, negativ fürden Käufer auswirken.Solange die Verkürzung dieser Fristen aber kein nen-nenswertes Gewicht hat (nicht länger als ca. 2 Wo-chen) und die weiteren Voraussetzungen der durch denBGH in zahlreichen Entscheidungen dem Begriff “fab-rikneu” beigemessenen Bedeutung vorliegen, stehtallein eine Tageszulassung der Bezeichnung des PKW

als “fabrikneu” diesem Urteil zufolge nicht entgegen.

Prüfungsrelevanz:Wieder einmal gilt, dass die vorliegende Entscheidungtrotz Anwendbarkeit des BGB in der bis zum31.12.2001 geltenden Fassung auf den konkreten Fallauch unter Geltung des neuen Schuldrechts von un-eingeschränkter Aktualität ist. Nunmehr ist die Diskus-sion um die Bezeichnung “fabrikneu” etwa im Rah-men der Prüfung eines Sachmangels gem. § 434 I 1BGB denkbar. Ferner ist zwar die Kategorie der zu-gesicherten Eigenschaft aus dem Kaufrecht ver-schwunden, noch immer kommt eine Schadensersatz-pflicht des Verkäufers einer mangelhaften Kaufsachejedoch auch ohne vorsätzliches oder fahrlässiges Ver-halten in Betracht, wenn der Verkäufer den Mangelschon aufgrund einer nicht eingehaltenen Garantie zuvertreten hat (vgl. § 276 I 1 BGB). Von einer garan-tierten Beschaffenheit “fabrikneu” dürfte der BGHnach Übertragung seiner bisherigen Rechtsprechungauf das neue Recht mithin grundsätzlich immer dannausgehen, wenn ein KfZ-Händler einen Neuwagenverkauft.

Vertiefungshinweise:“ Zur Bedeutung der Zusicherung “fabrikneu”: BGH,RA 2003, 687 = NJW 2003, 2824; RA 2000, 473 =

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NJW 2000, 2018“ Zur Berechnung der Nutzungsvergütung beiRückabwicklung eines PKW-Kaufes: OLG Karlsruhe,RA 2003, 507 = NJW 2003, 1950

Kursprogramm:“ Examenskurs : “Das gebrauchte Cabrio”‘ Examenskurs: “Augen auf beim Golf- und Mustang-kauf”“ Assessorkurs : “Der versicherte PKW”

Leitsatz:Zur Frage, ob ein unbenutztes Kraftfahrzeug nacheiner Tages- oder Kurzzulassung auf den Auto-händler noch die zugesicherte Eigenschaft “fabri-kneu” hat.

Sachverhalt:Der Kl. begehrt von den Bekl. aus abgetretenem Rechtseiner Leasinggeberin die Rückzahlung des Kaufprei-ses für einen Pkw. Am 03.07.2001 erwarb dieR-GmbH & Co. OHG von der Bekl. zu 1 den Pkw R1,2 16 V fünftürig, den der Kl. an diesem Tag ausge-sucht und mit Vertrag vom 03.07.2001 von derR-GmbH & Co. OHG geleast hatte. Das als Neuwagenmit einem erheblichen Preisnachlass gegenüber demListenpreis angebotene Fahrzeug war von der Bekl. zu1, ohne es im Straßenverkehr zu benutzen, im Wegeder so genannten Tageszulassung/Kurzzeitzulassungfür ein Wochenende, nämlich vom 28.06.2001 bis02.07.2001, auf sich zugelassen, am 02.07.2001 still-gelegt und am 09.07.2001 auf den Kl. zugelassen wor-den. Die Parteien streiten darum, ob ein Pkw mit Kurz-zulassung noch als “Neuwagen” anzusehen ist. Der Kl.hat behauptet, das Fahrzeug sei als Neuwagen ohneHinweis auf die Tageszulassung verkauft worden; derdeut l iche Preisnachlass sei mit e iner Wer-be-/Rabattaktion begründet worden. Die Bekl. habenbehauptet, auf dem Verkaufsschild habe sich der Hin-weis auf die Tageszulassung befunden, ihr Verkäuferhabe ebenfalls darauf hingewiesen. Mit seiner Klagenimmt der Kl. die Bekl. auf Rückzahlung des Kauf-preises in Höhe von 12.423,04 Euro abzüglich 621,15Euro für mit dem Fahrzeug zurückgelegte 10.000 Ki-lometer, insgesamt auf 11.801,89 Euro, in Anspruchund begehrt Feststellung, dass sich die Bekl. zu 1 inAnnahmeverzug befindet.Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben.Die zugelassene Revision des Kl. hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen:

A. Entscheidung und Begründung des BerGer.Das BerGer. hat ausgeführt:Dem Kl. stehe kein Wandelungs- oder Schadensersatz-anspruch wegen Fehlens einer zugesicherten Eigen-

schaft gem. §§ 462, 463, 459 II BGB a. F. zu. Das tat-sächliche Vorbringen des Kl. zu den Kaufumständenals wahr unterstellt, komme es allein darauf an, ob ei-nem als Neuwagen verkauften Kraftfahrzeug dieseEigenschaft fehle, wenn es eine Tages-/ Kurzzulassungaufweise. Das sei zu verneinen. Soweit mit der Erst-zulassung die Fristen für eine Neuwertentschädigungim Rahmen einer Vollkaskoversicherung, für dieHauptuntersuchung als auch für die Abgassonderunter-suchung und die Herstellergarantie zu laufen begonnenhaben sollten, seien diese verkürzten Fristen jedenfallsin den Fällen zu vernachlässigen und unerheblich, indenen der Verkauf - wie hier - kurze Zeit nach der Ta-geszulassung erfolgt sei, weil die Verkürzung sichdann nur auf wenige Tage beschränkt habe. Soweit derKl. die Auffassung vertrete, bei einer Tageszulassungwerde das Fahrzeug im wirtschaftlichen Wert gemin-dert, die Zahl der Halter bzw. Vorbesitzer spiele beidem Verkauf eines Gebrauchtwagens eine erheblicheRolle, bei zwei Vorbesitzern sei das Fahrzeug im wirt-schaftlichen Wert gemindert, weil es bei einem Wei-terverkauf nicht mehr als Fahrzeug aus erster Handbezeichnet werden könne, erscheine dies zweifelhaft,denn mittlerweile sei allgemein bekannt, was eine Ta-ges- oder Kurzzulassung bedeute; entscheidend seiallein, dass das Fahrzeug nicht gefahren, also vomHändler in keiner Weise, insbesondere nicht als Vor-führwagen, genutzt worden und deshalb technisch oh-nehin ein Neuwagen sei.

B. Entscheidung des BGH in der RevisionDie Ausführungen des BerGer. halten der revisions-rechtlichen Nachprüfung stand, so dass die Revisionzurückzuweisen ist. Zu Recht hat das BerGer. einenWandelungs- oder Schadensersatzanspruch des Kl.wegen Fehlens einer zugesicherten Eigenschaft gem.§§ 462, 463, 465, 459 II BGB a. F. verneint.

I. Vorliegen der Eigenschaftszusicherung “fabrikneu”Auf das vor dem 01.01.2002 entstandene Schuldver-hältnis der Parteien sind die Vorschriften des BGB inder bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung an-wendbar (Art. 229 § 5 EGBGB). Zu Recht geht dasBerGer. von einer Zusicherung der Bekl. aus, dass dasvon ihr verkaufte Auto fabrikneu sei. Nach der ständi-gen Rechtsprechung des Senats liegt im Verkauf einesNeuwagens durch einen Kfz-Händler grundsätzlich dieZusicherung, dass das verkaufte Fahrzeug die Eigen-schaft hat, “fabrikneu” zu sein (NJW 2004, 160 [unterII 1]; NJW 2003, 2824 [unter II 1]; NJW 2000, 2018[unter II 2]; NJW 1980, 2127 [unter II 3]).

II. Bedeutung der Eigenschaft “fabrikneu” nach derRechtsprechungEntgegen der Auffassung der Revision ist auch nichtzu beanstanden, dass das BerGer. den Pkw als fabri-kneu angesehen hat. Nach der Rechtsprechung des

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erkennenden Senats ist ein unbenutztes Kraftfahrzeugfabrikneu, wenn und solange das Modell dieses Fahr-zeugs unverändert weitergebaut wird, wenn es keinedurch eine längere Standzeit bedingten Mängel auf-weist und wenn zwischen Herstellung des Fahrzeugsund Abschluss des Kaufvertrags nicht mehr als zwölfMonate liegen (NJW 2004, 160 [unter II 3]).

1. Sinn und Zweck sog. “Tageszulassungen”Tageszulassungen sind eine besondere Form des Neu-wagengeschäfts. Der Kunde erwirbt auch in diesen Fäl-len ein fabrikneues Fahrzeug (ebenso u. a. Wester-mann, in: Münch-Komm, § 434 Rz. 57; a. A. Rein-king/Eggert, Der Autokauf, 8. Aufl., Rz. 203; OLGDresden, NJW 1999, 1036). Die kurzfristige Zulas-sung auf den Händler dient, anders als bei so genann-ten Vorführwagen, nicht der Nutzung des Fahrzeugs.Tageszulassungen erfolgen im Absatzinteresse beiderSeiten. Der Händler kommt durch die Steigerung derAbnahmemenge in den Genuss höherer Prämien, dieer, ohne den Beschränkungen des damals noch gelten-den Rabattgesetzes zu unterliegen, an den Endkundenweitergeben kann. Der Hersteller wird in die Lage ver-setzt, gezielt zu bestimmten Stichtagen mit höherenZulassungszahlen zu werben (Senat, NJW 1996, 2302[unter B II 1 b]). Das ist dem potenziellen Autokäuferbewusst, der weiß, dass eine Tageszulassung aus dengenannten Gründen nur rein formal erfolgt, ohne dasssich die Beschaffenheit des Fahrzeugs als Neufahrzeugdadurch ändert, es insbesondere nicht benutzt wordenist (vgl. BGH, NJW 2000, 2821 [unter II 2 b aa]).

2. Keine Gefahr geminderten WiederverkaufswertsDie Annahme der Revision, der Käufer eines wenigeTage zugelassenen Fahrzeugs erziele bei der Weiterver-äußerung in der Regel einen geringeren Erlös als derKäufer eines nur auf sich zugelassenen Kraftwagens,findet in der allgemeinen Lebenserfahrung keine Stüt-ze. Entscheidend ist für den durchschnittlich infor-mierten und verständigen Autokäufer, dass er ein un-benutztes Neufahrzeug erwirbt (vgl. BGH, NJW 2000,2821 [unter II 2 b bb]). Dies kann er bei einem Weiter-verkauf im Allgemeinen durch Vorlage des Kaufver-trags auch nachweisen, so dass die von der Revisionbefürchtete Benachteiligung des Käufers, der ein Neu-fahrzeug mit einer nur wenige Tage umfassenden Zu-lassung erworben hat, als verhältnismäßig gering ein-zuschätzen ist (BGH, NJW 2000, 2821 [unter II 2 bbb]; vgl. auch EuGH, Slg. 1992, I-131 Rz. 14).

3. Keine nennenswerte Verkürzung der Fristen fürNeuwertentschädigung, Herstellergarantie u. ä.Schließlich ist das BerGer. auch zutreffend der Auf-fassung, dass die durch die Erstzulassung bedingteVerkürzung der Herstellergarantie und der Fristen füreine Neuwertentschädigung im Rahmen einer Voll-kaskoversicherung als auch für die nach § 29 StVZOvorgeschriebene Fahrzeuguntersuchung nicht von we-sentlicher Bedeutung ist, wenn der Verkauf - wie hier -kurze Zeit nach der Erstzulassung erfolgt ist, sich aufnur wenige Tage beschränkt und die Herstellergarantieum nicht mehr als zwei Wochen verkürzt ist (vgl. auchBGH, NJW 1999, 3267 [unter II 3]).

Standort: § 138 I BGB Problem: Kauf eines Radarwarngeräts

BGH, URTEIL VOM 23.02.2005VIII ZR 129 / 04 (NJW 2005, 1490) Problemdarstellung:§ 23 I b StVO den Betrieb und das betriebsbereite Mit-führen von Radarwarngeräten in Kraftfahrzeugen. DerBGH hat nun in diesem Fall entschieden, dass schonder Erwerb eines solchen für den Einsatz im deutschenStraßenverkehr vorgesehenen Gerätes, den § 23 I bStVO nicht ausdrücklich verbietet, als unmittelbareVorbereitung eines ordnungswidrigen und dem Inter-esse des Gemeinwohls zuwiderlaufenden Verhaltensrechtlich zu missbilligen und der Kaufvertrag gem. §138 I BGB als nichtig anzusehen ist. Dem hieraus re-sultierenden Anspruch der auf Kaufpreisrückzahlungklagenden Käuferin aus § 812 I 1 1. Fall BGB (condic-tio indebiti) hielt der BGH jedoch den Ausschluss-grund des § 817 S. 2 BGB entgegen, der trotz seinesmissverständlichen Wortlautes nicht nur dem An-spruch aus § 817 S. 1 BGB, sondern einer jeden Lei-stungskondiktion gegenüber angewandt werden kann

(vgl. Palandt-Sprau, § 817 Rz. 1).

Prüfungsrelevanz:Die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung geschei-terter Austauschverträge gehört ebenso zum klassi-schen Examensstoff, wie die Kenntnis der wichtigstenFallgruppen der Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts we-gen Verstoßes gegen die guten Sitten gem. § 138 IBGB. Die vorliegende Entscheidung stellt zudem dieBedeutung des § 817 S. 2 BGB noch einmal heraus,wonach derjenige, der sich selbst außerhalb derRechtsordnung stellt, im Falle des Scheiterns des ent-sprechenden Geschäfts keinen Schutz der Rechtsord-nung in Gestalt eines Rückforderungsanspruches ausdem Bereicherungsrecht erwarten kann. Da dies ins-besondere im Falle der Vorleistung eines Vertragspart-ners leicht zu harten Ergebnissen führen kann (derVorleistende kann weder Erfüllung des nichtigen Ge-schäfts, noch Rückgewähr der von ihm erbrachten Lei-stung verlangen), ist die Vorschrift rechtspolitischnicht unumstritten. Gleichwohl hat der BGH hier - an-

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ders als in der vollkommen missratenen “Schwarzar-beiterentscheidung” (NJW 1990, 2542) - der Versu-chung widerstanden, das über § 817 S. 2 BGB gefun-dene Ergebnis unter Heranziehung des § 242 BGB zukorrigieren, um dem anderen Vertragspartner aus demsittenwidrigen - bzw. verbotenen - Geschäft angeblichverbliebene Vorteile abschöpfen zu können.

Vertiefungshinweise:“ Zum Verstoß der “Ehegattenbürgschaft” gegen §138 I BGB vgl. zuletzt BGH, RA 2005, 241 = NJW2005, 971“ Zur Darlegungs- und Beweislast für die Rechts-grundlosigkeit einer Leistung: BGH, RA 2003, 297 =NJW 2003, 1039 Kursprogramm:“ Examenskurs : “Drum prüfe, wer für Papi bürgt...”“ Examenskurs : “Schwarzarbeit”

Leitsätze:Ein Kaufvertrag über den Erwerb eines Radar-warngeräts ist sittenwidrig, wenn der Kauf nachdem für beide Parteien erkennbaren Vertrags-zweck auf eine Verwendung des Radarwarngerätsim Geltungsbereich der deutschen Straßen-verkehrsordnung gerichtet ist. Ein Anspruch aufRückabwicklung eines solchen Vertrags steht demKäufer nicht zu.

Sachverhalt:Die Kl. erwarb von der Bekl. am 05.12.2002 ein Radar-warngerät mit einer Basis-Codierung für Deutschlandzu einem Preis von 1.059,08 Euro. Sie verlangt dieRückabwicklung des Kaufvertrags mit der Begrün-dung, das Gerät funktioniere nicht; es habe an ver-schiedenen polizeilichen Radarmessstellen im Bundes-gebiet kein Warnsignal abgegeben.Das AG hat die Bekl. zur Rückzahlung des Kaufprei-ses Zug um Zug gegen Rückgabe des Radarwarngerätsverurteilt. Auf die Berufung der Bekl. hat das LG dieKlage abgewiesen. Die zugelassene Revision der Kl.hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen:

A. Entscheidung und Begründung des BerGer.Das BerGer. hat ausgeführt:Die Kl. habe zwar grundsätzlich einen Anspruch aufRückzahlung des Kaufpreises aus § 812 I 1 BGB.Denn der zwischen den Parteien geschlossene Vertragsei sittenwidrig und daher gem. § 138 I BGB nichtig.Der Kauf eines Radarwarngeräts, das unter Verstoßgegen § 23 I b StVO dazu eingesetzt werden solle, sichbußgeldbewehrten Geschwindigkeitskontrollen da-

durch wirksam zu entziehen, dass deren Standorterechtzeitig vorher angezeigt werden, verstoße gegendie guten Sitten. Das Radarwarngerät habe nach demvon der Kl. vorgesehenen Einsatz einzig dem Zweckgedient, vor Einrichtungen der Geschwindigkeitsüber-wachung zu warnen und damit ein ordnungswidrigesVerhalten zu fördern. Einem solchen Rechtsgeschäft,das den Interessen der Gemeinschaft an der Einhaltungder zur Sicherheit der Verkehrsteilnehmer angeordne-ten Geschwindigkeitsbeschränkungen zuwiderlaufe,sei die rechtliche Anerkennung zu versagen. DerRückforderung des Kaufpreises nach § 812 I 1 BGBstehe jedoch § 817 S. 2 BGB entgegen. Beide Parteienhätten durch den Abschluss des Vertrags gegen dieguten Sitten verstoßen. Auch wenn die Bekl. gewussthabe, dass die Kaufverträge über die von ihr angebote-nen Radarwarngeräte wegen Sittenwidrigkeit unwirk-sam seien und sie in Kenntnis dessen unter Berufungauf § 817 S. 2 BGB wirtschaftlichen Vorteil aus denVerträgen ziehe, führe dies nicht zu einem Ausschlussder Vorschrift. Die Kl. sei als Verwenderin des Gerätsvon dem Vorwurf der Sittenwidrigkeit des Geschäftsin gleicher Weise betroffen. Zwar schließe die Vor-schrift die Rückforderung grundsätzlich nur bei einemvorsätzlichen Sittenverstoß aus. Indes stehe es vorsätz-lichem Verhalten gleich, wenn sich der Leistende derEinsicht in die Sittenwidrigkeit leichtfertig verschlie-ße. Die Kl. habe den mit dem Erwerb des Geräts ver-folgten Zweck und damit die die Sittenwidrigkeit be-gründenden Umstände gekannt. Darauf, ob sie selbstdaraus den Schluss auf die Sittenwidrigkeit gezogenhabe, komme es nicht an.

B. Entscheidung des BGH in der RevisionDie Ausführungen des BerGer. halten der rechtlichenNachprüfung stand, so dass die Revision der Kl. zu-rückzuweisen ist.

I. Nichtigkeit des Kaufvertrages über ein Radarwarn-gerät gem. § 138 I BGBZu Recht hat das BerGer. angenommen, dass der zwi-schen den Parteien geschlossene Kaufvertrag gem. §138 I BGB nichtig ist, weil er gegen die guten Sittenverstößt. Verträge über den Kauf von Radarwarngerä-ten werden in der Rechtsprechung und im Schrifttumnahezu einhellig als sittenwidrig angesehen (LG Bonn,NJW 1998, 2681; LG München I, NJW-RR 1997, 307;LG Stuttgart, NJW-RR 2004, 57; AG Neukölln, NJW1995, 2173; Möller, NZV 2000, 115 [117]; Pa-landt/Heinrichs, BGB, 64. Aufl., § 138 Rz. 42; Schnei-der, MDR 2000, 189 [191]; Staudinger/Sack, BGB,Neubearb. 2003, § 138 Rz. 495; a. A. LG München I,NJW 1999, 2600). Dies ist jedenfalls dann zutreffend,wenn der Kauf - wie im vorliegenden Fall - nach demfür beide Parteien erkennbaren Vertragszweck auf eineVerwendung des Radarwarngeräts im Geltungsbereichder deutschen Straßenverkehrsordnung gerichtet ist.

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1. Sittenwidrigkeit auch aus Widerspruch zum Ge-meinwohl ableitbarSittenwidrig können nach der Rechtsprechung auchGeschäfte sein, durch die Dritte gefährdet oder geschä-digt werden oder die in krassem Widerspruch zum Ge-meinwohl stehen (Senat, NJW 1990, 567 [unter B I 1 abb], insoweit in BGHZ 109, 314, nicht abgedr.). Vor-aussetzung dafür ist, dass alle an dem Geschäft Be-teiligten sittenwidrig handeln, also die Tatsachen, diedie Sittenwidrigkeit begründen, kennen oder sich zu-mindest ihrer Kenntnis grob fahrlässig verschließen(Senat, NJW 1990, 567 [unter B I 1 a bb]; NJW 1992,310 [unter I 1 a]). Die Sittenwidrigkeit kann sich auchaus den Begleitumständen des Geschäfts, insbesondereden zu Grunde liegenden Motiven und den verfolgtenZwecken ergeben (vgl. zur Förderung einer StraftatBGH, NJW-RR 1990, 750 = WM 1990, 799 [unter 1];DB 1971, 39; NJW-RR 1990, 1521 = WM 1990, 1324[unter II 1 b]).

2. Radarwarngerät läuft Gemeinwohlinteresse an derSicherheit im Straßenverkehr zuwiderDer vorliegende Kaufvertrag verstößt nach diesenGrundsätzen gegen die guten Sitten, weil er, wie dasBerGer. rechtsfehlerfrei festgestellt hat, auf die Be-gehung eines ordnungswidrigen Verhaltens im Straßen-verkehr gerichtet ist, das im Interesse der Verkehrs-sicherheit in Deutschland verboten ist. Einem solchenRechtsgeschäft, das - für beide Seiten erkennbar - demGemeinwohlinteresse an der Sicherheit im Straßenver-kehr zuwiderläuft, ist die rechtliche Anerkennung zuversagen.

a. Verbot des § 23 b I StVO und NormzweckNach der am 01.01.2002 in Kraft getretenen Vorschriftdes § 23 I b StVO ist es dem Führer eines Kraftfahr-zeugs untersagt, ein technisches Gerät zu betreibenoder betriebsbereit mitzuführen, das dafür bestimmtist, Verkehrsüberwachungsmaßnahmen anzuzeigenoder zu stören (Satz 1); nach Satz 2 der Vorschrift giltdies insbesondere für Geräte zur Anzeige oder Störungvon Geschwindigkeitsmessungen (Radarwarn- oderLaserstörgeräte). Der vorsätzliche oder fahrlässige Ver-stoß gegen diese Bestimmung ist gem. § 49 I Nr. 22StVO ordnungswidrig i. S. d. § 24 StVG und kann miteiner Geldbuße und der Anordnung eines Fahrverbotsgeahndet werden (§§ 24 II, 25 StVG).Dieses Verbot zur Verwendung technischer Einrich-tungen in Kraftfahrzeugen, die dazu bestimmt sind, dieVerkehrsüberwachung zu beeinträchtigen, dient derErhöhung der Verkehrssicherheit (BR-Dr 751/01, S.5). Die Neuregelung soll zur Sicherung einer erfolgrei-chen Bekämpfung von Geschwindigkeitsverstößenund anderen Verkehrszuwiderhandlungen beitragenund verhindern, dass sich Kraftfahrer durch technischeVorkehrungen im Kraftfahrzeug Maßnahmen der Ver-kehrsüberwachung entziehen können (BR-Dr 751/01,

S. 5). Dem liegt die Überlegung zu Grunde, dass dieVerwendung eines Radarwarngeräts geeignet ist, diepräventive Wirkung drohender Geschwindigkeitskon-trollen zu unterlaufen und dadurch risikolose Ge-schwindigkeitsübertretungen mit erhöhten Gefahrenfür Leib und Leben Dritter zu fördern.

b. Kauf des Radarwarngeräts unmittelbare Vorberei-tungshandlung für Verstoß gegen § 23 I b StVODer Kauf eines Radarwarngeräts, das - wie im vorlie-genden Fall - auf Grund seiner Codierung zum Einsatzim deutschen Straßenverkehr bestimmt ist, dient derBegehung eines nach § 23 I b StVO ordnungswidrigenVerhaltens, durch das Geschwindigkeitskontrollen un-terlaufen und Geschwindigkeitsübertretungen mit dendamit verbundenen Gefahren für Leib und Leben Drit-ter begünstigt werden. Ein solches Rechtsgeschäft, dasletztlich darauf gerichtet ist, die Sicherheit im Straßen-verkehr zu beeinträchtigen, verstößt gegen die gutenSitten und ist deshalb von der Rechtsordnung nicht zubilligen (§ 138 I BGB). Zwar untersagt § 23 I b StVOnicht schon den Erwerb eines Radarwarngeräts, son-dern erst dessen Betrieb oder betriebsbereites Mitfüh-ren im Kraftfahrzeug. Jedoch ist der Erwerb des Gerätseine unmittelbare Vorbereitungshandlung für dessenBetrieb, wenn das Gerät - wie im vorliegenden Fall -für den Betrieb im deutschen Straßenverkehr erworbenwird. Deshalb ist bereits ein solcher Erwerb rechtlichzu missbilligen.Eine andere Bewertung folgt nicht aus dem Umstand,dass Kraftfahrzeugführer gelegentlich auch im Rund-funk vor “Radarfallen” und “Blitzern” gewarnt wer-den. Es kann dahingestellt bleiben, ob gegen diese Pra-xis rechtliche Bedenken bestehen (krit. hierzu Al-brecht, NZV 2001, 247 [250]). Durch die Bekanntgabedes Standorts einzelner Geschwindigkeitskontrollenim Rundfunk läuft die Verbotsnorm des § 23 I b StVOnicht ins Leere. Denn dadurch wird dem Fahrzeugfüh-rer - anders als durch ein mitgeführtes Radarwarngerät- jedenfalls nicht das Gefühl vermittelt, er könne jeder-zeit und überall eine Radarkontrolle rechtzeitig erken-nen und deshalb insoweit risikolos die Geschwindig-keit überschreiten (LG Bonn, NJW 1998, 2681; Möl-ler, NZV 2000, 117; vgl. auch Albrecht, NZV 2001,250).

II. Condictio indebiti gem. § 817 S. 2 BGB ausge-schlossenDas BerGer. hat auch zu Recht angenommen, dass dieKl. den zur Erfüllung des nichtigen Vertrags geleiste-ten Kaufpreis nicht gem. § 812 I 1 Alt. 1 BGB zu-rückverlangen kann. Der Rückforderungsanspruch istnach § 817 S. 2 BGB ausgeschlossen, weil - wie dar-gelegt - beiden Parteien ein Verstoß gegen die gutenSitten zur Last fällt (vgl. auch LG Bonn, NJW 1998,2682; LG München I, NJW-RR 1997, 307; Möller,NZV 2000, 117; Schneider, MDR 2000, 191; anders

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LG Stuttgart, NJW-RR 2004, 57; LG München I, NJW1999,2600 [2601]).

1. Anwendungsvoraussetzungen des § 817 S.2 BGB insubjektiver HinsichtEntgegen der Auffassung der Revision hat das BerGer.die subjektiven Anforderungen an die Erfüllung diesesAusnahmetatbestands nicht verkannt. Zwar schließt §817 S. 2 BGB die Rückforderung grundsätzlich nurbei einem bewussten Sittenverstoß aus; jedoch steht esvorsätzlichem Handeln gleich, wenn der Leistendesich der Einsicht in die Sittenwidrigkeit seines Han-delns leichtfertig verschließt (Senat, NJW 1992, 310[unter II 1]). Dass diese Voraussetzung bei der Kl. vor-lag, hat das BerGer. rechtsfehlerfrei festgestellt; dieswird von der Revision auch nicht angegriffen.

2. Keine Einschränkung des § 817 S. 2 BGB nach Treuund Glauben (§ 242 BGB)Ohne Erfolg macht die Revision schließlich geltend,

der Rückforderungsausschluss nach § 817 S. 2 BGBsei im vorliegenden Fall mit Treu und Glauben (§ 242BGB) nicht vereinbar. Der Ausschluss des Rückforde-rungsanspruchs der Kl. ist auch unter Berücksichti-gung des Umstands, dass die Bekl. infolge der Anwen-dung des § 817 S. 2 BGB aus dem sittenwidrigen Ver-trieb von Radarwarngeräten wirtschaftliche Vorteilezieht, nicht unbillig. Denn die Kl. handelte ebenfallssittenwidrig und steht dem verbotenen Verhalten nochnäher als die Bekl., weil sie das Radarwarngerät zudem Zweck erwarb, es entgegen dem Verbot des § 23 Ib StVO zu verwenden. Beide Parteien verdienen daherim Hinblick auf das sittenwidrige Geschäft nicht denSchutz der Rechtsordnung. Es hat deshalb dabei zubleiben, dass die in § 817 S. 2 BGB geregelte Rechts-schutzverweigerung grundsätzlich die Vertragsparteitrifft, die aus dem sittenwidrigen Geschäft Ansprücheherleitet.

Standort: BGB-AT Problem: Grundstückserwerb eines Minderjährigen

BGH, BESCHLUSS VOM 03.02.2005V ZB 44 / 04 (NJW 2005, 1430)

Problemdarstellung:Im vorliegenden Fall wollte ein Großvater ihm gehö-rende Grundstücke seinen Enkeln übertragen, von de-nen einer jedoch minderjährig war. Da die Grund-stücke verpachtet waren, schien auf der Hand zu lie-gen, dass dieser Minderjährige die Auflassungserklä-rung gem. §§ 873, 925 BGB nicht selbst abgebenkonnte, da er gem. §§ 593 b, 566 BGB die Rechte, vorallem aber die Pflichten des Veräußerers aus dem be-stehenden (Land-) Pachtvertrag mit seinem Eigentum-serwerb übernehmen müsste. Die Erklärung des Min-derjährigen wäre demzufolge nicht lediglich rechtlichvorteilhaft i. S. d. § 107 BGB.Die Beteiligten sahen dies trotzdem anders und argu-mentierten mit dem lebenslangen Nießbrauchsrecht,welches sich der Großvater an dem Grundstück vor-behalten wollte, verbunden mit seiner Verpflichtung,auch außergewöhnliche Erhaltungsmaßnahmen zu fi-nanzieren und sonstige außerordentliche Lasten derGrundstücke zu tragen. Der Nießbrauch i. S. d. §§1030 ff BGB verleiht dem Berechtigten ein dinglichesNutzungsrecht an der betreffenden Sache (vgl. § 1030I BGB) mit der Folge, dass er diese Sache vermieten /verpachten kann und Partei des entsprechenden Ver-trages wird. Veräußert ein Eigentümer eines vermiete-ten /verpachteten Grundstücks dieses unter Nie-brauchsvorbehalt, so bleibt er dementsprechend Ver-mieter / Verpächter (vgl. Palandt-Bassenge, § 1030Rz. 5).Der BGH geht in dem vorliegenden Beschluss gleich-

wohl von der Einwilligungsbedürftigkeit des Grund-erwerbs aus und begründet dies im Wesentlichen da-mit, dass bei bereits bestehender Vermietung / Ver-pachtung des Grundstücks zum Erwerbszeitpunkt diehinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit besteht, dassder Minderjährige infolge der Beendigung des Nieß-brauches sodann Vermieter oder Verpächter mit allendaran anknüpfenden Rechtsnachteilen wird.

Prüfungsrelevanz:Die Problematik der Einwilligungsbedürftigkeit vonRechtsgeschäften beschränkt Geschäftsfähiger gem. §107 BGB sollte im Rahmen der Examensvorbereitungnicht unterschätzt werden, weil es sich hier “nur” umein Problem des BGB-AT handelt. Das häufige Auf-tauchen dieses Problems auch in der jüngsten Recht-sprechung des BGH und die hierbei - teilweise infolgescheinbar minimal anders gelagerter Sachverhalte -erzielten unterschiedlichen Ergebnisse (vgl. 0Vertie-fungshinweise) zeigen, dass § 107 BGB nach wie voreine schwierig zu handhabende Vorschrift ist.

Vertiefungshinweise:“ Lediglich rechtlich vorteilhafter Erwerb eines miteinem Nießbrauch belasteten Grundstücks: BGH, RA2005, 211 = NJW 2005, 415“ Veräußerung des Grundstücks einer GbR, an derein Minderjähriger beteiligt ist: OLG Koblenz, RA2003, 364 = NJW 2003, 1401

Kursprogramm:“ Examenskurs : “Der ratsuchende Onkel”

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“ Examenskurs : “Familiengeschichten”

Leitsätze:1. Im grundbuchrechtlichen Antragsverfahren folgtdie Beschwerdeberechtigung eines Beteiligten nichtallein daraus, dass das Grundbuchamt die Vornah-me der beantragten Eintragung abgelehnt oder imWege der Zwischenverfügung von der vorherigenBeseitigung bestimmter Eintragungshindernisse ab-hängig gemacht hat; hinzukommen muss vielmehr,dass der Beschwerdeführer antragsberechtigt ist.2. Hat das Beschwerdegericht die Erstbeschwerdeeines Beteiligten als zulässig behandelt und in derSache negativ beschieden, obwohl sie mangels An-tragsberechtigung als unzulässig hätte verworfenwerden müssen, ist seine weitere Beschwerde zuläs-sig, jedoch mit der Maßgabe zurückzuweisen, dassdie Erstbeschwerde als unzulässig verworfen wird.3. Ein auf den Erwerb eines vermieteten oder ver-pachteten Grundstücks gerichtetes Rechtsgeschäftist für einen Minderjährigen nicht lediglich recht-lich vorteilhaft i. S. d. § 107 BGB, auch wenn sichder Veräußerer den Nießbrauch an dem zu über-tragenden Grundstück vorbehalten hat.

Sachverhalt:Der Bet. zu 1 ist Eigentümer mehrerer landwirtschaft-licher Grundstücke, die er verpachtet hat. Mit notariel-lem Vertrag vom 22.12.2003 überließ er diese Grund-stücke unter gleichzeitiger Erklärung der Auflassungseinen Enkelkindern, den Bet. zu 2 bis 4 zu gleichenTeilen. Er behielt sich jedoch den lebenslänglichenunentgeltlichen Nießbrauch an dem übertragenenGrundbesitz vor. Insoweit wurde bestimmt, dass derNießbraucher auch die Kosten außergewöhnlicherAusbesserungen und Erneuerungen sowie die außer-ordentlichen Lasten der Grundstücke zu tragen hat.Mit gleicher Urkunde bewilligten die Bet. zu 2 bis 4die Eintragung eines nachrangigen Nießbrauchsrechtsmit entsprechendem Inhalt zu Gunsten ihrer Mutter,der Bet. zu 5, in das Grundbuch.Die von dem Urkundsnotar im Namen der Bet. gestell-ten Anträge auf Eigentumsumschreibung und Eintra-gung des Nießbrauchsrechts zu Gunsten des Bet. zu 1hat das Grundbuchamt mit Zwischenverfügung vom11.03.2004 beanstandet, weil die Schenkung der ver-pachteten Grundstücke für den minderjährigen Bet. zu4 nicht lediglich rechtlich vorteilhaft sei. Es hat denBet. aufgegeben, binnen bestimmter Frist einen Ergän-zungspfleger bestellen zu lassen. Die dagegen gerich-teten Beschwerden der Bet. sind erfolglos geblieben.Das OLG Frankfurt a. M. möchte auch die weiterenBeschwerden zurückweisen. Es sieht sich daran jedochdurch den Beschluss des OLG Celle vom 16.02.2001(OLG-Report 2001, 159 = MDR 2001, 931) gehindertund hat die Sache deshalb dem BGH zur Entscheidung

vorgelegt. Der BGH hat die weiteren Beschwerdengegen den Beschluss des LG Gießen zurückgewiesen,die weitere Beschwerde der Bet. zu 5 mit der Maßga-be, dass ihre Beschwerde gegen die Zwischenverfü-gung des AG - Grundbuchamt - vom 11.03.2004 alsunzulässig verworfen wird.

Aus den Gründen:

A. Statthaftigkeit der Vorlage an den BGH gem. § 79II GBODie Vorlage ist gem. § 79 II GBO statthaft. Das vorle-gende Gericht meint, der Erwerb eines verpachtetenGrundstücks sei für einen Minderjährigen wegen desdamit verbundenen Eintritts in den von dem Veräuße-rer geschlossenen Pachtvertrag nicht lediglich recht-lich vorteilhaft. Dies gelte auch dann, wenn sich derVeräußerer den Nießbrauch an dem Grundstück vor-behalten habe. In diesem Fall trete der Minderjährigebereits mit dem Eigentumserwerb, wenn auch nur füreine juristische Sekunde, in den bestehenden Pachtver-trag ein. Darüber hinaus träfen ihn die Pflichten ausdem Pachtverhältnis jedenfalls mit Beendigung desNießbrauchs. Der zwischen den Bet. geschlosseneÜberlassungsvertrag bedürfe deshalb der Genehmi-gung durch einen an die Stelle der rechtlich verhinder-ten Eltern tretenden Ergänzungspfleger. Demgegen-über vertritt das OLG Celle in seiner auf weitere Be-schwerde ergangenen Entscheidung vom 16.02.2001die Ansicht, die Übertragung eines mit einemNießbrauch belasteten, vermieteten Grundstücks seimit keinen rechtlichen Nachteilen für den minderjäh-rigen Erwerber verbunden, so dass er die Auflassungselbst wirksam erklären könne. Diese Divergenz recht-fertigt die Vorlage. Die unterschiedlich beantworteteFrage, ob ein Minderjähriger durch seine auf den Er-werb des Eigentums an einem nießbrauchbelasteten,vermieteten oder verpachteten Grundstück gerichteteWillenserklärung lediglich einen rechtlichen Vorteil i.S. v. § 107 BGB erlangt, ist für die dem Grundbuch-amt nach § 20 GBO obliegende Prüfung einer rechts-wirksam erklärten Auflassung (vgl. Senat, BGHZ 78,28 [31] = NJW 1981, 109; Bauer/v.Oefele, GBO, AT IRz. 145; Kuntze, GrundbuchR, 5. Aufl., Einl. C Rz.68) von Bedeutung. Damit geht es um die Auslegungdas Grundbuchrecht betreffender Vorschriften i. S. v.§ 79 II GBO, worunter alle bei der Entscheidung übereinen gestellten Eintragungsantrag angewendeten oderzu Unrecht außer Acht gelassenen sachlich-rechtlichenund verfahrensrechtlichen Bestimmungen zu verstehensind, sofern sie - wie hier - auf bundesrechtlicherGrundlage beruhen (Senat, BGHZ 151, 116 [119]).

B. Weitere Beschwerden der Bet. zulässig, aber unbe-gründetDie weiteren Beschwerden sind zulässig (§§ 78, 80GBO). Die Beschwerdebefugnis der Bet. folgt aus der

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Zurückweisung ihrer Erstbeschwerden (vgl. Senat,BGHZ 151, 116 [121] = NJW 2002, 2461; NJW 1994,1158). Dies gilt auch, soweit die Erstbeschwerde derBet. zu 5 an sich als unzulässig hätte verworfen wer-den müssen (vgl. BayObLGZ 1993, 253 [255]; Mei-kel/Streck, GrundbuchR, 9. Aufl., § 78 Rz. 10). In derSache selbst haben die weiteren Beschwerden jedochkeinen Erfolg.

I. Unzulässigkeit der Erstbeschwerde der Bet. zu 5Die weitere Beschwerde der Bet. zu 5 ist bereits des-halb unbegründet, weil ihre Erstbeschwerde gegen dieZwischenverfügung vom 11.03.2004 mangels Be-schwerdeberechtigung unzulässig ist.Im grundbuchrechtlichen Antragsverfahren folgt dieBeschwerdeberechtigung nicht allein daraus, dass dasGrundbuchamt die Vornahme der beantragten Eintra-gung abgelehnt oder im Wege einer Zwischenverfü-gung von der vorherigen Beseitigung bestimmter Ein-tragungshindernisse abhängig gemacht hat. Hinzukom-men muss vielmehr, dass der Bf. antragsberechtigt ist(BayObLG, MittBayNot 1994, 39 [40]; OLG Hamm,FGPrax 1995, 14 [15]; Meikel/Streck, § 71 Rz. 118).Dies setzt gem. § 13 I 2 GBO voraus, dass die Rechts-stellung des Ast. durch die beantragte Eintragung eineunmittelbare Verbesserung oder Verschlechterung er-fährt (Demharter, GBO, 24. Aufl., § 13 Rz. 47; § 13Rz. 55; Meikel/Böttcher, § 13 Rz. 35). Für die Bet. zu5 ist jedoch eine solche unmittelbare Veränderung ih-rer dinglichen Rechtsstellung weder mit der Eintra-gung des Nießbrauchs für den Bet. zu 1 noch mit derEigentumsumschreibung auf die Bet. zu 2 bis 4 ver-bunden. Insoweit ist sie mithin nicht antragsberechtigtund deshalb nicht beschwerdebefugt. Da das Be-schwGer. ihre Beschwerde gleichwohl als zulässigbehandelt und in der Sache negativ beschieden hat, istihre weitere Beschwerde mit der Maßgabe zurückzu-weisen, dass die Erstbeschwerde als unzulässig ver-worfen wird (vgl. Demharter, § 80 Rz. 20; Mei-kel/Streck, § 80 Rz. 31).

II. Erstbeschwerden der Bet. zu1 bis 4 zulässig, aberunbegründet Die weiteren Beschwerden der Bet. zu 1 bis 4 sindebenfalls unbegründet. Die im Rahmen des Überlas-sungsvertrags vom 22.12.2003 erklärte Auflassung (§925 BGB) führt zu rechtlichen Nachteilen für den min-derjährigen Bet. zu 4 und ist deshalb schwebend un-wirksam (§§ 107, 108 I BGB). Ohne die von demGrundbuchamt verlangte Genehmigung der Auflas-sung durch einen Ergänzungspfleger darf die beantrag-te Eigentumsumschreibung nicht vorgenommen wer-den (§ 20 GBO).

1. Erwerb eines vermieteten oder verpachteten Grund-stücks wegen der damit verbundenen persönlichenVerpflichtungen grundsätzlich rechtlich nachteilhaft i.

S. v. § 107 BGBEin auf den Erwerb einer Sache gerichtetes Rechtsge-schäft ist für einen Minderjährigen nicht lediglichrechtlich vorteilhaft i. S. v. § 107 BGB, wenn er indessen Folge mit Verpflichtungen belastet wird, fürdie er nicht nur dinglich mit der erworbenen Sache,sondern auch persönlich mit seinem sonstigen Ver-mögen haftet (Senat, BGHZ 78, 28 [33] = NJW 1981,109; NJW 2005, 415 = WM 2005, 144 [146], z. Ver-öff. in BGHZ vorgesehen). Eine solche persönlicheHaftung ist mit dem Erwerb eines vermieteten oderverpachteten Grundstücks verbunden. Gemäß §§ 566I, 581 II, 593 b BGB tritt der Erwerber mit dem Eigen-tumsübergang (Staudinger/Emmerich, BGB, Neube-arb. 2003, § 566 Rz. 26) in sämtliche Rechte undPflichten aus dem bestehenden Miet- oder Pachtver-hältnis ein. Er ist daher nicht nur zu der Überlassungdes vermieteten oder verpachteten Grundstücks ver-pflichtet (§§ 535 I, 581 I, 585 II BGB); vielmehr kön-nen ihn insbesondere auch Schadensersatz- und Auf-wendungsersatzpflichten (§§ 536a, 581 II, 586 IIBGB) sowie die Pflicht zur Rückgewähr einer vondem Mieter oder Pächter geleisteten Sicherheit (§§ 566a, 581 II, 593 b BGB) treffen. Hierbei handelt es sichnicht um typischerweise ungefährliche Rechtsnachtei-le, die bei der Anwendung des § 107 BGB von vorn-herein außer Betracht bleiben könnten (so jedoch Stür-ner, AcP 173 [1973], 402 [431, 448]; Jerschke, DNotZ1982, 459 [473]; Stutz, MittRhNotK 1993, 205 [211],für unbebaute verpachtete Grundstücke). Anders alsdie mit dem Grundstückserwerb verbundene Ver-pflichtung zur Tragung laufender öffentlicher Lasten(vgl. Senat, NJW 2005, 415 = WM 2005, 144 [147])sind die aus dem Eintritt in ein Miet- oder Pachtverhält-nis resultierenden Pflichten ihrem Umfang nach nichtbegrenzt. Ihre wirtschaftliche Bedeutung hängt vonden Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab. Ob dievon ihnen ausgehenden Gefahren für das Vermögendes Minderjährigen im Hinblick auf die mit demGrundstückserwerb verbundenen Vorteile hingenom-men werden können, lässt sich deshalb nicht abstraktbeurteilen, sondern erfordert eine entsprechende ein-zelfallbezogene Prüfung durch den gesetzlichen Ver-treter. Mit der ganz überwiegenden Meinung in Recht-sprechung (OLG Oldenburg, NJW-RR 1988, 839;OLG Karlsruhe, OLG-Report 2000, 259 [260]; Rpfle-ger 2003, 579; BayObLG, NJW 2003, 1129) und Lite-ratur (Wendtland, in: Bamberger/Roth, BGB, § 107Rz. 8; Jauernig/Jauernig, BGB, 11. Aufl., § 107 Rz. 4;Schmitt, in:.MünchKomm, 4. Aufl., § 107 Rz. 48; Pa-landt/Heinrichs, BGB, 64. Aufl., § 107 Rz. 4; Staudin-ger/Peschel-Gutzeit, Neubearb. 2002, § 1629 Rz. 233;Feller, DNotZ 1989, 66 [74]; Lange, NJW 1955, 1339[1341]) ist deshalb davon auszugehen, dass der Erwerbeines vermieteten oder verpachteten Grundstücks füreinen Minderjährigen nicht lediglich rechtlich vorteil-haft ist.

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2. Keine abweichende Beurteilung aufgrund desNießbrauchs zugunsten des VoreigentümersDies gilt auch dann, wenn sich der Veräußerer - wiehier - den Nießbrauch an dem zu übertragendenGrundstück vorbehalten hat (OLG Karlsruhe, OLG-Report 2000, 259 [260]; Rpfleger 2003, 579; Bay-ObLG NJW 2003, 1129). Selbst wenn man entgegender Auffassung des vorlegenden Gerichts annimmt,dass die Veräußerung in diesem Fall die miet- oderpachtrechtlichen Beziehungen zunächst unberührtlässt, der frühere Eigentümer also als NießbraucherVermieter oder Verpächter in dem unverändert fort-bestehenden Miet- oder Pachtverhältnis bleibt (BFH,NJW 1989, 3175 [3176]; Schmidt-Futterer/Gather,MietR, 8. Aufl., § 567 Rz. 11; Staudinger/Emmerich,2003, § 567 Rz. 13; a. A. BayObLG, RPfleger 2003,579; offen gelassen von Senat, NJW 1983, 1780[1781]), tritt der minderjährige Erwerber jedenfalls mitder Beendigung des Nießbrauchs, hier also mit demTod des Bet. zu 1, entsprechend § 1056 I BGB in diePflichten aus dem dann noch bestehenden Miet- oderPachtvertrag ein (Staudinger/Emmerich, § 567 Rz. 13).Die damit begründete persönliche Haftung des Min-derjährigen ist nicht etwa deshalb unbeachtlich, weiles sich, wie das OLG Celle (MDR 2001, 931 [932])meint, um einen mittelbaren Rechtsnachteil handelt,der nicht aus der Eigentümerstellung als solcher resul-tiert. Tatsächlich ist die Belastung mit miet- oderpachtvertraglichen Pflichten eine Folge des dinglichenErwerbsgeschäfts. Dass sie von dem rechtsgeschäftli-chen Willen der Parteien nicht umfasst sein muss, son-dern kraft gesetzlicher Anordnung eintritt, ist im Hin-blick auf den von § 107 BGB verfolgten Schutzzweckohne Belang (vgl. Senat, NJW 2005, 415). Unerheb-lich ist auch, dass im Zeitpunkt der Erklärung der Auf-lassung noch nicht feststeht, ob und wann der minder-jährige Erwerber in den von dem Übergeber geschlos-senen Miet- oder Pachtvertrag eintreten wird. Zwargenügt die bloß theoretische Möglichkeit einer zukünf-tigen Belastung nicht, um einen Rechtsnachteil i. S. v.§ 107 BGB annehmen zu können (Senat, NJW 2005,415). Deshalb ist die Schenkung eines Grundstücksunter Nießbrauchsvorbehalt nicht bereits deshalbrechtlich nachteilig, weil eine in Zukunft erfolgendeVermietung oder Verpachtung durch den Nießbrau-cher nicht ausgeschlossen werden kann. Ist das Grund-stück dagegen bereits im Zeitpunkt der Auflassungvermietet oder verpachtet, besteht die hinreichend kon-krete Möglichkeit, dass der Minderjährige bei Beendi-gung des Nießbrauchs mit Pflichten aus dem Miet-oder Pachtvertrag belastet werden kann. Dies genügt,um einen Rechtsnachteil anzunehmen (OLG Karls-ruhe, OLG-Report 2000, 259 [260]). Insoweit giltnichts anderes als bei einer Schenkung unterRücktrittsvorbehalt, die nach allgemeiner Ansicht

rechtlich nachteilig ist, weil der Minderjährige im Fallder Ausübung des Rücktrittsrechts zum Wertersatzoder Schadensersatz, insbesondere wegen einer zwi-schenzeitlichen Verschlechterung des zurück zu gewäh-renden Gegenstands, verpflichtet sein kann (Bay-ObLG, Rpfleger 1974, 309 [310]; OLG Dresden, Mitt-BayNot 1996, 288 [290]; OLG Köln, Rpfleger 1998,159; ZMR 2004, 189 [191]; OLG Celle, MDR 2001,931 [932]; Fembacher/Franzmann, MittBayNot 2002,78 [82 f.]; Bestelmeyer, Rpfleger 2004, 162).

3. Bestellung eines Ergänzungspflegers, da Eltern desBet. zu 4 von der Vertretung ausgeschlossenWegen der mit dem Eigentumserwerb verbundenenRechtsnachteile konnte der minderjährige Bet. zu 4 dieAuflassung nicht selbst wirksam erklären. Die nach §§107, 108 I BGB erforderliche Genehmigung der vonihm abgegebenen Auflassungserklärung können dieEltern des Bet. zu 4 nicht erteilen, weil seine Mutterals Tochter des Bet. zu 1 gem. §§ 1629 II 1, 1795 I Nr.1 Halbs. 1 BGB von der Vertretung ausgeschlossen istund sich dieses Vertretungsverbot auch auf den Vaterdes Bet. zu 4 erstreckt (vgl. BGH, NJW 1972, 1708).Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 1795 I Nr. 1letzter Halbs. BGB. Zwar ist der der Eigentumsüber-tragung zu Grunde liegende Schenkungsvertrag (§ 516I BGB) für den Bet. zu 4 lediglich rechtlich vorteilhaft,so dass die Auflassung ausschließlich der Erfüllungeiner durch das schuldrechtliche Grundgeschäft wirk-sam begründeten Verbindlichkeit dient. Gleichwohlsind die Eltern des Bet. zu 4 daran gehindert, die Auf-lassung für diesen zu erklären oder die von ihm selbsterklärte Auflassung zu genehmigen, weil die in § 1795I Nr. 1 letzter Halbs. BGB normierte Ausnahme vondem Vertretungsverbot unter Berücksichtigung desZwecks der §§ 1629 II 1, 1795 I Nr. 1 erster Halbs.BGB, Kollisionen zwischen den Interessen des Kindesund den Interessen der Eltern zu vermeiden (Pa-landt/Diederichsen, § 1629 Rz. 20), nicht gilt, wenndas in der Erfüllung einer Verbindlichkeit bestehendeRechtsgeschäft über den Erfüllungserfolg hinaus zurechtlichen Nachteilen für den Vertretenen führt. Dennin diesem Fall trifft die § 1795 I letzter Halbs. BGB zuGrunde liegende Annahme, dass es bei der bloßen Er-füllung einer bestehenden Verbindlichkeit zu keinerInteressenkollision kommen kann (Erman/Holzhauer,BGB, 11. Aufl., § 1795 Rz. 10; vgl. auch Kern, JA1990, 281 [282], zu § 181 letzter Halbs. BGB) nichtzu, so dass es bei dem grundsätzlichen Vertretungs-verbot bleiben muss. Damit bedarf es, wie von demGrundbuchamt verlangt, einer Genehmigung der Auf-lassung durch einen noch zu bestellenden Ergänzungs-pfleger (§ 1909 I BGB).

RA 2005, HEFT 6 STRAFRECHT

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Strafrecht

Standort: Art. 1 GG, § 244 II StPO Problem: Menschenwürde von Zeugen

BGH, BESCHLUSS VOM 11.01.20051 STR 498/04 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT) Problemdarstellung:Das Landgericht war aufgrund des ermittelten Sach-verhalts davon ausgegangen, dass der Angeklagte dieNebenklägerin, die seine romantischen Annäherungs-versuche zurückgewiesen hatte, da sie lesbisch war,vergewaltigt hatte. Der Einlassung des Angeklagten,der Geschlechtsverkehr sei einverständlich vorgenom-men worden und die Nebenklägerin unterhalte außer-dem weitere sexuelle Kontakte zu Männern, war dasLandgericht nicht gefolgt und hatte diesen wegen Ver-gewaltigung (§ 177 StGB) verurteilt. Die gegen dasUrteil eingelegte Revision des Angeklagten wies derBGH zurück.

Prüfungsrelevanz:Da es im vorliegenden Fall ausschließlich um straf-prozessuale Probleme geht, dürfte eine Bedeutung die-ser Entscheidung eher im zweiten Staatsexamen gege-ben sein; wegen des Bezugs zu den Grundrechten vonZeugen könnte jedoch eine Diskussion der vorliegen-den Probleme im ersten Examen immerhin in eineröffentlich-rechtlichen Prüfung erfolgen.Zunächst streift der BGH die Frage, ob die Gewährungvon Akteneinsicht an den Anwalt des Verletzten gem.§ 406 e StPO in einem Revisionsverfahren auch dannnoch gerügt werden kann, wenn sie gem. § 406 e IV 1StPO von der Staatsanwaltschaft gewährt worden warund der deshalb gem. § 406 e IV 2 StPO zulässige An-trag des Beschuldigten auf gerichtliche Entscheidungnicht gestellt worden ist. Im Rahmen einer Revisionist es durchaus möglich, dass der Revisionsführer eineVerfahrensrüge verwirkt (und deshalb einen Fehler ineinem Revisionsverfahren nicht mehr geltend machenkann, vgl. Meyer-Goßner, § 337 Rn. 47). Zwar wirdeine Rüge grundsätzlich nicht schon allein deshalbverwirkt, weil der Angeklagte den Fehler nicht unver-züglich rügt (OLG Hamm, VRS 14, 370). Jedoch isteine Verfahrensrüge im Rahmen der Revision in derRegel präkludiert, wenn die fehlerhafte Maßnahmeeine Entscheidung des Vorsitzenden war und der An-geklagte nicht gem,. § 238 II StPO eine Entscheidungdes Gerichts beantragt hat (BGHSt 4, 364; Meyer-

Goßner, § 238 Rn. 22). Ob eine solche Verwirkungauch dann eintritt, wenn der Angeklagte das Rechts-mittel des § 406 e IV 2 StPO gegen eine Gewährungder Akteneinsicht an den Rechtsanwalt des Verletztennicht einlegt, hat der BGH in diesem Fall jedoch offengelassen, da die Verfahrensrüge sowieso unbegründetwäre.Ausführliche Anmerkungen macht der BGH zu derRüge des Angeklagten, das Tatsachengericht habe -insb. da sich als Beweismittel vor allem die Aussageder Nebenklägerin und die des Angeklagten gegenüberstünden - zur Aufklärung der Glaubwürdigkeit der Ne-benklägerin insb. weitere Ermittlungen anstellen müs-sen zu deren sexuellen Vorleben und Gewohnheitenwie auch zur Frage einer bestehenden Alkoholsucht.Gem. § 244 II StPO muss das Gericht grundsätzlichalle Beweismittel zur Aufklärung des Sachverhaltesausschöpfen. Der BGH betont jedoch ausdrücklich,dass auch das Ziel des Strafprozesses - die Wahrheits-findung - nicht ohne weiteres einen Eingriff in dieMenschenwürde einer Zeugin rechtfertige. Beweis-erhebungen bzgl. des Privat- und Intimlebens seien nurdann statthaft, wenn sie für die Wahrheitsfindung un-erlässlich seien. Dies betreffe sowohl die Einholungvon Sachverständigengutachten als auch andere Be-weismittel, insb. Zeugenvernehmungen. Im vorliegen-den Fall stellt der BGH klar, dass die vorliegendenBeweismittel ausreichten, damit das Gericht zu derÜberzeugung kommen konnte, die Einlassung des An-geklagten, er habe ein Verhältnis mit der Nebenkläge-rin gehabt, sei nur eine Schutzbehauptung. Deshalbwar es nicht erforderlich, die vom Angeklagten bean-tragten weiteren Beweise, die die Behauptung der Ne-benklägerin, dass ein solches Verhältnis gerade nichtbestanden habe, widerlegen sollten, überhaupt zu erhe-ben. Diese Beweismittel hätten nämlich eine Ausfor-schung des Intimlebens der Nebenklägerin bewirkt,was schließlich den Eindruck hätte erwecken können,dass Gegenstand des Strafverfahrens gar nicht die Ver-fehlungen des Angeklagten, sondern der Lebenswan-del der Nebenklägerin sei. Um dies zu vermeiden, seies richtig gewesen, diese Beweise nicht zu erheben.

Vertiefungshinweise:“ Zum Verwirken von Verfahrensrügen: BGH, NStZ-RR 2003, 2; OLG Hamm, VRS 14, 370; 20, 68; Dor-

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nach, NStZ 1995, 61; Ebert, StV 1997, 273“ Zum Umfang der Aufklärungspflicht i.S.v. § 244 IStPO: BGH, StV 2002, 350; NStZ 1994, 247; 2005, 44

Leitsatz:Auch im Rahmen der vorrangigen Verpflichtungzur Wahrheitsermittlung ist auf die Achtung dermenschlichen Würde eines Zeugen Bedacht zu neh-men. Beweiserhebungen zu dessen Privat- und In-timleben sind nur nach sorgfältiger Prüfung ihrerUnerlässlichkeit statthaft. Dies ist bei der Leitungeines Sachverständigen ebenso zu berücksichtigenwie bei der Zulassung von Fragen und bei der Ent-scheidung über den Umfang der Beweisaufnahme.

Sachverhalt:Der Angeklagte gab der im selben Haus wie er wohn-haften Nebenklägerin im Oktober 2001 einen Zettel,auf den er “Ich liebe Sie von ganzem Herzen, wollenSie mit mir gehen?” geschrieben hatte. Die gleichge-schlechtlich orientierte Nebenklägerin, die seit Jahrenkeine sexuellen Kontakte zu einem Mann gehabt hatte,hatte nicht reagiert und auch der Angeklagte war hier-auf zunächst nicht zurückgekommen. Am 7. Dezember2001 ließ ihn die Nebenklägerin in ihre Wohnung,weil er angeblich mit ihr reden wollte und sie glaubte,die ganze Angelegenheit ausräumen zu können. In derWohnung bedrohte er sie mit einem Messer, schlug sieund vergewaltigte sie.Noch am Tattag wurden Spermaspuren des Angeklag-ten in der Scheide der Nebenklägerin gesichert. DerAngeklagte wollte zwar “glauben machen”, diese Spurstamme von einem anderen Mann, räumte aber dochGeschlechtsverkehr ein und gab an, er hätte seit Mona-ten ein Verhältnis mit der Nebenklägerin gehabt. Mitder Anzeige räche sie sich dafür, dass er nicht für sieseine Familie verlasse. Die Strafkammer hat die Be-hauptung eines schon länger bestehenden Verhältnis-ses als Erfindung bewertet, wegen des Zettels ebensowie deshalb, weil ihm weder ihr Vorname noch dieüber 20 cm langen Narben unter ihren Brüsten bekanntwaren.

Aus den Gründen:

I. Entscheidung des Landgerichts[Die Strafkammer] hat [den Angeklagten] wegen Ver-gewaltigung zu drei Jahren Freiheitsstrafe und zurZahlung eines der Höhe nach noch nicht festgesetztesSchmerzensgeldes verurteilt. Die auf Verfahrensrügenund die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagtenist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

II. Entscheidung des BGHÜber die durch die Erwiderung der Revision nicht ent-kräfteten Darlegungen des Generalbundesanwalts hin-aus bemerkt der Senat:

1. Zur Rüge des Fehlens einer weiteren Begutachtungder NebenklägerinDa die Nebenklägerin es abgelehnt hat, sich (noch-mals) begutachten zu lassen, geht das hierauf bezoge-ne Revisionsvorbringen ins Leere; die beantragte Be-gutachtung wäre unzulässig gewesen (st. Rspr. vgl.BGHSt 13, 394, 398; 14, 21, 23).

2. Zur Rüge der Verletzung von § 406 e StPODie Revision rügt eine Verletzung von “§§ 406 e, 337StPO”, weil die Staatsanwaltschaft im Ermittlungs-verfahren dem Rechtsanwalt der Nebenklägerin Ak-teneinsicht gewährt hat. Später hat sich herausgestellt,dass die Nebenklägerin einigen auch als Zeugen ge-hörten Mitbewohnern Einsicht zumindest in Teile die-ser Akten verschafft hat.

a. Zum Fehlen eines Rechtsmittels des Angeklagtengem. §§ 406 e IV 2, 161 a III 2-4 StPOHätte (erst) der Strafkammervorsitzende die Akten-einsicht gewährt (§ 406 e Abs. 4 Satz 1, 2. HalbsatzStPO), wäre eine hierauf gestützte Verfahrensrüge un-statthaft, ohne dass es auf weiteres ankäme (§ 406 eAbs. 4 Satz 2, 2. Halbsatz StPO i. V. m. § 336 Satz 2StPO; vgl. Hilger in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. §406e Rdn. 17; anders wohl Velten in SK-StPO § 406 eRdn. 20). Hier hat gemäß § 406 e Abs. 4 Satz 1, 1.Halbsatz StPO die Staatsanwaltschaft entschieden. DerBeschuldigte hat (offenbar), aus welchen Gründenauch immer (etwa zunächst versagtes rechtliches Ge-hör kann nachgeholt werden, vgl. BGH NStZ 1991,95), den zulässigen Rechtsbehelf nicht ergriffen. Die-ser hätte zu einer nicht anfechtbaren richterlichen Ent-scheidung geführt, § 406 Abs. 4 Satz 2 StPO i. V. m. §161a Abs. 3 Sätze 2 bis 4 StPO.Es kann aber offen bleiben, welchen Einfluss dieserVerfahrensgang auf die Statthaftigkeit der Rüge hat,da sie hier auf keinen Fall Erfolg haben kann.

b. Zur Möglichkeit der Versagung der AkteneinsichtWenn überhaupt, hätte hier Akteneinsicht gemäß §406 e Abs. 2 Satz 2 StPO versagt werden können. Hin-sichtlich der Frage nach einer etwaigen Gefährdungdes Untersuchungszwecks besteht ein weiter Entschei-dungsspielraum (Hilger aaO Rdn. 12). Die danach ge-botene (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) Mitteilung, ob undgegebenenfalls wie der Staatsanwalt seine Entschei-dung begründet hat (vgl. § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO)fehlt aber ebenso wie die Mitteilung des konkreten

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Ermittlungsstands bei Erteilung der Akteneinsicht. Nurdann könnte beurteilt werden, ob eine Gefährdung desUntersuchungszwecks überhaupt in Betracht zu ziehengewesen wäre. Auch zu der Frage, ob und warum zudiesem Zeitpunkt schon mit einer Weitergabe von Ak-ten zu rechnen war (vgl. LG Bielefeld wistra 1995,118, 120 m. w. N.), äußert sich die Revision nicht.

c. Zum Fehlen der Voraussetzungen für ein Beweisver-wertungsverbotUnabhängig davon würde selbst ein in diesem Zusam-menhang unterlaufener Verfahrensverstoß zu keinemBeweisverwertungsverbot führen (so aber Velten aaORdn. 13; offen gelassen bei Hilger aaO Rdn. 18), daein Beweisverwertungsverbot regelmäßig einen rechts-widrigen Beweiserhebungsakt voraussetzt. Die Ge-währung von Akteneinsicht stellt aber keine Beweis-erhebung dar (vgl. Stöckel in KMR § 406e Rdn. 18).Aktenkenntnis, im übrigen auch wenn sie auf zu Rechtgewährte Akteneinsicht zurückgeht, ist erforderlichen-falls bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen(vgl. Stöckel aaO). Dabei spricht es offensichtlichnicht für die inhaltliche Unrichtigkeit einer Aussage,wenn der Zeuge nach Akteneinsicht seine bereits ak-tenkundige Aussage wiederholt. Die Aussagen derübrigen in Rede stehenden Zeugen haben für die zen-trale Frage nach Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeitdes Geschlechtsverkehrs ohnehin eine allenfalls sehruntergeordnete Bedeutung. Sie sollten zahlreiche vomAngeklagten behauptete Details zum Zustandekom-men seines näheren Kontaktes mit der Nebenklägerinbestätigen, haben aber keine seiner Behauptungenauch nur ansatzweise bestätigt. So hatte er behauptet,die Nebenklägerin habe ihm etwa sieben Monate vorder Tat im April 2001 im Hof angesprochen; sie habedamals im Hof mit ihrem Sohn Federball gespielt, er(der Angeklagte) habe dort zur gleichen Zeit mit demHausmeister Holz gehackt. All dies erwies sich alszweifelsfrei falsch, weil der Sohn zu jener Zeit Soldatin M. war und der Hausmeister im ganzen ersten Halb-jahr 2001 schwer erkrankt war. Soweit für all dies dasgenannte Geschehen im Zusammenhang mit der Ak-teneinsicht überhaupt von Bedeutung sein kann, hat esdie Strafkammer in gebotenem Umfang gewürdigt. [...]

3. Zur Rüge der falschen Beweiswürdigung bei “Aus-sage gegen Aussage”Soweit die Revision zur Sachrüge ausführt, die Be-weiswürdigung werde den Anforderungen bei “Aus-sage gegen Aussage” nicht gerecht, ist verkannt, dassdiese vom Fehlen sonstiger Erkenntnisse gekennzeich-nete Konstellation (st. Rspr., vgl. zuletzt BGH NStZ2004, 635, 636) nicht vorliegt. Es gibt nämlich, z. B.mit dem Zettel, den Spermaspuren und den Narben

eine Reihe von Indizien, die die Strafkammer in dieWürdigung der zentralen Aussagen des Angeklagteneinbeziehen konnte. Rechtsfehler sind dabei nicht er-sichtlich; praktisch jede Behauptung des Angeklagtenhat sich als falsch erwiesen.

4. Zur Annahme eines minder schweren Falles gem. §177 V StGBDie Strafkammer ist von einem minder schweren Falli. S. d. § 177 Abs. 5 StGB ausgegangen. Diese Annah-me, die sich zumindest nicht aufdrängt, ist nicht fall-bezogen konkret begründet. Es wäre auch zulässig ge-wesen, bei der Strafzumessung die ebenso ehrenrüh-rige wie haltlose Behauptung des Angeklagten zu be-rücksichtigen, die Nebenklägerin sei eine Gelegen-heitsprostituierte, (vgl. nur BGHR StGB § 46 Abs. 2Verteidigungsverhalten 14, 19 jew. m. w. N.), zumalsie mit seinem Verteidigungsvorbringen - Geschlechts-verkehr im Rahmen einer Beziehung; Anzeige weil erseine Familie nicht verlassen wollte - in keinem er-kennbaren Zusammenhang steht. Zumindest wäre dieszu erörtern gewesen. All dies hat den Angeklagtenaber nur begünstigt.

5. Zur Gewährung von Prozesskostenhilfe für den Ad-häsionsantragDas Vorbringen, der Adhäsionsantrag sei wegenPfandlosigkeit des Angeklagten eine i. S. d. § 114ZPO mutwillige Rechtsverfolgung, Prozesskostenhilfehätte daher (gemäß § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO) nichtgewährt werden dürfen, geht ins Leere. Die gemäß §404 Abs. 5 Satz 3, 2. Halbsatz StPO unanfechtbareEntscheidung hierüber ist gemäß § 406a Abs. 2 Satz 1StPO i. V. m. § 336 Satz 2 StPO im Revisionsverfah-ren nicht zu überprüfen. So wäre es im Ergebnis auchin einem Zivilprozess, § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO.

6. Zur Anfechtung der Kostenentscheidung durch dieRevisionDie Revision bemängelt die Kostenentscheidung,(wohl nur) hinsichtlich der Adhäsionsentscheidung.Diese erstmals in der Revisionsbegründung vom 7.Mai 2004 (dort S. 87) enthaltenen, wenig spezifizier-ten Ausführungen können auf sich beruhen, weil sieverspätet sind. Einwände gegen die Kostenentschei-dung wären im Rahmen einer zusätzlich zur Revisioneinzulegenden sofortigen Beschwerde (§ 464 Abs. 3StPO, hier i. V. m. § 472a Abs. 1 StPO) innerhalb derhierfür vorgesehenen Frist (§ 311 Abs. 2 StPO) anzu-bringen gewesen (vgl. BGH, Urteil vom 14. Januar2003 - 1 StR 357/02 m. w. N.).

III. Zur Erforderlichkeit der Achtung der Menschen-würde von Zeugen

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Der Senat sieht Anlass zu folgendem Hinweis:Angesichts der Bedeutung der Aussage der Nebenklä-gerin für die Erweislichkeit eines schweren Verbre-chens hat sich die Strafkammer zu Recht eingehendmit dieser Aussage auseinandergesetzt. Auch im Rah-men seiner vorrangigen Verpflichtung zur Wahrheits-ermittlung hat das Gericht (ebenso wie auch die Er-mittlungsbehörden) jedoch auf die Achtung dermenschlichen Würde eines Zeugen, wie sie sich letzt-lich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt, Bedacht zunehmen (vgl. nur BGHSt 48, 372 m. w. N.). “Aufgabeeines sozialen Rechtsstaates ist es nicht allein, daraufzu achten, dass die Straftat aufgeklärt und Schuld oderUnschuld in einem rechtsstaatlichen Verfahren fest-gestellt werden, sondern auch, dass die Belange desOpfers gewahrt werden” (so die Materialien zum Op-ferRRG vom 24. Juni 2004, BGBl. I 1354 ff.,BTDrucks. 15/1976 S. 7 Abschnitt A II vor 1.). Diebesondere Bedeutung dieser Grundsätze wird auch indem Rahmenbeschluss der Europäischen Union überdie Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15.März 2001 (vgl. ABl. der Europäischen Gemeinschaftvom 22. März 2001, L 82/1 ff.) hervorgehoben, aufden die Materialien zum OpferRRG hinweisen (vgl.BTDrucks. 15/1976 und 15/2536 jeweils S. 1 Ab-schnitt A). In diesem Rahmenbeschluss wird unter an-derem “das Recht auf eine Behandlung unter Achtungder Würde des Opfers” und dessen Recht “in den ver-schiedenen Phasen des Verfahrens geschützt zu wer-den” (vor Artikel 1, Abschnitt 8) betont. Dementspre-chend heißt es in dem genannten Rahmenbeschlussweiter, dass sich die Mitgliedsstaaten “weiterhin nachKräften (bemühen), um zu gewährleisten, dass das Op-fer während des Verfahrens mit der gebührenden Ach-tung seiner persönlichen Würde behandelt wird” (Art.2 Abs. 1 Satz 2) und dass die Mitgliedsstaaten “diegebotenen Maßnahmen (ergreifen), damit ihre Behör-den Opfer nur in dem für das Strafverfahren erforderli-chen Umfang befragen” (Art. 3 Abs. 2). Aus alledemfolgt etwa, dass Erörterungen und Beweiserhebungenzu Privat- und insbesondere auch Intimleben einesZeugen, die zu dem Verfahrensgegenstand in keinemunmittelbaren Zusammenhang stehen, nur nach sorg-fältiger Prüfung ihrer Unerlässlichkeit statthaft sind.Dies ist bei der Leitung der Tätigkeit eines Sachver-ständigen (§ 77 StPO) ebenso zu berücksichtigen, wiebei der Zulassung von Fragen (§§ 68a, 241 Abs. 2StPO) und vor allem bei der Entscheidung über denUmfang der Beweisaufnahme (§ 244 Abs. 2 bis 4StPO). Der Grundsatz, dass eine ausufernde Aufklä-rung nicht geboten ist (vgl. hierzu Meyer-GoßnerStPO 47. Aufl. § 244 Rdn. 13 m. w. N.), hat in dem inRede stehenden Zusammenhang besonderes Gewicht.

1. Zur Ermittlung der Aussagetüchtigkeit und Glaub-haftigkeit der Aussagen der NebenklägerinDie Strafkammer hat sich zur Aussagetüchtigkeit undzur Glaubhaftigkeit der Aussagen der Nebenklägerinpsychiatrisch beraten lassen.

a. Zur Ermittlung der Aussagetüchtigkeit der Neben-klägerin“Aussagetüchtigkeit” bedeutet die Fähigkeit einesMenschen zu einer richtigen und vollständigen Aus-sage (vgl. nur Schumacher in StV 2003, 641). DerRichter, der glaubt, hierüber ohne sachverständige Hil-fe nicht befinden zu können, ist freilich in seiner Ent-scheidung frei, ob er einen Psychiater oder einen Psy-chologen beauftragt (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 4Satz 1 Glaubwürdigkeitsgutachten 4 m. w. N.). Psych-iatrische Beratung wird aber nur dann angezeigt sein,wenn die Zeugentüchtigkeit dadurch in Frage gestelltist, dass der Zeuge an einer geistigen Erkrankung lei-det oder sonst Hinweise darauf vorliegen, dass dieZeugentüchtigkeit durch aktuelle psychopathologischeUrsachen beschränkt sein kann (vgl. BGH StV 2002,293 m. w. N.). Ob für eine entsprechende Überprüfungüberhaupt Anhaltspunkte bestehen, hat der Richter (imErmittlungsverfahren der Staatsanwalt) zu entschei-den, der dem Sachverständigen die konkreten Gründefür die Notwendigkeit einer Begutachtung verdeutli-chen sollte. Nur so kann vermieden werden, dass, wiehier, der Sachverständige zwar zum Ergebnis kommt,es gebe keinen psychisch auffälligen Befund, er abergleichwohl eingehend untersucht und erörtert, ob dieNebenklägerin psychotisch, schwachsinnig oder sonsternsthaft gestört sein könnte. Ebenso wenig ist ange-zeigt, im Hinblick auf eine mögliche Einschränkungder Aussagetüchtigkeit durch Alkoholismus, über Jah-re zurück den nicht immer unproblematischen Umgangder Nebenklägerin mit Alkohol in allen Details undauch allen Peinlichkeiten - bis hin zur Frage eines Zu-sammenhangs zwischen Alkoholismus und dem zwarunaufgeräumten aber doch hygienisch einwandfreienZustand ihrer Wohnung - zu ermitteln und auch sach-verständig bewerten zu lassen, nur um dann zu demErgebnis zu kommen, jeder Zusammenhang zwischenAlkohol und der Aussage sei ausgeschlossen.

b. Zur Ermittlung der Glaubwürdigkeit der Nebenklä-gerinBei der Prüfung der Glaubhaftigkeit der Aussage imübrigen ist letztlich nicht zwischen allgemeiner Glaub-würdigkeit und spezieller Glaubwürdigkeit unterschie-den (vgl. schon BGH StV 1994, 64 m. w. N.; einge-hend Boetticher in NJW Sonderheft für G. Schäfer 8,12 m. w. N.); dementsprechend steht weniger die Fra-ge nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Zeu-

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gen im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft(sein “Leumund”) im Vordergrund, sondern vorrangigum die Analyse des Aussageinhalts, d. h. um eine me-thodische Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Gesche-hen bezogene Angaben einem tatsächlichen Erlebendes Zeugen entsprechen (vgl. BGHSt 45, 164; StV2002, 639, 640). Scharfe Abgrenzungen sind nichtimmer möglich, sondern richten sich nach den Um-ständen des Einzelfalles. So kann früheres Verhaltenv o rallem dann durchaus Schlussfolgerungen zulassen,wenn die entsprechenden Lebenssituationen mit derjetzigen vergleichbar sind. Fehlverhalten der Neben-klägerin bei oder nach der Beendigung privater Bezie-hungen könnte dann also etwa hier von Bedeutungsein, wenn auch hier die Beendigung einer privatenBeziehung im Raum stünde (vgl. etwa Maiwald inAK-StPO § 261 Rdn. 24). Dies ist jedoch, wie die Er-heblichkeit jeder anderen Hilfstatsache, vorab zu klä-ren. Es erscheint nicht angezeigt, vergleichbar der Fra-ge nach dem Alkoholismus, mit Hilfe zahlreicher Zeu-gen die Beendigung einer Reihe von privater Bezie-hungen genauestens nachzuzeichnen, Fehlreaktionenund Fehlverhalten der Nebenklägerin dabei in allenEinzelheiten zum Gegenstand der Beweisaufnahme(und teilweise auch Begutachtung) zu machen, nur umdann zu dem Ergebnis zu kommen, all dies sei gleich-gültig, weil es keinerlei Anhaltspunkte dafür gebe,dass zwischen dem Angeklagten und der Nebenkläge-rin je irgendeine Beziehung bestanden hätte.

2. Zur fehlenden Ermittlung bzgl. weiterer sexuellerKontakte der NebenklägerinNoch weniger zu erkennen ist die Notwendigkeit, so,wie geschehen, eingehend - ohne dass sich im übrigenirgend ein Anhaltspunkt ergeben hätte - etwa darüberBeweis zu erheben, ob die Nebenklägerin mit den fürdas Haus zuständigen Briefträgern und (oder) Kamin-kehrern Geschlechtsverkehr gehabt hat. Selbst wenndies, sei es auch gegen Geld, so gewesen wäre und sie

nicht bereit gewesen wäre, dies zuzugeben, hätte esvor solchen Beweisaufnahmen eingehender Überle-gung bedurft, ob sich dies überhaupt auf die Entschei-dung auswirken könnte. Von selbst versteht sich dieshier nicht. Für die ähnlich intensiv (und mit vergleich-barem Ergebnis) geprüfte Frage, ob die vor Jahren ge-gen die Nebenklägerin anonym vorgebrachte Beschul-digung einer Frau, die Nebenklägerin habe mit ihr einezunehmend von Gewalt geprägte sexuelle Beziehunggehabt und der damals minderjährige Sohn der Neben-klägerin sei einbezogen gewesen, entgegen den dama-ligen polizeilichen Ermittlungen nicht doch einen wah-ren Kern haben könne, gilt nichts anderes.

3. Zur Weigerung der Nebenklägerin, eine zweite Be-gutachtung durchführen zu lassenDie Nebenklägerin war nicht bereit, sich nochmalsbegutachten zu lassen (vgl. oben II. 1.). Die - unbe-schadet aller rechtlichen Einzelheiten jedenfalls nichtwünschenswerte - Weitergabe der Akten durch dieNebenklägerin an ihr Umfeld (vgl. oben II. 2. vor a.)nach den eingehenden Ermittlungen in diesem Umfeldzu ihrem Privatleben deutet in ähnliche Richtung. Esliegt nahe, dass es sich bei alledem um Gegenreaktio-nen der Nebenklägerin darauf handelt, dass bei ihr derEindruck erweckt wurde, nicht die Frage, ob sie Opfereiner Straftat wurde, stehe im Mittelpunkt des Verfah-rens, sondern Ausforschung und Bewertung ihres Le-bens (“erste lesbische Erfahrungen ca. 1985") mit allseinen Stärken (“Übersiedlung aus der DDR bewäl-tigt”) und Schwächen (“episodischer Alkoholmiss-brauch”).Auch wenn vorliegend weder ein Nutzen weiterer Be-gutachtung noch eine Beeinträchtigung des Werts we-sentlicher Aussagen erkennbar ist, wird durch das auf-gezeigte Verhalten der Nebenklägerin im Verfahrendoch deutlich, dass durch Art und Umfang der sie be-treffenden Überprüfungen in der Tendenz selbst dasZiel der Wahrheitsermittlung eher gefährdet als ge-fördert wurde.

Standort: § 260 III StPO Problem: Verhältnis Einstellung und Freispruch

BGH, URTEIL VOM 16.02.20055 STR 14/04 (NJW 2005, 1287)

Problemdarstellung:Der Angeklagte war in den 70er Jahren Kommandeureiner Spezialeinheit der DDR. Das spätere Opfer hattebereits mehrfach zuvor an der deutsch-deutschenGrenze die seitens der DDR aufgestellten Minen abge-baut und die Führung der DDR, die das Vorhanden-sein solcher Minenfallen stets geleugnet hatte, dadurchpolitisch in Bedrängnis gebracht. Der Angelagte er-

hielt deshalb den Befehl, das Opfer bei einer weiterenentsprechenden Aktion festzunehmen oder zu “ver-nichten”. Als das Opfer wieder versuchte, Sprengfal-len auf dem Gebiet der DDR abzubauen oder auszulö-sen, lauerten ihm der Angeklagte und mehrere Ange-hörige seiner Einheit auf. Das Opfer wurde jedoch aufdie verborgenen Soldaten aufmerksam und schoss aufdiese. Im Laufe des folgenden Schusswechsels wurdedas Opfer dann getötet. Das Landgericht hatte das Ver-fahren gem. § 260 III StPO wegen Verjährung des ver-wirklichten Delikts der Aufforderung zur Begehung

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eines Mordes (§ 227 I StGB-DDR i.V.m. § 112 StGB-DDR) eingestellt. Der BGH hob dieses Urteil auf undsprach den Angeklagten frei.

Prüfungsrelevanz:Wegen der erheblichen politischen Bedeutung der da-maligen Vorgänge, wegen der darin enthaltenen inter-essanten materiell-rechtlichen und prozessualen Pro-bleme und weil die meisten Prüfer einer Generationentstammen, für die der innerdeutsche Konflikt unddie damit verbundenen individuellen Dramen Teil desAlltags waren, ist zu erwarten, dass Konstellationenwie die vorliegende durchaus Gegenstand von Prü-fungsaufgaben, insb. in mündlichen Prüfungen seinwerden. Der vorliegende Fall ist allerdings dadurchgekennzeichnet, dass der Schwerpunkt der Problemenicht im materiell-rechtlichen, sondern im prozessua-len Bereich liegen, was ihn eher für eine Verwertungim 2. Staatsexamen privilegiert.Da die Handlung des Angeklagten auf dem Gebiet derDDR erfolgte, setzt eine Verurteilung voraus, dass seinVerhalten überhaupt nach dem Recht der DDR strafbarwar (Art. 315 Abs. 1 EGStGB i.V.m. § 2 StGB).Eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen Beteiligungan einem Mord nach DDR-Strafrecht (§ 112 StGB-DDR) hatte das Landgericht abgelehnt, da sich dieDDR-Soldaten, die das Opfer erschossen hatten, we-gen der von diesem zuerst abgefeuerten Schüsse ineiner Notwehrlage befunden hätten (oder zumindest ineinem entsprechenden Erlaubnistatbestandsirrtum), sodass die Tötung des Opfers keinen strafbaren Morddarstellte. Da jedoch nicht geplant war, dass das Opferzuerst schießen und die Soldaten in eine Notwehrlagebringen würde, hat das Landgericht zwar eine Straf-barkeit wegen Aufforderung zur Begehung eines Mor-des (§ 227 I StGB-DDR i.V. mit § 112 StGB-DDR)angenommen; diese ist jedoch mittlerweile verjährt.Vom Landgericht nicht geprüft wurde, ob vielleichtnach BRD-Strafrecht eine Tat gegeben war, die nochnicht verjährt wäre. Das Strafrecht der BRD ist auf denvorliegenden Fall anwendbar, da insb. das Opfer Bür-ger der BRD war (§ 7 I StGB). Der BGH prüft inso-fern das Vorliegen einer versuchten Anstiftung zumMord (§§ 30 I, 211 StGB), die auch gem. § 78 II StGBnicht verjähren würde. Eine solche lehnte der BGHjedoch ab, da der Angeklagte sich keine Verwirkli-chung von Mordmerkmalen durch die handelnden Sol-daten vorgesetllt habe. Die vom Angeklagten verwirk-lichte versuchte Anstiftung zum Totschlag (§§ 30 I,212 StGB) hingegen ist verjährt.Das Landgericht hatte das Verfahren gem. § 260 IIIStGB eingestellt, da die vom Angeklagten tatsächlichbegangenen Delikte sämtlich verjährt waren. Der BGH

hingegen sprach den Angeklagten frei, da die schwere-ren der angeklagten Delikte nicht nachgewiesen wer-den konnten und der Freispruch insofern Vorrang habebzgl. der Einstellung wegen der Verjährung der - nach-weisbaren - minder schweren Delikte. Dies entsprichtnicht nur ständiger Rechtsprechung, sondern auch derherrschenden Literatur (BGHSt 1, 231; Meyer-Goßner,§ 260 Rn. 46).

Vertiefungshinweise:“ Zur Strafbarkeit von Angehörigen der NationalenVolksarmee der DDR wegen Tötung von Menschen ander innerdeutschen Grenze: BGHSt 39, 353; 40, 218,BGH, NJW 1993, 141; 1993, 1932; 1194, 2703; 2000,443; 2003, 522; LG Berlin, NJ 2000, 608“ Zum Verhältnis von Freispruch und Verfahrensein-stellung: BGHSt 1, 231, 235; 7, 256, 261; 13, 268;BGH, NStZ 985, 495; KG, DAR 2004, 459

Leitsatz:Befehl zur Tötung eines Demonteurs von Selbst-schussanlagen an der innerdeutschen Grenze.

Sachverhalt:Zur Perfektionierung der am 13. August 1961 begon-nenen Absperrmaßnahmen hatte die Regierung derDDR im Herbst 1961 damit begonnen, weite Teile derinnerdeutschen Grenze mit Minensperren zu versehen,um Flüchtlinge noch wirksamer von einer Flucht in dieBundesrepublik Deutschland abzuhalten. Nachdemanfangs hierzu Erdminen installiert worden waren,wurden zur Erhöhung der Wirksamkeit dieser Minen-sperren ab 1970 zunächst vereinzelt, ab Anfang 1972systematisch bis zu ihrem Abbau ab dem Jahre 1983Splitterminen des Typs SM-70 als sogenannte Anlage501 zur Grenzsicherung installiert. Dabei handelte essich um Selbstschussanlagen, die auf der der DDR zu-gekehrten Seite des Metallgitterzauns angebracht wa-ren und bei Belastung von verspannten Drähten aufmechanischelektrischem Weg eine Detonation auslös-ten. Darauf breitete sich eine kegelförmige Salve vonetwa 90 scharfkantigen Metallsplittern parallel zumMetallgitterzaun aus, wobei die kinetische Energieausreichte, um Menschen mit Sicherheit schwer zurverletzen oder auch zu töten. Viele Flüchtlinge erlittendurch diese Minen schwerste Verletzungen oder wur-den getötet. Die Regierung der DDR bestritt damalsdie Existenz derartiger Anlagen.G, der im Alter von 17 Jahren in der DDR wegen “Di-version im schweren Fall, staatsgefährdender Gewalt-akte, staatsgefährdender Propaganda sowie Hetze imschweren Fall” zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt,nach Verbüßung von neun Jahren und zehn Monaten

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dieser Strafe von der Bundesregierung “freigekauft”und 1971 in die Bundesrepublik Deutschland entlassenworden war, sann, geprägt von den in der DDR herr-schenden unmenschlichen Haftbedingungen, darauf,die DDR durch Präsentation der Selbstschussanlagenin der Weltöffentlichkeit bloßzustellen. In Verfolgungdieses Ziels montierte G in der Nacht zum 1. April1976 und in der Nacht zum 23. April 1976 jeweils inder Nähe zum späteren Tatort eine Splittermine ab.Die abgebauten Splitterminen präsentierte G verschie-denen Behörden der Bundesrepublik Deutschland,zwei Zeitschriften und der “Arbeitsgemeinschaft 13.August”. Diese Vorgänge versetzten die Dienststellender DDR bis hin zur ministeriellen Spitze in helle Auf-regung. Die DDR, die 1972 den Grundlagenvertragmit der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossenund 1975 an der Konferenz in Helsinki teilgenommenhatte und um internationale Anerkennung bemüht war,war durch den Abbau und die Verbringung der Minenin die Bundesrepublik Deutschland in aller Weltbloßgestellt und der Lüge überführt. Deshalb solltenweitere derartige Aktionen mit allen Mitteln unterbun-den und der oder die Täter unter allen Umständen einfür allemal ausgeschaltet werden. Spätestens durcheinen am 16. April 1976 in dem Magazin “Der Spie-gel” erschienenen Artikel wurde dem Ministerium fürStaatssicherheit der DDR bekannt, dass es G war, derin der Nacht zum 1. April 1976 die erste der beidenMinen abgebaut hatte. Spätestens daraufhin gab derMinister für Staatssicherheit Mielke den Befehl, weite-re Minendemontagen um jeden Preis zu verhindernund G bei einem neuerlichen Versuch, eine Mine SM-70 abzubauen, nicht nur möglichst festzunehmen, son-dern ihn ein für allemal endgültig auszuschalten und,wenn eine Festnahme, die vorrangig bezweckt war, umInformationen über mögliche Mittäter, Hintermänneroder Auftraggeber zu erhalten, nicht möglich sein wür-de, G keinesfalls entkommen zu lassen, sondern ihnnotfalls zu “vernichten”, also zu töten. Die Einzelhei-ten der Umsetzung dieser Anordnung überließ Mielkeseinen Untergebenen.Der Angeklagte war Kompaniechef einer speziellenEinsatzkompanie des Ministerium für Staatssicherheit.Deren Hauptaufgabe bestand in der “Wahrnehmungpolitisch-operativer und operativ-militärischer Einsät-ze”, insbesondere an der innerdeutschen Grenze. DieKompanie wurde vor allem in sogenannten “provoka-tionsgefährdeten Abschnitten” der Grenze eingesetzt,so bei Fahnenfluchten, zur Beobachtung innerhalb undaußerhalb militärischer Objekte in den Streitkräften, zuFotodokumentationen an der Grenze, bei spektakulä-ren Grenzzwischenfällen oder zur Beseitigung von“pioniertechnischen Anlagen” an der Grenze, wobeihäufig in dem der Grenzbefestigung vorgelagerten,

aber noch zur DDR gehörenden - als “feindwärts” be-zeichneten - Gelände, etwa bei Schleusungsmaßnah-men, unter konspirativen Bedingungen Öffnungen imMetallgitterzaun geschaffen werden mussten.Die Kompanie wurde konspirativ geführt. Jeder Ange-hörige dieser Einheit, als “Kämpfer” bezeichnet, hattezur Tarnung einen Decknamen und eine individuelleLegende. Die Einsatzkompanie galt nach außen alsselbständige Einheit der Grenztruppen, war wie einesolche uniformiert, strukturiert und bewaffnet, jedochin Wahrheit der Abteilung Äußere Abwehr, einer Un-terabteilung der Abteilung I des Ministeriums fürStaatssicherheit, unterstellt. Deren Leiter war derrechtskräftig - aus tatsächlichen Gründen mangels ef-fektiver Mitwirkung an dem Tötungsbefehl - freige-sprochene Mitangeklagte He. Leiter der Hauptabtei-lung I des Ministeriums für Staatssicherheit und damitunmittelbarer Vorgesetzter He s war GeneralleutnantKl. Die Hauptabteilung I war direkt dem Stellvertreterdes Ministers Mielke unterstellt.Während im Ministerium für Staatssicherheit noch dievorhandenen Unterlagen über G ausgewertet wurden,erhielt man dort Kenntnis vom zweiten Minenabbau,der in der Nacht zum 23. April 1976 erfolgt war. Na-mentlich aufgrund eines Hinweises ging man davonaus, dass wiederum G gehandelt habe und dass er vor-habe, im gleichen Bereich der Grenze weitere Minenabzubauen. Generalleutnant Kl berichtete dem Minis-ter Mielke und beauftragte den Oberstleutnant T, denLeiter des Bereichs Abwehr der Hauptabteilung I imGrenzkommando Nord, mit der Leitung des “EinsatzesSM-70". Hierbei gab Kl die von Mielke erteilte Wei-sung weiter, G bei einem neuerlichen Versuch, eineMine abzubauen, unter allen Umständen möglichstfestzunehmen und - wenn dies nicht gelingen sollte -ihn keinesfalls entkommen zu lassen, sondern ihn danngegebenenfalls zu “vernichten”. Die Befehlskette ver-lief mithin vom Minister Mielke über GeneralleutnantKl an Oberstleutnant T. Letzterer war damit nach demim Ministerium für Staatssicherheit geltenden Prinzipder Einzelleitung am Ort verantwortlich für diesenEinsatz und hatte dort das Kommando.Am 24. April 1976 erteilte der frühere MitangeklagteHe - auf Anordnung Kl s - dem Angeklagten S denBefehl, mit von ihm auszuwählenden Kräften seinerEinsatzkompanie sofort zum Grenzregiment 6 nachSchönberg zu Oberstleutnant T zu fahren, um dort ent-sprechend dem vorgegebenen Einsatzziel, “Grenzpro-vokationen” unter allen Umständen zu verhindern undden oder die Täter unbedingt festzunehmen und -wenn dies nicht gelingen würde - diese notfalls zu tö-ten, sofort zum Einsatz zu kommen. Der Angeklagtewurde auch in groben Zügen darüber informiert, dassim Sicherungsabschnitt XII des Grenzregiments 6 zu-

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vor Splitterminen SM-70 abgebaut und entwendetworden waren und dass mit Hilfe der Einsatzkompanie“feindwärts” ein Hinterhalt angelegt werden sollte. Obihm dabei auch der Name G genannt wurde, hat dasLandgericht nicht feststellen können. Die vom Minis-ter Mielke gegebene Anordnung wurde dem Ange-klagten im Kern vom früheren Mitangeklagten He alsZielvorgabe mitgeteilt. Der Angeklagte wählte darauf-hin aus seiner Einsatzkompanie die nach seiner Ein-schätzung für das vorgegebene Einsatzziel am bestengeeigneten elf “Kämpfer” aus und begab sich mit ih-nen sogleich nach Schönberg. Jeder “Kämpfer” warmit einer Maschinenpistole der Marke “Kala-schnikow” ausgerüstet, die Gruppe zudem mit zweileichten Maschinengewehren.Noch am 24. April 1976 fanden zunächst eine Orts-besichtigung des in Betracht kommenden Grenzab-schnitts, an der auch der Angeklagte teilnahm, sowieeine anschließende Besprechung, an der sowohl derAngeklagte als auch Oberstleutnant T teilnahmen,statt. Bei dieser Besprechung wurden die Maßnahmenfestgelegt, die getroffen werden sollten, um den vonMinister Mielke über Generalleutnant Kl an Oberst-leutnant T gegebenen Befehl zu erfüllen. Die bei die-ser Besprechung beschlossenen Maßnahmen wurdenGrundlage des folgenden Einsatzes am Ort. Dies warder “Große Grenzknick” bei der Grenzsäule 231 derBundesrepublik Deutschland. Hier verlief die Grenzein einem rechten Winkel, dessen inneres Viertel - süd-östlich - zur DDR gehörte. Gegenüber der im Westenund Norden verlaufenden Grenze war der Metallgitter-zaun mit den Selbstschussanlagen um 30 Meterrückwärts gebaut, so dass sich vor diesem Zaun ein 30Meter breiter Streifen von DDR-Gebiet erstreckte.Man rechnete damit, dass G in den nächsten Tagenwieder versuchen würde, mit Hilfe einer Anlegeleiteran eine Mine heranzukommen, um diese abzubauen.Man rechnete mit zwei bis drei Begleitern G s und ei-ner Bewaffnung aller Personen. Deshalb sollte “feind-wärts” des Metallgitterzauns ein Hinterhalt gelegt wer-den, um G dort zu überraschen, festzunehmen und aneiner eventuellen Flucht zurück auf das Territoriumder Bundesrepublik Deutschland zu hindern, wobei alsletzte Möglichkeit seine Tötung ins Auge gefasst war.Sollte die Staatsgrenze der DDR durch “provokatori-sche Handlungen” an den “pioniertechnischen Anla-gen” verletzt oder sollten diese sichtbar angegriffenwerden, waren die Personen festzunehmen; dieSchusswaffe war anzuwenden, wenn keine andereMöglichkeit zur Realisierung der vorgenannten Ziel-stellung vorhanden sein würde. Die Feuerführung soll-te parallel zur Staatsgrenze erfolgen.Der Angeklagte akzeptierte bei dieser Besprechungdas vorgegebene Ziel “festzunehmen bzw. zu vernich-

ten”, also gegebenenfalls “zu töten”. Als Chef der Ein-satzkompanie hatte er bei der Besprechung einen ge-wichtigen und für die Ausgestaltung der Einzelheitendes Einsatzes maßgeblichen Einfluss, wenngleichOberstleutnant T den Einsatz am Ort leitete. Der An-geklagte war am Ort der “Mann der Praxis”, der seinenSachverstand einbrachte und wusste, wie man am be-sten Hinterhalte legte. Er brachte bei der Besprechungauch eigene Verbesserungsvorschläge ein. Wie in derBesprechung beauftragt, rekrutierte er aus seiner Ein-satzkompanie einen weiteren Zugführer und siebenweitere “Kämpfer”.In einer “Information” vom 25. April 1976 teilteOberstleutnant T dem Generalleutnant Kl das Ergebnisder Beratung vom Vortage mit. Auch darin ist die“Festnahme bzw. Vernichtung der Täter” genannt. Klwar mit diesen Maßnahmen einverstanden. Der Ange-klagte diktierte am 25. April 1976 einen internen“Maßnahmeplan”, der zu Dokumentationszweckengefertigt wurde und den am Ort eingesetzten “Kämp-fern” nicht im Wortlaut mitgeteilt wurde. Darin ist alsEinsatzziel benannt, “den oder die Täter festzunehmenbzw. zu vernichten”. Ferner heißt es dort: “Die An-wendung der Schusswaffe erfolgt, wenn keine andereMöglichkeit zur Realisierung der vorgenannten Ziel-stellung vorhanden ist. Die Feuerführung erfolgt par-allel zur Staatsgrenze.” Am 26. April 1976 verdichte-ten sich die Hinweise, dass ein neuerlicher Versuch Gs, im relevanten Grenzbereich erneut eine Splittermineabzubauen, unmittelbar bevorstand. Oberstleutnant Tsandte daraufhin an Generalleutnant Kl zwei chiffrier-te Telegramme, in denen die “Festnahme oder Ver-nichtung des zu erwartenden Täters” als Ziel der Ope-ration genannt ist.G beobachtete am 29. April 1976 nachmittags in derNähe der Grenzsäule 231 das Gelände mit einem Fern-glas und wurde dabei von Mitarbeitern des Ministeri-ums für Staatssicherheit beobachtet und fotografiert. Inder Tatnacht zum 1. Mai 1976, einer dunklen Neu-mondnacht, waren die Splitterminen im Bereich desGrenzknicks abgeschaltet, um eine Gefährdung der“Kämpfer” auszuschließen. Der Metallgitterzaun war“freundwärts” durch zwei am Grenzknick angebrachteScheinwerfer erleuchtet, die parallel zum Zaun ausge-richtet waren und den ”freundwärts” befindlichen Ge-ländestreifen am Zaun erleuchteten. Das vorgelagerteGelände lag völlig im Dunkeln. “Feindwärts” des Zau-nes, etwa fünf Meter von diesem entfernt, lagen vierMitglieder der Einsatzkompanie im Gras, nämlich dieZeugen L, R, Wi und Li. “Freundwärts” waren zahlrei-che Kräfte eingesetzt, die über einen zentralen Füh-rungspunkt durch eineTelefonverbindung mit Oberstleutnant T verbundenwaren.

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G hatte zwei Helfer gewonnen, um mit ihnen zum drit-ten Mal eine Splittermine abzubauen, die Zeugen Lieund U. Sie begaben sich zu dritt am 30. April 1976gegen 22.30 Uhr zur Grenzsäule 231. Alle drei warenmit scharfen Schusswaffen ausgerüstet, G und Lie je-weils mit einer geladenen Pistole, U mit einer gelade-nen abgesägten Schrotflinte. G führte ferner diversesWerkzeug zum Abbau einer Mine mit und war miteinem langen schwarzen Mantel bekleidet. Alle dreihatten sich ihre Gesichter, Hände und Turnschuhe mitSchuhcreme geschwärzt.Bei Beobachtung der Grenzsicherungsanlagen fiel ih-nen als Veränderung auf, dass Scheinwerfer installiertworden waren, die das Gelände hinter dem Zaun aus-leuchteten, während das vorgelagerte Gelände zwi-schen Grenze und Zaun völlig im Dunkeln lag. Uwollte zudem verdächtige Geräusche wie ein metalli-sches Klicken oder Schritte gehört haben. Lie und Ukonnten mit der Äußerung ihrer Bedenken angesichtsder ihnen “unheimlich” erscheinenden Situation Gnicht zur Aufgabe des Plans, sondern lediglich zu des-sen Modifizierung bewegen. G hatte nunmehr die Idee,die Mine an der Ecke des Zaunes - statt sie abzubauen- wenigstens zu zünden, um der DDR zu signalisieren,“dass er wieder einmal zugeschlagen” habe. Damit,dass sich in dem DDR-Gelände vor dem Zaun Grenz-posten aufhalten oder dort gar einen Hinterhalt gelegthaben würden, rechnete keiner der drei Männer. Lieund U postierten sich in der Nähe zur Grenzsäule 231,voneinander getrennt. Zwischen G und ihnen war ab-gesprochen, daß sie beide beim Erscheinen von Grenz-soldaten “Halt! Grenzschutz!” oder etwas ähnlichesrufen und notfalls G s Rückzug durch den Einsatz ih-rer Waffen sichern sollten. G schlich sich nun gebücktauf den Grenzknick und die Ecke des Zaunes zu. “Daman wegen der zuvor wahrgenommenen GeräuscheArgwohn geschöpft hatte” und das Vorhaben nun we-gen der Nähe zum Zaun ganz besonders gefährlichwurde, zog G seine durchgeladene Pistole hervor.Der Zeuge Li, der seine Maschinenpistole befehlswid-rig neben sich gelegt hatte, möglicherweise zwischen-zeitlich auch eingeschlafen war, bemerkte als ersterder “feindwärts” eingesetzten Posten den G, der sich ingebückter Haltung bis auf etwa fünf bis zehn Meterder Ecke des Metallgitterzaunes genähert hatte. Ligriff daraufhin nach seiner abgelegten Maschinenpis-tole, wobei er ein metallisches Geräusch, möglicher-weise durch Anstoßen der Waffe gegen einen Stein,verursachte. Das Landgericht hat nicht ausschließenkönnen, daß G das metallische Geräusch, dessen Ursa-che nur wenige Meter entfernt war, wahrnahm undihm nun klar war, dass er in einen Hinterhalt derGrenzposten geraten war. Das Landgericht hat weiter-hin nicht ausschließen können, dass G in dieser Situa-

tion jedenfalls als erster mindestens einen, nicht aus-schließbar aber auch einen zweiten Schuss in Richtungdes Geräusches und damit der Posten abgab. Wie wei-terhin nicht ausschließbar, werteten die vier “feind-wärts” eingesetzten Posten diesen Schuss - möglicher-weise auch zwei Schüsse - G s als Angriff auf ihr Le-ben; sie schossen daraufhin zurück. Als erster schoss -nahezu zur gleichen Zeit wie G - Li mit seiner Maschi-nenpistole auf G , wobei der zeitliche Abstand so ge-ring war, dass sich die Schussgeräusche der Pistoleund der Maschinenpistole akustisch überlagerten.Auch die drei anderen Posten eröffneten nun sofort dasFeuer auf G. Alle vier schossen mit Dauerfeuer.G wurde noch in aufrechter oder gebückter Haltungvon drei Kugeln im Oberkörper getroffen, wobei einGeschoss Herz, Lunge und Rückenmark durchschlug,was zum Zusammenbruch des Kreislaufs und zumHerztod führte, so dass G sofort zusammensackte. Da-nach gaben die vier Posten weitere, mehrere Sekundendauernde Feuerstöße in Richtung des liegenden G ab,der von zahlreichen Schüssen getroffen wurde. Nachdieser ersten Schussfolge trat eine kurze Pause ein. EinScheinwerfer an der Ecke des Zaunes wurde auf dasvorgelagerte Gelände geschwenkt.Bei Beginn der Schießerei waren Lie und U aus Angst,selbst beschossen zu werden, in das Hinterland ge-flüchtet. Lie trat dabei auf einen Ast und verursachteein knackendes Geräusch. Das Landgericht hat nichtausschließen können, dass der Posten L diesesKnacken wahrnahm und befürchtete, auf westlichemGebiet könnten sich bewaffnete Komplizen G s befin-den. Möglicherweise rief L, um im Scheinwerferlichtnicht selbst ein leichtes Ziel abzugeben und ein freiesSchußfeld zu haben: “Licht aus! Weg da vorne!” Wäh-renddessen hatte U den Eindruck, von Seiten der DDRkämen zwei Scheinwerfer, die er für Autoscheinwerferhielt, auf ihn zu. Er gab daher mit der abgesägtenSchrotflinte einen Schuss in Richtung dieser vermeint-lichen Autoscheinwerfer ab. Möglicherweise als Re-aktion auf diesen Schuss gab der Posten L in Richtungdes Standorts U s einen oder zwei kurze Feuerstößeab. Mehrere Geschosse schlugen auf dem Gebiet derBundesrepublik Deutschland im Baumwerk ein. Lieund U flüchteten. Sofort nach dem Tatgeschehen setz-ten von höchster Stelle angeordnete Vertuschungs-maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit ein.Insbesondere wurde die Leiche G s anonym obduziert.Alle Schützen wurden mit einem Orden ausgezeichnet,den sie jedoch nicht tragen durften.

Aus den Gründen:

I. Entscheidung des LandgerichtsDie zugelassene Anklage wirft dem Angeklagten einen

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Totschlag vor: er habe in der Zeit vom 26. bis 30.April 1976 - gemeinschaftlich und durch andere han-delnd - die Tötung des G an der innerdeutschen Gren-ze organisiert und herbeigeführt. Das Landgericht hatdurch das angefochtene Urteil das Verfahren gegenden Angeklagten wegen eingetretener Verfolgungs-verjährung eingestellt. Die hiergegen gerichtete, aufdie Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaftbleibt ohne Erfolg, soweit das Rechtsmittel zuunguns-ten des Angeklagten eingelegt ist, führt vielmehr nach§ 301 StPO zur Änderung des angefochtenen Urteilsdahin, dass der Angeklagte freigesprochen wird.[...] Das Landgericht hat das festgestellte Geschehenim wesentlichen folgendermaßen rechtlich gewürdigt:Es ist sowohl hinsichtlich der ersten als auch hinsicht-lich der zweiten Schussfolge der DDR-Schützen zurAnnahme von Notwehr gelangt, weil zum erstenHandlungsteil nicht auszuschließen sei, dass G als ers-ter schoss, und die zweite Schussfolge eine Reaktionauf den Schuss des Zeugen U gewesen sei. Deshalbhat das Landgericht unter dem Gesichtspunkt der“überholenden Kausalität” angenommen, dass einevom Angeklagten nicht geplante Kausalkette in Ganggesetzt worden sei, weshalb ein vollendetes Tötungs-delikt (Mord nach § 112 StGB-DDR) nicht vorliege.Der Angeklagte habe lediglich eine erfolglose Auf-forderung zur Begehung eines Mordes (nach § 227Abs. 1 i.V. mit § 112 StGB-DDR) begangen. Da dieVerfolgung dieses Deliktes verjährt sei, sei das Ver-fahren nach § 260 Abs. 3 StPO einzustellen.Eine etwa fortbestehende Verfolgbarkeit der Tat nachdem Recht der Bundesrepublik Deutschland ist im Ur-teil nicht erörtert.

II. Entscheidung des BGHDie Revision der Staatsanwaltschaft führt allein zueiner Änderung des Urteils zugunsten des Angeklag-ten.

1. Zur Sachrüge zu Gunsten des AngeklagtenDas angefochtene Urteil enthält keinen sachlichrecht-lichen Fehler zum Vorteil des Angeklagten, soweit esdie Beweiswürdigung und die Subsumtion der getrof-fenen Feststellungen unter das sachliche Recht betrifft.

a. Zur Beweiswürdigung des LandgerichtsDie Beweiswürdigung ist rechtsfehlerfrei.Namentlich geht die Einzelbeanstandung der Be-schwerdeführerin fehl: Die sachlichrechtlichen Ein-wände gehen allein dahin, dass die Feststellung, derZeuge U habe nach der ersten Schussfolge mit der ab-gesägten Schrotflinte einen Schuss in Richtung derScheinwerfer abgegeben, einzig auf die Bekundungendieses Zeugen gestützt wird, während sich aus der

schriftlichen Erklärung des Zeugen L, die dieser alsBeschuldigter in dem Verfahren vor dem LandgerichtSchwerin unter dem 9. November 1999 abgegeben hat,die Wahrnehmung eines solchen Schusses nicht erge-be. Der Zeuge U hat einen solchen von ihm abgegebe-nen Schuss kontinuierlich - in der polizeilichen Ver-nehmung vom 1. Mai 1976, in der staatsanwaltschaftli-chen Vernehmung vom 20. Oktober 1992 sowie in derHauptverhandlung - und jeweils detailreich geschil-dert. Es begründet keinen sachlichrechtlichen Fehler,dass das Landgericht diesem substantiierten Einge-ständnis des Schützen U gefolgt ist, ohne in diesemZusammenhang darauf Bezug zu nehmen, dass derZeuge L diesen Schuss in einer früheren Erklärungnicht geschildert hat. Soweit die Revision darüber hin-aus an das Protokoll der landgerichtlichen Hauptver-handlung anknüpft, ist dies - angesichts der allein er-hobenen Sachrüge - unbeachtlich.

b. Zur rechtlichen Würdigung des LandgerichtsAuch die rechtliche Würdigung enthält keinen Rechts-fehler zum Vorteil des Angeklagten.

aa. Zur Strafbarkeit des Angeklagten nach DDR-RechtDas gilt zunächst für die Würdigung nach dem Rechtder DDR.Eine Strafbarkeit des Angeklagten würde (auch) vor-aussetzen, dass er sich mit der in der DDR begangenenTat nach dem dort zur Tatzeit geltenden Recht strafbargemacht hätte (§ 2 StGB i.V. mit Art. 315 Abs. 1EGStGB).Eine Beteiligung an einem Tötungsdelikt gegen G oderseine Begleiter in Form der Täterschaft, Anstiftungoder Beihilfe liegt nach den Feststellungen nicht vor:die vier Schützen schossen zunächst - nicht aus-schließbar - in der ersten Schussfolge als Reaktion aufden einen Schuss oder die zwei von G möglicherweisezuerst auf sie selbst abgegebenen Schüsse. Die in derzweiten Schussfolge von L in Richtung des StandortsU s abgegebenen Schüsse waren - nicht ausschließbar- eine Reaktion auf den Schuss U s mit der Schrotflin-te. Danach kann in allen Schüssen der DDR-Schützen,weil in Notwehr nach § 17 Abs. 1 StGB-DDR began-gen, “keine Straftat” gefunden werden. Dies hat zurFolge, dass der Angeklagte an diesen Taten weder alsTäter (§ 22 Abs. 1 StGB-DDR), noch als Mittäter (§22 Abs. 2 Nr. 2 StGB-DDR), noch als Anstifter (§ 22Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR) oder als Gehilfe (§ 22 Abs. 2Nr. 3 StGB-DDR) beteiligt sein kann.Vielmehr liegt im Verhalten des Angeklagten lediglicheine erfolglose Aufforderung zur Begehung einesMordes nach § 227 Abs. 1 i.V. mit § 112 StGB-DDR.Es sei angemerkt, dass das Landgericht Schwerin unterdem Gesichtspunkt der Notwehr oder der Putativnot-

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wehr drei der Schützen vom Vorwurf des versuchtenMordes rechtskräftig (vgl. BGH, Beschluss nach § 349Abs. 2 StPO vom 24. April 2001 - 4 StR 410/00) frei-gesprochen hat, nachdem das Verfahren gegen denvierten Schützen nach § 170 Abs. 2 StPO eingestelltworden war.Die Tat des Angeklagten war nicht gerechtfertigt. ZurTatzeit war der Schusswaffengebrauch der hier tätiggewordenen speziellen Einsatzkompanie des Ministe-riums für Staatssicherheit allein durch die vom Minis-ter für Staatssicherheit erlassene Ordnung über denGebrauch von Schusswaffen für die Angehörigen desMinisteriums für Staatssicherheit - Schusswaffenge-brauchsordnung - vom 5. Februar 1976 geregelt. Dieseentsprach in den hier in Betracht kommenden Teilennahezu gleichlautend der für die regelmäßig denDienst an der Grenze versehenden Grenztruppen gel-tenden Dienstvorschrift DV 018/0/008 “Einsatz derGrenztruppen zur Sicherung der Staatsgrenze - Grenz-kompanie” vom 5. August 1974. Diese allein internenVerwaltungsvorschriften waren schon als solche nichtgeeignet, vorsätzliches tödliches Schießen an der in-nerdeutschen Grenze zu rechtfertigen. Entsprechendhat der Senat bereits im Urteil BGHSt 39, 353, 366 f. -zu der “Vorschrift über die Organisation und Führungder Grenzsicherung in der Grenzkompanie” (DV -30/10) vom 8. Februar 1964 - entschieden.Eine anderweitige Rechtfertigung ergibt sich aus demRecht der DDR nicht. Vielmehr gilt folgendes: DieStaatspraxis der DDR, die die vorsätzliche Tötung vonFlüchtlingen durch Schusswaffen, insbesondere auchdurch Selbstschussanlagen und Minen zur Vermeidungeiner Flucht aus der DDR in Kauf nahm, war wegenoffensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen ele-mentare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völker-rechtlich geschützte Menschenrechte nicht geeignet,die Täter zu rechtfertigen (BGHSt 40, 218, 232m.w.N.). Diese für die vorsätzliche Tötung von Flücht-lingen entwickelten Grundsätze müssen auch auf denvorliegenden Fall Anwendung finden, in dem versuchtwurde, eine Selbstschussanlage zu demontieren.Wenngleich es hier nicht um die Verhinderung einerFlucht aus der DDR im Einzelfall geht, steht das Tundes Angeklagten im Gesamtzusammenhang der Siche-rung der eben beschriebenen Staatspraxis der DDR. Esmuss daher der entsprechenden rechtlichen Bewertungunterfallen.Die Verfolgung des Deliktes nach § 227 Abs. 1 i.V.mit § 112 StGB-DDR, das mit Freiheitsstrafe bis zuzwei Jahren bedroht war und für das nach § 82 Abs. 1Nr. 2 StGB-DDR eine Verjährungsfrist von fünf Jah-ren galt, ist jedoch mit Ablauf des 2. Oktober 2000verjährt (§ 315a Abs. 2 EGStGB i.d.F. des 3. Verjäh-rungsgesetzes vom 22. Dezember 1997, BGBl I 3223).

Gleichzeitig ist die absolute Verjährung eingetreten (§78c Abs. 3 Satz 2 StGB i.V. mit Art. 315a Abs. 1 Satz3 letzter Halbsatz EGStGB).

bb. Zur fehlenden Prüfung der Strafbarkeit des Ange-klagten nach BRD-RechtAuch begründet es keinen durchgreifenden Rechts-fehler, dass das Landgericht nicht erörtert hat, ob dieTat im Hinblick auf einen etwaigen Strafanspruch derBundesrepublik Deutschland noch geahndet werdenkann. Im Ausgangspunkt zutreffend hat der General-bundesanwalt darauf hingewiesen, dass ein Strafan-spruch der Bundesrepublik Deutschland entstanden ist,der möglicherweise nicht verjährt sei. Indes greift die-ser Gesichtspunkt im Ergebnis nicht durch.

(1) Zur Anwendbarkeit des Strafrechts der BRDAllerdings findet auf die Tat das Strafrecht der Bun-desrepublik Deutschland schon deshalb Anwendung,weil das Tatopfer ein Bürger der BundesrepublikDeutschland sein sollte (§ 7 Abs. 1 StGB). Danachkommt es auf die weiterhin vom Generalbundesanwaltangestellte Erwägung im Ergebnis nicht an, dass sichdie Anwendung des Strafrechts der BundesrepublikDeutschland auch aus §§ 3, 9 Abs. 1 StGB etwa darausergeben könnte, dass der Angeklagte die Vorstellunggehabt hätte, es würde über die Grenze der DDR hin-aus geschossen werden, so dass der Tatort (auch) inder Bundesrepublik Deutschland liegen sollte. Hierzuist zu bemerken: Es liegt fern, dass der Angeklagte mitder Möglichkeit rechnete, die Tötung G s oder seinerHelfer würde auf dem Gebiet der BundesrepublikDeutschland erfolgen. Vor dem Metallgitterzaun lagein 30 Meter breiter zum Territorium der DDR gehöri-ger Geländestreifen. Die Planung ging dahin, G undseine Begleiter unmittelbar vor dem Zaun, also aufdem Gelände der DDR zu stellen. Dabei wollte man -offenbar zur Vermeidung politischer Komplikationen -Schüsse auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutsch-land vermeiden. So wurde schon in der Besprechungam 24. April 1976 beschlossen, dass die Feuerführungparallel zur Staatsgrenze erfolgen sollte. Ebenso heißtes im “Maßnahmeplan” vom 26. April 1976: “DieFeuerführung erfolgt parallel zur Staatsgrenze”. Dassschließlich gleichwohl Schüsse auf dem Gebiet derBundesrepublik Deutschland einschlugen, kann einenentsprechenden Vorsatz des Angeklagten nicht näher-liegend erscheinen lassen.

(2) Zum Fehlen einer verfolgbaren Straftat nach demRecht der BRDEine nach dem Strafrecht der BundesrepublikDeutschland strafbare Tat wäre hier nur dann nochverfolgbar, wenn es sich um eine versuchte Anstiftung

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zu einem Mord (§ 30 Abs. 1 i.V. mit § 211 StGB) han-deln würde (§ 78 Abs. 2 StGB). Indes ergibt sich ausden Feststellungen die versuchte Anstiftung zu einemMord, zu dessen Begründung allein das Merkmal derHeimtücke in Betracht kommt, nicht.Heimtückisch handelt, wer eine zum Zeitpunkt desAngriffs bestehende Arg- und Wehrlosigkeit des Op-fers bewusst zur Tat ausnutzt (Tröndle/ Fischer, StGB52. Aufl. § 211 Rdn. 16 m.N. der st. Rspr.). Jedochentfällt die Arglosigkeit des Opfers dann, wenn es imTatzeitpunkt mit einem schweren oder doch erhebli-chen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheitrechnet (BGHSt 33, 363, 365; BGHR StGB § 211Abs. 2 Heimtücke 13, 27, 29; BGH NStZ-RR 2004,14, 15). So liegt es hier. G und seine Helfer, die nachdem vorangegangenen zweimaligen Abbau von Mineneine höchste Wachsamkeit der DDR-Organe voraus-setzten, rechneten - auf realer Grundlage und konkret -mit einem Angriff, als sie sich zu dritt scharf bewaff-net und mit geschwärzten Gesichtern, Händen undTurnschuhen der Grenze näherten. Ihre Skepsis stei-gerte sich, als U “verdächtige Geräusche wie ein me-tallisches Klicken oder Schritte gehört haben wollte”.Daher hebt das Landgericht zu Recht ausdrücklich her-vor, dass sie “Argwohn” hegten, gar als G gebückt mitgezogener und durchgeladener Pistole auf den Grenz-knick zuschlich. Nichts spricht für hiervon abweichen-de Vorstellungen des Angeklagten bei seinen Befeh-len. Die Verfolgung wegen versuchter Anstiftung zumTotschlag (§ 30 Abs. 1 i.V. mit § 212 StGB) ist ver-jährt. Die am 30. April 1976 beginnende Verjährungs-frist von 20 Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB) endeteam 29. April 1996. Diejenigen Vorschriften, die dieVerjährung von nach dem Strafrecht der DDR began-genen Straftaten ergänzend regeln, berühren den nachdem Recht der Bundesrepublik Deutschland entstande-nen Strafanspruch nicht, dessen Verjährung unter kei-nem Gesichtspunkt gehemmt ist. Die erste etwa unter-brechungstaugliche Handlung erfolgte mit der Be-kanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrensgegen den Angeklagten am 8. Juli 1996 (SachaktenBd. V Bl. 464 ff.).

2. Zur Erforderlichkeit der Freisprechung des Ange-klagtenDie Überprüfung des angefochtenen Urteils nach §

301 StPO führt jedoch zur Freisprechung des Ange-klagten.

a. Zum Fehlen von Fehlern des LandgerichtsAllerdings hat das Landgericht ohne einen den Ange-klagten benachteiligenden sachlichrechtlichen Fehlerzu den getroffenen Feststellungen und zu der recht-lichen Würdigung gefunden. Dabei hat es insbesonde-re die Planungen und organisatorischen Vorkehrungender Organe der DDR und die dazu beitragenden Hand-lungen des Angeklagten rechtsfehlerfrei festgestellt.Namentlich ist es dabei ohne Rechtsfehler zu der Fest-stellung gelangt, dass die beteiligten Führungskräfteder DDR einschließlich des Angeklagten die - in denDokumenten hinter dem Wort “vernichten” kaum ver-borgene - Tötung G s und seiner Helfer für den Fallgeplant hatten, dass diese Personen nicht würden fest-genommen werden können (vgl. BVerfGE 95, 96, 139;BGHSt 40, 218, 223 f. und 241, 242).

b. Zum Vorrang des Freispruchs vor der EinstellungIndes war nicht, wie geschehen, das Verfahren einzu-stellen, sondern auf Freispruch zu erkennen. Dies holtder Senat - mit der geänderten Kostenfolge nach § 467Abs. 1 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Mai 2004 -3 StR 126/04) - nach.Kann bei tateinheitlichem oder sonst rechtlichem Zu-sammentreffen eines schwereren und eines leichterenTatvorwurfs der schwerere nicht nachgewiesen werdenund ist der leichtere wegen Vorliegens eines unbeheb-baren Verfahrenshindernisses nicht mehr verfolgbar,so hat die Sachentscheidung Vorrang vor der Verfah-rensentscheidung, weil der schwerer wiegende Vor-wurf den Urteilsausspruch bestimmt (st. Rspr.: BGHSt1, 231, 235; 7, 256, 261 und 13, 268; BGH, Beschlussvom 4. Mai 2004 - 3 StR 126/04; ebenso schon RGSt66, 51; zustimmend das Schrifttum: Gollwitzer in Lö-we/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 260 Rdn. 103).So liegt es hier. Die dem Angeklagten durch die An-klage vorgeworfene vorsätzliche Tötung G s, Mordnach § 112 StGB-DDR, Totschlag nach § 212 StGB,die nicht verjährt wäre (vgl. nur BGHSt 42, 332, 336m.w.N.), konnte nicht festgestellt werden. Die alleinfestgestellte erfolglose Aufforderung zur Begehungeiner Tat nach § 227 Abs. 1 i.V. mit § 112 StGB-DDRist verjährt.

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Standort: § 211 StGB Problem: Mordmerkmale

BGH, URTEIL VOM 22.04.20052 STR 310/04 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:In dem vorliegenden Fall, der in der Presse als“Kannibalen-Fall” großes Aufsehen erregt hat, hatteder Angeklagte, der seit langem dadurch sexuell erregtwurde, dass er sich vorstellte, einen anderen Mann zu“schlachten”, ihn auszuweiden und sich sein Fleischeinzuverleiben, sich dazu entschlossen, diese Fantasiennunmehr in die Tat umzusetzen. Er suchte über dasInternet Kontakte zu Männern, die sich als Opfer fürein entsprechendes Vorhaben zur Verfügung stellenwürden. Es meldete sich auch das spätere Opfer, dendie Vorstellung sexuelle erregte, sich den Penis ampu-tieren zu lassen. Ob er nach diesem Akt, von dem ersich ein “ultimatives Hochgefühl” versprach, weiterle-ben würde oder nicht, war ihm egal, so dass die Zieleder beiden durchaus kompatibel erschienen. Nach ent-sprechender Vereinbarung besuchte das Opfer des An-geklagten, der den anderen, der zwischendurch dochBedenken bekam, dazu überredete, das Vorhaben um-zusetzen. Nach der erfolgten Penisamputation wurdedas Opfer bewusstlos, woraufhin der Angeklagte estöte und zerlegte. Den gesamten Vorgang nahm derAngeklagte auf Video auf. Später aß er Teile des Flei-sches und benutzte die Videos zur Selbstbefriedigung.Das Landgericht Kassel hatte den Angeklagten wegenTotschlags verurteilt. Der BGH hob diese Verurteilungauf, da das Vorliegen von Mordmerkmalen vom LGnicht hinreichend geprüft worden sei. Prüfungsrelevanz:Insb. wegen seiner großen Beachtung in der Öffent-lichkeit wird der vorliegende Fall mit Sicherheit zumGegenstand zahlreicher Prüfungsaufgaben, insb. inmündlichen Prüfungen werden. Allenfalls aufgrunddes etwas “ekeligen” Charakters des Sachverhalteskönnte Zurückhaltung erfolgen, denn die rechtlichenProbleme sind überaus interessant und - da es um Tö-tungsdelikte geht - auch klassischer Prüfungsstoff.Der BGH diskutiert im vorliegenden Fall insb. dasMordmerkmal “zur Befriedigung des Geschlechts-triebs”. Die Formulierung “zur Befriedigung” machtklar, dass hier ein finaler Zusammenhang zwischen derTötung des Opfers und der vom Täter erstrebten ge-schlechtlichen Befriedigung erforderlich ist (BGHSt19, 101; Tröndle/Fischer, § 211 Rn. 7); weiter wirdverlangt, dass der Getöte selbst Objekt der Sinneslustdes Täters ist und der Täter nicht etwa einen Menschen

tötet, um mit einem Dritten sexuell verkehren zu kön-nen (Tröndle/Fischer, § 211 Rn. 7). In der Vergangen-heit war dementsprechend ein Mord “zur Befriedigungdes Geschlechtstriebs” insb. dann angenommen wor-den, wenn der Täter sich durch den Tötungsakt selbstsexuelle Befriedigung verschaffen, sich nach der Tö-tung an der Leiche vergehen will oder der Tod des Op-fers als Folge einer Vergewaltigung zumindest billi-gend in Kauf nimmt. Im vorliegenden Fall bestand dieBesonderheit, dass der Täter sich die Befridigung nichtaus dem oder im unmittelbaren Zusammenhang mitdem Tötungsakt verschaffen wollte, sonder sich späterdie Aufzeichnung der Tötung ansehen und sich dabeiselbst befriedigen wollte. Ein Teil der Literatur fordertfür ein Handeln “zur Befriedigung des Geschlechts-triebs” i.S.v. § 211 StGB stets einen engen raum-zeitli-chen Zusammenhang zwischen dem Tötungsakt undder (angestrebten) Triebbefriedigung (LK-Jähnke, §211 Rn. 7; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, S. 42)und würde deshalb hier das Mordmerkmal verneinen.Der BGH spricht sich in der vorliegenden Entschei-dung gegen diesen Lösungsansatz aus und lässt aucheinen mittelbaren Zusammenhang genügen, sofern nurder Getötete Objekt der Lust des Täters bleibt.Auch spricht der BGH im vorliegenden Fall das Mord-merkmal “um eine andere Straftat zu ermöglichen” an.Hierbei diskutiert er insb., ob eine Störung der Toten-ruhe (§ 168 I StGB) als zu ermöglichende Straftat inBetracht kommt. Ein “beschimpfender Unfug” i.S.v. §168 I 2. Fall StGB an der Leiche des Opfers bestehegrundsätzlich darin, dass der Angeklagte den Getöte-ten nach der Tötung zerlegte und verspeiste. Der BGHdiskutiert dann, ob die vorher hierzu erteilte Zustim-mung des Opfers vielleicht als rechtfertigende Einwil-ligung oder als tatbestandsausschließendes Einver-ständnis in die Tathandlung zu berücksichtigen sei. Erbetont jedoch - in Übereinstimmung mit der herrschen-den Meinung (vgl. KG, NJW 1990, 782; Trönd-le/Fischer, § 168 Rn. 2; Roxin, JuS 1976, 505) -, dass§ 168 StGB neben dem postmortalen Achtungs-anspruch des Toten, auf den dieser u.U. verzichtenkönnte, jedenfalls auch noch das Pietätsgefühl der All-gemeinheit schützt. Da dieses kein disponibles Rechts-gut darstelle, sei i.R.v. § 168 StGB sowohl ein Einver-ständnis als auch eine Einwilligung ausgeschlossen.Der Angeklagte hatte mit seiner Revision gerügt, dasssein Verhalten eine Tötung auf Verlangen (§ 216StGB) darstelle. Bei Vorliegen des § 216 StGB ist je-doch nicht nur eine Strafbarkeit wegen Totschlags,sondern auch eine solche wegen Mordes ausgeschlos-sen (BGHSt 2, 258; Schönke/Schröder-Eser, § 216 Rn.2). Der BGH lehnte jedoch den Tatbestand des § 216

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StGB (ebenso wie das LG) ab, da der Angeklagte nichtdurch das Tötungsverlangen des Opfers zur Tat “be-stimmt” worden sei. Dieses Merkmal setze voraus,dass der Todeswunsch des Opfers das handlungsleiten-de Motiv des Täters bei der Tötung darstelle. DerBGH zieht hierbei insb. eine Parallele zu den subjekti-ven Mordmerkmalen, die auch nur dann angenommenwerden, wenn sie handlungsleitend sind (BGH, NJW1981, 932). Im vorliegenden Fall stelle ein Tötungs-verlangen des Opfers jedoch bereits deshalb keinhandlungsleitendes Motiv dar, weil das Opfer gar nichtunbedingt sterben wollte, sondern primär die Penisam-putation wünschte und der Angeklagte auch nichtdurch einen entsprechenden Wunsch des Opfers zu derTat bestimmt worden war, sondern seine eigenen sexu-ellen Fantasien ausleben wollte.In strafprozessualer Hinsicht erwähnungswürdig sinddie Ausführungen des BGH zur Überprüfbarkeit derBeweiswürdigung des Tatsachengerichts durch dasRevisionsgericht. Zwar enthält das vorliegende Urteilinsofern nichts Neues, denn der BGH führt nur diebisherige Rechtsprechung fort, dass die Beweiswürdi-gung grundsätzlich dem Tatsachengericht obliegt undvom Revisionsgericht allenfalls darauf überprüft wer-den kann, ob sie in sich widersprüchlich oder lücken-haft ist oder gegen die Gesetze der Logik oder die Le-benserfahrung verstößt (BGHSt 10, 208; BGH, StV1986, 421; Meyer-Goßner, § 337 Rn. 26 ff.). Bemer-kenswert ist jedoch, dass der BGH davon ausgeht, dassdas Urteil des Landgerichts einen solchen revisiblenFehler enthalte, indem das Landgericht bei seiner Be-weiswürdigung etwas voraussetze, das eigentlich erstbewiesen werden müsse.

Vertiefungshinweise:“ Zur Überprüfung der Beweiswürdigung des Tatsa-chengerichts durch das Revisionsgericht: BGH, JR1957, 386; NStZ 1983, 277; 1984, 180; Pelz, NStZ1993, 362; Schäfer, StV 1995, 545“ Zum Mordmerkmal “zur Befriedigung des Ge-schlechtstriebs”: BGH, StV 1992, 259; NStZ-RR2004, 8; Eser, NStZ 1983, 434; Mitsch, JuS 1996, 123;Otto, Jura 1994, 144“ Zu den Voraussetzungen des § 216 StGB: BGH, JZ1987, 474; Fink, NStZ 1989, 559; Herzberg, NStZ2004, 1; Krock, KritJ 1995, 60

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Bote des Todes”

Leitsätze:1. Das Mordmerkmal “zur Befriedigung des Ge-schlechtstriebs” liegt auch dann vor, wenn der Tä-

ter diese Befriedigung erst bei der späteren Be-trachtung der Bild-Ton-Aufzeichnung (Video) vomTötungsakt und dem Umgang mit der Leiche fin-den will.2. Rechtsgut des § 168 Abs. 1 StGB ist nicht nur derpostmortale Persönlichkeitsschutz des Toten, son-dern auch das Pietätsgefühl der Allgemeinheit. DasEinverständnis des Tatopfers in beschimpfendenUnfug an seiner Leiche ist deshalb nicht geeignet,die Strafbarkeit entfallen zu lassen.

Sachverhalt:In der Vorstellung des Angeklagten entstanden kurzvor Einsetzen der Pubertät Phantasien, in denen er seinZiel, eine Person für immer bei sich zu haben und ansich zu binden, dadurch zu realisieren suchte, dass erdiese Person sich einverleibte. Zielobjekt seiner Vor-stellung war hierbei jeweils eine jüngere männlichePerson. Angelehnt an Hausschlachtungen, die der An-geklagte miterlebt hatte, malte er sich aus, wie er alsSchlachter eine Person durch Abstechen tötete unddann - was er als besonderen Moment betrachtete - denBauchraum aufschlitzte und das Objekt nach seinerVorstellung ausweidete, um es dann zu verspeisen. MitEinsetzen der Pubertät verband der Angeklagte mitdiesen Phantasien einen Lustgewinn, was zur Folgehatte, dass er diese Phantasien zur Erregung währenddes Onanierens einsetzte und auch hierbei das Auf-schlitzen und Ausweiden des Bauchraums als Höhe-punkt erlebte. In der Regel gelangte er in seiner Phan-tasie nicht mehr bis zum Verzehren des Fleisches dergeschlachteten Person, da er vorher seinen sexuellenHöhepunkt erreichte. Ungefähr ab 1999 beschäftigtesich der Angeklagte über das Internet immer stärkermit dem Thema Kannibalismus. Er stieß dabei auchauf eine Schlachtanleitung für den menschlichen Kör-per. Schließlich begann er, über Internetforen Männerzum Schlachten und Verspeisen zu suchen. In seinemHaus in W. richtete der Angeklagte einen “Schlacht-raum” ein. Nach mehreren nicht im Sinne des Ange-klagten zielführenden Internetkontakten stieß er An-fang Februar 2001 im Internet auf das spätere Opfer B.B litt an einer progredienten Form des sexuellen Ma-sochismus. Er knüpfte die Vorstellung des höchstenLustempfindens an eine Penisamputation. Der dabeierwartete sexuelle Höhepunkt besetzte das Bewusst-sein des B dermaßen, dass danach für ihn nichts mehreine Rolle spielen sollte und sein Tod dem erwarteten“ultimativen Hochgefühl” folgen konnte. Die natürli-che Einsichts- und Willensfähigkeit des B war durchseine krankhafte seelische Störung in Form des ex-tremen sexuellen Masochismus dergestalt einge-schränkt, dass er die Tragweite seines späteren Ent-schlusses, sich töten und schlachten zu lassen, nicht

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vollends rational überblickte.Zwischen dem Angeklagten und B entwickelte sich einreger E-Mail-Verkehr. Darin schilderte B seine sexuel-le Präferenz der Penisamputation; der Angeklagte er-läuterte seine Vorstellungen. Beide zeigten Bereit-schaft, auf die jeweiligen Interessen des anderen ein-zugehen. Dem Angeklagten war es nach seinen An-gaben wichtig, sich eine sympathische Person einzu-verleiben und somit eine untrennbare Bindung herzu-stellen. Dies war für ihn ebenso eine Bedingung fürdas Schlachten und Einverleiben, wie der Umstand,dass sich der zu Schlachtende freiwillig zur Verfügungstellte. Am 9. März 2001 reiste B mit dem Zug nachK., wo ihn der Angeklagte abholte. Man kam überein,das Vorhaben bereits an diesem Tage durchzuführen.Alsbald nach dem Eintreffen im Haus des Angeklagtenkam es im Schlachtraum zu sexuellen Handlungen.Der Angeklagte biss B hierbei an verschiedenen Kör-perstellen, vor allem am Penis. Dabei ging er jedoch -da er selbst sein Lustempfinden nicht an diese Hand-lungen knüpfte - zögerlich und gehemmt vor. B be-schloß daraufhin, nach B. zurückzukehren, ohne seinVorhaben ausgeführt zu haben. Nach einem Überre-dungsversuch, der vergeblich verlief, brachte der An-geklagte B schließlich am Nachmittag des gleichenTages zum Bahnhof zurück. Dort besann sich B aberdoch eines anderen. Mit Hilfe des Angeklagten solltedie Abtrennung seines Penis wenigstens mit einemMesser realisiert werden. Beide kehrten zum Haus zu-rück und begaben sich in den Schlachtraum.Gegen 18.30 Uhr sagte B dann dem Angeklagten, dassdieser ihm jetzt den Penis abschneiden möge, wasbeim zweiten Versuch auch gelang. Der Angeklagteverband die Wunde des B, um zu verhindern, dass die-ser aufgrund des Blutverlustes sofort ohnmächtig wür-de. Das ultimative Hochgefühl, welches B sich von derPenisamputation versprach, stellte sich allerdings nichtein. Dennoch blieb B bei seinem Entschluß, dass diesfür ihn der finale Akt sein sollte und der Angeklagteihn hernach spurlos beseitigen könne. Er untersagtedem Angeklagten, einen Notarzt zu rufen. In den fol-genden Stunden bereitete B sich auf das Sterben vor.Er erklärte dem Angeklagten, dass er ihn abstechensolle, sobald er bewusstlos geworden sei. Die irreversi-ble Bewusstlosigkeit trat bei B gegen 4.00 Uhr mor-gens ein. Der Angeklagte legte B daraufhin auf dieSchlachtbank und installierte eine Videokamera so,dass sie das nun folgende Geschehen aufzeichnenkonnte. Er hatte dabei vor, die Filmaufnahmen zu be-arbeiten, (jedenfalls Teile daraus) an Kontaktpersonenim Internet zu versenden sowie gegebenenfalls weiterepotentielle Schlachtopfer mit der Vorführung des Vi-deos zu locken. B lebte zu diesem Zeitpunkt noch. DerAngeklagte kommentierte dies mit den Worten: “Dein

Puls rast”. Nach mehrfachem Zögern setzte er demOpfer zwei tödliche Halsstiche. Sexuell war er bei derTötung nicht erregt. In der Folgezeit zerlegte der An-geklagte die Leiche des B entsprechend der Schlacht-anleitung aus dem Internet. Auch dies nahm er auf Vi-deo auf. Seine einzelnen Handlungen kommentierte erdabei immer wieder, z.T. mit abfälligen Bemerkungenüber die Fleischkonsistenz.Am 12. März 2001 nahm der Angeklagte zum erstenMal Fleisch vom Körper des B in gebratener Form zusich. Nach der Mahlzeit schaute er sich den von ihmaufgezeichneten Videofilm mindestens einmal an undonanierte dabei.Auch in der Folgezeit suchte der Angeklagte immerwieder - wenn auch vergeblich - weitere Opfer für einSchlachten. Meist waren diese jedoch lediglich an ei-nem Rollenspiel interessiert. Auch wenn sie sich be-reits in seinem Schlachtraum befanden und zumSchlachten mit den Füßen nach oben aufgehängt wa-ren, ließ der Angeklagte sofort von weiterem Tun ab,wenn sie dies wünschten. Aus dem Video gewonneneFotografien übersandte der Angeklagte zweifach aneine weitere Person per E-Mail.Bei dem Angeklagten liegt eine schwere andere see-lische Abartigkeit in Form einer Persönlichkeitsstö-rung mit schizoiden Zügen vor, die verbunden ist miteiner sexuellen Einengung auf den Fetisch Männer-fleisch. Der Angeklagte war jedoch weder in seinerEinsichtsfähigkeit noch in seiner Steuerungsfähigkeiterheblich beeinträchtigt.

Aus den Gründen:

I. ProzessgeschichteDas Landgericht hat den Angeklagten wegen Tot-schlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren undsechs Monaten verurteilt. Gleichzeitig hat es die Ein-ziehung des Computerterminals Siemens Scenic 600und einer Videokamera angeordnet.Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision derStaatsanwaltschaft, die die Verletzung formellen undmateriellen Rechts beanstandet und eine Verurteilungwegen Mordes erstrebt. Sie wird nur hinsichtlich derSachrüge vom Generalbundesanwalt vertreten.Die Revision des Angeklagten rügt die Verletzung for-mellen und materiellen Rechts. Er erstrebt eine Ver-urteilung wegen Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB),hilfsweise die Bejahung eines minder schweren Fallsdes Totschlags (§ 213 StGB). Das Rechtsmittel derStaatsanwaltschaft hat auf die Sachrüge hin Erfolg.Die Revision des Angeklagten ist unbegründet.Das Landgericht hat sowohl die Voraussetzungen füreine Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) als auch dasVorliegen von Mordmerkmalen, insbesondere der

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Mordmerkmale der “Mordlust”, “zur Befriedigung desGeschlechtstriebes”, “niedrige Beweggründe” und“zur Ermöglichung einer anderen Straftat” abgelehntund den Angeklagten wegen Totschlags verurteilt. DieVoraussetzungen der §§ 20, 21 StGB hat es verneint.Ebensowenig hat es einen minder schweren Fall imSinne des § 213 StGB angenommen.

II. Zur Revision der StaatsanwaltschaftDie Revision der Staatsanwaltschaft führt schon mitder Sachrüge zur Aufhebung des Urteils, eines Einge-hens auf die Verfahrensrügen bedarf es daher nicht.Die Verurteilung des Angeklagten (nur) wegen Tot-schlags begegnet durchgreifenden Bedenken.

1. Zur Verneinung des Mordmerkmals “zur Befriedi-gung des Geschlechtstriebs”Die der Verneinung des Mordmerkmals “zur Befriedi-gung des Geschlechtstriebes” zugrunde liegende Be-weiswürdigung hält rechtlicher Überprüfung nichtstand. Hierauf beruht das Urteil, zumal Inhalt undReichweite dieses Mordmerkmals von der Strafkam-mer nicht zutreffend erfasst worden sind.

a. Zur Fehlerhaftigkeit der Beweiswürdigung desLandgerichtsDie Beweiswürdigung hinsichtlich des von der Straf-kammer festgestellten Zweckes der Videoaufzeich-nung ist rechtsfehlerhaft, da ein Verstoß gegen Denk-gesetze vorliegt. Ein solcher ist u. a. dann gegeben,wenn etwas vorausgesetzt wird, was es erst zu bewei-sen gilt (BGH, Beschl. vom 3. September 1992 - 1 StR559/92; BGH, Urt. vom 29. Juli 1998 - 1 StR 152/98,insoweit nicht abgedruckt in NStZ 1999, 42; BGH,Beschl. vom 23. Oktober 2001 - 1 StR 415/01, inso-weit nicht abgedruckt in NStZ 2002, 161). Die Kam-mer führt zwar aus, der Angeklagte habe selbst einge-räumt, sich das Video am 12. März 2001 angeschautund hierbei onaniert zu haben. Sie meint jedoch, nichtdie Überzeugung gewinnen zu können, dass der Ange-klagte öfter als das eingestandene eine Mal das Videozum Zweck der sexuellen Befriedigung betrachtet ha-be, obwohl der Angeklagte um die mit denSchlachtphantasien verbundene sexuelle Erregungwusste. Zur Begründung führt die Kammer sodannaus, gegen eine Zweckbestimmung der Videoaufzeich-nung zur Selbstbefriedigung spreche, dass diese mitgroßem Aufwand gefertigte Aufzeichnung “nur zureinmaligen Onanie gedient hätte, was nicht lebensnahnachvollziehbar erscheint, wenn der vorrangige Zweckder Videoaufzeichnung die Selbstbefriedigung gewe-sen sein sollte”. Damit setzt das Landgericht aber et-was als bewiesen voraus (nämlich einen einmaligen,gleichsam zufälligen und nicht von Anfang an beab-

sichtigten Einsatz des Videos zu Zwecken der Selbst-befriedigung), was erst noch Gegenstand der Beweis-würdigung sein soll.Rechtsfehlerhaft, insbesondere lückenhaft, ist in die-sem Zusammenhang auch, dass die Kammer die ent-sprechende Einlassung des Angeklagten als nicht zuwiderlegen zugrunde gelegt hat, obwohl die als Zeu-gen vernommenen Vernehmungsbeamten ausgesagthaben, dass sich der Angeklagte die Videoaufzeich-nung nach ihrem Eindruck aus der Beschuldigtenver-nehmung öfter angesehen habe und die Kammer diessogar für “naheliegend” hält. Entlastende Angabeneines Angeklagten, für deren Richtigkeit oder Unrich-tigkeit es keine (ausreichenden) Beweise gibt, darf derRichter nicht ohne weiteres als unwiderlegt seinemUrteil zugrunde legen. Er muss sich vielmehr aufgrundeiner Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweis-aufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oderUnrichtigkeit der Einlassung bilden (BGH NStZ 2000,86; Schoreit in KK 5. Aufl. § 261 Rdn. 28). Eine sol-che Gesamtwürdigung hat die Kammer nur lückenhaftvorgenommen. Die im Urteil wiedergegebene Passageder Beschuldigtenvernehmung, wonach der Angeklag-te “die eigentliche Tötung” sich “höchstens zweimal”angesehen haben will, spricht eher dafür, dass der An-geklagte sich die übrigen Abschnitte des Videos, na-mentlich das Öffnen des Bauchraums und den Zerle-gungsvorgang, öfter angeschaut hat.In diesem Zusammenhang lässt das Urteil eine Ausein-andersetzung mit der Tatsache vermissen, dass der An-geklagte seit seiner Jugend auf kannibalistisch/feti-schistisch ausgerichtete Phantasien zur Stimulierungund Befriedigung seines Geschlechtstriebes fixiertwar. Ebenso wenig findet der Umstand, dass die fil-mische Dokumentation der Tötung und Zerlegung desTatopfers den Angeklagten nahezu unbegrenzt in dieLage versetzte, das reale Erleben bei Bedarf zu repro-duzieren, erkennbar Berücksichtigung bei der Würdi-gung der Indizien.

b. Zu den Anforderungen des Mordmerkmals “zur Be-friedigung des Geschlechtstriebs”Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Kammerbei rechtsfehlerfreier Würdigung der Beweise zu demErgebnis gekommen wäre, dass der Angeklagte tötete,um sich später bei der Betrachtung des Videos sexuellzu befriedigen. Dies würde aber zur Annahme desMordmerkmals “zur Befriedigung des Geschlechtstrie-bes” führen.Dieses Mordmerkmal liegt vor, wenn der Täter dasTöten als Mittel zur Befriedigung des Geschlechtstrie-bes benutzen will. Ob die erstrebte sexuelle Befriedi-gung erreicht wird, ist ohne Belang (BGH NStZ 1982,464; vgl. auch: BGH NStZ 2001, 598, 599; OGHSt 2,

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337, 339). Eine Tötung mit dieser Zielrichtung reichtzur Erfüllung des Mordmerkmals aus. Nach den bishervon der Rechtsprechung entschiedenen Fallgestaltun-gen tötet zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, wersich durch den Tötungsakt selbst sexuelle Befriedi-gung verschaffen oder sich nach der Tötung in nekro-philer Weise an der Leiche vergehen will (BGHSt 7,353, 354; BGH Urt. vom 7. Oktober 1981 - 2 StR356/81; OGHSt 2, 337, 339). Ebenso ist dieses Mord-merkmal bejaht worden, wenn der Tod des Opfers alsFolge einer Vergewaltigung zumindest billigend inKauf genommen wird (BGHSt 19, 101, 105; BGHNStZ-RR 2004, 8; BGH NStZ 1982, 464).Will der Täter die Befriedigung des Geschlechtstriebeserst bei der späteren Betrachtung des Videos vom Tö-tungsakt und dem Umgang mit der Leiche finden, soerfüllt dieses Motiv das Mordmerkmal ebenfalls. DerWortlaut des Gesetzes enthält keine Begrenzung aufdie bisher entschiedenen Fallgestaltungen. Das Gesetzsieht vielmehr die Tötung zur Befriedigung des Ge-schlechtstriebes als besonders verwerflich an, weil derTäter das Leben eines Menschen der Befriedigung sei-ner Geschlechtslust unterordnet (BGHSt 19, 101, 105).Das hätte der Angeklagte - gesetzt den Fall es lässtsich feststellen, dass die Videoaufzeichnung als Stimu-lans zur Vornahme späterer sexueller Handlungen die-nen sollte - getan, weil die Tötung seines Opfers not-wendig war für die Aufzeichnung und spätere Wieder-gabe des Schlachtvorgangs.Unerheblich ist, daß die sexuelle Befriedigung vermit-telt durch die Betrachtung des Videos, womöglich ersterhebliche Zeit nach der Tat, erreicht wird. Das Mord-merkmal ist erfüllt, wenn die im Gesetz enthalteneZweck-Mittel-Relation vorliegt. Es reicht aus, wennder Täter die Tötung als Mittel zur Erlangung seinersexuellen Befriedigung ansieht. Ein darüber hinausge-hender unmittelbarer zeitlich-räumlicher Zusammen-hang zwischen der Tötung eines Menschen und demZweck der Triebbefriedigung, wie er in der Literaturteilweise gefordert wird (vgl. Jähnke in LK 11. Aufl. §211 Rdn. 7; Maurach/Schroeder/Maiwald StrafrechtBT 1. Teilband 9. Aufl. S. 42), lässt sich aus dem Ge-setz nicht als Voraussetzung herleiten. Den von derRechtsprechung bisher entschiedenen Fallgestaltungenist gemeinsam, dass der Getötete selbst Bezugsobjektder Sinneslust des Täters ist (Horn in SK-StGB [April2000] § 211 Rdn. 11; Mitsch JuS 1996, 121, 123; OttoJura 1994, 141, 144) und dass seine Tötung zur Errei-chung der sexuellen Befriedigung notwendig ist. Sol-ches trifft aber auch auf das dem Angeklagten ange-lastete Tatgeschehen zu. Durch diese Definition istdem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot (Art.103 Abs. 2 GG) hinreichend Rechnung getragen.

c. Hinweis an den neuen TatrichterIn diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dassder neue Tatrichter zu prüfen haben wird, ob der An-geklagte seine sexuelle Befriedigung nicht bereits beidem Schlachtvorgang selbst erlangen wollte. Die seitseiner Pubertät bestehenden sexuellen Phantasien desAngeklagten und seine fetischistische Fixierung aufdas Fleisch junger Männer legen dies nahe. Dass derAngeklagte beim Tötungsakt oder dem nachfolgendenSchlachten womöglich tatsächlich nicht sexuell erregtwar (ihm dieser selbst sogar zuwider war), steht demnicht entgegen; denn das Mordmerkmal setzt ein Errei-chen des Ziels der geschlechtlichen Befriedigung nichtvoraus. Eine Absicht zur Befriedigung des Ge-schlechtstriebes ist ebenfalls nicht erforderlich, son-dern es reicht, wenn der Täter dies “gegebenenfalls”will (BGHSt 19, 101, 105).Angesichts der vom Angeklagten eingestandenenPhantasien bei der Selbstbefriedigung sowie auch imHinblick auf Äußerungen des Angeklagten imInternet-Chat drängt sich zudem die Prüfung auf, obder Angeklagte die durch die Schlachtung gewonne-nen Eindrücke (unabhängig von einer Videoaufzeich-nung) zur Erzeugung stimulierender Phantasien bei derSelbstbefriedigung einsetzen wollte. Im Internet-Chathatte der Angeklagte u. a. geäußert, dass er zwar beimSchlachten selbst keine sexuellen Manipulationen ansich vornehmen wolle, wohl aber bei dem Gedankendaran, der ihn “aufgeile” und “stimuliere”. Auch diefestgestellte Persönlichkeitsstruktur mit schizoidenZügen, die sich unter anderem in einer übermäßigenVorliebe für Phantasie ausdrückt, deutet darauf hin.

2. Zum Mordmerkmal der niedrigen BeweggründeGegebenenfalls wird der neue Tatrichter auch dasMordmerkmal der niedrigen Beweggründe zu prüfenhaben.

3. Zur Verneinung des Mordmerkmals “zur Ermögli-chung einer anderen Straftat”Das Landgericht hat auch das Mordmerkmal “zur Er-möglichung einer anderen Straftat” nur unzureichendgeprüft. Zum einen begegnet bereits die Ablehnungdieses Mordmerkmals unter dem Gesichtspunkt derErmöglichung einer Störung der Totenruhe (§ 168StGB) durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zumanderen hat es das Landgericht versäumt, weitereStraftatbestände als “andere Straftat” im Sinne des §211 Abs. 2 StGB in Betracht zu ziehen.

a. § 168 StGB als zu ermöglichende StraftatNach § 168 StGB wird u. a. derjenige bestraft, der andem Körper oder an Teilen des Körpers eines verstor-benen Menschen “beschimpfenden Unfug” verübt. Der

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Angeklagte hat sein Opfer getötet, um es nach demTodeseintritt zu schlachten. Das Schlachten stellt eineandere Straftat, nämlich eine Störung der Totenruhe (§168 Abs. 1 2. Alt. StGB), dar. Der Angeklagte wolltean dem Körper eines verstorbenen Menschen be-schimpfenden Unfug verüben und hat B zu diesemZwecke getötet.In der Rechtsprechung und in der Literatur wird “Un-fug” als “grobe Ungebühr” (Rechtsprechung desReichsgerichts in Strafsachen Bd. 9 S. 399) oder alseine rohe Gesinnung zeigende, grob ungehörige Hand-lung definiert (RGSt 39, 155, 157; RGSt 42 145, 146;Hörnle in MünchKomm § 168 Rdn. 20). Dass dasSchlachten, d. h. Ausweiden und Zerlegen, eines getö-teten Menschen vor laufender Kamera, dessen körper-liche Beschaffenheit dabei auch noch zumindest zumTeil herabsetzend kommentiert wird, eine grob unge-hörige, eine rohe Gesinnung zeigende bzw. eine grobungebührliche Handlung darstellt, bedarf keiner nä-heren Erläuterung.Nach dem Wortlaut des Gesetzes muss hinzukommen,dass die geschilderte Behandlung “beschimpfend”,also höhnend oder herabsetzend ist. Wann dies derFall ist, richtet sich danach, welches Rechtsgut durchdie Vorschrift geschützt wird. Zutreffend werden vor-nehmlich zwei Rechtsgüter als von § 168 Abs. 1 2.Alt. StGB geschützt angesehen: das Pietätsgefühl derAllgemeinheit und der postmortale Persönlichkeits-schutz des Toten (KG Berlin NJW 1990, 782, 783;Czerner ZStW 115 [2003], 91, 97; Dippel in LK 11.Aufl. § 168 Rdn. 2; vgl. auch BGH NStZ 1981, 300).Dass die Vorschrift jedenfalls auch ein Rechtsgut derAllgemeinheit schützt und nicht etwa nur ein Indivi-dualrechtsgut, zeigt sich bereits an ihrer systemati-schen Verankerung im Kontext der dem Schutz desöffentlichen Friedens dienenden Strafnormen. Ande-renfalls wäre § 168 Abs. 1 2. Alt. StGB eher als eineArt “tätliches” Verunglimpfen des Andenkens Ver-storbener im Abschnitt über die Beleidigungsdelikteeinzuordnen gewesen (vgl. Tröndle/Fischer StGB 52.Aufl. § 168 Rdn. 2). Dies war nicht gewollt, wie dieGesetzgebungsmaterialien, wonach das “religiöse Ge-fühl” (Drucksachen des Norddeutschen Reichstages, 1.Legislaturperiode, Nr. 5, S. 98), bzw. das Pietätsemp-finden (E 1962, BT-Drucks. IV/650, Begr. zu § 191 S.346) geschützt sein sollte, belegen.Geht es um den postmortalen Achtungsanspruch, istdementsprechend ein beschimpfender Charakter gege-ben, wenn der Täter dem Toten seine Verachtung be-zeigen will und sich des beschimpfenden Charaktersseiner Handlung bewusst ist (BGH NStZ 1981, 300;RGSt 39, 155, 157; RGSt 42, 145, 146; Entscheidun-gen des Reichsgerichts in Strafsachen Bd. 9 S. 399,400). Geht es hingegen um das Pietätsgefühl der All-

gemeinheit, so kommt es darauf an, ob der Täter demMenschsein seine Verachtung bezeigen bzw. die Men-schenwürde als Rechtsgut an sich missachten will.Denn die Vorstellungen der Allgemeinheit hinsichtlichdes Umgangs mit Toten gründen letztlich in dem Be-wusstsein der jedem Menschen zukommenden undüber den Tod hinauswirkenden Würde (BVerfG NJW2001, 2957, 2959; BVerfGE 30, 173, 196; vgl. Trönd-le/Fischer StGB 52. Aufl. § 168 Rdn. 2; Hörnle inMünchKomm § 168 Rdn. 2). Die Würde des Men-schen verbietet es, ihn einer Behandlung auszusetzen,die seine Subjektsqualität prinzipiell in Frage stellt.Menschenwürde in diesem Sinne ist nicht nur die indi-viduelle Würde der jeweiligen Person, sondern dieWürde des Menschen als Gattungswesen (BVerfGE87, 209, 228). Im Bewusstsein der Allgemeinheit stelltaber das Schlachten eines Menschen vor laufender Ka-mera, womöglich gar, um Material für spätere sexuelleHandlungen zu gewinnen, eine menschenunwürdigeBehandlung dar, die die Würde des Menschen als Gat-tungswesen missachtet.Ob der Angeklagte hier gegenüber dem Opfer seineVerachtung bezeigen wollte, oder ob - wie die Kam-mer meint - das Einverständnis des Tatopfers den be-schimpfenden Charakter im Hinblick auf seinen post-mortalen Achtungsanspruch entfallen lässt, kann dahergenauso dahinstehen, wie die Frage, ob das Einver-ständnis des Getöteten überhaupt wirksam war (vgl.dazu BGHSt 49, 166 ff.) und ob der Angeklagte eineeventuelle Unwirksamkeit erkennen konnte. Jedenfallswar das Einverständnis des Opfers nicht geeignet, dieTatbestandsmäßigkeit auch hinsichtlich des geschütz-ten Rechtsguts der Allgemeinheit entfallen zu lassen,da das Opfer hierüber, was aber erforderlich gewesenwäre (vgl. BGHSt 5, 66, 68; BGH NJW 1992, 250),nicht verfügen konnte.Sind mehrere Rechtsgüter, die einen einwilligungs-fähig, die anderen nicht, durch eine Strafnorm ge-schützt, so könnte ein Einverständnis allenfalls danndie Tatbestandsmäßigkeit bzw. eine Einwilligung al-lenfalls dann die Rechtswidrigkeit entfallen lassen,wenn das nichteinwilligungsfähige Rechtsgut so unbe-deutend erscheint, dass es außer Betracht bleiben dürf-te (BGHSt 5, 66, 68). Das ist hier aber hinsichtlich desPietätsgefühls der Allgemeinheit, welches im Hinblickauf die systematische Einordnung der Norm sogar eherals vorrangig angesehen werden kann, nicht der Fall.Die Strafkammer hat sich - auf der Grundlage ihrerunzutreffenden rechtlichen Bewertung, dass das Ein-verständnis des Tatopfers die Verletzung seines post-mortalen Achtungsanspruchs hindere und damit demHandeln des Angeklagten insgesamt den beschimpfen-den Charakter nehme - nicht damit auseinandergesetzt,dass der beschimpfende Charakter seines Handelns

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jedenfalls gegenüber dem weiteren Rechtsgut der All-gemeinheit unberührt bleibt und sich der Angeklagteauch dessen bewusst war. Nach den Feststellungensollten das Video bzw. dessen Derivate auch anderenPersonen zugänglich gemacht werden. Es liegt auchnahe, dass der Angeklagte bei der Tötung wusste, dasser durch sein nachfolgendes Handeln das Pietätsgefühlder Allgemeinheit verletzen würde. Er ging ausweis-lich der Urteilsgründe selbst davon aus, dass dasSchlachten und Verzehren von Menschenfleisch gegenein gesellschaftliches Tabu verstößt. Danach war ersich der für den Unrechtsvorwurf relevanten Umständebewusst und hat sich über die von ihm erkanntenGrenzen bewusst hinweggesetzt. Seine für sich selbstmöglicherweise vorgenommene anderweitige Bewer-tung stellt demgegenüber nur einen unbeachtlichenSubsumtionsirrtum dar.Schon deshalb hat das Landgericht das Mordmerkmalder Tötung, um eine andere Straftat zu ermöglichen,rechtsfehlerhaft verneint.

b. §§ 131, 184 a StGB als zu ermöglichende StraftatenDas Landgericht hat weiter nicht geprüft, ob die Tö-tung des B nicht auch zur Ermöglichung einer nach §131 StGB (Verherrlichende oder verharmlosende Ge-waltdarstellung) oder § 184 Abs. 3 StGB aF (§ 184 aStGB nF, Verbreitung gewaltpornographischer Schrif-ten) strafbaren Handlung diente. Die in dem Handelndes Angeklagten zum Ausdruck gebrachte Missach-tung gegenüber der Würde des Menschen als solcherund die geplante Verwendung des Videos oder seinerDerivate zur Darbietung im Internet oder gegenüberanderen Schlachtwilligen legen dies bezüglich § 131StGB nahe. Die Erörterung des Tatbestandes der Ver-breitung gewaltpornographischer Schriften drängt sichim Hinblick auf den im Urteil durchgehend zum Aus-druck gebrachten sexuellen Bezug des Schlachtungs-vorgangs auf. Diese Prüfung wird der neue Tatrichtervorzunehmen haben.

III. Zur Revision des AngeklagtenDie Revision des Angeklagten ist unbegründet i. S. v.§ 349 Abs. 2 StPO. Einer Erörterung bedarf insoweitauf die Sachrüge hin allein der Tatbestand des § 216Abs. 1 StGB.Die Kammer hat rechtsfehlerfrei die Voraussetzungenfür eine Tötung auf Verlangen (§ 216 Abs. 1 StGB)verneint, weil das Verlangen des Opfers für den Ange-klagten bereits nicht handlungsleitend war. Das wäre

aber erforderlich gewesen (Schneider in MünchKomm§ 216 Rdn. 26; vgl. auch: Horn in SK 6. Aufl. § 216Rdn. 5; Jähnke in LK 11. Aufl. § 216 Rdn. 8; Neu-mann in NK [13. Lieferung] § 216 Rdn. 16; a.A.Arzt/Weber Strafrecht BT [2000] S. 88). “Bestimmen”i. S. v. § 216 Abs. 1 StGB setzt mehr voraus, als diebloße Einwilligung des Opfers. Es muss dadurch imTäter der Entschluss zur Tat hervorgerufen werden.Die außerordentliche Strafmilderung des § 216 StGBist nur dann zu rechtfertigen, wenn das “Bestimmen”auch tatsächlich handlungsleitend war (Jähnke in LK11. Aufl. § 211 Rdn. 8), ebenso wie sich umgekehrtdie Strafschärfung etwa des Mordes aus Habgier ge-genüber dem Totschlag nur rechtfertigen lässt, wenndas entsprechende, zum Mordmerkmal führende Motivhandlungsleitend war (vgl. BGH NJW 1981, 932,933). Im vorliegenden Fall war es aber der Angeklag-te, der aus eigenem Antrieb zur Tötung bereite Opfergesucht hat und B ist lediglich darauf eingegangen, umdas von ihm erstrebte Ziel einer Penisamputation zuverwirklichen. Keineswegs ging es dem B darum,selbst getötet zu werden. Ihm kam es nur auf die Peni-samputation an. Aufgrund des hiervon erwarteten “ul-timativen Hochgefühls” war für ihn das darauf folgen-de Geschehen “irrelevant” und der Tod “konnte” fol-gen. Es war zudem der Angeklagte, der, als B bereitswieder abreisen wollte, einen (zunächst) vergeblichenÜberredungsversuch zum Weitermachen unternahm.Schon danach ist nicht davon auszugehen, dass ein fürden Angeklagten handlungsleitender Todeswunsch desB vorlag. Es handelte sich insoweit lediglich um einZugeständnis des Opfers an den Angeklagten, dem esim übrigen allein auf das formale Einverständnis desOpfers ankam. Der Wunsch des B nach Beginn desTatgeschehens, dass kein Notarzt herbeigerufen wer-den und der Angeklagte ihn abstechen sollte, sobald erdas Bewusstsein verloren hatte, kann nur als Ausfüh-rung der bereits vorher zwischen Täter und Opfer ge-troffenen gegenseitigen Vereinbarung verstanden wer-den, die beiden Beteiligten dazu dienen sollte, jeweilsausschließlich die eigenen Interessen zu verwirklichen.Schon deshalb weist die Verneinung der Vorausset-zungen des § 216 StGB durch den Tatrichter keinenRechtsfehler auf. Darauf, ob der Angeklagte, von des-sen voller Schuldfähigkeit das Landgericht ohneRechtsfehler ausgegangen ist, ohnehin die Unwirk-samkeit der “Einwilligung” des Tatopfers in seine Tö-tung erkannt hat, kommt es danach nicht an.

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Urteile in Fallstruktur

Standort: Öffentliches Recht Problem: Unvollständiger Bauantrag

BAYVGH, URTEIL VOM 02.07.20041 B 02.1006 (BAYVBL 2005, 304)

Problemdarstellung:Die vorliegende Entscheidung des BayVGH stellt eineKombination von Problemen aus dem allgemeinenVerwaltungsrecht und dem Baurecht dar. Im Einzel-nen:1. Nach § 36 II 2 BauGB wird das Einvernehmen derGemeinde mit einem Bauvorhaben fingiert, wenn siees nicht innerhalb von 2 Monaten nach Anfrage ver-weigert. Streitig ist, ob diese Fiktion auch eintritt,wenn die der Gemeinde zur Prüfung vorgelegten Un-terlagen unvollständig waren. Entgegen der ganz h.M.bejaht dies der VGH nach Auslegung der Norm. DieGemeinde müsse den Antragsteller (Bauherrn) auf dieUnvollständigkeit hinweisen, um dieser Folge zu ent-gehen, und zwar selbst dann, wenn der Inhalt so spär-lich sei, dass die Vorlage überhaupt nicht prüffähigsei. Selbst eine inhaltlich unrichtige Anfrage löse dieFiktionswirkung aus, wenn der Gemeinde die Unrich-tigkeit bekannt gewesen sei.2. Ebenso streitig ist, ob ein rechtswidriger Verwal-tungsakt nach § 49 VwVfG widerrufen werden kann,obwohl § 49 VwVfG seinem Wortlaut nach ja nur fürrechtmäßige Verwaltungsakte gilt. Hier folgt der VGHder ganz h.M., die dies im Wege eines erst-Recht-Schlusses bejaht.3. Der Widerruf war von der Behörde “hilfsweise”erklärt worden, so dass zu klären war, ob ein Verwal-tungsakt überhaupt “hilfsweise” erlassen werden kann.Der VGH versteht eine solche Erklärung als (zulässi-ge) Nebenbestimmung in Form einer Bedingung, § 36II Nr. 2 VwVfG.4. Schließlich deutet das Gericht den (zunächst rechts-widrigen) Widerruf nach § 49 VwVfG noch in eine(dann rechtmäßige) Rücknahme nach § 48 VwVfGum. Ob diese Möglichkeit, die in § 47 VwVfG vor-gesehen ist, auch den Gerichten eröffnet ist, ist um-stritten, wird von der wohl h.M., der auch der VGHfolgt, aber bejaht.5. Am Rande geht es um die Frage, worauf sich derAntrag auf Erteilung eines Bauvorbescheids bezieht,wenn der Antragsteller (Bauherr) nicht näher ausführt,welche Frage er vorbeschieden haben will. Der VGHmeint, dass dann die gesamte bauplanungsrechtlicheZulässigkeit des Vorhabens Gegenstand des Vorbe-scheidsverfahrens sei.

Prüfungsrelevanz:Der Fall eignet sich ideal für eine Examensklausur,weil er zwei prüfungsrelevante Bereiche - Baurechtund Verwaltungsrecht AT - miteinander verknüpft. Erverhält sich zudem zum Einvernehmen der Gemeindenach § 36 BauGB, dem baurechtlichen Thema zurZeit, über das die RA in immer neuen Fallkonstellatio-nen berichtet hat (vgl. Vertiefungshinweise).Die hier vom VGH begründete Mindermeinung, dassein Einvernehmen nach § 36 II 2 BauGB auch bei un-vollständigen oder gar unrichtigen Bauunterlagen fin-giert werden könne, ist mit Vorsicht zu genießen. DasBVerwG hat dies explizit anders entschieden. Zudemmag es sein, dass - worauf der VGH maßgeblich ab-stellt - weder der Wortlaut der Norm noch die Motiveausdrücklich einen vollständigen und inhaltlich richti-gen Antrag fordern; es steht aber auch nirgends, dasser unvollständig oder unrichtig sein darf. Warum einBauherr, der seine Unterlagen nicht in Ordnung hat,durch die Fiktion des § 36 II 2 BauGB begünstigt wer-den soll, leuchtet nicht recht ein. Jedenfalls ist aber zurKenntnis zu nehmen, dass diese Frage aktuell umstrit-ten ist, und selbstverständlich ist auch die Auffassungdes VGH vertretbar.

Vertiefungshinweise:“ Keine Fiktion des Einvernehmens bei nicht voll-ständigem Antrag: BVerwG, NVwZ 1997, 900; VGHBW, BRS 60 Nr. 157; BauR 2003, 1534; NdsOVG,NVwZ 1999, 1003, 1004; SächsOVG, SächsVBl.2003, 64“ Weitere aktuelle Entscheidungen zum Einverneh-men nach § 36 BauGB: BVerwG, RA 2005, 81 =NVwZ 2005, 83; BayVGH, RA 2005, 140 = NVwZ-RR 2005, 56; RA 2003, 280 = BayVBl 2003, 210; RA2001, 313 = NVwZ-RR 2001, 364“ Zum Verhältnis von Rücknahme und Widerruf:BVerwG, RA 2005, 254 = NVwZ-RR 2005, 341;DVBl 1990, 304; VGH BW, RA 2002, 565 = NVwZ-RR 2002, 621; Frohn, Jura 1993, 393“ Umdeutung eines Verwaltungsakts durch das Ge-richt: BVerwG, RA 2001, 61 = BayVBl 2001, 56

Kursprogramm:“ Examenskurs : “Stipendium”“ Examenskurs : “Das Einvernehmen nehmen”“ Examenskurs : “Die Eissporthalle”

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Leitsätze:1. Die Einvernehmensfiktion des § 36 Abs. 2 Satz 2BauGB tritt auch bei einem wegen unvollständigerBauvorlagen nicht prüffähigen Antrag ein, wenndie Gemeinde den Bauherrn nicht vor dem Ablaufder Zwei-Monats-Frist auf den Mangel hingewiesenhat.2. Gegenstand eines Antrags auf einen Bauvorbe-scheid ist im Zweifel die planungsrechtliche Zuläs-sigkeit des Vorhabens einschließlich der Erschlie-ßung.3. Ein auf den Widerspruch eines Dritten durchAbhilfebescheid (§ 72 VwGO) aufgehobener Ver-waltungsakt kann hilfsweise widerrufen werden. 4. Ein Widerruf kann in eine Rücknahme mit Wir-kung für die Zukunft umgedeutet werden.

Sachverhalt:Der Kläger K beantragte beim zuständigen Landrats-amt L im Sommer 1999 die Erteilung eines Bauvor-bescheids für ein Bauvorhaben im Außenbereich derkleinen bayerischen Gemeinde G, mit dem er zur Ei-gennutzung eine dritte Wohneinheit in seinen bereitszwei Wohnungen umfassenden Gebäudekomplex ein-fügen wollte. Da er sich hierfür eine Begünstigungnach § 35 IV 1 Nr. 5c BauGB erhoffte, der aus-drücklich nur für “höchstens zwei” Wohnungen gilt,sprach K in seinem Antrag unrichtig stets von einer“zweiten Wohneinheit”. Sein Antrag enthielt keinerleiAngaben zur Frage der Abwasserbeseitigung, und ihmließ sich auch nicht explizit entnehmen, welche Frageer genau vorbeschieden haben wollte.L übersandte die Anfrage des K an G zwecks Prüfungund Erteilung des Einvernehmens. Bei G gingen dieUnterlagen am 13.8.99 ein. Unter dem 3.12.1999 ver-weigerte G, der das wahre Ausmaß des Bauvorhabensmit drei statt zwei Wohnungen trotz des irreführendenAntrags bereits bekannt war, das Einvernehmen ge-genüber L. Gleichwohl erteilte L dem K am 1.3.2000einen positiven Bauvorbescheid, weil die Verweige-rung des Einvernehmens der G verspätet gewesen sei. Gegen den Bauvorbescheid legte G Widerspruch ein.K gab während des laufenden Widerspruchsverfahrensdie ursprüngliche Eigennutzungsabsicht auf und bot abSommer 2001 das Grundstück zum Verkauf an. Dem Widerspruch der G half L schließlich mit Be-scheid vom 1.8.2001 ab, wobei es ferner hilfsweiseden Bauvorbescheid des K mit Wirkung für die Zu-kunft - formell ordnungsgemäß - nach Art. 49 Bay-VwVfG widerrief.

Hat L rechtmäßig gehandelt, indem es dem Wider-spruch der G abhalf, hilfsweise den Bauvorbescheidwiderrief?

[Bearbeitervermerk: Unterstellen Sie, dass eine Ge-fährdung öffentlicher Interessen durch den Bauvor-

bescheid auch ohne den hilfsweise ausgesprochenenWiderruf nicht besteht.]

Lösung:

A. Rechtmäßigkeit der AbhilfeDie Abhilfeentscheidung (§ 72 VwGO) des L ist recht-mäßig, soweit der Widerspruch der G zulässig undbegründet war. Fraglich ist zunächst die Zulässigkeit.

I. VerwaltungsrechtswegDas Widerspruchsverfahren ist in §§ 68 ff. VwGO ge-regelt. Zur Zulässigkeit des Widerspruchs gehört zu-nächst die Anwendbarkeit dieser Normen, also die Er-öffnung des Verwaltungsrechtswegs. Der Ver-waltungsrechtsweg ist gem. § 40 I 1 VwGO in allenöffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungs-rechtlicher Art eröffnet, für die keine abdrängendenSonderzuweisungen existieren. Der K erteilte, streitgegenständliche Bauvorbescheidist ein Verwaltungsakt nach § 35 VwVfG, mithin einetypisch öffentlich-rechtliche Handlungsform. Daher istder Streitgegenstand dem öffentlichen Recht zuzuord-nen. Inhaltlich geht es nicht um Verfassungsrecht, son-dern um Bauplanungsrecht nach dem BauGB, und ab-drängende Sonderregelungen sind nicht ersichtlich.Folglich ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.

II. StatthaftigkeitEin Widerspruch ist statthaft, sofern er Sachentschei-dungsvoraussetzung für eine spätere Klage ist. Dies istbei der Anfechtungsklage nach § 68 I 1 VwGO derFall, die sich gegen einen belastenden Verwaltungsaktrichtet, § 42 I, 1. Fall VwGO. Der Bauvorbescheid desK ist ein die G drittbelastender Verwaltungsakt, dervon dieser mittels Anfechtungsklage angegriffen wer-den könnte. Ausnahmefälle nach § 68 I 2 VwGO grei-fen hier nicht ein, so dass es bei der Statthaftigkeit desWiderspruchs bleibt.

III. WiderspruchsbefugnisG müsste Widerspruchsbefugt sein. Analog § 42 IIVwGO besteht ein Interesse daran, zur Entlastung desBehörden Popularwidersprüche auszuschließen. Des-halb müsste G geltend machen, durch den angegriffe-nen Bauvorbescheid in ihren Rechten verletzt zu sein.

[Anm.: Grds. genügt für die Widerspruchsbefugnisjede Form der Beschwer, wie § 70 I VwGO verdeut-licht, der vom “Beschwerten” spricht. Dazu zählt we-gen § 68 I 1 VwGO auch die Zweckwidrigkeit, soferndie entsprechende Ermessensnorm zumindest auch denInteressen des Widerspruchsführers dient (vgl. nurSchoch, Übung im Öffentlichen Recht I, Fall 6, unterA.III.). Diese Alternative ist vom VGH, der in der vor-liegenden Entscheidung allein auf die mögliche Be-schwer durch rechtswidrige Erteilung des Bauvorbe-

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scheids trotz verweigerten Einvernehmens abgestellthat, nicht erwähnt worden.]

Als verletztes Recht der G kommt hier § 36 I BauGBin Betracht, der seinerseits Ausdruck der Selbstver-waltungsautonomie der G in Gestalt der Planungsho-heit aus Art. 28 II GG ist. Der Bauvorbescheid ist er-teilt worden, obwohl G ihr Einvernehmen verweigerthatte. Der VGH hält eine Verletzung des § 36 IBauGB aber gleichwohl nicht für möglich, weil dasEinvernehmen zuvor bereits nach § 36 II 2 BauGBfingiert worden sei:

1. Fiktion nach Ablauf von 2 Monaten“Das Einvernehmen zu dem am 13.8.1999 bei Geingegangenen Vorbescheidsantrag gilt seit dem14.10.1999 als erteilt, weil G weder vor Ablauf derFrist gegenüber dem Kläger geltend gemacht hat, dassdie Bauvorlagen nicht prüffähig seien, noch gegenüberdem Kläger oder L das Einvernehmen fristgerecht ver-sagt hat. G hat das Einvernehmen vielmehr erst mitdem am 3.12.1999 bei L eingegangenen Beschluss desBauausschusses vom 16.11.1999 verweigert.”

2. Trotz Unvollständigkeit der Bauunterlagen “Die Einvernehmensfiktion des § 36 Abs. 2 Satz 2Halbsatz 2 BauGB ist trotz Unvollständigkeit der Bau-vorlagen eingetreten, weil G den Kläger vor dem Ab-lauf der Zwei-Monats-Frist nicht auf den Mangel hin-gewiesen hat. Unabhängig davon ist die Einverneh-mensfiktion jedenfalls deshalb eingetreten, weil derAntrag trotz seiner Unvollständigkeit prüffähig war.”

a. Unvollständigkeit“Der Vorbescheidsantrag (Art. 75 Abs. l Satz 1 Bay-BO) war unvollständig, weil er keine Angaben zurAbwasserbeseitigung enthielt, obwohl der Kläger dieplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens ein-schließlich der Frage der Erschließung geprüft habenwollte.”

(1). Nicht nur Voraussetzungen des § 35 IV 1 Nr. 5BauGB zu prüfen“Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass Ge-genstand des Antrags nur die Frage der Begünstigungdes Vorhabens gemäß § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGBsei, ist unzutreffend. Gegen diese Auffassung sprichtschon, dass ein auf die Prüfung der Voraussetzungendes § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB beschränkter Vor-bescheidsantrag unzulässig wäre. Diese Frage betrifftnämlich nicht einen abtrennbaren Ausschnitt aus demGenehmigungsmaßstab der Baugenehmigung (Art. 73Abs. 1 Nr. 1 BayBO, § 29 Abs. l, § 35 Abs. 2 Tatbe-standsvoraussetzung 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 BauGB),sondern nur die Frage, ob dem Vorhaben entgegen-gehalten werden kann, dass es den Darstellungen desFlächennutzungsplans widerspricht, die natürliche Ei-

genart der Landschaft beeinträchtigt oder die Verfesti-gung einer Splittersiedlung befürchten lässt (§ 35 Abs.4 Satz 1 Halbsatz 1 BauGB). Die Prüfung einzelneröffentlicher Belange kann aber nicht zum Gegenstandeines Vorbescheidsantrags gemacht werden.”

(2). Vielmehr bauplanungsrechtliche Zulässigkeit ins-gesamt fraglich“Die Auffassung des Verwaltungsgerichts wider-spricht außerdem dem erkennbaren Willen des Klä-gers. Dessen Ziel war ein Vorbescheid, der feststellt,dass das Vorhaben städtebaulich zulässig ist (§ 35Abs. 2 Tatbestandsvoraussetzung 1 BauGB) und dassdie Erschließung gesichert ist (§ 35 Abs. 2 Tat-bestandsvoraussetzung 2 BauGB). Gegenstand einesAntrags auf Bauvorbescheid ist nämlich im Zweifeldie planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens ein-schließlich der Erschließung. [...] Lässt ein Vor-bescheidsantrag nicht klar erkennen, in welchem Um-fang die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit geprüftwerden soll, dann ist im Zweifel anzunehmen, dassGegenstand des Vorbescheids „die bodenrechtlicheZulässigkeit des Vorhabens" (vgl. § 42 Abs. 6 und 7BauGB) einschließlich der Frage der Erschließungsein soll. Ein Bauherr will nämlich mit dem Vorbe-scheid im Regelfall eine gesicherte Rechtsstellung er-langen, die von einer nachträglich erlassenen Verän-derungssperre (§ 14 Abs. 3 BauGB) und einem nach-träglich erlassenen Bebauungsplan unberührt bleibt(BVerwGE 69, 1, 3; BGH, BauR 1986, 319, 321) unddie ihm im Falle eines Widerrufs des Vorbescheidswegen Änderung oder Aufhebung der bisher zulässi-gen Nutzung nicht nur einen Anspruch auf Ersatz desVertrauensschadens gemäß Art. 49 Abs. 6 Bay-VwVfG, sondern einen Entschädigungsanspruch nachEnteignungsgrundsätzen (§ 42 Abs. 2, 4 und 6BauGB) vermittelt (Bielenberg/Runkel, in: Ernst/Zin-kahn/Bielenberg, BauGB, § 42 RdNr. 108). Der Bau-herr will auch erreichen, dass ihm im Fall einer rechts-widrigen Ablehnung des Antrags nach Maßgabe des §42 Abs. 7 BauGB ein planungsschadenrechtlicherEntschädigungsanspruch zusteht. Diese Voraussetzun-gen erfüllt aber nur ein Vorbescheid, der als “Bebau-ungsgenehmigung” die planungsrechtliche Zulässig-keit des Vorhabens abschließend, also einschließlichder Sicherung der Erschließung, feststellt (BayVGH,BayVBl. 2000, 314 mit ablehnender Anmerkung vonJäde; Lemmel, in: Berliner Kommentar zum Bauge-setzbuch, 3. Aufl., § 14 RdNr. 24).”

Ohne Angaben zur Abwasserentsorgung ist die Siche-rung der Erschließung aber nicht überprüfbar. Mithinwaren die vorgelegten Unterlagen unvollständig.

b. Unschädlichkeit“Die Einvernehmensfiktion ist trotz der Unvollständig-keit des Antrags eingetreten, weil G den Kläger vor

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dem Ablauf der Zwei-Monats-Frist nicht auf den Man-gel hingewiesen hat.Nach § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB gilt das Einverneh-men der Gemeinde als erteilt, wenn es nicht binnenzwei Monaten nach Eingang des Ersuchens der Ge-nehmigungsbehörde verweigert wird; dem Ersuchengegenüber der Gemeinde steht die Einreichung desAntrags bei der Gemeinde gleich, wenn sie - wie inArt. 67 Abs. l Satz 1 BayVO - nach Landesrecht vor-geschrieben ist.”

aa. Herrschende Meinung: Keine Fiktion“Überwiegend wird angenommen, dass die Fiktions-frist bei einem unvollständigen Antrag nicht zu laufenbeginnt (BVerwG, BayVBl. 1997, 376; VGH BW,BauR 2003, 1534, 1535; NdsOVG, NVwZ 1999,1003, 1004; SächsOVG, SächsVBl. 2003, 64; Söfker,in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 36 RdNrn. 8und 39; Dürr, in: Brügelmann, BauGB, § 36 RdNr.43). Das soll selbst dann gelten, wenn der Gemeindedie für die planungsrechtliche Prüfung maßgeblichenUmstände bekannt sind, wenn der Antrag also trotz derUnvollständigkeit “prüffähig” ist.”

bb. Abweichende Ansicht des VGH“Dieser Auffassung folgt der Senat nicht. Die Fik-tionsfrist beginnt auch bei einem unvollständigen An-trag zu laufen (vgl. Jäde, Gemeinde und Baugesuch,2.Aufl., RdNr. 95; vgl. auch BVerwG, NJW 1980,1120 zum Anlaufen der “Verschweigungsfrist” des §19 Abs. 4 Satz 3 BBauG 1960). Die Fiktionswirkungtritt aber dann nicht ein, wenn die Gemeinde den Bau-herrn vor Ablauf der Frist auf den Mangel seines An-trags hinweist. Für diese Auslegung sprechen derWortlaut der Vorschrift, die Gesetzesbegründung undder Zweck der Einvernehmensfiktion. Die Belange derGemeinde werden auch bei dieser Auslegung ge-wahrt.”

(1). Auslegung des § 36 II 2 BauGB

(a). Gesetzeswortlaut“Der Gesetzeswortlaut legt die Auffassung nahe, dassdie Frist auch bei einem unvollständigen Antrag mitdem Eingang bei der Gemeinde zu laufen beginnt. DieVorschrift stellt allein auf den Zeitpunkt des Eingangsab. Sie enthält hinsichtlich des Fristbeginns keineEinschränkungen.”

(b). Historisch“Die Gesetzesbegründung bestätigt dieses Wortver-ständnis. Die Fristenregelung des § 36 Abs. 2 Satz 2BauGB ist durch das Gesetz zur Beschleunigung vonVerfahren und zur Erleichterung von Investitionen imStädtebaurecht vom 6.7.1979 (BGBl. I, S. 949) in dasBBauG eingefügt worden, um Investitionshemmnisseabzubauen und die Verfahren zur Genehmigung von

Vorhaben zu beschleunigen. Der Fristenregelung solltedadurch “praktische Wirksamkeit” verschafft werden,dass “bei Verschweigen der Gemeinde innerhalb derFrist” das Einvernehmen als erteilt gelten soll(Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 8/2451,S. 13). In der Begründung zur Einfügung der Einver-nehmensfiktion wird klargestellt, dass durch diese Re-gelung das Genehmigungsverfahren beschleunigt wer-den soll und dass die Frist “mit dem Eingang des Ersu-chens bei der Gemeinde” beginnen soll (BT-Drs.8/2451, S. 24). Die Gesetzesbegründung enthält keineHinweise auf Einschränkungen für den Fristbeginn.Das Gesetz über das BauGB vom 8.12.1986 (BGBl. I,S. 2191) hat diese Fristenregelung unverändert über-nommen.”

(c). Teleologisch “Halbsatz 2 der Vorschrift ist durch das Investitions-erleichterungs- und Wohnbaulandgesetz vom22.4.1993 (BGBl. I, S. 466) eingefügt worden. Zweckder Vorschrift ist, innerhalb der Frist klare Verhältnis-se über die Einvernehmenserklärung der Gemeinde zuschaffen (BVerwG, BayVBl. 1997, 376; NdsOVG,NVwZ 1999, 1003, 1004; VGH BW, BauR 2003,1534, 1536; Lasotta, Das Einvernehmen der Gemeindenach § 36 BauGB, S. 189). Die Regelung dient zwarauch öffentlichen Interessen, in erster Linie aber demInteresse des Bauherrn an einer beschleunigten Be-handlung seines Antrags. Ohne diese Regelung könntedie Gemeinde durch ein Schweigen über das Einver-nehmen das Genehmigungsverfahren verzögern. DerBauherr soll darauf vertrauen dürfen, dass spätestensnach Ablauf von zwei Monaten ab Eingang seines An-trags bei der Gemeinde Klarheit über die Erteilung desEinvernehmens besteht. Aus diesem Grund kann dieFrist nicht verlängert werden und gegen ihre Versäu-mung keine Wiedereinsetzung in den vorigen Standgewährt werden (BayVGH, BayVBl. 2001, 242 =NVwZ-RR 2001, 364). Das Einvernehmen kann grund-sätzlich nicht zurückgenommen werden. Es kann auchweder widerrufen noch im Rahmen einer Klage derGemeinde gegen die Baugenehmigung beseitigt wer-den (Dürr, in: Brügelmann, BauGB, § 36 RdNr. 44).Von diesem Gesetzesziel wird mit der Einschränkung,dass ein unvollständiger Antrag die Fiktionsfrist nichtin Gang setzt, stärker abgewichen als dies zum Schutzder Gemeinde erforderlich ist. Das gilt vor allem dann,wenn der Antrag trotz seiner Unvollständigkeit für dieGemeinde prüffähig ist oder wenn der Bauherr diemangelnde Prüffähigkeit nicht erkennen kann. KlareVerhältnisse zum Einvernehmen der Gemeinde setzenklare Kriterien über den Beginn der Frist voraus.”

(2). Keine unverhältnismäßigen Nachteile für die Ge-meinden“Die Auffassung, dass auch ein nicht vollständiger undsogar ein nicht - in vollem Umfang - prüffähiger An-

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trag die Frist beginnen lässt, führt nicht zu einer un-zumutbaren Beeinträchtigung der Interessen der Ge-meinde. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass für dieorts- und sachnahe Gemeinde im Regelfall zwei Mo-nate ausreichen, um die planungsrechtliche Zulässig-keit des Vorhabens zu beurteilen. Reicht diese Zeitausnahmsweise nicht aus, dann kann die Gemeindedas Einvernehmen zunächst innerhalb der Frist ver-weigern und es nach Abschluss der Prüfung doch nocherteilen. Auch wenn die Einvernehmensfiktion eingetreten ist,sind der Gemeinde nicht alle Möglichkeiten genom-men. Erkennt sie nachträglich, dass das Vorhaben pla-nungsrechtlich unzulässig ist, kann sie ihren Stand-punkt, solange der Vorbescheid oder die Baugenehmi-gung noch nicht erteilt ist, der Bauaufsichtsbehördevortragen, die dies bei ihrer eigenständigen Prüfungder planungsrechtlichen Zulässigkeit in aller Regel inbesonderer Weise berücksichtigen wird (vgl. BVerwG,BayVBl. 1997, 376 = NVwZ 1997, 900, 901). Außer-dem hindert das Einvernehmen die Gemeinde grund-sätzlich nicht, vor der Erteilung des Vorbescheids oderder Baugenehmigung noch eine dem Vorhaben wider-sprechende Bauleitplanung zu betreiben und sie durcheinen Antrag auf Zurückstellung des Baugesuchs (§ 15BauGB) oder eine Veränderungssperre (§ 14 BauGB)zu sichern (vgl. BVerwG, NVwZ 2004, 858).”

(3). Ausnahme bei Nachfrage der Gemeinde“Bei einem nicht prüffähigen Antrag, der als solcherim Allgemeinen rasch zu erkennen ist, hat die Gemein-de nach bayerischem Recht zudem die Befugnis, vomBauherrn eine Ergänzung oder Berichtigung zu ver-langen (Art. 67 Abs. l Satz 3, Art. 75 Abs. 2 BayVO).Maßgebend ist dabei nicht die Vollständigkeit, son-dern die Prüffähigkeit des Antrags. Die Bauaufsichts-behörde soll nach § 1 Abs. 3 BauVorlVO auf Bauvor-lagen oder einzelne Angaben in Bauvorlagen sowieauf bautechnische Nachweise verzichten, soweit siezur Beurteilung der Genehmigungsfähigkeit des Vor-habens nicht erforderlich sind. Diese Vorschrift gilt fürdie Gemeinde bei der Beurteilung der planungsrecht-lichen Zulässigkeit entsprechend. Die Gemeinde sollnicht Angaben zu Umständen nachfordern, die ihr be-reits bekannt sind.Fordert die Gemeinde den Bauherrn innerhalb der Fik-tionsfrist auf, bestimmte Angaben nachzureichen oderzu berichtigen, so stellt dies gegenüber der Versagungdes Einvernehmens ein Weniger dar. Die Aufforde-rung hat aber wie die Versagung des Einvernehmensdie Wirkung, dass die Fiktionsfrist nicht abläuft. Mitdem Eingang der angeforderten Unterlagen bei derGemeinde beginnt eine neue Frist zu laufen.Nach diesem Maßstab ist die Fiktionswirkung mit Ab-lauf des 13.10. 1999 unabhängig davon eingetreten, obder Antrag prüffähig war. G hat nämlich innerhalb derFrist gegenüber dem Kläger nicht geltend gemacht,

dass er das Vorhaben aufgrund des Antrags nichtplanungsrechtlich beurteilen könne.“

3. Trotz Unrichtigkeit der Bauunterlagen

a. Unrichtigkeit“Dem Eintritt der Fiktionswirkung steht auch nichtentgegen, dass der Vorbescheidsantrag unrichtige An-gaben enthält. Ein Bauherr, der in seinem Antrag ineiner für die Gemeinde nicht ohne weiteres erkenn-baren Weise Tatsachen, die für die planungsrechtlicheBeurteilung seines Vorhabens erheblich sind, unrichtigangibt, verdient grundsätzlich nicht den Schutz derEinvernehmensfiktion des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB.Es kann offen bleiben, ob ein solcher Antrag schon dieFiktionsfrist nicht in Gang setzt oder ob, wofür mehrspricht, in diesem Fall das - erteilte oder fingierte -Einvernehmen ausnahmsweise zurückgenommen wer-den kann.”

b. Ohne Folgen bei Kenntnis der Gemeinde Falsche Angaben bleiben aber ohne Folgen, wenn derGemeinde der richtige Sachverhalt bekannt ist. DieAngabe, dass es bei dem Vorhaben um die Errichtungeiner zweiten Wohneinheit gehe, ist unrichtig. Tatsäch-lich handelt es sich um die Errichtung einer drittenWohneinheit, weil sich in dem Wohnhaus des Klägersbereits zwei Wohnungen befinden. Die Unrichtigkeitbetrifft auch eine entscheidungserhebliche Frage. § 35Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB begünstigt nämlich nur dieErweiterung eines Wohngebäudes “auf bis zu höch-stens zwei Wohnungen”, nicht aber die Errichtung ei-ner dritten Wohnung. Dieser Mangel war jedoch für Gohne Bedeutung, weil ihr die richtige Zahl der Woh-nungen schon beim Eingang des Antrags bekanntwar.”

4. ErgebnisMit der demzufolge eingetretenen Fiktionswirkung des§ 36 II 2 BauGB ist eine Verletzung der G in ihremRecht aus der in § 36 I BauGB verkörperten Planungs-hoheit ausgeschlossen. Andere subjektiv-öffentlicheRechte der G sind nicht ersichtlich. Mithin war ihr Wi-derspruch mangels Widerspruchsbefugnis unzulässig.L hätte ihm nicht abhelfen dürfen, die Abhilfeentschei-dung war rechtswidrig.

B. Rechtmäßigkeit des hilfsweisen WiderrufsFraglich ist, ob der hilfsweise erklärte Widerruf recht-mäßig ist.

I. Hilfsweise Dann müsste eine hilfsweise Aufhebung eines Ver-waltungsakts zunächst überhaupt zulässig sein. DerVGH sieht hierin kein Problem:“Die Widerrufsentscheidung ist nicht schon deshalbrechtswidrig, weil sie hilfsweise ergangen ist. Ein

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hilfsweise zu einem anderen Verwaltungsakt erlasse-ner Verwaltungsakt ist rechtstechnisch eine Regelungmit einer aufschiebenden Bedingung (Art. 43 Abs. lSatz 2, Art. 36 Abs. 2 Nr. 2 BayVwVfG). Der Verwal-tungsakt wird mit seiner Bekanntgabe äußerlich wirk-sam (Art. 43 Abs. l Satz 1 BayVwVfG). Inhaltlichwird er wirksam, wenn der hauptsächlich erlasseneVerwaltungsakt (in einem weiten Sinn verstanden)“wegfällt”. Es gibt keinen Rechtssatz, der hilfsweiseerlassene Regelungen - sei es den Erlass eines Verwal-tungsakts oder die Aufrechterhaltung der ursprüngli-chen Fassung eines nachträglich geänderten Verwal-tungsakts (vgl. hierzu Kopp/Schenke, VwGO, 13.Aufl., § 44 RdNr. l) - ausschließt.”

II. VoraussetzungenEin belastender Verwaltungsakt wie der Widerruf ei-nes Bauvorbescheids darf nur erlassen werden, wenner auf einer Ermächtigungsgrundlage beruht, derenformelle und materielle Voraussetzungen erfüllt sind.

1. ErmächtigungsgrundlageAls Ermächtigungsgrundlage kommt Art. 49 Abs. 2Satz 1 Nr. 3 BayVwVfG in Betracht. Die zwischen-zeitlich aufgegebene Eigennutzungsabsicht des Kkönnte einen nachträglichen Versagungsgrund im Sin-ne dieser Vorschrift darstellen.

2. Formelle RechtmäßigkeitDie formelle Rechtmäßigkeit ist laut Sachverhalt gege-ben.

3. Materielle Rechtmäßigkeit

a. Tatbestand des § 49 II 1 Nr. 3 VwVfGNach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BayVwVfG darf einrechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt mit Wir-kung für die Zukunft widerrufen werden, wenn dieBehörde aufgrund nachträglich eingetretener Tatsa-chen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zuerlassen, und wenn ohne den Widerruf das öffentlicheInteresse gefährdet würde.

aa. Rechtmäßiger Verwaltungsakt“Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BayVwVfG ist auf denVorbescheid anwendbar, obwohl dieser rechtswidrigwar. Die Widerrufsvorschrift des Art. 49 BayVwVfGist nach ihrem Zweck auch und erst recht auf rechts-widrige begünstigende Verwaltungsakte anwendbar(BVerwG, NVwZ 1987, 498, 499; Sachs, in: Stel-kens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 49 RdNr. 6m.w.N.). Somit ist für den Widerruf unerheblich, dassder Vorbescheid rechtswidrig war.” [...]

bb. Nachträglicher Versagungsgrund“Nachträglich eingetretene Tatsachen, die das Land-ratsamt berechtigen würden, den Vorbescheid nicht zu

erlassen, liegen darin, dass der Kläger die Absicht, dasGebäude für sich oder seine Familie zu nutzen, aufge-geben hat. Der Kläger hat das Anwesen ab Juni 2001durch Anzeigen in Zeitungen und im Internet sowiedurch ein auf dem Grundstück aufgestelltes Schildzum Verkauf angeboten. [...] Mit der Aufgabe derSelbstnutzungsabsicht ist eine Voraussetzung für dieBegünstigung des Vorhabens entfallen (vgl. § 35 Abs.4 Satz 1 Nr. 5c BauGB).”

cc. Gefährdung öffentlicher InteressenSchließlich müsste ohne den Widerruf das öffentlicheInteresse gefährdet werden, Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3BayVwVfG a.E. Diese Voraussetzung ist nur erfüllt,wenn die für den Widerruf sprechenden öffentlichenInteressen - unter Berücksichtigung der Interessen desBetroffenen am Fortbestand seiner durch den Verwal-tungsakt erlangten Rechtsposition - mehr Gewicht ha-ben als das allgemeine Interesse, einer neuen Sach-oder Rechtslage - auch durch Aufhebung ihr nichtmehr entsprechender Verwaltungsakte - Geltung zuverschaffen.Laut Sachverhalt soll ein solches gesteigertes öffentli-ches Interesse nicht vorliegen.

[Anm.: Der VGH hatte das öffentliche Interesse imOriginalfall nach ausführlicher Abwägung der kon-kreten Umstände des Einzelfalls bejaht und die nunfolgenden Ausführungen nur hilfsweise gemacht.]

b. Umdeutung in RücknahmeEs kommt jedoch eine Umdeutung des Widerrufs nachArt. 49 BayVwVfG in eine Rücknahme nach Art. 48BayVwVfG in Betracht. Diese würde zur Rechtmäßig-keit der Aufhebung führen, wenn sie zulässig wäre unddie Voraussetzungen für eine Rücknahme vorlägen.

aa. Zulässigkeit der Umdeutung“Nach Art. 47 Abs. l BayVwVfG kann ein fehlerhafterVerwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt um-gedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerich-tet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehe-nen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlas-sen werden können und wenn die Voraussetzungen fürdessen Erlass erfüllt sind.Die Umdeutungsvoraussetzungen liegen vor. [...] DieRücknahme eines Bauvorbescheids ist nicht generellausgeschlossen (Art. 47 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG).Der Widerruf und die Rücknahme des Vorbescheidssind auf das gleiche Ziel, nämlich die Aufhebung desVorbescheids, gerichtet (Art. 47 Abs. l BayVwVfG).Beide Entscheidungen sind Ermessensentscheidungen(Art. 47 Abs. 3 BayVwVfG). Die Umdeutung des Wi-derrufs in eine Rücknahme widerspricht nicht der er-kennbaren Absicht des Landratsamts (Art. 47 Abs. 2Satz 1 Alternative 1 BayVwVfG). Die Tatsache, dassdas Landratsamt den Vorbescheid nicht nur im Wege

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der Abhilfe (§ 72 VwGO) aufgehoben, sondern ihnzusätzlich hilfsweise widerrufen hat, zeigt, dass es denVorbescheid auf jeden Fall - auf welche rechtlich zuläs-sige Weise auch immer - aufheben wollte. Eine Um-deutung des Widerrufs in eine Rücknahme mit Wir-kung für die Zukunft (Art. 48 Abs. l Satz 1 Alternative1 BayVwVfG) hat für den Kläger keine ungünstigerenRechtsfolgen als ein Widerruf (Art. 47 Abs. 2 Satz 1Alternative 2 BayVwVfG).”

[Anm.: Im Originalfall stellte sich das weitere Pro-blem, ob diese Umdeutung durch das Gericht vorge-nommen werden darf, obwohl sich § 47 VwVfG (bzw.im Fall der gleichlautende Art. 47 BAyVwVfG) an dieBehörde wendet. Dies ist sehr streitig, wurde aber vomVGH bejaht:“Zuständig zur Umdeutung ist nach dem Zweck derRegelung die Stelle, die mit dem fehlerhaften Verwal-tungsakt befasst ist. Ein Verwaltungsakt, der Gegen-stand eines gerichtlichen Verfahrens ist, kann deshalbauch vom Gericht umgedeutet werden (BVerwG,NVwZ 1984, 645; BVerwGE 110, 111, 114 m.w.N.;Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 47RdNr. 10; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 8. Aufl., § 47RdNr. 35a; Jörg Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 11.Auf l . , § 113 RdNr. 23; a .A. Gerhardt , in:Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 113RdNr. 22; Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., RdNr. 79).Die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts für dasLand Nordrhein-Westfalen vom 2.12.1987 (NVwZ1988, 942, 943), dass eine Umdeutung eines Widerrufsin eine Rücknahme durch das Gericht unzulässig sei,weil es an einer behördlichen Betätigung desRücknahmeermessens fehle, ist unzutreffend. Die Um-

deutung stellt keinen Verwaltungsakt dar, durch dender fehlerhafte Verwaltungsakt aufgrund einer Ermes-sensentscheidung der Behörde geändert wird. Zwarbestimmt Art. 47 Abs. l BayVwVfG, dass ein fehlerhaf-ter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsaktumgedeutet werden “kann”. Mit diesem Wortlaut er-öffnet die Vorschrift für den Rechtsanwender aber keinUmdeutungsermessen, sondern eine Umdeutungsbe-fugnis mit einer Umdeutungspflicht. Die Umdeutungist ein Erkenntnisakt, kein Entscheidungsakt (BVerwG,BayVBl. 1984, 217).”]

bb. Voraussetzungen der Rücknahme“Die Rücknahmevoraussetzungen des Art. 48BayVwVfG liegen vor. Der Vorbescheid war, wie be-reits dargelegt, rechtswidrig. Der Bescheid vom1.8.2001 wahrt die Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 Satz1 BayVwVfG. Ein Vertrauensschutz durch Bestands-schutz kommt nicht in Betracht (Art. 48 Abs. 3BayVwVfG), weil der Vorbescheid keine Geldleistungoder Sachleistung betrifft (Art. 48 Abs. 2 Satz 1 Bay-VwVfG).”

[Anm.: Auf die weithin vertretene Meinung, dass einsolcher Bestandsschutz in den Fällen des § 48 IIIVwVfG dennoch im Ermessen zu prüfen sei - vgl hierzunur OVG NRW, RA 2005, 84 = NWVBl 2005, 71m.w.N. - geht der VGH überhaupt nicht ein, obwohlder Sachverhalt hierzu Anlass geboten hätte.]

Mithin hat L mit dem hilfsweise erklärten, in eineRücknahme umzudeutenden Widerruf rechtmäßig ge-handelt.

Standort: § 138 I BGB Problem: Sittenwidrigkeit einer Globalzession

BGH, URTEIL VOM 14.07.2004XII ZR 257 / 01 (NJW 2005, 1192)

Problemdarstellung:Die Kl. hatte sich hier im Rahmen der Vermietung vonBaumaschinen an die Bekl. - bzw. an ihre Kundin, de-ren Vermögen die Bekl. nunmehr im Rahmen des Ge-samtvollstreckungsverfahrens verwaltete - zur Siche-rung ihrer Mietforderungen bestehende und künftigeWerklohnforderungen der Schuldnerin gegen derenKunden abtreten lassen. Als dann der Sicherungsfalleintrat, berief die Bekl. sich auf eine zeitlich vorausge-gangene Globalzession zugunsten ihrer kreditgeben-den Bank und verweigerte bereits die Auskünfte, dererdie Kl. zur Geltendmachung der vermeintlich abgetre-tenen Forderungen bedurft hätte.Die Kl. zog daraufhin die Rechtsprechung des BGHheran, wonach eine derartige Globalzession wegen

Verstoßes gegen § 138 I BGB / § 307 I BGB nichtigsei, wenn sie nicht solche Forderungen, die im Rah-men eines branchenüblichen verlängerten Eigentums-vorbehalts eines Warenlieferanten an diesen abgetretenzu werden pflegen, von vornherein ausklammert.Der BGH erteilte dieser Argumentation jedoch eineAbsage und verwies darauf, dass die Kl. als Vermiete-rin von Baumaschinen kein mit dem Warenlieferantenvergleichbares Sicherungsbedürfnis habe. Letztererdrohe bei Scheitern des verlängerten Eigentumsvor-behalts den Substanzwert der gelieferten Ware ersatz-los zu verlieren, während der Kl. lediglich temporärdie Nutzungsmöglichkeit der Mietsache - nicht jedochdie Sache selbst - verloren zu gehen droht. Die Sitten-widrigkeit der Globalzession zugunsten des Geldkre-ditgebers bei Kollision mit dem verlängerten Eigen-tumsvorbehalt des Warenkreditgebers beruhe jedochgerade auf der Annahme, dass die Globalzession dem

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Sicherungsgeber die Möglichkeit nehme, auf das be-sondere Sicherungsbedürfnis des WarenlieferantenRücksicht nehmen zu können.

Prüfungsrelevanz:Die verschiedenen Möglichkeiten der Forderungssi-cherung und ihre rechtliche Beurteilung, hierbei ins-besondere die Kontrolle, inwieweit sich in dem Siche-rungsgeschäft ein eigensüchtiges Interesse des Siche-rungsnehmers auf Kosten seines Vertragspartners so-wie auf Kosten möglicher anderer Gläubiger nieder-schlägt, sind ebenso prüfungs- wie praxisrelevant. Ne-ben der Kontrolle von Bürgschaftsverträgen gem. §138 I BGB / §§ 305 ff BGB bildet im Bereich derRealsicherheiten die Rechtsprechung zur Frage derÜbersicherung bei Übertragung von Sach- oder Forde-rungsmehrheiten sowie die hier relevante Problematikder Kollision mehrerer Sicherungsgeschäfte zugunstenverschiedender Gläubiger einen klaren Schwerpunkt.Fundierte Kenntnisse auch der neuesten Rechtspre-chungsentwicklungen sind in diesem Bereich somitunverzichtbar.

Vertiefungshinweise:“Unwirksamkeit formularmäßiger Globalbürgschaf-ten ohne Beschränkung auf die “Anlassforderung”:BGH, RA 2000, 135 = WM 2000, 64 “ Stützen eines Zurückbehaltungsrechts auf einen si-cherungshalber abgetretenen Gegenanspruch: BGH,RA 2000, 80 = NJW 2000, 278

Kursprogramm:“ Examenskurs : “Die Globalzession der Bank”“ Assessorkurs : “Ärger mit den Akten”

Leitsätze:1. Zur Kollision einer Globalzession zu Gunsteneiner Bank mit einer zeitlich nachfolgenden Global-zession zu Gunsten des Vermieters von Baumaschi-nen.2. Die Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit einerGlobalzession bei Kollision mit einem zeitlich nach-folgenden verlängerten Eigentumsvorbehalt einesWarenkreditgebers kann nicht auf die Kollisioneiner Globalzession zu Gunsten einer Bank mit ei-ner späteren Globalzession zu Gunsten eines Ver-mieters von Baumaschinen übertragen werden.(Leitsatz 2 der Redaktion)

Sachverhalt:Die Kl. macht gegen die Bekl. als Verwalterin in demam 11.05.1998 eröffneten Gesamtvollstreckungs-ver-fahren über das Vermögen der I- und T-GmbH (imFolgenden: Schuldnerin) Auskunfts- und Zahlungsan-sprüche aus behaupteten Sicherungsabtretungen gel-

tend. Die Kl. vermietete an die im Baugewerbe tätigeSchuldnerin Baumaschinen, die diese bei der Errich-tung von Bauvorhaben einsetzte. Gemäß Nr. I 6 derAllgemeinen Geschäftsbedingungen der Kl., derenVereinbarung zwischen den Parteien streitig ist, trittder Mieter in Höhe der Mietforderung seine bestehen-den und künftigen Werklohnforderungen gegenüberBauherren /Auftraggebern sicherungshalber an die Kl.ab. Aus Mietverträgen in der Zeit von Juni 1996 bisNovember 1997 stehen noch Mietforderungen offen.Die Bek1. verweigerte die von der Kl. verlangte Aus-kunft und Zahlung im Hinblick auf eine zeitlich frühe-re Globalzession der Schuldnerin an die I-Bank desLandes Brandenburg (im Folgenden: I-Bank) vom23.12.1994, mit der die Schuldnerin sämtliche aus ih-rem Geschäftsbetrieb entstandenen und entstehendenForderungen zur Sicherung von Darlehensansprüchenabgetreten hatte. Ausgenommen hiervon waren demverlängerten Eigentumsvorbehalt von Lieferanten un-terliegende Forderungen, die erst in dem Zeitpunkt andie I-Bank abgetreten sein sollten, in dem sie nichtmehr durch den verlängerten Eigentumsvorbehalt er-fasst wurden. Die Kl. ist der Ansicht, die Globalzessi-on zu Gunsten der I-Bank sei gem. § 138 BGB bzw. §307 I BGB nach den Grundsätzen der Rechtsprechungzur Kollision einer Globalzession mit einem verlänger-ten Eigentumsvorbehalt, die auch auf den vorliegendenFall der Kollision einer Globalzession mit Sicherungs-abtretungen im Rahmen von Vermietungen anwendbarseien, unwirksam.

Hat die Kl. die geltend gemachten Auskunfts- undZahlungsansprüche gegen die Bekl. ?

[Anm.:Der Fall ist nach aktuell geltendem Recht zulösen. Es ist davon auszugehen, dass die Bekl. hin-sichtlich der geltend gemachten Ansprüche passiv le-gitimiert ist. Weitere Besonderheiten, die sich aus derEröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens überdas Vermögen der I- und T-GmbH (Schuldnerin) er-geben könnten, sind außer Betracht zu lassen.]

Lösung:

A. Auskunftsanspruch des Zessionars im Falle einer(Sicherungs-) Abtretung gem. § 402 BGBDie Kl. könnte gegen die Bekl. einen Anspruch aufErteilung der zur Geltendmachung der Werklohnforde-rungen gegen die Kunden der Schuldnerin erforderli-chen Auskünfte gem. § 402 BGB haben. Der Aus-kunftsanspruch des § 402 BGB ist an die Abtretungeiner Forderung geknüpft, wenngleich die Pflichtendes Zedenten im Rahmen des der Abtretung zugrunde-liegenden Kausalgeschäfts auch abweichend ausge-staltet werden können (Palandt-Heinrichs, § 402 Rz.1).

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I. Wirksame AbtretungAnspruchsvoraussetzung ist somit zunächst das Vor-liegen einer wirksamen Forderungsabtretung gem. §398 BGB zugunsten der Kl. Voraussetzung hierfür isteine die abgetretenen Forderungen hinreichend be-stimmbar bezeichnende, wirksame, grundsätzlichformfrei mögliche Einigung zwischen den Parteiensowie die Berechtigung des Zedenten, mithin seineForderungsinhaberschaft.

1. EinigungDie erforderliche Einigung i. S. d. § 398 BGB könntedadurch zustandegekommen sein, dass Nr. I 6 der AG-Ben der Kl. zur Sicherung der der Kl. zustehendenMietforderungen die Abtretung bestehender und künf-tiger Werklohnforderungen der Schuldnerin gegenüberderen Bauherrn/Auftraggebern vorsah. Allerdings istdie wirksame Einbeziehung dieser Geschäftsbedingun-gen in die vertraglichen Beziehungen zwischen der Kl.und der Schuldnerin streitig geblieben, so dass nichtklar ist, ob auf den Inhalt dieser AGB-Klausel abge-stellt werden kann.Dieses kann im Ergebnis allerdings auch dahinstehen,wenn eine Abtretung zugunsten der Kl. jedenfalls ander Verfügungsberechtigung der Schuldnerin scheitert.

2. BerechtigungEin Fehlen der zur Abtretung grundsätzlich berechti-genden Forderungsinhaberschaft der Schuldnerinkönnte sich daraus ergeben, dass diese ihre Werklohn-forderungen bereits im Rahmen der am 23.12.1994vereinbarten Globalzession aller bestehenden undkünftig entstehenden Forderungen aus ihrem Gewerbe-betrieb an die I-Bank abgetreten hat.

a. Behandlung der Kollision zweier Abtretungen deridentischen ForderungDa sich beide Abtretungen auf die hier streitgegen-ständlichen Werklohnforderungen der Schuldnerinbeziehen, ist zunächst fraglich, wie eine derartige Kol-lision zweier Abtretungen identischer Forderungen zulösen ist.

aa. 1. Ansicht: TeilungsprinzipEinerseits könnten die abgetretenen Forderungen aufdie beteiligten Zessionare dem Verhältnis ihrer Forde-rungen, die durch die Abtretung gesichert werden sol-len, entsprechend aufgeteilt werden (so etwa Beuthien,BB 1971, 375).Demzufolge könnte die Abtretung zugunsten der Kl.wenigstens zum Teil greifen, weshalb auch ein Aus-kunftsanspruch gem. § 402 BGB - die Geltung von Nr.I 6 der AGBen der Kl. vorausgesetzt - bestünde.

bb. 2. Ansicht: PrioritätsprinzipUnter Bezugnahme auf die gesetzliche Wertung des §185 II 2 BGB statuiert die ganz h. M. jedoch das sog.

Prioritätsprinzip:

aaa. Grundsatz“Bei mehrfacher Abtretung derselben Forderung führtgrundsätzlich die zeitlich frühere zum Rechts-übergang. Das gilt sowohl für die Abtretung bestehen-der als auch für die Abtretung künftiger Forderungen(Prioritätsprinzip: BGHZ 30, 149 [151] = NJW 1959,1533; BGHZ 32, 361 [363 ff.] = NJW 1960, 1716;BGHZ 104, 123 [126] = NJW 1988, 3203; BGHZ 104,351 [353] = NJW 1989, 458; Ganter, in: Schimans-ky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb., 2. Aufl. [2001], § 96Rz. 177 ff.).”Demzufolge käme ein Auskunftsanspruch der Kl. gem.§ 402 BGB schon deshalb nicht in Betracht, weil siedie streitgegenständlichen Werklohnforderungen auf-grund der zeitlich vorangegangenen Globalzessionzugunsten der I-Bank überhaupt nicht wirksam erwer-ben konnte.

bbb. Korrektur durch die Lehre von der Verleitungzum VertragsbruchFraglich ist aber, ob dieses Ergebnis korrigiert werdenmuss, weil anderenfalls der Schuldnerin von vornhe-rein die Möglichkeit genommen worden wäre, ihreWerklohnforderungen zur Absicherung der Mietforde-rungen der Kl. an diese abzutreten. Soweit der Kl. aufdiesem Wege die Möglichkeit genommen wäre, in red-licher Weise branchenübliche und für den Fortbestandihres Geschäftes unverzichtbare Geschäfte zu tätigen,könnte dies zur Nichtigkeit der Globalzession gem. §138 I BGB führen.

(1.) Nichtigkeit der Globalzession bei Kollision mitverlängertem EigentumsvorbehaltFür den Fall der Kollision einer Globalzession mit ei-ner Sicherungsabtretung im Rahmen eines branchen-üblichen verlängerten Eigentumsvorbehalts zugunsteneines Warenkreditgebers entspricht die Anwendbarkeitdes § 138 I BGB inzwischen gefestigter Rechtspre-chung:“Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist eine zurSicherung eines Kredits vereinbarte Globalzessionkünftiger Kundenforderungen an eine Bank in der Re-gel sittenwidrig und damit nichtig, wenn sie nach demWillen der Vertragsparteien auch solche Forderungenumfassen soll, die der Schuldner seinen Lieferantenauf Grund verlängerten Eigentumsvorbehalts künftigabtreten muss und abtritt (BGHZ 30, 149 [153] = NJW1959, 1533; BGHZ 55, 34 [35] = NJW 1971, 372;BGHZ 72, 308 [310] = NJW 1979, 365; BGHZ 98,303 [314] = NJW 1987, 487; BGH, NJW 1983, 2502[2504]; NJW 1991, 2144 [2147]; NJW 1995, 1668[1669]; NJW 1999, 940 = NZI 1999, 76; NJW 1999,2588 [2589]). Diese Rechtsprechung beruht auf derAnnahme, dass der Zedent, dem Ware branchenüblichausschließlich unter verlängertem Eigentumsvorbehalt

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geliefert wird, durch den Globalzessionar zur Täu-schung und zum Vertragsbruch gegenüber seinem Lie-feranten verleitet wird, weil er bei Offenlegung derGlobalzession keine Ware mehr ohne Zahlung erhaltenund damit wirtschaftlich in eine Zwangslage geratenwürde (BGHZ 55, 34 [36] = NJW 1971, 372; BGHZ98, 303 [315] = NJW 1987, 487).”

(2.) Zur Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung aufdie Sicherungsabtretung zugunsten der Kl.Fraglich ist indes, ob diese Rechtsprechung auch aufdie Kollision der Globalzession mit der hier vorliegen-den Sicherungsabtretung zugunsten der Kl. in ihrerEigenschaft als Vermieterin von Baumaschinen über-tragbar ist.“Entgegen der Auffassung der Revision kann [...] dieRechtsprechung des BGH zur Sittenwidrigkeit einerGlobalzession bei Kollision mit einem zeitlich nach-folgenden verlängerten Eigentumsvorbehalt nicht aufdie hier bestehende Kollision zwischen einer Global-zession zu Gunsten einer Bank und einer zeitlich nach-folgenden Globalzession zu Gunsten des Vermietersvon Baumaschinen übertragen werden, weil die zuGrunde liegenden Lebenssachverhalte nicht vergleich-bar sind. [...]Eine vergleichbare Zwangslage des Zedenten ist beider hier vorliegenden Kollision [...] nicht gegeben.Die Fälle des verlängerten Eigentumsvorbehalts zeich-nen sich dadurch aus, dass der Vorbehaltskäufer seinekünftige Forderung aus der Verwertung und/oder Wei-terveräußerung der jeweiligen gelieferten Ware an denVorbehaltsverkäufer als Ersatz dafür abtritt, dass die-ser sein vorbehaltenes Eigenturn an der Ware infolgeder dem Vorbehaltskäufer erlaubten Weiterverwertungverliert. Diese Vorausabtretung hat somit den Sinn,dem Vorbehaltseigentümer den in seiner Sache ver-körperten Wert weiter zu sichern, und zwar über denzum Verlust seines Eigentums führenden Ver-wertungsakt hinaus. Dabei ist der Vorbehaltseigentü-mer allerdings auf den konkreten Anspruch aus derVerwertung der jeweils veräußerten Sache beschränkt.Anders ist dies beim Globalzessionar, der im Siche-rungsfall nach seiner Wahl auf ein ganzes Bündel vonim Voraus abgetretenen Forderungen zurückgreifenkann, ohne dass ein direkter Zusammenhang zwischender Leistung des Sicherungsnehmers und den siche-rungshalber übertragenen Forderungen des Siche-rungsgebers besteht. Im Falle einer wirksamen frühe-ren Globalzession zu Gunsten eines Dritten würde da-her der Vorbehaltseigentümer nicht nur sein Vorbe-haltseigentum, sondern auch die (verlängerte) Sicher-heit in Form der dafür abgetretenen Forderung verlie-ren, also einen endgültigen Substanzverlust erleiden,ohne sich an anderen Forderungen des Zedentenschadlos halten zu können.Dieses im Vergleich zum Globalzessionar sich erge-bende besondere Schutzbedürfnis des Vorbehaltseigen-

tümers hat auch Rückwirkungen auf die Lage des Ze-denten. Verschweigt dieser eine zeitlich frühere Glo-balzession, begeht er dem Vorbehaltseigentümer ge-genüber eine grobe Vertragsverletzung, weil er dessenEigentum bzw. den darin verkörperten Wert gefährdet,unter Umständen sogar vernichtet. Legt er sie offen,muss er gerade wegen dieser Gefährdungssituationdamit rechnen, dass der Vorbehaltseigentümer (gege-benenfalls auch andere Lieferanten) ihm künftig keineWare mehr zur Weiterverwertung liefert, so dass ersein für ihn notwendiges wirtschaftliches Betätigungs-feld einbüßt. Der Zedent befindet sich somit in einerZwangslage, die auch aus dem besonderen Schutzbe-dürfnis des Vorbehaltseigentümers und dem sich da-raus ergebenden besonderen Pflichten- und Treuever-hältnis des Zedenten seinem Lieferanten gegenüberherrührt. Daher fordert die Rechtsprechung von einemzeitlich früheren Globalzessionar (meist der kreditge-benden Bank), der diese Zwangslage seines Zedentenschon bei Vereinbarung der Globalzession kennt oderkennen muss, eine entsprechende Rücksichtnahme,widrigenfalls die Globalzession als sittenwidrig einge-stuft werden kann.

Von einer vergleichbaren Zwangslage eines Mietersvon Baumaschinen, die ihren Grund ebenfalls in einembesonderen Schutzbedürfnis des Vermieters und ent-sprechenden Treuepflichten des Mieters haben müsste,kann hier [...] nicht ausgegangen werden. Anders alsdem Vorbehaltseigentümer, dem der endgültige Sub-stanz- bzw. Wertverlust der Sache droht, kann demVermieter lediglich temporär die Nutzung der Mietsa-che verloren gehen. Die Mietsache selbst bleibt ihmerhalten. Der Vermieter einer Sache ist daher wenigerschutzwürdig als der Vorbehaltseigentümer (vgl. auchThöne, WUB I F 4. 2.02, 420). Es ist deshalb revi-sionsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das BerGer.hieraus auf eine geringere Reflexwirkung zu Lastendes Mieters schließt und seine Zwangslage (im Verhält-nis zum Vermieter) als weniger knebelnd einstuft, viel-mehr davon ausgeht, dass es nicht ausgeschlossen ist,dass der Mieter auch im Falle einer Offenlegung derzeitlich früheren Globalzession weiter die Möglich-keit behält, die benötigten Baumaschinen zu mietenoder zu leihen. Hinzu kommt, dass sich - anders alsbeim Zusammentreffen einer Vorausabtretung im Rah-men des verlängerten Eigentumsvorbehalts einerseitsmit einer Globalzession andererseits - hier zwei nachArt und Umfang gleichartige Globalzessionen (zuGunsten der Bank und zu Gunsten des Vermieters)gegenüberstehen. Auch die Interessenlage der beidenGlobalzessionare ist gleichartig. Damit aber ergibt sichkein Unterschied zu dem Normalfall, dass von zweimiteinander konkurrierenden Abtretungen nach demPrioritätsgrundsatz lediglich die zeitlich frühere zumRechtsübergang führen kann.”

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ccc. Zwischenergebnis zum PrioritätsprinzipDa mithin kein Anlass zur Korrektur des Prioritäts-prinzips mittels der Lehre von der Verleitung vomVertragsbruch besteht, würde sich die Globalzessionzugunsten der I-Bank vom 23.12.1994 - das Vorliegender weiteren Wirksamkeits-voraussetzungen unterstellt- nach herrschender Auffassung gegenüber der zeitlichnachfolgenden Abtretung zugunsten der Kl. durchset-zen.

cc. StellungnahmeDer herrschenden Auffassung soll hier auch gefolgtwerden, da sie - im Unterschied zum Teilungsprinzip -in § 185 II 2 BGB eine Stütze im Gesetz findet undzudem durch die Ergänzung mittels der Lehre von derVerleitung zum Vertragsbruch auch zu interessenge-rechten Ergebnissen kommt.Somit geht die Abtretung der Werklohnforderungen andie Kl. ins Leere, soweit die Globalzession zugunstender I-Bank vom 23.12.1994 auch im Übrigen wirksamist.

[Anmerkung: Auf die Darstellung des Surrogations-prinzips, wonach die Abtretung von Forderungen ausder Verwertung von unter verlängertem Eigentumsvor-behalt gelieferter Ware sich stets gegenüber der Glo-balzession zugunsten der Bank durchsetzen soll, weilder Lieferant der verwerteten Ware den hierdurch er-zielten Forderungen näher stehe, wurde hier verzich-tet. Dieser Vorschlag zielt auf die spezielle Konstella-tion des Zusammentreffens von Globalzession und ver-längertem Eigentumsvorbehalt ab und wird zudem inweiten Teilen des Schriftums als überholt eingestuft,vgl. Palandt-Heinrichs, § 398 Rz. 24; Jauernig-Stür-ner, § 398 Rz. 19; jew. m. w. N.).

b. Wirksamkeitsvoraussetzungen der Globalzessionvom 23.12.1994 im ÜbrigenAuch die Abtretung zugunsten der I-Bank am23.12.1994 setzt eine Einigung i. S. d. § 398 BGB vor-aus, welche die abgetretenen Forderungen hinreichendbestimmbar bezeichnet und auch im übrigen wirksamist. Ferner müsste die Schuldnerin am 23.12.1994 nochBerechtigte gewesen sein.

aa. EinigungMit der I-Bank hat die Schuldnerin sich sicherungs-halber1994 auf die Abtretung aller aus ihrem Ge-schäftsbetrieb entstandenen und künftig entstehendenForderung geeinigt.Diese Einigung genügt dem Bestimmbarkeitserforder-nis, da die Forderungen nach Gläubigerin, künftigenSchuldnern - den Kunden der Schuldnerin - undRechtsgrund - Geschäfte im Rahmen des Bauunter-nehmens der Schuldnerin - so genau umschrieben sind,dass ihre Zuordnung zu der Globalzession zum Zeit-punkt ihrer Entstehung problemlos möglich ist. Weite-

re Anforderungen dürfen an die Bestimmbarkeit derGlobalzession nicht gestellt werden, da dieses Rechts-institut als Kreditsicherungsmittel sonst nicht mehrpraktikabel wäre (vgl. Palandt-Heinrichs, § 398 Rz.14).Die weite Umschreibung der von der Abtretung erfass-ten Forderungen der Schuldnerin wirft indes die Frageauf, ob eine derart weitgehende Absicherung unabhän-gig davon, dass gegenüber der Kl. durch sie keine derSituation gegenüber einem Vorbehaltsverkäufer ver-gleichbare Zwangslage der Schuldnerin geschaffenwird, noch mit den guten Sitten vereinbar ist oder docheinen Verstoß gegen § 138 I BGB begründet.“Der Globalzessionsvertrag vom 23.12.1994 genügtauch den Anforderungen, die die Rechtsprechung anden Vorrang der Rechte aus dem verlängerten Eigen-tumsvorbehalt stellt, um die Sittenwidrigkeit der Glo-balzession auszuschließen (BGHZ 72, 308 = NJW1979, 365; BGH, NJW 1991, 2144; NJW 1999, 2588;NJW 1999, 940 = NZI 1999, 76). Er sieht die Abtre-tung von Forderungen, die einem verlängerten Eigen-tumsvorbehalt eines Lieferanten der Schuldnerinunterliegen, erst nach Erlöschen des verlängertenEigentumsvorbehalts vor und stellt damit dessen Vor-rang mit dinglicher Wirkung sicher.Anhaltspunkte dafür, dass die Globalzession aus ande-ren Gründen sittenwidrig sein oder gegen § 307 I BGBverstoßen könnte, sind weder dargetan noch sonst er-sichtlich.”

bb. BerechtigungMangels anderweitiger vorausgegangener Abtretungenwar die Schuldnerin am 23.12.1994 auch noch Forde-rungsinhaberin und damit zur Abtretung berechtigt.Die Globalzession war mithin voll wirksam und ver-drängt dem Prioritätsprinzip zufolge die zeitlich nach-folgende Abtretung zugunsten der Kl.

II. ZwischenergebnisMangels wirksamer Abtretung hat die Kl. gegen dieBekl. keinen Auskunftsanspruch gem. § 402 BGB.

B. Zahlungsansprüche der Kl.Zahlungsansprüche der Kl. könnten sich aus § 535 IIBGB infolge der für die Zeit von Juni 1996 bis No-vember 1997 noch offenstehenden Mietforderungenergeben.Vorliegend macht die Kl. jedoch Zahlungsansprücheaus der Sicherungsabtretung der Werklohnforderungender Schuldnerin gem. Nr. I 6 ihrer AGBen geltend.Diese könnten sich einerseits aus der näheren Ausge-staltung der Abtretung als sog. “Stille Zession” erge-ben, wonach die Schuldnerin im Außenverhältnis zuihren Vertragspartnern zur Geltendmachung der For-derungen berechtigt bliebe, die eingezogenen Beträgeaber an die Kl. abzuführen hätte (vgl. Hierzu Palandt-Heinrichs, § 398 Rz. 21), im Falle einer unberechtigten

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Einziehung der Gelder durch die Schuldnerin dagegenaus § 816 II BGB.Im Einzelnen kann dies jedoch dahinstehen, da in bei-den Fällen eine wirksame Abtretung der Werklohn-forderungen an die Kl. unverzichtbare Anspruchsvor-

aussetzung ist. Eine solche ist dem unter A. erzieltenErgebnis zufolge aber nicht gegeben, so dass die Kl.auch keine Zahlungsansprüche gegen die Bekl. geltendmachen kann.

Standort: § 222 StGB Problem: Sorgfaltspflichten bei Brandgefahr

BGH, URTEIL VOM 01.02.20051 STR 422/04 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:Die Angeklagte hatte, nachdem sie und mehrere Gästeim Wohnzimmer ihrer Wohnung getrunken und zahl-reiche Zigaretten geraucht hatten, ihre drei und vierJahre alten Kinder allein in der Wohnung zurückgelas-sen. Wohl aufgrund heruntergefallener Zigarettenascheoder einer noch glimmenden Zigarettenkippe war es zueinem Schwelbrand in der Wohnung gekommen, andessen Folgen die Kinder verstarben. Das LandgerichtMünchen hatte die Angeklagte vom Vorwurf der fahr-lässigen Tötung (§ 222 StGB) und fahrlässigen Brand-stiftung (§ 306 StGB) freigesprochen, da der Ange-klagten keine Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfenund nicht auszuschließen sei, dass der Tod der Kinderauch dann erfolgt wäre, wenn die Angeklagte diesenicht allein in der Wohnung zurückgelassen, sondernsich selbst zum Schlafen hingelegt hätte. Der BGHhob dieses Urteil auf.

Prüfungsrelevanz:Der im vorliegenden Fall zentrale Tatbestand der fahr-lässigen Tötung (§ 222 StGB) spielt im Examen häufigeine Rolle, wenn auch meist nicht als zentrales Pro-blem. Die hier weiter anzusprechenden Probleme derVerwirklichung unechter Unterlassungsdelikte, insb.die Voraussetzungen der Garantenstellung, stellen inbeiden Examen Standardwissen dar.Zentrales Element des Tatbestandes der fahrlässigenTötung ist - wie bei anderen Fahrlässigkeitsdeliktenauch - die Sorgfaltspflichtverletzung des Täters. In derVergangenheit ist teilweise versucht worden, eine ab-strakte, allgemeine Sorgfaltspflicht zu definieren, oftmit der Formulierung, dass es stets pflichtwidrig sei,wenn der Täter sich auf Handlungen einlasse, derenGefahren er nicht gewachsen sei oder deren Risikennicht erkennbar oder beherrschbar seien (BGHSt 38,151; 43, 311). Mittlerweile hat sich aber wohl die Er-kenntnis durchgesetzt, dass es schwer, wenn nicht so-gar unmöglich ist, unabhängig von der eingetretenenRechtsgutverletzung und der konkreten Handlungs-situation abstrakte Sorgfaltsanforderungen zu formu-lieren (Tröndle/Fischer, § 15 Rn. 16; MüKo (StGB)-Duttge, § 15 Rn. 87 ff.). Der pauschale Verweis auf

das Zivilrecht, das (in § 276 BGB) bestimmt, dass der-jenige fahrlässig handelt, der die im Verkehr erforder-liche Sorgfalt außer Acht lässt, ist auch stets dann we-nig hilfreich, wenn konkrete Sorgfaltsmaßstäbe nichtausdrücklich geregelt sind (Joecks, § 15 Rn. 68). Imvorliegenden Fall prüft der BGH deshalb ganz konkretdie Sorgfaltsanforderungen, die eine Mutter treffen,die weiß, dass ihre Kinder sich in einer Wohnung auf-halten, in deren Wohnzimmer erhebliche Mengen anZigaretten konsumiert worden sind und kommt zu demSchluss, dass dann das Wohnzimmer gründlich aufpotenzielle Brandquellen zu untersuchen ist.Eine weitere Voraussetzung für eine Strafbarkeit we-gen eines fahrlässigen Erfolgsdelikts ist der sog.Pflichtwidrigkeitszusammenhang. Dieser ist gegeben,wenn gerade die Sorgfaltspflichtverletzung des Tätersden Erfolg herbeigeführt hat, d.h. wenn der Erfolg beipflichtgemäßem Verhalten nicht eingetreten wäre (sog.rechtmäßiges oder pflichtgemäßes Alternativverhalten,vgl. BGH, NStZ 1986, 217; Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15 Rn. 129, 173 ff.). DasLandgericht hatte den Pflichtwidrigkeitszusammen-hang im vorliegenden Fall mit der Begründung ange-lehnt, dass das Feuer auch dann ausgebrochen und dieKinder gestorben wären, wenn die Muter nicht dieWohnung verlassen, sondern sich zum Schlafen hinge-legt hätte. Der BGH lehnte diese Argumentation abund verwies darauf, dass die Pflichtverletzung der Tä-terin, deren Kausalität für den Tod der Opfer zu prüfensei, nicht in dem Verlassen der Wohnung bestehe, son-dern darin, das Wohnzimmer nicht auf möglicheBrandherde zu kontrollieren. Wäre sie nur zu Hausegeblieben und hätte sich schlafen gelegt ohne dieseKontrolle durchzuführen, so wäre dies immer noch einpflichtwidriges (und kein pflichtgemäßes) Verhaltengewesen.Anzusprechen war im vorliegenden Fall auch die Fra-ge nach der Abgrenzung zwischen aktiven Tun undUnterlassen. Diese ist besonders wichtig, da ein Unter-lassen gem. § 13 I StGB nur dann eine Strafbarkeitbegründet, wenn der Täter verpflichtet ist, den Erfolgabzuwenden (sog. Garantenstellung); außerdem be-steht bei einem strafbaren Unterlassen (anders als beimaktiven Tun) die Möglichkeit, gem. § 13 II StGB dieStrafe zu mildern. Der BGH nimmt - ebenso wie dieherrschende Literatur - die Abgrenzung danach vor, obder Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit auf einem akti-

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ven Tun oder einem Unterlassen liegt (BGHSt 6, 59;Tröndle/Fischer, § 13 Rn. 3).

Vertiefungshinweise:“ Zur Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen:BGH, NStZ 1999, 607; Brammsen, GA 2002, 193;Kargl, GA 1999, 459; Sieber, JZ 1983, 431; Stein, JR1999, 265“ Zur Garantenstellung wegen Inhaberschaft einerWohnung: BGHSt 30, 391; BGH, NStZ-RR 2003,153; Küpper, JA 1983, 471; Reus/Vogel, MDR 1990,869; Stoffers, Jura 1993, 17“ Zu den Anforderungen an die erforderliche Sorg-falt, insb. zum Schutz von Menschenleben: BGHSt 43,311; BGH, NStZ 2003, 657; Meurer, JR 1992, 38“ Zum Pflichtwidrigkeitszusammenhang: BGHSt 11,1; 30, 228; 33, 61; BGH, JR 1989, 282; OLG Köln,NZV 1989, 319; Ranft, NJW 1984, 1425; Schatz,NStZ 2003, 581

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Bienenstich”“ Examenskurs: “Radfahrer”

Leitsätze (der Redaktion):1. Im Rahmen von §§ 222, 306 d StGB ist bei vor-liegender Erfolgsabwendungspflicht nicht entschei-dend, ob die Pflichtwidrigkeit in einem aktiven Tunliegt oder in einem Unterlassen begründet ist. DerErfolg einer fahrlässigen Tötung kann genauso wieder einer fahrlässigen Brandstiftung durch einpflichtwidriges Unterlassen herbeigeführt werden.2. Für die Entscheidung der Frage, ob ein Tun oderein Unterlassen vorliegt, kommt es auf den Schwer-punkt des Täterverhaltens an. 3. Wird der Umgang mit Feuer und sei es auch nurin Form von entzündeten Zigaretten und glimmen-der Asche zugelassen, erfordert es die allgemeinbekannte Gefahr, die sich in dem achtlosen Um-gang mit Feuer und Zigarettenresten verwirklichenkann, dass ein Übergreifen auf Papier und sonstigeleicht entflammbare Materialien verhindert oderjedenfalls auf ein Minimum reduziert wird.

Sachverhalt:Die A empfing im Wohnzimmer ihrer Wohnung meh-rere Gäste, die gemeinsam mit ihr zahlreiche Zigaret-ten rauchten und Alkohol tranken. Ihre Kinder, dervier Jahre neun Monate alte Sohn S und die drei Jahrezehn Monate alte Tochter T, schliefen im benachbar-ten Kinderzimmer. Zwischen 20.30 Uhr und 20.45 Uhrverließ die Angeklagte mit einem der Gäste die Woh-nung und suchte eine Gaststätte auf. Kurze Zeit späterverließen zwei weitere Gäste die Wohnung. Gegen

22.00 Uhr folgte die letzte Besucherin, nachdem siesich vergewissert hatte, dass beide Kinder in ihremBett fest schliefen. S war zu diesem Zeitpunkt anWindpocken erkrankt und hatte Fieber. Gegen 23.30Uhr kehrte A in die Wohnung zurück, verließ jedochdie Wohnung kurz darauf wieder und ließ die Kinderunbeaufsichtigt zurück. A unterließ es, hierbei dasWohnzimmer auf feuergefährliche Gegenstände, ins-besondere auf heruntergefallene brennende oder glim-mende Zigarettenreste zu untersuchen. Auf der Couchim Wohnzimmer hinterließ sie in unordentlichem Zu-stand unter anderem ein Feuerzeug, Papier, eine Zeit-schrift, ein Kissen und ein Kleidungsstück.Während der Abwesenheit der A entwickelte sich ei-nen auf die Couch gefallenen glimmenden Zigaretten-rest oder durch heruntergefallene Zigarettenglut einSchwelbrand. Im Wohnzimmer entstanden direkteBrandschäden an der Couch, den Fenstern, Wändenund Deckenbalken; sämtliche Zimmer der Wohnungwurden stark verrußt. Als A gegen 4.45 Uhr mit ihrenGästen in die Wohnung zurückkehrte, fand sie dieKinder aufgrund des durch den Schwelbrand freige-setzten Kohlenmonoxyds und Cyanids bewusstlos vor.Beide Kinder verstarben durch Vergiftung bei gleich-zeitigem Sauerstoffmangel.

Strafbarkeit der A?

[Anm.: §§ 306 ff. StGB sind nicht zu prüfen.]

Lösung:

A. Strafbarkeit der A wegen fahrlässiger Tötung durchUnterlassen zum Nachteil des S gem. §§ 222, 13 IStGBA könnte sich dadurch, dass sie die Wohnung für ei-nen längeren Zeitraum verließ, ohne vorher das Wohn-zimmer auf feuergefährliche Gegenstände und mögli-che Brandherde zu untersuchen, wegen fahrlässigerTötung durch Unterlassen zum Nachteil des S gem. §§222, 13 I StGB strafbar gemacht haben.

1. Tatbestand

a. Eintritt des tatbestandlichen ErfolgesS ist tot. Der tatbestandliche Erflog des § 222 StGB -Tod eines Menschen - ist somit eingetreten.

b. Nichtvornahme der zur Erfolgsabwendung gebote-nen HandlungA dürfte die zur Abwendung des Erfolges - des Todesdes S - gebotene Handlung nicht vorgenommen haben.Fraglich ist im vorliegenden Fall zunächst, ob der Aein Unterlassen vorzuwerfen ist (insb. dass sie die un-ordentliche und deshalb besonders brandgefährlicheWohnung nicht auf mögliche Brandherde, z.B. durch

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heruntergefallene Zigarettenreste, untersuchte), oderein aktives Tun (das Verlassen der Wohnung).Hierzu der BGH: “Für die Entscheidung der Frage, obein Tun oder ein Unterlassen vorliegt, kommt es aufden Schwerpunkt des Täterverhaltens an. Darüber hatder Tatrichter in wertender Würdigung zu entscheiden(vgl. dazu BGH NStZ 1999, 607). [...] Sollte die neuzur Entscheidung berufene Strafkammer unter Beach-tung der vorstehenden Maßstäbe zu einem Pflichten-verstoß der Angeklagten kommen, wird sie im Hin-blick auf eine nach § 13 Abs. 2 StGB i. V. m. § 49Abs. 1 StGB mögliche Strafrahmenverschiebung zuentscheiden haben, ob das Verhalten der Angeklagtenein aktives Tun oder ein Unterlassen darstellt. Dafürwird sie abzuwägen haben, dass das Verlassen derWohnung für sich genommen unschädlich gewesenwäre, wenn sie es nicht unterlassen hätte, für einedurchgehende Aufsicht der Kinder in ihrer Abwesen-heit zu sorgen oder zumindest die Gefahrenquelle zubeseitigen (vgl. BGH NStZ 1999, 607).”Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt somit aufeinem Unterlassen. A hat die zur Anwendung des To-des des S durch einen Schwelbrand gebotenen Hand-lungen - die Wohnung auf mögliche Brandherde zuuntersuchen oder eine durchgehende Aufsicht für dieKinder zu organisieren - nicht vorgenommen.

c. Physisch-reale Möglichkeit der Handlungsvornah-meDa eine unmögliche Handlung vom Täter nicht ver-langt werden kann, setzt die Bestrafung wegen eines(unechten) Unterlassungsdeliktes stets voraus, dass derTäter die physisch-reale Möglichkeit hatte, die gebote-ne Handlung vorzunehmen (BGHSt 6, 57; Trönd-le/Fischer, § 13 Rn. 14). A müsste also auch diephysisch-reale Möglichkeit gehabt haben, die Woh-nung auf Brandherde zu untersuchen oder eine durch-gehende Aufsicht für die Kinder zu organisieren.A wäre es möglich gewesen, die Wohnung, insb dasWohnzimmer, in dem vorher in erheblichem Maßegeraucht worden war, auf mögliche Brandgefahren hinzu untersuchen. Auch hätte sie, selbst wenn sich sonstniemand bereits erklärt hätte, auf die Kinder aufzupas-sen, eine Aufsicht organisieren könne, indem sie selbstbei ihren Kindern geblieben wäre, was ihr auch mög-lich gewesen wäre, da sie keine Pflicht traf, die Woh-nung zu verlassen. A hatte somit die Möglichkeit derHandlungsvornahme.

d. KausalitätDas Unterlassen der A müsste auch kausal für den Toddes S gewesen sein.Ein Unterlassen ist kausal für den Eintritt des tatbe-standlichen Erfolges, wenn die gebotene Handlungnicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der tat-bestandliche Erfolg mit an Sicherheit grenzender

Wahrscheinlichkeit entfiele (sog. “hypothetische Kau-salität”, BGH, NStZ 2000, 583; Wessels/Beulke, AT,Rn. 711).Hätte A die Wohnung auf mögliche Brandherde hinuntersucht und diese beseitigt, wäre es gar nicht erst zueinem Schwelbrand gekommen und S wäre nicht andessen Folgen gestorben. Wenn sie eine Aufsicht fürdie Kinder organisiert hätte, wäre der Schwelbrand mitan Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit recht-zeitig entdeckt und das Leben der Kinder gerettet wor-den. Das Unterlassen der A war somit kausal für denTod des S.

e. GarantenstellungGem. § 13 I StGB setzt eine Strafbarkeit wegen einesunechten Unterlassungsdelikts voraus, dass der Täter“dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt”,d.h. Täter kann nur derjenige sein, der als Garant fürdas Ausbleiben des Erfolgs verantwortlich ist (sog.Garantenstellung; BGHSt 16, 155; Tröndle/Fischer, 13Rn. 4 f.).

aa. Garantenstellung der A aus GesetzEine Garantenstellung der A zum Schutze des Lebensdes S könnte sich zunächst aus Gesetz ergeben.Gem. §§ 1626 I, 1631 I BGB hat A die Pflicht, für ih-ren Sohn S zu sorgen, insb. diesen vor körperlichenSchäden zu bewahren. Hieraus ergibt sich auch einestrafbewehrte Garantenstellung zum Schutze des S(BGHSt 7, 268; Schönke/Schröder-Stree, § 13 Rn. 18).A war also (Beschützer-) Garantin für das Leben desOpfers S.

bb. Garantenstellung der A aus pflichtwidrigem Vor-verhalten (Ingerenz)Eine Garantenstellung des Täters entsteht auch dann,wenn dieser durch ein pflichtwidriges Vorverhaltendie Gefahr für den Eintritt eines Schadenserfolges ge-schaffen hat (BGH, StV 2001, 616; Tröndle/Fischer, §13 Rn. 11 ff.).En solches pflichtwidriges Vorverhalten wäre insb.dann gegeben, wenn die Asche, die den Schwelbrandauslöste, von der Zigarette der A selbst stammen wür-de und diese die Asche aus Unachtsamkeit fallen ließ.Dies lässt sich jedoch dem Sachverhalt nicht entneh-men, so dass zumindest nach dem Grundsatz “in dubiopro reo” davon ausgegangen werden muss, dass dieden Brand auslösende Glut von einem der Gästestammte. Auch ein pflichtwidriges Vorverhalten in derWeise, dass A ihre Gäste nicht darauf hingewiesenhätte, beim Rauchen auf herabfallende Asche aufzu-passen oder ihnen nicht genügend Aschenbecher oderandere Aschmöglichkeiten zur Verfügung gestellt hät-te, lässt sich dem Sachverhalt nicht entnehmen.Eine Garantenstellung der A aus Ingerenz ist somitnicht gegeben.

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cc. Garantenstellung der A aus SachherrschaftEine Garantenstellung der A könnte sich außerdemnoch daraus ergeben, dass sie die Mieterin der Woh-nung ist, in der der Schwelbrand entstand, der zumTode des S führte.Zwar ist anerkannt, dass eine Verantwortung für Sa-chen dazu führen kann, dass z.B. der Mieter einerWohnung die Garantenstellung dafür innehat, dassandere nicht durch aus seiner Wohnung stammendeGefahrenquellen geschädigt werden (BGH, NStZ-RR2003, 153). Dies ist jedoch keine allgemeine Pflicht.Eine entsprechende Garantenstellung trifft den Woh-nungsinhaber nur, wenn besondere Umstände hinzu-kommen, die eine Rechtspflicht zum Handeln begrün-den, insb. weil die Wohnung aufgrund ihrer Lage oderBeschaffenheit eine besondere Gefahrenquelle dar-stellt (BGHSt 30, 391; LK-Jescheck, § 13 Rn. 44).Hier ergibt es sich nicht, dass die Wohnung der A ausbesonderen Umständen, z.B. weil dort eine besondersgroße Unordnung herrschte, in erheblich erhöhtemUmfang brandgefährlich gewesen wäre. Somit lässtsich aus der bloßen Stellung der A als Mieterin undInhaberin der Wohnung keine Garantenstellung ablei-ten.

Eine Garantenstellung der A ist somit (aus §§ 1626 I,1631 I BGB) gegeben.

f. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiverVorhersehbarkeit des konkreten Erfolgs und des we-sentlichen KausalverlaufsA müsste objektiv sorgfaltspflichtwidrig gehandelthaben und der konkrete Erfolg (Tod des S) sowie derwesentliche Kausalverlauf müssten objektiv vorher-sehbar gewesen sein.Hierzu der BGH: “Die Strafkammer [des Land-gerichts] hat die Angeklagte aus tatsächlichen undrechtlichen Gründen freigesprochen, weil ihr [...] keineVerletzung ihrer Sorgfaltspflichten vorzuwerfen sei.Ihr sei nicht nachzuweisen, dass sie Zigarettenglut ha-be fallen lassen und hierdurch den Schwelbrand ver-ursacht habe; auch bestünden keine Anhaltspunktedafür, dass die Angeklagte beobachtet habe, einer ihrerGäste habe Zigarettenglut oder einen glimmenden Zi-garettenrest fallengelassen. Demnach habe sie keineVeranlassung gehabt, vor dem Verlassen der Wohnungdie auf der Couch liegenden Textilien, Papiere, Zei-tungen etc. auf Zigarettenglut oder glimmende Ziga-rettenreste zu untersuchen. [...] Zu Recht gehen dieStaatsanwaltschaft und der Generalbundesanwalt da-von aus, das Landgericht habe unzutreffende Anforde-rungen an die der Angeklagten auferlegten Sorgfalts-pflichten gestellt.Pflichtwidrig im Sinne einer fahrlässigen Tatbestands-verwirklichung handelt, wer objektiv gegen eine Sorg-faltspflicht verstößt, die gerade dem Schutz des beein-

trächtigten Rechtsguts dient und zu einer Rechtsgut-verletzung führt, die der Täter nach seinen subjektivenKenntnissen und Fähigkeiten hätte vermeiden können(vgl. Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl., § 15 Rdn. 12mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BGH).Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt bestimmensich nach den Anforderungen, die bei objektiver Be-trachtung einer Gefahrenlage ex ante an einen beson-nenen und gewissenhaften Menschen in der konkretenLage und sozialen Rolle des Handelnden zu stellensind (BGH NStZ 2003, 657, 658). Im Rahmen derVorwerfbarkeit ist bei vorliegender Erfolgs-abwendungspflicht nicht entscheidend, ob die Pflicht-widrigkeit in einem aktiven Tun liegt oder in einemUnterlassen begründet ist. Der Erfolg einer fahrlässi-gen Tötung kann genauso wie der einer fahrlässigenBrandstiftung (vgl. dazu Schönke/Schröder-Heine,StGB 26. Aufl., § 306d Rdn. 4) durch ein pflichtwidri-ges Unterlassen herbeigeführt werden. [...]Die rechtliche Wertung der Strafkammer, die Ange-klagte habe ‘weder aufgrund eigenen vorangegange-nen Verhaltens noch aufgrund ihr bekannter Unacht-samkeiten Dritter mit restlicher Glut im Bereich derCouch rechnen’ müssen, wird von den Feststellungennicht getragen. Die Angeklagte ist vielmehr den An-forderungen nicht gerecht geworden, die in der kon-kreten Situation an sie zu stellen waren.Die Angeklagte, die selbst Raucherin ist, gestatteteihren Gästen, in ihrer Wohnung zu rauchen. Sie ließdie beiden Kinder zumindest in der Zeit zwischen kurznach 23.30 Uhr und 4.45 Uhr unbeaufsichtigt in derWohnung, ohne zuvor die unordentlich auf der Couchbefindlichen Zeitschriften, Papiere und Kleidungs-stücke beseitigt zu haben. Wird der Umgang mit Feuerund sei es auch nur in Form von entzündeten Zigaret-ten und glimmender Asche zugelassen, erfordert es dieallgemein und auch der Angeklagten bekannte Gefahr,die sich in dem achtlosen Umgang mit Feuer und Ziga-rettenresten verwirklichen kann, dass ein Übergreifenauf Papier und sonstige leicht entflammbare Materia-lien verhindert oder jedenfalls auf ein Minimum redu-ziert wird. Diese schon allgemein bestehende Sorg-faltspflicht war aufgrund der hier vorliegenden Um-stände besonders gesteigert. Fünf in der Wohnung an-wesende Personen hatten zahlreiche Zigaretten ge-raucht. Die Angeklagte und die Gäste hatten beimRauchen über Stunden hinweg Alkohol getrunken.Eine Vielzahl von Zigarettenstummeln befand sich aufdem vor der Couch stehenden Glastisch in einemAschenbecher und in einem UnterteIler. Auf derCouch befanden sich leicht entzündbare Materialien,unter anderem ein Feuerzeug, Papier, eine Zeitschrift,ein Kissen und ein Kleidungsstück. Diese waren zu-dem in einem unordentlichen Zustand zurückgelassenworden. Hier kommt hinzu, dass die beiden Kinder derAngeklagten noch sehr klein waren und zusätzlich der

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Sohn der Angeklagten wegen der Windpocken krankim Bett lag. Angesichts der sich aus diesen Umständenergebenden gesteigerten Sorgfaltspflicht brauchte derSenat nicht zu entscheiden, ob generell eine Pflicht-verletzung schon dann anzunehmen ist, wenn Elternihre sich im Kleinkindalter befindenden Kinder überlängere Zeit ohne Aufsicht in der Wohnung zurücklas-sen.Die Annahme der Strafkammer, das Risiko einer Bran-dentstehung sei ‘unter den gegebenen Umständen eineobjektiv fern liegende Möglichkeit’, trifft deshalbnicht zu. Unzutreffend ist auch die Annahme der Straf-kammer, die Angeklagte habe ‘mangels erkennbarerentgegenstehender Anhaltspunkte ... nicht mit etwanoch herumliegenden Glutresten rechnen’ müssen.Nach den Feststellungen lagen hier sehr wohl auch fürdie Angeklagte erkennbare entgegenstehende Anhalts-punkte vor. Deshalb war es geboten, jedenfalls voreinem längeren Verlassen des Raumes, eine Kontrolleauf noch glimmende Zigarettenreste vorzunehmen.Diesen Anforderungen und Notwendigkeiten ist dieAngeklagte nicht gerecht geworden.”A hat also bei objektiver Vorhersehbarkeit des kon-kreten Erfolgs und des wesentlichen Kausalverlaufssorgfaltspflichtwidrig gehandelt.

g. Objektive ZurechnungDer Tod des S müsste A auch zuzurechnen sein.

aa. PflichtwidrigkeitszusammenhangZunächst müsste der Pflichtwidrigkeitszusammenhanggegeben sein, d.h der tatbestandliche Erfolg müsstegerade eine Folge der Pflichtverletzung des Täterssein, was nicht der Fall wäre, wenn der tatbestands-mäßige Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahr-scheinlichkeit auch bei pflichtgemäßem Verhalten ein-getreten wäre (BGHSt 33, 61; Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15 Rn. 174).Hier wäre es denkbar, den Pflichtwidrigkeitszusam-menhang mit der Begründung zu verneinen, dassselbst wenn A die Kinder nicht allein gelassen sondernin der Wohnung geblieben wäre und sich schlafen ge-legt hätte, das Feuer trotzdem von der (schlafenden) Aunbemerkt ausgebrochen wäre und zum Tode des Sgeführt hätte. Entgegen dieser - auch von Landgerichtaufgeworfenen Überlegung - sieht der BGH denPflichtwidrigkeitszusammenhang jedoch als gegebenan: “Schließlich hält die Auffassung des Landgerichtsrechtlicher Prüfung nicht stand, der Angeklagten seiihr Pflichtenverstoß nicht vorzuwerfen, weil nicht aus-schließbar das Brandereignis und der Tod der beidenKinder auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetretenwären. Das Landgericht hat insoweit nicht bedacht,dass die Pflicht zur sorgfältigen Nachschau hinsicht-lich glimmender Zigarettenglut nicht nur bei dem Ver-lassen der Wohnung, über mehrere Stunden besteht,

sondern auch bei einer nicht nur ganz kurzzeitigen Ab-wesenheit vom Gefahrenbereich. Die Angeklagte wärenicht nur beim Verlassen der Wohnung verpflichtetgewesen, den Gefahrenherd im Wohnzimmer zu besei-tigen, sondern auch dann, wenn sie sich in der Nachtzum Schlafen gelegt hätte.”Jedenfalls dann, wenn A ihre Pflicht zur Kontrolle desWohnzimmers auf mögliche Brandherde (s.o.) erfüllthätte, wäre also der Tod des S mit an Sicherheit gren-zender Wahrscheinlichkeit vermieden worden.

bb. SchutzzweckzusammenhangEine Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdeliktessetzt weiter voraus, dass es (zumindest auch) Sinn undZweck der verletzten Sorgfaltsnorm ist, den tat-bestandlichen Erfolg zu verhindern (BGHSt 33, 61;Erb, Jus 1994, 453 ff.).Sinn und Zweck der von A verletzten Pflicht, dasWohnzimmer auf mögliche Brandherde hin zu unter-suchen, ist es natürlich vor allem, die sich in der Woh-nung aufhaltenden Personen vor möglichen Schädendurch ein enstehendes Feuer zu schützen. Der Schutz-zweckzusammenhang ist somit gegeben.

2. RechtswidrigkeitA handelte auch rechtswidrig.

3. SchuldA müsste auch schuldhaft gehandelt haben.Im Rahmen des Fahrlässigkeitsdeliktes erfordert dieSchuld des Täters insb. die subjektive Sorgfaltspflicht-verletzung bei subjektiver Vorhersehbarkeit des kon-kreten Erfolgs und des wesentlichen Kausalverlaufs(sog. Fahrlässigkeitsschuldvorwurf), d.h. der Täterinmüsste es auch nach Ihren persönlichen Fähigkeitenund ihrem Erkenntnishorizont möglich gewesen sein,die Sorgfaltspflichtwidrigkeit ihres Verhaltens und diesich daraus ergebenden Folgen zu erkennen (Trönd-le/Fischer, § 15 Rn. 17 mwN).Der BGH sieht dies als gegeben an: “Nach den bisheri-gen Feststellungen bedarf es keiner näheren Erörte-rung, dass der Angeklagten die Gefährlichkeit des Zi-garettenrauchens in geschlossenen Räumen allgemeinund bei unsachgemäßem Umgang mit der Zigaretten-glut und den Ascherückständen mit den möglichenFolgen eines Wohnungsbrands einschließlich des To-des von Wohnungsbewohnern bekannt und daher fürsie voraussehbar waren.”

Da Entschuldigungsgründe nicht ersichtlich sind, hatA somit schuldhaft gehandelt.

4. ErgebnisA ist strafbar gem. §§ 222, 13 I StGB.

B. Strafbarkeit der A wegen fahrlässiger Tötung durch

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Unterlassen zum Nachteil der T gem. §§ 222, 13 IStGBAus demselben Grund hat sich A auch wegen fahrläs-siger Tötung durch Unterlassen zum Nachteil der Tgem. §§ 222, 13 I StGB strafbar gemacht.

C. Strafbarkeit der A wegen fahrlässiger Körperverlet-zung durch Unterlassen gem. §§ 229, 13 I StGBDa jede (fahrlässigen) Tötung stets eine (fahrlässige)Körperverletzung des Opfers als notwendiges Durch-gangsstadium enthält (Lackner/Kühl, § 212 Rn. 7), hatA auch jeweils eine fahrlässige Körperverletzung zumNachteil von S und T verwirklicht. Diese Delikte tre-

ten jedoch als subsidiär hinter die entsprechenden Ta-ten gem. § 222 StGB zurück (BGHSt 16, 122;Schönke/Schröder-Eser, § 222 Rn. 6).

E. ErgebnisA ist strafbar wegen fahrlässiger Tötung durch Unter-lassen in zwei Fällen. Da die Delikte zwar durch das-selbe Verhalten begangen wurden, aber unterschiedli-che Opfer betreffen, bleiben sie nebeneinander in Tat-einheit bestehen. A ist also strabar gem. §§ 222, 13 I;222, 13 I; 52 StGB.

IMPRESSUM

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LITERATURAUSWERTUNGRA 2005, HEFT 6

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Literaturauswertung

Öffentliches Recht

Autor/Titel: Wiefelspütz, Dieter: “Das Parlamentsbeteiligungsgesetz vom 18.3.2005"

Fundstelle: NVwZ 2005, 496 (Heft 5)

Inhalt: Das Parlamentsbeteiligungsgesetz regelt die Mitwirkung des Deutschen Bundestages an bewaffnetenEinsätzen der Bundeswehr im Ausland. Es geht zurück auf die im Urteil des BVerfG vom 12.7.1994(BVerfGE 90, 286) entwickelten Grundsätze, die der Autor umfassend und ausblickend darstellt.

Autor/Titel: Henrichs, Axel: “Staatlicher Einsatz von Videotechnik”

Fundstelle: BayVBl 2005, 289 (Heft 10)

Inhalt: Der Beitrag befasst sich nicht, wie der weit gefasste Titel vermuten lässt, mit allen denkbaren Einsätzenstaatlicher Videotechnik, sondern lediglich mit der Überwachung von öffentlichen Plätzen. Diese wer-den im Hinblick auf ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit untersucht, wobei die Prüfung von Grund-rechten den weitaus größten Raum einnimmt. Eine Übersicht über die in den Ländern bestehenden Re-gelungen rundet den Beitrag ab.

Zivilrecht

Autor/Titel: Schur, Wolfgang: “Grundprobleme der Wirkungsweise von Akzessorietätsprinzip und Sicherungsabre-de”

Fundstelle: JURA 2005, 361 (Heft 6)

Inhalt: Während bei den gesetzlich ausgestalteten akzessorischen Sicherungsrechten Bürgschaft, Hypothek undPfand (vgl. die Aufzählung in § 401 BGB; zudem existiert das akzessorische Sicherungsmittel der Vor-merkung gem. §§ 883, 885 BGB) die Verbindung zwischen Bestand und Inhaberschaft des Sicherungs-rechtes einerseits mit Existenz und Inhaberschaft der gesicherten Forderung andererseits gesetzlich fi-xiert ist, sind die weiteren durch Rechtsprechung und -praxis entwickelten Sicherungsrechte - insbes.das Sicherungseigentum, §§ 929, 930 BGB, zunächst abstrakt von der zu sichernden Forderung zu be-trachten. Die entsprechende Verbindung wird lediglich auf schuldrechtlicher Ebene durch den Siche-rungsvertrag, §§ 311, 241 BGB, hergestellt. Der Autor zeigt diese Unterschiede und ihre Auswirkungenanhand der Fragen des Entstehens der Sicherungsrechte, ihres Erlöschens sowie der Möglichkeiten ihrerÜbertragung anschaulich auf.

Autor/Titel: Schmelz, Christoph: “Der Sicherungsgeberausgleich - Eine rechtliche Problemskizze”

Fundstelle: JA 2005, 421 (Heft 6)

Inhalt: Dieser kurze Lernbeitrag eignet sich als Ergänzung der Lektüre des zuvor angegebenen Aufsatzes vonSchur, da er sich nunmehr mit der Frage des Innenausgleiches mehrerer Sicherungsgeber untereinanderbefasst und hierbei insbesondere das Verhältnis der dinglichen Sicherungsgeber zu einem Bürgen, dersich für die identische Forderung verbürgt hat, beleuchtet. Die Entstehung des Problems eines “Wett-laufes der Sicherungsgeber” und die unterschiedlichen Lösungsvorschläge werden kurz und prägnantdargestellt.

RA 2005, HEFT 6LITERATURAUSWERTUNG

-383-

Autor/Titel: Gröschler, Peter: “Die Pflicht des Verkäufers zur Aufklärung über Mängel nach neuem Kaufrecht”

Fundstelle: NJW 2005, 1601 (Heft 23)

Inhalt: Durch den Verweis des § 437 Nr. 3 BGB auf die Schadensersatzansprüche des allgemeinen Leistungs-störungsrechts für den Fall der Lieferung einer mangelhaften Kaufsache entsteht - im Unterschied zurRechtslage vor der Schuldrechtsmodernisierung - eine Haftung des Verkäufers für jegliche dem Käuferinfolge des Mangels entstandenen Schäden grundsätzlich schon im Falle einfacher Fahrlässigkeit. Dagem. § 276 II BGB fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, wirftdies die Frage auf, inwieweit ein Verkäufer nach objektiven Maßstäben verpflichtet ist, die Sache, de-ren Verkauf er beabsichtigt, zuvor auf Mängel zu untersuchen. Weiter ist fraglich, inwieweit eine Auf-klärungspflicht bezüglich unterschiedlicher Mängel dem Kaufinteressenten gegenüber besteht. Der Au-tor stellt sich hier aktuellen Tendenzen, die zu einer Überdehnung der Verkäuferpflichten führen unddiesen - der doch eigentlich die Kaufsache anpreisen will - verpflichten würden, eine Listen aller in Be-tracht kommenden Nachteile aufzustellen, entgegen.

Strafrecht

Autor/Titel: Börner, René: “Zum Stand der Zueignungsdogmatik in den §§ 242, 246 StGB”

Fundstelle: Jura 2005, 389 (Heft 6)

Inhalt: Seit dem Wegfall des Tatbestandsmerkmals “in Besitz oder Gewahrsam” im Rahmen des § 246 IStGB ist die Zueignung das zentrale Element dieses Delikts geworden. Umso mehr erlangt die FrageBedeutung, was denn hierunter überhaupt zu verstehen ist. Der Verfasser stellt die klassischen Zu-eignungstheorien, die zu § 242 StGB entwickelt wurden, gegenüber, destilliert daraus die zentralenFallgruppen der Zueignung und versucht, die gefundenen Ergebnisse auf § 246 StGB zu projizieren.Zu einem griffigen oder überzeugenden Ergebnis gelangt jedoch auch er nicht.

Autor/Titel: Rönnau, Thomas: “‘Der Lösegeldbote’ - Täter- oder Opfergehilfe bei der Erpressung?

Fundstelle: JuS 2005, 481 (Heft 6)

Inhalt: Bedient sich das Opfer einer Erpressung einer Hilfsperson, um die Übergabe des Lösegeldes zu be-werkstelligen, so stellt sich grundsätzlich die Frage, ob dieser Bote sich nicht vielleicht seinerseits we-gen Beihilfe zur Erpressung strafbar macht, da er deren Vollendung schließlich fördert. Dass dies nichtdas richtige Ergebnis sein kann, leuchtet ein; die Straflosigkeit des Boten dogmatisch zu begründen istallerdings gar nicht so einfach. Der Autor beleuchtet verschiedene denkbare Lösungsansätze und ent-scheidet sich schließlich für das Vorliegen einer rechtfertigenden Einwilligung des Opfers.

Autor/Titel: Walter, Tonio: “Zur Lehre von den Konkurrenzen: die Gesetzeskonkurrenz”

Fundstelle: JA 2005, 468 (Heft 6)

Inhalt: In dem Abschluss der Trilogie zu den Konkurrenzen (die ersten Teile waren in JA 2004, 133 und JA2004, 572) befasst sich der Autor mit der Gesetzeskonkurrenz, also den Fallgruppen, in denen ein De-likt hinter ein anderes zurücktritt (auch: Konkurrenzen im engeren Sinne). Hierbei lässt er zwar einedeutliche Unterscheidung zwischen Tateinheit und -mehrheit vermissen, stellt die einzelnen Fallgrup-pen jedoch übersichtlich dar. Wie die ersten beiden Teile dieser Aufsatzreihe beinhaltet auch dieser inkonzentrierter Form alles Wesentliche, was es zu den Konkurrenzen zu wissen gibt.