Steiner, Rudolf - Wahrheit und Wissenschaft.pdf

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7/14/2019 Steiner, Rudolf - Wahrheit und Wissenschaft.pdf http://slidepdf.com/reader/full/steiner-rudolf-wahrheit-und-wissenschaftpdf 1/27 Wahrheit und Wissenschaft von Dr. Rudolf Steiner EDUARD VON HARTMANN in warmer Verehrung zugeeignet von dem Verfasser VORREDE Die Philosophie der Gegenwart leidet an einem ungesunden Kant-Glauben. Die vorliegende Schrift soll ein Beitrag zu seiner Überwindung sein. Frevelhaft wäre es, die unsterblichen Verdienste dieses Mannes um die Entwickelung der deutschen Wissenschaft herabwürdigen zu wollen. Aber wir müssen endlich einsehen, daß wir nur dann den Grund zu einer wahrhaft befriedigenden Welt- und Lebensanschauung legen können, wenn wir uns in entschiedenen Gegensatz zu diesem Geiste stellen. Was hat Kant geleistet? Er hat gezeigt, daß der jenseits unserer Sinnen- und Vernunftwelt liegende Urgrund der Dinge, den seine Vorgänger mit Hilfe falsch verstandener Begriffsschablonen suchten, für unser Erkenntnisvermögen unzugänglich ist. Daraus hat er gefolgert, daß unser wissenschaftliches Bestreben sich innerhalb des erfahrungsmäßig Erreichbaren halten müsse und an die Erkenntnis des übersinnlichen Urgrundes, des «Dinges an sich» , nicht herankommen könne. Wie aber, wenn dieses «Ding an sich» samt dem  jenseitigen Urgrund der Dinge nur ein Phantom wäre! Leicht ist einzusehen, daß sich die Sache so verhält. Nach dem tiefsten Wesen der Dinge, nach den Urprinzipien derselben zu forschen, ist ein von der Menschennatur untrennbarer Trieb. Er liegt allem wissenschaftlichen Treiben zugrunde.  Nicht die geringste Veranlassung aber ist, diesen Urgrund außerhalb der uns gegebenen sinnlichen und geistigen Welt zu suchen, solange nicht ein allseitiges Durchforschen dieser Welt ergibt, daß sich innerhalb 9 derselben Elemente finden, die deutlich auf einen Einfluß von außen hinweisen. Unsere Schrift sucht nun den Beweis zu führen, daß für unser Denken alles erreichbar ist, was zur Erklärung und Ergründung der Welt herbeigezogen werden muß. Die Annahme von außerhalb unserer Welt liegenden Prinzipien derselben zeigt sich als das Vorurteil einer abgestorbenen in eitlem Dogmenwahn lebenden Philosophie. Zu diesem Ergebnisse hätte Kant kommen müssen, wenn er wirklich untersucht hätte, wozu unser Denken veranlagt ist. Statt dessen bewies er in der umständlichsten Art, daß wir zu den letzten Prinzipien, die jenseits unserer Erfahrung liegen, wegen der Einrichtung unseres Ekenntnisvermögens nicht gelangen können. Vernünftigerweise dürfen wir sie aber gar nicht in ein solches Jenseits verlegen. Kant hat wohl die «dogmatische» Philosophie widerlegt, aber er hat nichts an deren Stelle gesetzt. Die zeitlich an ihn anknüpfende deutsche Philosophie entwickelte sich daher überall im Gegensatz zu Kant. Fichte, Schelling, Hegel kümmerten sich nicht weiter um die von ihrem Vorgänger abgesteckten Grenzen unseres Erkennens und suchten die Urprinzipien der Dinge innerhalb des Diesseits der menschlichen Vernunft. Selbst Schopenhauer, der doch behauptet, die Resultate der Kantschen Vernunftkritik seien ewig unumstößliche Wahrheiten, kann nicht umhin, von denen seines Meisters abweichende Wege zur Erkenntnis der letzten Weltursachen einzuschlagen. Das Verhängnis dieser Denker war, daß sie Erkenntnisse der höchsten Wahrheiten suchten, ohne für solches Beginnen durch eine Untersuchung der Natur des Erkennens selbst den Grund gelegt zu ha- 10  ben. Die stolzen Gedankengebäude Fichtes, Schellings und Hegels stehen daher ohne Fundament da. Der Mangel eines solchen wirkte aber auch schädigend auf die Gedankengänge der Philosophen. Ohne Kenntnis der Bedeutung der reinen Ideenwelt und ihrer Beziehung zum Gebiet der Sinneswahrnehmung bauten dieselben Irrtum auf Irrtum, Einseitigkeit auf Einseitigkeit. Kein Wunder, daß die allzukühnen Systeme den Stürmen einer  philosophiefeindlichen Zeit nicht zu trotzen vermochten, und viel Gutes, das sie enthielten, mit dem Schlechten erbarmungslos hinweggeweht worden ist. Einem hiemit angedeuteten Mangel sollen die folgenden Untersuchungen abhelfen. Nicht wie Kant es tat, wollen sie darlegen, was das Erkenntnisvermögen nicht vermag; sondern ihr Zweck ist, zu zeigen, was es wirklich imstande ist. Das Resultat dieser Untersuchungen ist, daß die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu Schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese Tätigkeit

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  • Wahrheit und Wissenschaftvon Dr. Rudolf Steiner

    EDUARD VON HARTMANNin warmer Verehrungzugeeignetvon dem Verfasser

    VORREDE

    Die Philosophie der Gegenwart leidet an einem ungesunden Kant-Glauben. Die vorliegende Schrift soll ein Beitragzu seiner berwindung sein. Frevelhaft wre es, die unsterblichen Verdienste dieses Mannes um die Entwickelungder deutschen Wissenschaft herabwrdigen zu wollen. Aber wir mssen endlich einsehen, da wir nur dann denGrund zu einer wahrhaft befriedigenden Welt- und Lebensanschauung legen knnen, wenn wir uns in entschiedenenGegensatz zu diesem Geiste stellen. Was hat Kant geleistet? Er hat gezeigt, da der jenseits unserer Sinnen- undVernunftwelt liegende Urgrund der Dinge, den seine Vorgnger mit Hilfe falsch verstandener Begriffsschablonensuchten, fr unser Erkenntnisvermgen unzugnglich ist. Daraus hat er gefolgert, da unser wissenschaftlichesBestreben sich innerhalb des erfahrungsmig Erreichbaren halten msse und an die Erkenntnis des bersinnlichenUrgrundes, des Dinges an sich , nicht herankommen knne. Wie aber, wenn dieses Ding an sich samt demjenseitigen Urgrund der Dinge nur ein Phantom wre! Leicht ist einzusehen, da sich die Sache so verhlt. Nachdem tiefsten Wesen der Dinge, nach den Urprinzipien derselben zu forschen, ist ein von der Menschennaturuntrennbarer Trieb. Er liegt allem wissenschaftlichen Treiben zugrunde.Nicht die geringste Veranlassung aber ist, diesen Urgrund auerhalb der uns gegebenen sinnlichen und geistigenWelt zu suchen, solange nicht ein allseitiges Durchforschen dieser Welt ergibt, da sich innerhalb

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    derselben Elemente finden, die deutlich auf einen Einflu von auen hinweisen.Unsere Schrift sucht nun den Beweis zu fhren, da fr unser Denken alles erreichbar ist, was zur Erklrung undErgrndung der Welt herbeigezogen werden mu.Die Annahme von auerhalb unserer Welt liegenden Prinzipien derselben zeigt sich als das Vorurteil einerabgestorbenen in eitlem Dogmenwahn lebenden Philosophie. Zu diesem Ergebnisse htte Kant kommen mssen,wenn er wirklich untersucht htte, wozu unser Denken veranlagt ist. Statt dessen bewies er in der umstndlichstenArt, da wir zu den letzten Prinzipien, die jenseits unserer Erfahrung liegen, wegen der Einrichtung unseresEkenntnisvermgens nicht gelangen knnen. Vernnftigerweise drfen wir sie aber gar nicht in ein solches Jenseitsverlegen. Kant hat wohl die dogmatische Philosophie widerlegt, aber er hat nichts an deren Stelle gesetzt.Die zeitlich an ihn anknpfende deutsche Philosophie entwickelte sich daher berall im Gegensatz zu Kant. Fichte,Schelling, Hegel kmmerten sich nicht weiter um die von ihrem Vorgnger abgesteckten Grenzen unseresErkennens und suchten die Urprinzipien der Dinge innerhalb des Diesseits der menschlichen Vernunft. SelbstSchopenhauer, der doch behauptet, die Resultate der Kantschen Vernunftkritik seien ewig unumstlicheWahrheiten, kann nicht umhin, von denen seines Meisters abweichende Wege zur Erkenntnis der letztenWeltursachen einzuschlagen. Das Verhngnis dieser Denker war, da sie Erkenntnisse der hchsten Wahrheitensuchten, ohne fr solches Beginnen durch eine Untersuchung der Natur des Erkennens selbst den Grund gelegt zuha-

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    ben. Die stolzen Gedankengebude Fichtes, Schellings und Hegels stehen daher ohne Fundament da. Der Mangeleines solchen wirkte aber auch schdigend auf die Gedankengnge der Philosophen. Ohne Kenntnis der Bedeutungder reinen Ideenwelt und ihrer Beziehung zum Gebiet der Sinneswahrnehmung bauten dieselben Irrtum auf Irrtum,Einseitigkeit auf Einseitigkeit. Kein Wunder, da die allzukhnen Systeme den Strmen einerphilosophiefeindlichen Zeit nicht zu trotzen vermochten, und viel Gutes, das sie enthielten, mit dem Schlechtenerbarmungslos hinweggeweht worden ist.Einem hiemit angedeuteten Mangel sollen die folgenden Untersuchungen abhelfen. Nicht wie Kant es tat, wollen siedarlegen, was das Erkenntnisvermgen nicht vermag; sondern ihr Zweck ist, zu zeigen, was es wirklich imstande ist.Das Resultat dieser Untersuchungen ist, da die Wahrheit nicht, wie man gewhnlich annimmt, die ideelleAbspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das berhauptnirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrchten. Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schonanderwrts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu Schaffen, dasmit der sinnenfllig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die hchste Ttigkeit desMenschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese Ttigkeit

  • wre das Weltgeschehen gar nicht als in sich abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem Weltlaufegegenber nicht ein miger

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    Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht,sondern der ttige Mitschpfer des Weltprozesses; und das Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus desUniversums.Fr die Gesetze unseres Handelns, fr unsere sittlichen Ideale hat diese Anschauung die wichtige Konsequenz, daauch diese nicht als das Abbild von etwas auer uns Befindlichem angesehen werden knnen, sondern als ein nur inuns Vorhandenes. Eine Macht, als deren Gebote wir unsere Sittengesetzte ansehen mten, ist damit ebenfallsabgewiesen. Einen kategorischen Imperativ , gleichsam eine Stimme aus dem Jenseits, die uns vorschriebe, waswir zu tun oder zu lassen haben, kennen wir nicht. Unsere sittlichen Ideale sind unser eigenes freies Erzeugnis. Wirhaben nur auszufhren, was wir uns selbst als Norm unseres Handelns vorschreiben.Die Anschauung von der Wahrheit als Freiheitstat begrndet somit auch eine Sittenlehre, deren Grundlage dievollkommen freie Persnlichkeit ist.Diese Stze gelten natrlich nur von jenem Teil unseres Handelns, dessen Gesetze wir in vollkommener Erkenntnisideell durchdringen. Solange die letzteren blo natrliche oder begrifflich noch unklare Motive sind, kann wohl eingeistig Hherstehender erkennen, inwiefern diese Gesetze unseres Tuns innerhalb unserer Individualitt begrndetsind, wir selbst aber empfinden sie als von auen auf uns wirkend, uns zwingend. Jedesmal, wenn es uns gelingt, einsolches Motiv klar erkennend zu durchdringen, machen wir eine Eroberung im Gebiet der Freiheit.

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    Wie sich unsere Anschauungen zu der bedeutendsten philosophischen Erscheinung der Gegenwart, zurWeltauffassung Eduard von Hartmanns, verhalten, wird der Leser aus unserer Schrift in ausfhrlicher Weise, soweitdas Erkenntnisproblem in Frage kommt, ersehen.Eine Philosophie der Freiheit ist es, wozu wir mit dem Gegenwrtigen ein Vorspiel geschaffen haben. Dieseselbst in ausfhrlicher Gestalt soll bald nachfolgen. Die Erhhung des Daseinswertes der menschlichenPersnlichkeit ist doch das Endziel aller Wissenschaft. Wer letztere nicht in dieser Absicht betreibt, der arbeitet nur,weil er von seinem Meister solches gesehen hat, er forscht , weil er das gerade zufllig gelernt hat. Ein freierDenker kann er nicht genannt werden. Was den Wissenschaften erst den wahren Wert verleiht, ist diephilosophische Darlegung der menschlichen Bedeutung ihrer Resultate. Einen Beitrag zu dieser Darlegung wollteich liefern. Aber vielleicht verlangt die Wissenschaft der Gegenwart gar nicht nach ihrer philosophischenRechtfertigung! Dann ist zweierlei gewi: erstens, da ich eine unntige Schrift geliefert habe, zweitens, da diemoderne Gelehrsamkeit im Trben fischt und nicht wei, was sie will.Am Schlusse dieser Vorrede kann ich eine persnliche Bemerkung nicht unterdrcken. Ich habe meinephilosophischen Anschauungen bisher immer anknpfend an die Goethesche Weltanschauung dargelegt, in die ichdurch meinen ber alles verehrten Lehrer Karl ,Julius Schrer zuerst eingefhrt worden bin, der mir in derGoetheforschung so hoch steht, weil sein Blick immer ber das Einzelne hinaus auf die Ideen geht.

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    Mit dieser Schrift hoffe ich aber nun gezeigt zu haben da mein Gedankengebude eine in sich selbst begrndeteGanzheit ist, die nicht aus der Goetheschen Weltanschauung abgeleitet zu werden braucht. Meine Gedanken, wie siehier vorliegen und weiter als Philosophie der Freiheit nachfolgen werden, sind im Laufe vieler Jahre entstanden.Und es geht nur aus einem tiefen Dankesgefhl hervor, wenn ich noch sage, da die liebevolle Art, mit der mir dasHaus Specht in Wien entgegenkam whrend der Zeit, in der ich die Erziehung der Kinder desselben zu besorgenhatte, ein einzig wnschenswertes Milieu zum Ausbau meiner Ideen darbot; ferner da ich die Stimmung zumletzten Abrunden manches Gedankens meiner vorlufig auf S. 90 bis 92 keimartig skizziertenFreiheitsphilosophie den anregenden Gesprchen mit meiner hochgeschtzten Freundin Rosa Mayreder in Wienverdanke, deren literarische Arbeiten, die aus einer feinsinnigen, vornehmen Knstlernatur entspringen,voraussichtlich bald der ffentlichkeit bergeben sein werden.

    Geschrieben zu Wien, Anfang Dezember 1891Dr. Rudolf Steiner

    14EINLEITUNG

    Die folgenden Errterungen haben die Aufgabe, durch eine auf die letzten Elemente zurckgehende Analyse desErkenntnisaktes das Erkenntnisproblem richtig zu formulieren und den Weg zu einer Lsung desselben anzugeben.

  • Sie zeigen durch eine Kritik der auf Kantschem Gedankengange fuenden Erkenntnistheorien, da von diesemStandpunkte aus niemals eine Lsung der einschlgigen Fragen mglich sein wird. Dabei ist allerdingsanzuerkennen, da ohne die grundlegenden Vorarbeiten Volkelts*

    *Erfahrung und Denken. Kritische Grundlegung der Erkenntnistheorie , von Johannes Volkelt. Hamburg undLeipzig 1886.

    mit ihren grndlichen Untersuchungen ber den Erfahrungsbegriff die przise Fassung des Begriffes desGegebenen , wie wir sie versuchen, sehr erschwert worden wre. Wir geben uns aber der Hoffnung hin, da wirzu einer berwindung des Subjektivismus, der den von Kant ausgehenden Erkenntnistheorien anhaftet, den Grundgelegt haben. Und zwar glauben wir dies durch unseren Nachweis getan zu haben, da die subjektive Form, inwelcher das Weltbild vor der Bearbeitung desselben durch die Wissenschaft fr den Erkenntnisakt auftritt, nur einenotwendige Durchgangsstufe ist, die aber im Erkenntnisprozesse selbst berwunden wird. Uns gilt die sogenannteErfahrung, die der Positivismus und der Neukantianismus so gerne als das einzig Gewisse hinstellen mchten,gerade fr das Subjektivste. Und indem wir dieses zeigen, begrnden wir den obiektiven Idealismus als notwendigeFolge einer sich selbst verstehenden Er-

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    kenntnistheorie. Derselbe unterscheidet sich von dem Hegelschen metaphysischen, absoluten Idealismus dadurch,da er den Grund fr die Spaltung der Wirklichkeit in gegebenes Sein und Begriff im Erkenntnissubjekt sucht unddie Vermittlung derselben nicht in einer objektiven Weltdialektik, sondern im subjektiven Erkenntnisprozesse sieht.Der Schreiber dieser Zeilen hat diesen Standpunkt schon einmal auf Grund von Untersuchungen, die sich in derMethode von den vorliegenden freilich wesentlich unterscheiden, und denen auch das Zurckgehen auf die erstenElemente des Erkennens fehlt, im Jahre 1886 in seinen Grundlinien einer Erkenntnistheorie der GoetheschenWeltanschauung schriftstellerisch vertreten.Die neuere Literatur, die fr diese Errterungen in Betracht kommt, ist folgende. Wir fhren dabei nicht nurdasjenige an, worauf unsere Darstellung unmittelbar Bezug hat, sondern auch alle jene Schriften, in denen Fragenbehandelt werden, die den von uns errterten hnlich sind. Von einer besonderen Anfhrung der Schriften dereigentlichen philosophischen Klassiker sehen wir ab.

    Fr die Erkenntnistheorie im allgemeinen kommen in Betracht:

    Richard Avenarius, Philosophie als Denken gem dem Prinzip des kleinsten Kraftmaes. Prolegomena zu einerKritik der reinen Erfahrung; Leipzig 1876.- Kritik der reinen Erfahrung, 1. Band; Leipzig 1888.Julius F. A. Bahnsen, Der Widerspruch im Wissen und Wesen

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    der Welt. Prinzip und Einzelbewhrung der Realdialektik, 1. Band; Berlin 1880.Julius Baumann, Philosophie als Orientierung ber die Welt; Leipzig 1872.Jacob Sigismund Beck, Einzig mglicher Standpunkt, aus welchem die kritische Philosophie beurteilt werden mu;Riga 1796; d. i. Band III von: Erluternder Auszug aus den kritischen Schriften des Herrn Prof. Kant, auf Anratendesselben; Riga 1793 - 1796.Friedrich Eduard Beneke, System der Metaphysik und Religionsphilosophie, aus den natrlichenGrundverhltnissen des menschlichen Geistes abgeleitet; Berlin 1839.Julius Bergmann, Sein und Erkennen. Eine fundamentalphilosophische Untersuchung; Berlin 1880.Alois Emanuel Biedermann, Christliche Dogmatik, Band 1: Der prinzipielle Teil; 2.erw. Aufl. Berlin 1884; Band11: Der positive Teil, 1885.Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung; Berlin 1871. Paul Deussen, Die Elemente der Metaphysik alsLeitfaden zum Gebrauche bei Vorlesungen sowie zum Selbststudium zusammengefat, nebst einer Vorbetrachtungber das Wesen des Idealismus; Leipzig 1890 (2. verm. Aufl.)Wilhelm Dilthey, Einleitungen in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung fr das Studium derGesellschaft und der Geschichte, Band 1, Leipzig 1883. - Besonders die einleitenden Kapitel, welche das Verhltnisder Erkenntnistheorie zu den brigen Wissenschaften behandeln. - Ferner kme vom gleichen Verfasser auch nochin Betracht:- Beitrge zur Lsung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realitt der Auenwelt und seinem Recht;Sitzungsberichte der Kgl. Preu. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1890, S. 977 - 1022.

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  • August Dorner, Das menschliche Erkennen. Grundlinien der Erkenntnistheorie und Metaphysik; Berlin 1887.Eugen Dreher, ber Wahrnehmung und Denken. Ein Beitrag zur Erkenntnislehre; Verhandlungen derPhilosophischen Gesellschaft Heidelberg 1878.Gustav Engel, Sein und Denken; Berlin 1889.Wilhelm Enoch, Der Begriff der Wahrnehmung. Eine Studie zur Psychologie und Erkenntnistheorie; Hamburg1890.Benno Erdmann, Kants Kritizismus in der ersten und zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft; Leipzig 1878.Ferdinand Fellner, Ritter v. Feldegg, Das Gefhl als Fundament der Weltordnung; Wien 1890.Engelbert Lorenz Fischer, Die Grundfragen der Erkenntnistheorie; Mainz 1887.Kuno Fischer, System der Logik und Metaphysik oder Wissenschaftlehre; 2. Aufl., Heidelberg 1865.- Geschichte der neueren Philosophie; Mannheim 1860 (besonders die auf Kant bezglichen Teile): Immanuel Kant.Entwicklungsgeschichte und System der kritischen Philosophie; 1. Band: Entstehung und Begrndung der kritischenPhilosophie. Die Kritik der reinen Vernunft; 11. Band: Das Lehrgebude der kritischen Philosophie. Das System derreinen Vernunft (d. i. Band III und IV der Geschichte der neueren Philosophie).A. Ganser, Die Wahrheit. Kurze Darlegung der letzten und wahren Weltprinzipien. ENTWURF zu einertranszendentalen Logik; Graz 1890.Carl Gring, System der kritischen Philosophie, 2 Teile; Leipzig 1874 und 1875.- ber den Begriff der Erfahrung; Vierteljahrsschrift fr wissenschaftliche Philosophie, 1. Jahrg., Leipzig 1877, S.384-419 und S. 525-539; sowie 2. Jahrg. 1878, S. 106 - 114.

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    Eduard Grimm, Zur Geschichte des Erkenntnisproblems. Von Bacon zu Hume; Leipzig o. J. (1890).Franz Grung, Das Problem der Gewiheit. Grundzge einer Erkenntnistheorie; Heidelberg 1886.Robert Hamerling, Die Atomistik des Willens. Beitrge zur Kritik der modernen Erkenntnis, 2 Bnde; Hamburg1891.Friedrich Harms, Die Philosophie seit Kant; Berlin 1876.Eduard von Hartmann, Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus. Eine Sichtung und Fortbildung dererkenntnistheoretischen Prinzipien Kants; Berlin 187 5; d. i. 2. Auflage von: Das Ding an sich und seineBeschaffenheit. Kantische Studien zur Erkenntnistheorie und Metaphysik; Berlin 1870.- J. H. v. Kirchmanns erkenntnistheoretischer Realismus. Ein kritischer Beitrag zur Begrndung destranszendentalen Realismus; Berlin 1875.- Das Grundproblem der Erkenntnistheorie. Eine phnomenologische Durchwanderung der mglichenerkenntnistheoretischen Standpunkte; Leipzig 1889.- Kritische Wanderungen durch die Philosophie der Gegenwart; Leipzig 1889.Hermann L. F. v. Helmholtz, Die Tatsachen der Wahrnehmung. Rede, gehalten zur Stiftungsfeier der Friedrich-Wilhelm-Universitt zu Berlin am 3. August 1878; Berlin 1879.Gerardus Heymans, Die Gesetze und Elemente des wissenschaftlichen Denkens. Ein Lehrbuch derErkenntnistheorie in Grundzgen; Leyden und Leipzig 1890.Alfred Hlder, Darstellung der Kantischen Erkenntnistheorie mit besonderer Bercksichtigung der verschiedenenFassungen der transzendentalen Deduktion der Kategorien; Tbingen 1874.Adolf Horwicz, Analyse des Denkens. Grundlinien einer Erkenntnistheorie; Halle 1875; d. i. Band 11, 1. Teil von:Psy-

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    chologische Analysen auf physiologischer Grundlage. Ein Versuch zur Neubegrndung der Seelenlehre; Halle undMagdeburg 1872-1878.Friedrich Heinrich Jacobi, David Hume ber den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gesprch; Breslau1787.Matthias Kappes, Der Common Sense als Prinzip der Gewiheit in der Philosophie des Schotten Thomas Reid;Mnchen 1890.Max Kauffmann, Fundamente der Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre; Leipzig 1890.B. Kerry, System einer Theorie der Grenzgebiete. Ein Beitrag zur Erkenntnistheorie, 1. Teil; Wien 1890.Julius Heinrich von Kirchmann, Die Lehre vom Wissen als Einleitung in das Studium philosophischer Werke;Berlin 1868 (Band 1 der Philosophischen Bibliothek ).Ernst Laas, Die Kausalitt des Ich; Vierteljahrsschrift fr wissenschaftliche Philosophie; 4. Jahrg., Leipzig 1880, S.1 - 54, S. 185-224, S. 311-367.- Idealismus und Positivismus. Erster allgemeiner und grundlegender Teil: Die Prinzipien des Idealismus undPositivismus, historische Grundlegung; Berlin 18 79.Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner 13edeutung in der Gegenwart, 2 Bnde; 2,

  • Auflage Iserlohn 1873 und 1875.Anton von Leclair, Das kategoriale Geprge des Denkens in seinem Einflusse auf die Probleme der Philosophieinsbesondere der Erkenntnistheorie; Vierteljahrsschrift fr wissenschaftliche Philosophie; 7. Jahrg., Leipzig 188 3,S. 2 5 7295.Otto Liebmann, Kant und die Epigonen; Stuttgart 1865; - Zur Analysis der Wirklichkeit. Eine Errterung derGrundprobleme der Philosophie; 2. betrchtlich verm. Auflage, Straburg 1880.

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    - Gedanken und Tatsachen. Philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien; 1. Heft, Straburg 1882 (2.und 3. Heft, Straburg 1899).- Die Klimax der Theorien. Eine Untersuchung aus dem Bereich der allgemeinen Wissenschaftslehre; Straburg1884.Theodor Lipps, Grundtatsachen des Seelenlebens; Bonn 1883.Rudolf Hermann Lotze, System der Philosophie, Teil 1: Logik; Leipzig 1874.Joseph Valentin Mayer, Vom Erkennen; Freiburg i. Br. 1885.Alexius Meinong, Hume-Studien, Band 1 : Zur Geschichte und Kritik des modernen Nominalismus; Wien 1877.John Stuart Mill, Die induktive Logik. Eine Darlegung der philosophischen Prinzipien wissenschaftlicherForschung, insbesondere der Naturforschung; (Original London 184 3) deutsch von J. Schiel, Braunschweig 1849.- System der deduktiven und induktiven Logik; deutsch von J. Schiel, Braunschweig 1868.Wilhelm Mnz, Die Grundlagen der Kantschen Erkenntnistheorie; 2. Aufl. Breslau 1885.Georg Neudecker, Das Grundproblem der Erkenntnistheorie; Nrdlingen 1881.Friedrich Paulsen, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Kantschen Erkenntnistheorie; Leipzig 1875.Johannes Rehmke, Die Welt als Wahrnehmung und Begriff. Eine Erkenntnistheorie; Berlin 1880.Thomas Reid, Untersuchungen ber den menschlichen Geist nach den Grundstzen des gemeinenMenschenverstandes; deutsch Leipzig 1782; Original: An inquiry into the human mind on the principle of commonsense; Edinburgh 176 5.Aloys Riehl, Der philosophische Kritizismus und seine Bedeutung fr die positive Wissenschaft; Band 1:Geschichte und Methode des philosophischen Kritizismus; Band 11, 1:

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    Die sinnlichen und logischen Grundlagen der Erkenntnis; Band 11, 2: Zur Wissenschaftstheorie und Metaphysik;Leipzig 1876- 1887.Isaac Rlf Wissenschaft des Weltgedankens und der Gedankenwelt. System einer neuen Metaphysik, 2 Bnde;Leipzig 1888.Richard von Schubert- Soldern, Grundlagen einer Erkenntnistheorie; Leipzig 1884.Gottlob Ernst Schulze, Aenesidemus - oder ber die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jenagelieferten Elementar-Philosophie; Helmstdt 1792 (Neuausgabe der Kantgesellschaft Berlin 1 9 11 ).Wilhelm Schuppe, Zur voraussetzungslosen Erkenntnistheorie ; Philosophische Monatshefte, Band XVIII, Berlin,Heidelberg, Leipzig 1882, Heft 6 und 7, S. 375 - 386.Rudolf Seydel, Logik oder Wissenschaft vom Wissen; Leipzig 1866.Christoph v. Sigwart, Logik, 2 Bnde; Tbingen 1873 und 1878August Stadler, Die Grundstze der reinen Erkenntnistheorie in der Kantischen Philosophie. Kritische Darstellung -Leipzig 1876.Hippolyte Taine, De l'Intelligence; 5. Auflage, Paris 1888.Adolf Trendelenburg, Logische Untersuchungen; Leipzig 1862.Friedrich berweg, System der Logik und Geschichte der logischen Lehren; 3. verm. und verb. Auflage, Bonn1868.Hans Vaihinger, Hartmann, Dhring und Lange; Iserlohn 1876.Theodor Varnbhler, Widerlegung der Kritik der reinen Vernunft; Prag und Leipzig 1890.Johannes Volkelt: Immanuel Kant's Erkenntnistheorie nach ihren Grundprinzipien analysiert. Ein Beitrag zurGrundlegung der Erkenntnistheorie; Leipzig 1879.- Erfahrung und Denken. Kritische Grundlegung der Erkenntnistheorie; Hamburg und Leipzig 1886.

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    Richard Wahle, Gehirn und Bewutsein. Physiologisch - psychologische Studie; Wien 1884.Wilhelm Windelband, Prludien. Aufstze und Reden zur Einleitung in die Philosophie; Freiburg i. Br. undTbingen 1884.- ber die verschiedenen Phasen der Kantischen Lehre vom Ding-an-sich; Vierteljahrsschrift fr wissenschaftlichePhilosophie, 1. Jahrg. Leipzig 1877, S. 224- 266.

  • Johannes Witte, Beitrge zum Verstndnis Kants; Berlin 1874.2 - Vorstudien zur Erkenntnis der unerfahrbaren Seins; Bonn 1876.Hermann Wolff ber den Zusammenhang unserer Vorstellungen mit den Dingen auer uns; Leipzig 1875.Johannes Wolff, Das Bewutsein und sein Objekt; Berlin 1889.Wilhelm Wundt, Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicherForschung; Band 1: Erkenntnislehre; Stuttgart 1880.Fr Fichte kommen in Betracht: F C Biedermann, De Genetica philosophandi ratione et methodo, praesertim Fichtii,Schellingii, Hegelii, Dissertationis particula prima, syntheticam Fichtii methodum exhibens usw.; Lipsiae 183 5.Friedrich Frederichs, Der Freiheitsbegriff Kants und Fichtes; Berlin 1886.Otto Ghloff: Der transzendentale Idealismus J. G. Fichtes; Halle 1888.Paul Hensel, ber die Beziehung des reinen Ich bei Fichte zur Einheit der Apperzeption bei Kant; Freiburg i. Br.1885.G. Schwabe, Fichtes und Schopenhauers Lehre vom Willen mit ihren Konsequenzen fr Weltbegreifung undLebensfhrung; Jena 1887.

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    Die zahlreichen zum Fichte-Jubilum 1862 erschienenen Schriften finden natrlich hier keine Bercksichtigung.Hchstens die Rede Trendelenburgs (Adolf Trendelenburg, Zur Erinnerung an J. G. Fichte, Vortrag, gehalten am 19.Mai 1862; Berlin 1862 ), welche wichtigere theoretische Gesichtspunkte enthlt, mge erwhnt werden.

    1. VORBEMERKUNGEN

    Die Erkenntnistheorie soll eine wissenschaftliche Untersuchung desjenigen sein, was alle brigen Wissenschaftenungeprft voraussetzen: des Erkennens selbst. Damit ist ihr von vornherein der Charakter der philosophischenFundamentalwissenschaft zugesprochen. Denn erst durch sie knnen wir erfahren, welchen Wert und welcheBedeutung die durch die anderen Wissenschaften gewonnenen Einsichten haben. Sie bildet in dieser Hinsicht dieGrundlage fr alles wissenschaftliche Streben. Es ist aber klar, da sie dieser ihrer Aufgabe nur dann gerecht werdenkann, wenn sie selbst, soweit das bei der Natur des menschlichen Erkenntnisvermgens mglich ist,voraussetzungslos ist. Dies wird wohl allgemein zugestanden. Dennoch findet man bei eingehender Prfung derbekannteren erkenntnistheoretischen Systeme, da schon in den Ausgangspunkten der Untersuchung eine ganzeReihe von Voraussetzungen gemacht werden, die dann die berzeugende Wirkung der weiteren Darlegungenwesentlich beeintrchtigen. Namentlich wird man bemerken, da gewhnlich schon bei Aufstellung dererkenntnistheoretischen Grundprobleme gewisse versteckte Annahmen gemacht werden. Wenn aber dieFragestellungen einer Wissenschaft verfehlte sind, dann mu man wohl an einer richtigen Lsung von vornhereinzweifeln. Die Geschichte der Wissenschaften lehrt uns doch, da unzhlige Irrtmer, an denen ganze Zeitalterkrank-

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    ten, einzig und allein darauf zurckzufhren sind, da gewisse Probleme falsch gestellt worden sind. Wir brauchennicht bis auf die Physik des Aristoteles oder die Ars magna Lulliana zurckzugehen, um diesen Satz zu erhrten,sondern wir knnen in der neueren Zeit Beispiele genug finden, Die zahlreichen Fragen nach der Bedeutungrudimentrer Organe bei gewissen Organismen konnten erst dann in richtiger Weise gestellt werden, als durch dieAuffindung des biogenetischen Grundgesetzes die Bedingungen hierzu geschaffen waren. Solange die Biologieunter dem Einflusse teleologischer Anschauungen stand, war es unmglich, die entsprechenden Probleme soaufzuwerfen, da eine befriedigende Antwort mglich geworden wre. Welche abenteuerlichen Vorstellungen hatteman z. B. ber die Aufgabe der sogenannten Zirbeldrse im menschlichen Gehirne, solange man nach einer solchenAufgabe berhaupt fragte! Erst als man auf dem Wege der vergleichenden Anatomie die Klarstellung der Sachesuchte und sich fragte, ob dieses Organ nicht blo ein beim Menschen stehengebliebener Rest aus niederenEntwickelungsformen sei, gelangte man zu einem Ziele. Oder, um noch ein Beispiel anzufhren, welcheModifikationen erfuhren gewisse Fragestellungen in der Physik durch die Entdeckung des mechanischenWrmequivalentes und des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft! Kurz, der Erfolg wissenschaftlicherUntersuchungen ist ganz wesentlich davon abhngig, ob man die Probleme richtig zu stellen imstande ist.Wenn auch die Erkenntnistheorie als Voraussetzung aller brigen Wissenschaften eine ganz besondere Stellungeinnimmt, so ist dennoch vorauszusehen, da auch in ihr

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    ein erfolgreiches Fortschreiten in der Untersuchung nur dann mglich sein wird, wenn die Grundfragen in richtigerForm aufgeworfen werden.Die folgenden Auseinandersetzungen streben nun in erster Linie eine solche Formulierung des Erkenntnisproblems

  • an, die dem Charakter der Erkenntnistheorie als vollstndig voraussetzungsloser Wissenschaft strenge gerecht wird.Sie wollen dann auch das Verhltnis von J. G. Fichtes Wissenschaftslehre zu einer solchen philosophischenGrundwissenschaft beleuchten. Warum wir gerade Fichtes Versuch, den Wissenschaften eine unbedingt gewisseGrundlage zu schaffen, mit dieser Aufgabe in nhere Verbindung bringen, wird sich im Verlaufe der Untersuchungvon selbst ergeben.

    II. KANTS ERKENNTNISTHEORETISCHE GRUNDFRAGE

    Als der Begrnder der Erkenntnistheorie im modernen Sinne des Wortes wird gewhnlich Kant genannt. Gegendiese Auffassung knnte man wohl mit Recht einwenden, da die Geschichte der Philosophie vor Kant zahlreicheUntersuchungen aufweist, die denn doch als mehr denn als bloe Keime zu einer solchen Wissenschaft anzusehensind. So bemerkt auch Volkelt in seinem grundlegenden Werke ber Erkenntnistheorie, da schon mit Locke diekritische Behandlung dieser Wissenschaft ihren Anfang genommen habe. Aber auch bei noch frheren Philosophen,ja schon in der Philosophie der Griechen, findet man Errterungen, die gegenwrtig in der Erkenntnistheorieangestellt zu werden pflegen. Indessen sind durch Kant alle hier in Betracht kommenden Probleme in ihren Tiefenaufgewhlt worden, und an ihn anknpfend haben zahlreiche Denker dieselben so allseitig durchgearbeitet, da mandie bereits frher vorkommenden Lsungsversuche entweder bei Kant selbst oder bei seinen Epigonen wiederfindet.Wenn es sich also um ein rein sachliches und nicht um ein historisches Studium der Erkenntnistheorie handelt, sowird man kaum an einer wichtigen Erscheinung vorbergehen, wenn man blo die Zeit seit Kants Auftreten mit derKritik der reinen Vernunft in Rechnung bringt. Was vorher auf diesem Felde geleistet worden ist, wiederholt sich indieser Epoche wieder.

    Erfahrung und Denken. Kritische Grundlegung der Erkenntnistheorie von Johannes Volkelt. Hamburg und Leipzig1886, S. 20.

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    Kants erkenntnistheoretische Grundfrage ist: Wie sind synthetische Urteile a priori mglich? Sehen wir diese Frageeinmal auf ihre Voraussetzungslosigkeit hin an!Kant wirft dieselbe deswegen auf, weil er der Meinung ist, da wir ein unbedingt gewisses Wissen nur dannerlangen knnen, wenn wir in der Lage sind, die Berechtigung synthetischer Urteile a priori nachzuweisen. Er sagt:In der Auflsung obiger Aufgabe ist zugleich die Mglichkeit des reinen Vernunftgebrauches in Grndung undAusfhrung aller Wissenschaften, die eine theoretische Erkenntnis a priori von Gegenstnden enthalten, mitbegriffen * und Auf die Auflsung dieser Aufgabe nun kommt des Stehen und Fallen der Metaphysik, und alsoihre Existenz gnzlich an * *.Ist diese Frage nun, so wie Kant sie stellt, voraussetzungslos? Keineswegs, denn sie macht die Mglichkeit einesunbedingt gewissen Systems vom Wissen davon abhngig, da es sich nur aus synthetischen und aus solchenUrteilen aufbaut, die unabhngig von aller Erfahrung gewonnen werden. Synthetische Urteile nennt Kant solche, beiwelchen der Prdikatbegriff etwas zum Subjektbegriff hinzubringt, was ganz auer demselben liegt, ob es zwar mitdemselben in Verknpfung steht ***, wogegen bei den analytischen Urteilen das Prdikat nur etwas aussagt, was(versteckterweise) schon im Subjekt enthalten ist. Es kann hier wohl nicht der Ort sein, auf die scharfsinnigenEinwnde Johannes Rehmkes **** gegen

    * Kritik der reinen Vernunft S.61 f nach der Ausgabe von Kirchmann, (Berlin 1868), auf welche Ausgabe auch alleanderen Seitenzahlen bei Zitaten aus der Kritik der reinen Vernunft und der Prolegomena zu beziehen sind.* * Prolegomena 5.*** Kritik der reinen Vernunft S. 53 f.**** Die Welt als Wahrnehmung und Begriff, S. 161 ff.

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    diese Gliederung der Urteile einzugehen. Fr unseren gegenwrtigen Zweck gengt es, einzusehen, da wir einwahrhaftes Wissen nur durch solche Urteile erlangen knnen, die zu einem Begriffe einen zweiten hinzufgen,dessen Inhalt wenigstens fr uns in jenem ersten noch nicht gelegen war. Wollen wir diese Klasse von Urteilen mitKant synthetische nennen, so knnen wir immerhin zugestehen, da Erkenntnisse in Urteilsform nur dann gewonnenwerden knnen, wenn die Verbindung des Prdikats mit dem Subjekte eine solche synthetische ist. Anders aber stehtdie Sache mit dem zweiten Teil der Frage, der verlangt, da diese Urteile a priori, d. i. unabhngig von allerErfahrung, gewonnen sein mssen. Es ist ja durchaus mglich*, da es solche Urteile berhaupt gar nicht gibt. Frden Anfang der Erkenntnistheorie mu es als gnzlich unausgemacht gelten, ob wir anders als durch Erfahrung, odernur durch diese zu Urteilen kommen knnen. Ja, einer unbefangenen berlegung gegenber scheint eine solcheUnabhngigkeit von vornherein unmglich. Denn was auch immer Gegenstand unseres Wissens werden mag: esmu doch einmal als unmittelbares, individuelles Erlebnis an uns herantreten, das heit zur Erfahrung werden. Auch

  • die mathematischen Urteile gewinnen wir auf keinem anderen Wege, als indem wir sie in bestimmten einzelnenFllen erfahren . Selbst wenn man, wie z. B. Otto Liebmann ** , dieselben in einer gewissen Organisation unseresBewutseins begrndet sein lt, so stellt sich die Sache nicht anders dar. Man kann dann wohl sagen: dieser oderjener

    * Wir meinen hiermit natrlich die bloe Denkmglichkeit.** Zur Analysis der Wirklichkeit. Gedanken und Tatsachen.

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    Satz sei notwendig gltig, denn wrde seine Wahrheit aufgehoben, so wrde das Bewutsein mit aufgehoben: aberden Inhalt desselben als Erkenntnis knnen wir doch nur gewinnen, wenn er einmal Erlebnis fr uns wird, ganz inderselben Weise wie ein Vorgang in der ueren Natur. Mag immer der Inhalt eines solchen Satzes Elementeenthalten, die seine absolute Gltigkeit verbrgen, oder mag dieselbe aus anderen Grnden gesichert sein: ich kannseiner nicht anders habhaft werden, als wenn er mir einmal als Erfahrung gegenbertritt. Dies ist das eine.Das zweite Bedenken besteht darin, da man am Beginne der erkenntnistheoretischen Untersuchungen durch ausnicht behaupten darf, aus der Erfahrung knnen keine unbedingt gltigen Erkenntnisse stammen. Es ist zweifellosganz gut denkbar, da die Erfahrung selbst ein Kennzeichen aufwiese, durch welches die Gewiheit der aus ihrgewonnenen Einsichten verbrgt wrde.So liegen in der Kantschen Fragestellung zwei Voraussetzungen: erstens, da wir auer der Erfahrung noch einenWeg haben mssen, um zu Erkenntnissen zu gelangen, und zweitens, da alles Erfahrungswissen nur bedingteGltigkeit haben knne. Da diese Stze einer Prfung bedrftig sind, da sie bezweifelt werden knnen, dieskommt Kant gar nicht zum Bewutsein. Er nimmt sie einfach als Vorurteile aus der dogmatischen Philosophieherber und legt sie seinen kritischen Untersuchungen zum Grunde. Die dogmatische Philosophie setzt sie als gltigvoraus und wendet sie einfach an, um zu einem ihnen entsprechenden Wissen zu gelangen; Kant setzt sie als gltigvoraus und fragt sich nur: unter

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    welchen Bedingungen knnen sie gltig sein? Wie: wenn sie aber berhaupt nicht gltig sind? Dann fehlt demKantschen Lehrgebude jede Grundlage.Alles, was Kant in den fnf Paragraphen, die der Formulierung seiner Grundfrage vorangehen, vorbringt, ist derVersuch eines Beweises, da die mathematischen Urteile synthetisch sind*. Aber gerade die von uns angefhrtenzwei Voraussetzungen bleiben als wissenschaftliche Vorurteile stehen. In Einleitung 11 der Kritik der reinenVernunft heit es (S. 47 f): Erfahrung lehrt uns zwar, da etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, da es nichtanders sein knne und: Erfahrung gibt niemals ihren Urteilen wahre oder strenge, sondern nur angenommene undkomparative Allgemeinheit ( durch Induktion). In Prolegomena Paragraph 1 finden wir: Zuerst, was die Quelleneiner metaphysischen Erkenntnis betrifft, so liegt es schon in ihrem Begriffe, da sie nicht empirisch sein knnen.Die Prinzipien derselben (wozu nicht blo ihre Grundstze, sondern auch Grundbegriffe gehren) mssen alsoniemals aus der Erfahrung genommen sein; denn sie soll nicht physische, sondern metaphysische, d. i. jenseits derErfahrung liegende Erkenntnis sein. Endlich sagt Kant in der Kritik der reinen Vernunft (S. 58): Zuvrderst mubemerkt werden: da eigentliche mathematische Stze jederzeit Urteile a priori und nicht empirisch sind, weil sieNotwendigkeit bei sich fhren, welche aus Erfahrung nicht abgenommen werden kann. Will man aber dieses nichteinrumen, wohl * Ein Versuch, der brigens durch die Einwendungen Rob. Zimmermanns (ber Kantsmathematisches Vorurteil und dessen Folgen), wenn auch nicht gnzlich widerlegt, so doch sehr in Frage gestellt ist.

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    an, so schrnke ich meinen Satz auf die reine Mathematik ein, deren Begriff es schon mit sich bringt, da sie nichtempirische, sondern blo reine Erkenntnis a priori enthalte. Wir mgen die Kritik der reinen Vernunft aufschlagen,wo wir wollen, so werden wir finden, da alle Untersuchungen innerhalb derselben unter Voraussetzung dieserdogmatischen Stze gefhrt werden.Cohen * und Stadler ** versuchen zu beweisen, Kant habe die apriorische Natur der mathematischen und rein-naturwissenschaftlichen Stze dargetan. Nun lt sich aber alles, was in der Kritik versucht wird, im folgendenzusammenfassen: Weil Mathematik und reine Naturwissenschaft apriorische Wissenschaften sind, deshalb mu dieForm aller Erfahrung im Subjekt begrndet sein. Es bleibt also nur das Material der Empfindungen, das empirischgegeben ist. Dieses wird durch die im Gemte liegenden Formen zum Systeme der Erfahrung aufgebaut. Nur alsordnende Prinzipien fr das Empfindungsmaterial haben die formalen Wahrheiten der apriorischen Theorien Sinnund Bedeutung, sie machen die Erfahrung mglich, reichen aber nicht ber dieselbe hinaus. Diese formalenWahrheiten sind aber die synthetischen Urteile a priori, welche somit als Bedingungen aller mglichen Erfahrung soweit reichen mssen als diese selbst. Die Kritik der reinen Vernunft beweist also durchaus nicht die Aprioritt der

  • Mathematik und reinen Naturwissenschaft, sondern bestimmt nur deren Geltungsgebiet unter der Voraussetzung,da ihre Wahrheiten

    * Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S. 90 f.** Stadler, Die Grundstze der reinen Erkenntnistheorie in der KantischenPhilosophie, S. 76 f.

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    von der Erfahrung unabhngig gewonnen werden sollen.Ja, Kant lt sich so wenig auf einen Beweis fr diese Aprioritt ein, da er einfach denjenigen Teil der Mathematikausschliet (siehe oben S. 3 2 Z. 2 8 f. ), bei dem dieselbe etwa, auch nach seiner Ansicht, bezweifelt werdenknnte, und sich nur auf den beschrnkt, bei dem er sie aus dem bloen Begriff folgern zu knnen glaubt. AuchJohannes Volkelt findet, da Kant von der ausdrcklichen Voraussetzung ausgehe, da es tatschlich einallgemeines und notwendiges Wissen gebe . Er sagt darber noch weiter: Diese von Kant nie ausdrcklich inPrfung gezogene Voraussetzung steht mit dem Charakter der kritischen Erkenntnistheorie derart in Widerspruch,da man sich ernstlich die Frage vorlegen mu, ob die Kritik der reinen Vernunft als kritische Erkenntnistheoriegelten drfe. Volkelt findet zwar, da man diese Frage aus guten Grnden bejahen drfe, aber es ist doch durchjene dogmatische Voraussetzung die kritische Haltung der Kantischen Erkenntnistheorie in durchgreifender Weisegestrt *. Genug, auch Volkelt findet, da die Kritik der reinen Vernunft keine voraussetzungsloseErkenntnistheorie ist.Im wesentlichen mit der unseren bereinstimmen auch die Auffassungen O. Liebmanns, Hlders, Windelbands,berwegs, Ed. v. Hartmanns * * und Kuno

    * Volkelt, Erfahrung und Denken, S. 21** Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit, S. 211 ff., Hlder, Darstellung der Kantischen Erkenntnistheorie, S. 14ff., Windelband, ber die verschiedenen Phasen der Kantischen Lehre vom Ding-an-sich, S. 239, berweg, Systemder Logik, S. 380 f. , Hartmann, Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus, S. 142- 172.

    Fischers * in bezug auf den Umstand, da Kant die apriorische Gltigkeit der reinen Mathematik und Naturlehre alsVoraussetzung an die Spitze seiner Errterungen stellt.Da wir wirklich Erkenntnisse haben, die von aller Erfahrung unabhngig sind, und da die letzteren nur Einsichtenvon komparativer Allgemeinheit liefern, knnten wir nur als Folgestze von anderen Urteilen gelten lassen. Esmte diesen Behauptungen unbedingt eine Untersuchung ber das Wesen der Erfahrung und eine solche ber dasWesen unseres Erkennens vorangehen. Aus jener knnte der erste, aus dieser der zweite der obigen Stze folgen.Nun knnte man auf unsere der Vernunftkritik gegenber geltend gemachten Einwnde noch folgendes erwidern.Man knnte sagen, da doch jede Erkenntnistheorie den Leser erst dahin fhren msse, wo der voraussetzungsloseAusgangspunkt zu finden ist. Denn was wir zu irgendeinem Zeitpunkte unseres Lebens als Erkenntnisse besitzen,hat sich weit von diesem Ausgangspunkte entfernt, und wir mssen erst wieder knstlich zu ihm zurckgefhrtwerden. In der Tat ist eine solche rein di-

    * Geschichte der neueren Philosophie V. B. S. 60. In bezug auf Kuno Fischer irrt Volkelt, wenn er (KantsErkenntnistheorie S. 198 f. Anmerkung) sagt, es wrde aus der Darstellung K. Fischers nicht klar, ob seinerAnsicht nach Kant nur die psychologische Tatschlichkeit der allgemeinen und notwendigen Urteile oder zugleichdie objektive Gltigkeit und Rechtmigkeit derselben voraussetze . Denn an der angefhrten Stelle sagt Fischer,da die Hauptschwierigkeit der Kritik der reinen Vernunft darin zu suchen sei, da deren Grundlegungen vongewissen Voraussetzungen abhngig seien, die man eingerumt haben msse, um das Folgende gelten zu lassen. Diese Voraussetzungen sind auch fr Fischer der Umstand, da erst die Tatsache der Erkenntnis festgestellt wirdund dann durch Analyse die Erkenntnisvermgen gefunden, aus denen jene Tatsache selbst erklrt wird .

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    daktische Verstndigung ber den Anfang seiner Wissenschaft fr jeden Erkenntnistheoretiker eine Notwendigkeit.Dieselbe mu sich aber jedenfalls darauf beschrnken, zu zeigen, inwiefern der in Rede stehende Anfang desErkennens wirklich ein solcher ist, sie mte in rein selbstverstndlichen analytischen Stzen verlaufen undkeinerlei wirkliche inhaltsvolle Behauptungen aufstellen, die den Inhalt der folgenden Errterungen beeinflussen,wie das bei Kant der Fall ist. Auch obliegt es dem Erkenntnistheoretiker, zu zeigen, da der von ihm angenommeneAnfang wirklich voraussetzungslos ist.Aber alles das hat mit dem Wesen dieses Anfanges selbst nichts zu tun, steht ganz auerhalb desselben, sagt nichtsber ihn aus. Auch am Beginne des Mathematikunterrichts mu ich mich ja bemhen, den Schler von demaxiomatischen Charakter gewisser Wahrheiten zu berzeugen. Aber niemand wird behaupten wollen, da der Inhaltder Axiome von diesen vorher angestellten Erwgungen abhngig gemacht wird*. Genau in derselben Weise mte

  • der Erkenntnistheoretiker in seinen einleitenden Bemerkungen den Weg zeigen, wie man zu einemvoraussetzungslosen Anfang kommen kann; der eigentliche Inhalt desselben aber mu von diesen Erwgungenunabhngig sein. Von einer solchen Einleitung in die Erkenntnistheorie ist der aber jedenfalls weit entfernt, der wieKant am Anfange Behauptungen mit ganz bestimmtem, dogmatischem Charakter aufstellt.

    * Inwiefern wir mit unseren eigenen erkenntnistheoretischen Erwgungen ganz in derselben Weise vorgehen, zeigenwir in Kapitel IV: Die Ausgangspunkte der Erkenntnistheorie.

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    III. DIE ERKENNTNISTHEORIE NACH KANTVon der fehlerhaften Fragestellung bei Kant sind nun alle nachfolgenden Erkenntnistheoretiker mehr oder wenigerbeeinflut worden.. Bei Kant tritt die Anschauung, da alle uns gegebenen Gegenstnde unsere Vorstellungen seien,als Resultat seines Apriorismus auf. Seither ist sie nun zum Grundsatze und Ausgangspunkte fast allererkenntnistheoretischen Systeme gemacht worden. Was uns zunchst und unmittelbar als gewi feststehe, sei einzigund allein der Satz, da wir ein Wissen von unseren Vorstellungen haben; das ist zu einer fast allgemein geltendenberzeugung der Philosophen geworden.G. E. Schulze behauptet bereits 1792 in seinem Aenesidemus , da alle unsere Erkenntnisse bloe Vorstellungenseien, und da wir ber unsere Vorstellungen nie hinausgehen knnen. Schopenhauer vertritt mit dem ihm eigenenphilosophischen Pathos die Ansicht, da der bleibende Gewinn der Kantschen Philosophie die Ansicht sei, da dieWelt meine Vorstellung ist.Ed. v. Hartmann findet diesen Satz so unantastbar, da er in seiner Schrift Kritische Grundlegung destranszendentalen Realismus berhaupt nur solche Leser voraussetzt, die sich von der naiven Identifikation ihresWahrnehmungsbildes mit dem Dinge an sich kritisch losgerungen haben und sich die absolute Heterogeneitt einesdurch den Vorstellungsakt als subjektiv-idealen Bewutseinsinhalts gegebenen Anschauungsobjekts und eines vondem Vorstellungsakt und der Form des Bewutseins

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    unabhngigen, an und fr sich bestehenden Dinges zur Evidenz gebracht haben, d. i. solche, die von derberzeugung durchdrungen sind, da die Gesamtheit dessen, was uns unmittelbar gegeben ist, Vorstellungen seien*.In seiner letzten erkenntnistheoretischen Publikation sucht Hartmann diese seine Ansicht allerdings auch noch zubegrnden. Wie sich eine vorurteilsfreie Erkenntnistheorie zu einer solchen Begrndung stellen mu, werden unsereweiteren Ausfhrungen zeigen.Otto Liebmann spricht als sakrosankten obersten Grundsatz aller Erkenntnislehre den aus: Das Bewutsein kannsich selbst nicht berspringen **. Volkelt hat das Urteil, da die erste unmittelbarste Wahrheit die sei: all unserWissen erstrecke sich zunchst nur auf unsere Vorstellungen, das positivistische Erkenntnisprinzip genannt, und erbetrachtet nur diejenige Erkenntnistheorie als eminent kritisch , welche dieses Prinzip, als das im Anfange desPhilosophierens einzig Feststehende an die Spitze stellt und es dann konsequent durchdenkt ***.Bei anderen Philosophen findet man wieder andere Behauptungen an die Spitze der Erkenntnistheorie gestellt, z. B.die, da das eigentliche Problem derselben in der Frage bestehe nach dem Verhltnis zwischen Denken und Seinund der Mglichkeit einer Vermittlung zwischen beiden **** oder auch in der: wie wird das Seiende bewut(Rehmke) usw. Kirchmann geht von zwei erkenntnistheoretischen Axiomen aus: das Wahrgenommene ist undder Widerspruch ist nicht *****. Nach

    * Hartmann, Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus, Vorrede S. 10.** Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit, S. 2g ff.*** Volkelt, Kants Erkenntnistheorie, 1.**** Dorner, Das menschliche Erkennen.***** Kirchmann, Die Lehre vom Wissen, S. 68.

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    E. L. Fischer besteht das Erkennen in dem Wissen von einem Tatschlichen, Realen*, und er lt dieses Dogmaebenso ungeprft wie Gring, der hnliches behauptet: Erkennen heit immer, ein Seiendes erkennen; das istTatsache, welche weder Skeptizismus noch Kantischer Kritizismus noch Idealismus leugnen kann **. Bei denbeiden letzteren wird einfach dekretiert: das ist Erkennen, ohne zu fragen, mit welchem Rechte denn dies geschehenkann.Selbst wenn diese verschiedenen Behauptungen richtig wren, oder zu richtigen Problemstellungen fhrten, knntensie durchaus nicht am Anfange der Erkenntnistheorie zur Errterung kommen. Denn sie stehen, als ganz bestimmteEinsichten, alle schon innerhalb des Gebietes des Erkennens. Wenn ich sage: mein Wissen erstreckt sich zunchstnur auf meine Vorstellungen, so ist das doch ein ganz bestimmtes Erkenntnisurteil. Ich fge durch diesen Satz der

  • mir gegebenen Welt ein Prdikat bei, nmlich die Existenz in Form der Vorstellung. Woher aber soll ich vor allemErkennen wissen; da die mir gegebenen Dinge Vorstellungen sind ?Wir werden uns von der Richtigkeit der Behauptung, da dieser Satz nicht an die Spitze der Erkenntnistheoriegestellt werden darf, am besten berzeugen, wenn wir den Weg verfolgen, den der menschliche Geist nehmen mu,um zu ihm zu kommen. Der Satz ist fast ein Bestandteil des ganzen modernen wissenschaftlichen Bewutseinsgeworden. Die Erwgungen, die dasselbe zu Ihm hingedrngt haben, finden sich in ziemlicher Voll-

    * E. L. Fischer, Die Grundfragen der Erkenntnistheorie, S. 385.** Gring, System der Kritischen Philosophie. 1. Teil, S. 257.

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    stndigkeit systematisch zusammengestellt in dem 1. Abschnitt von Ed. v. Hartmanns Schrift: Das Grundproblemder Erkenntnistheorie . Das in derselben Vorgebrachte kann somit als eine Art von Leitfaden dienen, wenn mansich zur Aufgabe macht, alle Grnde zu errtern, die zu jener Annahme fhren knnen.Diese Grnde sind physikalische, psycho-physische, physiologische und eigentlich philosophische.Der Physiker gelangt durch Beobachtung derjenigen Erscheinungen, die sich in unserer Umgebung abspielen, wennwir z. B. eine Schallempfindung haben, zu der Annahme, da in diesen Erscheinungen nichts liege, das mit demauch nur die entfernteste hnlichkeit htte, was wir unmittelbar als Schall wahrnehmen. Drauen, in dem unsumgebenden Raume, sind lediglich longitudinale Schwingungen der Krper und der Luft aufzufinden. Daraus wirdgefolgert, da das, was wir im gewhnlichen Leben Schall oder Ton nennen, lediglich eine subjektive Reaktionunseres Organismus auf jene Wellenbewegung sei. Ebenso findet man, da das Licht und die Farbe oder die Wrmeetwas rein Subjektives sind. Die Erscheinungen der Farbenzerstreuung, der Brechung, Interferenz und Polarisationbelehren uns, da den obengenannten Empfindungsqualitten im Auenraume gewisse transversale Schwingungenentsprechen, die wir teils den Krpern, teils einem unmebar feinen, elastischen Fluidum, dem ther, zuzuschreibenuns veranlat fhlen. Ferner sieht sich der Physiker gezwungen, aus gewissen Erscheinungen in der Krperwelt denGlauben an die Kontinuitt der Gegenstnde im Raume aufzugeben und dieselben auf Systeme von kleinsten Teilen(Molek-

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    len, Atomen) zurckzufhren, deren Gren im Verhltnisse zu ihren Entfernungen unmebar klein sind. Darauswird geschlossen, da alle Wirkung der Krper aufeinander durch den leeren Raum hindurch geschehe, somit einewahre actio in distans sei. Die Physik glaubt sich berechtigt anzunehmen, da die Wirkung der Krper auf unserenTast- und Wrmesinn nicht durch unmittelbare Berhrung geschehe, weil ja immer eine gewisse, wenn auch kleine,Entfernung zwischen der den Krper berhrenden Hautstelle und diesem selbst da sein msse. Daraus ergebe sich,da das, was wir z. B. als Hrte oder Wrme der Krper empfinden, nur Reaktionen unserer Tast- undWrmenerven-Endorgane auf die durch den leeren Raum hindurch wirkenden Molekularkrfte der Krper seien.Als Ergnzung treten zu diesen Erwgungen des Physikers jene des Psycho-Physikers hinzu, die in der Lehre vonden spezifischen Sinnes-Energien ihren Ausdruck finden. J. Mller hat gezeigt, da jeder Sinn nur in der ihmeigentmlichen, durch seine Organisation bedingten Weise affiziert werden kann, und da er immer in derselbenWeise reagiert, was auch immer fr ein uerer Eindruck auf ihn ausgebt wird. Wird der Sehnerv erregt, soempfinden wir Licht, gleichgltig, ob es Druck oder elektrischer Strom oder Licht ist, was auf den Nerv einwirkt.Andererseits erzeugen dieselben ueren Vorgnge ganz verschiedene Empfindungen, je nachdem sie von diesemoder jenem Sinne perzipiert werden. Daraus hat man gefolgert, da es nur eine Art von Vorgngen in der Auenweltgebe, nmlich Bewegungen, und da die Mannigfaltigkeit der von uns wahrgenommenen Welt

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    wesentlich eine Reaktion unserer Sinne auf diese Vorgnge sei. Nach dieser Ansicht nehmen wir nicht dieAuenwelt als solche wahr, sondern blo die in uns von ihr ausgelsten, subjektiven Empfindungen.Zu den Erwgungen der Physik treten auch noch jene der Physiologie. Jene verfolgt die auer unserem Organismusvor sich gehenden Erscheinungen, welche den Wahrnehmungen korrespondieren; diese sucht die Vorgnge imeigenen Leibe des Menschen zu erforschen, die sich abspielen, whrend in uns eine gewisse Sinnesqualitt ausgelstwird. Die Physiologie lehrt, da die Epidermis gegen Reize der Auenwelt vollstndig unempfindlich ist. Wenn alsoz. B. die Endorgane unserer Tastnerven an der Krperperipherie von den Einwirkungen der Auenwelt affiziertwerden sollen, so mu der Schwingungsvorgang, der auerhalb unseres Leibes liegt, erst durch die Epidermisfortgepflanzt werden. Beim Gehr- und Gesichtssinne wird auerdem der uere Bewegungsvorgang durch eineReihe von Organen in den Sinneswerkzeugen verndert, bevor er an den Nerv herankommt. Diese Affektion derEndorgane mu nun durch den Nerv bis zum Zentralorgan geleitet werden, und hier erst kann sich das vollziehen,wodurch auf Grund von rein mechanischen Vorgngen im Gehirne die Empfindung erzeugt wird. Es ist klar, dadurch diese Umformungen, die der Reiz, der auf die Sinnesorgane ausgebt wird, erleidet, derselbe so vollstndig

  • umgewandelt wird, da jede Spur von hnlichkeit zwischen der ersten Einwirkung auf die Sinne und der zuletzt imBewutsein auftretenden Empfindung verwischt sein mu. Hartmann spricht das Ergebnis dieser berlegung mitfolgen-

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    den Worten aus: Dieser Bewutseinsinhalt besteht ursprnglich aus Empfindungen, mit welchen die Seele auf dieBewegungszustnde ihres obersten Hirnzentrums reflektorisch reagiert, welche aber mit den molekularenBewegungszustnden, durch welche sie ausgelst werden, nicht die geringste hnlichkeit haben. Wer diesen Gedankengang vollstndig bis ans Ende durchdenkt, mu zugeben, da, wenn er richtig ist, auch nichtder geringste Rest von dem, was man ueres Dasein nennen kann, in unserem Bewutseinsinhalt enthalten wre.Hartmann fgt zu den physikalischen und physiologischen Einwnden gegen den sogenannten naiven Realismusnoch solche, die er im eigentlichen Sinne philosophische nennt, hinzu. Bei einer logischen Durchmusterung derbeiden ersten Einwnde bemerken wir, da wir im Grunde doch nur dann zu dem angezeigten Resultate kommenknnen, wenn wir von dem Dasein und dem Zusammenhange der ueren Dinge, wie sie das gewhnliche naiveBewutsein annimmt, ausgehen und dann untersuchen, wie diese Auenwelt bei unserer Organisation in unserBewutsein kommen kann. Wir haben gesehen, da uns jede Spur von einer solchen Auenwelt auf dem Wege vomSinneseindruck bis zum Eintritt in das Bewutsein verlorengeht, und in dem letzteren nichts als unsereVorstellungen brig bleiben. Wir mssen daher annehmen, da jenes Bild der Auenwelt, das wir wirklich haben,von der Seele auf Grund des Empfindungsmaterials aufgebaut werde. Zunchst wird aus den Empfindungen desGesichts- und des Tastsinns ein rumliches Weltbild konstruiert, in das dann die

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    Empfindungen der brigen Sinne eingefgt werden.Wenn wir uns gezwungen sehen, einen bestimmten Komplex von Empfindungen zusammenhngend zu denken, sokommen wir zum Begriffe der Substanz, die wir als Trger derselben ansehen. Bemerken wir, da an einer SubstanzEmpfindungsqualitten verschwinden und andere wieder auftauchen, so schreiben wir solches einem durch dasGesetz der Kausalitt geregelten Wechsel in der Erscheinungswelt zu. So setzt sich, nach dieser Auffassung, unserganzes Weltbild aus subjektivem Empfindungsinhalt zusammen, der durch die eigene Seelenttigkeit geordnet wird.Hartmann sagt: Was das Subjekt wahrnimmt, sind also immer nur Modifikationen seiner eigenen psychischenZustnde und nichts anderes. *Fragen wir uns nun: wie kommen wir zu einer solchen berzeugung ? Das Skelett des angestellten Gedankengangesist folgendes: Wenn eine Auenwelt existiert, so wird sie von uns nicht als solche wahrgenommen, sondern durchunsere Organisation in eine Vorstellungswelt umgewandelt. Wir haben es hier mit einer Voraussetzung zu tun, die,konsequent verfolgt, sich selbst aufhebt. Ist dieser Gedankengang aber geeignet, irgendeine berzeugung zubegrnden ? Sind wir berechtigt, das uns gegebene Weltbild deshalb als subjektiven Vorstellungsinhalt anzusehen,weil die Annahme des naiven Bewutseins, strenge durchgedacht, zu dieser Ansicht fhrt ? Unser Ziel ist ja doch,diese Annahme selbst als ungltig zu erweisen. Dann mte es mglich sein, da eine Behauptung sich als falscherwiese und doch das Re-

    * Das Grundproblem der Erkenntnistheorie, S. 37.

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    sultat, zu dem sie gelangt, ein richtiges sei. Das kann ja immerhin irgendwo vorkommen; aber nimmermehr kanndann das Resultat als aus jener Behauptung erwiesen angesehen werden.Man nennt gewhnlich die Weltansicht, welche die Realitt des uns unmittelbar gegebenen Weltbildes wie etwasnicht weiter Anzuzweifelndes, Selbstverstndliches hinnimmt, naiven Realismus. Die entgegengesetzte dagegen, diedieses Weltbild blo fr unseren Bewutseinsinhalt hlt, transzendentalen Idealismus. Wir knnen somit auch dasErgebnis der vorangehenden Erwgungen mit folgenden Worten zusammenfassen: Der transzendentale Idealismuserweist seine Richtigkeit, indem er mit den Mitteln des naiven Realismus, dessen Widerlegung er anstrebt, operiert.Er ist berechtigt, wenn der naive Realismus falsch ist; aber die Falschheit wird nur mit Hilfe der falschen Ansichtselbst bewiesen. Wer sich dieses vor Augen bringt, fr den bleibt nichts brig, als den Weg zu verlassen, der hiereingeschlagen wird, um zu einer Weltansicht zu gelangen, und einen anderen zu gehen. Soll das aber, auf gut Glck,versuchsweise geschehen, bis wir zufllig auf das Rechte treffen?Ed. v. Hartmann ist allerdings dieser Ansicht, wenn er die Gltigkeit seines erkenntnistheoretischen Standpunktesdamit dargetan zu haben glaubt, da dieser die Welterscheinungen erklrt, whrend die anderen das nicht tun. Nachder Ansicht dieses Denkers nehmen die einzelnen Weltanschauungen eine Art von Kampf ums Dasein auf, unddiejenige, welche sich in demselben am besten bewhrt, wird zuletzt als Siegerin akzeptiert Aber ein solchesVerfahren scheint uns schon deshalb un-

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    statthaft, weil es ja ganz gut mehrere Hypothesen geben knnte, die gleich befriedigend zur Erklrung derWelterscheinungen fhren. Deshalb wollen wir uns lieber an den obigen Gedankengang zur Widerlegung des naivenRealismus halten und nachsehen, wo eigentlich sein Mangel liegt. Der naive Realismus ist doch diejenigeAuffassung, von der alle Menschen ausgehen. Schon deshalb empfiehlt es sich, die Korrektur gerade bei ihm zubeginnen. Haben wir dann eingesehen, warum er mangelhaft sein mu, dann werden wir mit ganz anderer Sicherheitauf einen richtigen Weg gefhrt werden, als wenn wir einen solchen einfach auf gut Glck versuchen.Der oben skizzierte Subjektivismus beruht auf einer denkenden Verarbeitung gewisser Tatsachen. Er setzt alsovoraus, da, von einem tatschlichen Ausgangspunkte aus, durch folgerichtiges Denken (logische Kombinationbestimmter Beobachtungen) richtige berzeugungen gewonnen werden knnen. Das Recht zu einer solchenAnwendung unseres Denkens wird aber auf diesem Standpunkt nicht geprft. Und darin liegt seine Schwche.Whrend der naive Realismus von der ungeprften Annahme ausgeht, da der von uns wahrgenommeneErfahrungsinhalt objektive Realitt habe, geht der charakterisierte Standpunkt von der ebenfalls ungeprftenberzeugung aus, da man durch Anwendung des Denkens zu wissenschaftlich berechtigten berzeugungenkommen knne. Im Gegensatz zum naiven Realismus kann man diesen Standpunkt naiven Rationalismus nennen.Um diese Terminologie zu rechtfertigen, mchten wir hier eine kurze Bemerkung ber den Begriff des Naiveneinschalten. A. Dring sucht diesen Begriff in sei

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    nem Aufsatze: ber den Begriff des naiven Realismus nher zu bestimmen*. Er sagt darber: Der Begriff derNaivitt bezeichnet gleichsam den Nullpunkt auf der Skala der Reflexion ber das eigene Verhalten. Inhaltlich kanndie Naivitt durchaus das Richtige treffen, denn sie ist zwar reflexionslos und eben darum kritiklos oderunkritisch..., aber dies Fehlen der Reflexion und Kritik schliet nur die objektive Sicherheit des Richtigen aus; esschliet die Mglichkeit und Gefahr des Verfehlens, keineswegs die Notwendigkeit desselben in sich. Es gibt eineNaivitt des Fhlens und des Wollens, wie des Vorstellens und Denkens im weitesten Sinne des letzteren Wortes,ferner eine Naivitt der uerungen dieser inneren Zustnde im Gegensatz gegen die durch Rcksichten, Reflexionbewirkte Repression oder Modifikation derselben. Die Naivitt ist, wenigstens bewut, nicht beeinflut vomHergebrachten, Angelernten und Vorschriftsmigen...; sie ist auf allen Gebieten, was das Stammwort nativusausdrckt, das Unbewute, Impulsive, Instinktive, Dmonische . Wir wollen, von diesen Stzen ausgehend, denBegriff des Naiven doch noch etwas prziser fassen. Bei aller Ttigkeit, die wir vollbringen, kommt zweierlei inBetracht: die Ttigkeit selbst und das Wissen um deren Gesetzmigkeit. Wir knnen in der ersten vollstndigaufgehen, ohne nach der letzteren zu fragen. Der Knstler, der die Gesetze seines Schaffens nicht inreflexionsmiger Form kennt, sondern sie dem Gefhle, der Empfindung nach bt, ist in diesem Falle, Wir nennenihn naiv. Aber es gibt eine Art von Selbstbeobachtung, die sich um die Gesetzlichkeit

    * Philosophische Monatshefte Bd. XXVI, Heidelberg 1890, S. 390.

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    des eigenen Tuns fragt, und welche fr die soeben geschilderte Naivitt d as Bewutsein eintauscht, da sie genaudie Tragweite und Berechtigung dessen kennt, was sie vollfhrt. Diese wollen wir kritisch nennen. Wir glaubendamit am besten den Sinn dieses Begriffes zu treffen, wie er sich seit Kant mit mehr oder minder klarem Bewutseinin der Philosophie eingebrgert hat. Kritische Besonnenheit ist demnach das Gegenteil von Naivitt. Wir nennen einVerhalten kritisch, das sich der Gesetze der eigenen Ttigkeit bemchtigt, um deren Sicherheit und Grenzen kennenzu lernen. Die Erkenntnistheorie kann aber nur eine kritische Wissenschaft sein. Ihr Objekt ist ja ein eminentsubjektives Tun des Menschen: das Erkennen , und was sie darlegen will, ist die Gesetzmigkeit des Erkennens.Von dieser Wissenschaft mu also alle Naivitt ausgeschlossen sein. Sie mu gerade darinnen ihre Strke sehen, dasie dasjenige vollzieht, von dem sich viele aufs Praktische gerichtete Geister rhmen, es nie getan zu haben, nmlichdas Denken ber das Denken .

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    IV. DIE AUSGANGSPUNKTE DER ERKENNTNISTHEORIEAm Beginne der erkenntnistheoretischen Untersuchungen ist nach allem, was wir gesehen haben, das abzuweisen,was selbst schon in das Gebiet des Erkennens gehrt.Die Erkenntnis ist etwas vom Menschen zustande Gebrachtes, etwas durch seine Ttigkeit Entstandenes. Soll sichdie Erkenntnistheorie wirklich aufklrend ber das ganze Gebiet des Erkennens erstrecken, dann mu sie etwas zumAusgangspunkte nehmen, was von dieser Ttigkeit ganz unberhrt geblieben ist, wovon die letztere vielmehr selbsterst den Ansto erhlt. Womit anzufangen ist, das liegt auerhalb des Erkennens, das kann selbst noch keineErkenntnis sein. Aber wir haben es unmittelbar vor dem Erkennen zu suchen, so da schon der nchste Schritt, den

  • der Mensch von demselben aus unternimmt, erkennende Ttigkeit ist. Die Art nun, wie dieses absolut Erste zubestimmen ist, mu eine solche sein, da in dieselbe nichts mit einfliet, was schon von einem Erkennen herrhrt.Ein solcher Anfang kann aber nur mit dem unmittelbar gegebenen Weltbilde gemacht werden, d. i. jenem Weltbilde,das dem Menschen vorliegt, bevor er es in irgendeiner Weise dem Erkenntnisprozesse unterworfen hat, also bevor erauch nur die allergeringste Aussage ber dasselbe gemacht, die allergeringste gedankliche Bestimmung mitdemselben vorgenommen hat. Was da

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    an uns vorberzieht, und woran wir vorberziehen, dieses zusammenhanglose und doch auch nicht in individuelleEinzelheiten gesonderte* Weltbild, in dem nichts voneinander unterschieden, nichts aufeinander bezogen ist, nichtsdurch ein anderes bestimmt erscheint: das ist das unmittelbar Gegebene. Auf dieser Stufe des Daseins - wenn wirdiesen Ausdruck gebrauchen drfen - ist kein Gegenstand, kein Geschehnis wichtiger, bedeutungsvoller als einanderer bzw. ein anderes. Das rudimentre Organ des Tieres, das vielleicht fr eine sptere, schon durch dasErkennen erhellte Stufe des Daseins ohne alle Bedeutung fr die Entwicklung und das Leben desselben ist, stehtgerade mit demselben Anspruch auf Beachtung da, wie der edelste, notwendigste Teil des Organismus.Vor aller erkennenden Ttigkeit stellt sich im Weltbilde nichts als Substanz, nichts als Akzidenz, nichts als Ursacheoder Wirkung dar; die Gegenstze von Materie und Geist, von Leib und Seele sind noch nicht geschaffen.Aber auch jedes andere Prdikat mssen wir von dem auf dieser Stufe festgehaltenen Weltbilde fernhalten. Es kannweder als Wirklichkeit noch als Schein, weder als subjektiv noch als objektiv, weder als zufllig noch als notwendigaufgefat werden; ob es Ding an sich oder bloe Vorstellung ist, darber ist auf dieser Stufe nicht zu entscheiden.Denn da die Erkenntnisse der Physik und Physiologie, die zur Subsummierung des Gegebenen unter eine derobigen Kategorien verleiten, nicht an die Spitze der Erkenntnistheorie gestellt werden drfen, haben wir bereitsgesehen.

    * Das Absondern individueller Einzelheiten aus dem ganz unterschiedlosen gegebenen Weltbild ist schon ein Aktgedanklicher Ttigkeit.

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    Wenn ein Wesen mit vollentwickelter, menschlicher Intelligenz pltzlich aus dem Nichts geschaffen wrde und derWelt gegenbertrte, so wre der erste Eindruck, den letztere auf seine Sinne und sein Denken machte, etwa das,was wir mit dem unmittelbar gegebenen Weltbilde bezeichnen. Dem Menschen liegt dasselbe allerdings in keinemAugenblicke seines Lebens in dieser Gestalt wirklich vor; es ist in seiner Entwicklung nirgends eine Grenzezwischen reinem, passiven Hinauswenden zum unmittelbar Gegebenen und dem denken den Erkennen desselbenvorhanden. Dieser Umstand knnte Bedenken gegen unsere Aufstellung eines Anfangs der Erkenntnistheorieerregen. So sagt z. B. Ed. v. Hartmann: Wir haben nicht zu fragen welches der Bewutseinsinhalt des zumBewutsein erwachenden Kindes oder des auf der untersten Stufe der Lebewesen stehenden Tieres sei; denn davonhat der philosophierende Mensch keine Erfahrung, und die Schlsse, durch welche er diesen Bewutseinsinhaltprimitiver biogenetischer oder ontogenetischer Stufen zu rekonstruieren versucht, mssen doch immer wieder aufseiner persnlichen Erfahrung fuen. Wir haben also zunchst festzustellen, was der vom philosophierendenMenschen beim Beginn der philosophischen Reflexion vorgefundene Bewutseinsinhalt sei. * Dagegen ist abereinzuwenden, da das Weltbild, das wir am Beginne der philosophischen Reflexion haben, schon Prdikate trgt, dienur durch das Erkennen vermittelt sind. Diese drfen nicht kritiklos hingenommen, sondern mssen sorgfltig ausdem Weltbilde herausgeschlt werden, damit es ganz

    * Das Grundproblem der Erkenntnistheorie, S. 1.

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    rein von allem durch den Erkenntnisproze Hinzugefgten erscheint. Die Grenze zwischen Gegebenem undErkanntem wird berhaupt mit keinem Augenblicke der menschlichen Entwicklung zusammenfallen, sondern siemu knstlich gezogen werden. Dies aber kann auf jeder Entwicklungsstufe geschehen, wenn wir nur den Schnittzwischen dem, was ohne gedankliche Bestimmung vor dem Erkennen an uns herantritt, und dem, was durchletzteres erst daraus gemacht wird, richtig fhren.Nun kann man uns vorwerfen, da wir eine ganze Reihe von gedanklichen Bestimmungen bereits angehuft haben,um jenes angeblich unmittelbare Weltbild aus dem durch erkennende Bearbeitung von dem Menschenvervollstndigten herauszuschlen. Aber dagegen ist folgendes zu sagen: was wir an Gedanken aufgebracht haben,sollte ja nicht jenes Weltbild etwa charakterisieren, sollte gar keine Eigenschaft desselben angeben, berhaupt nichtsber dasselbe aussagen, sondern nur unsere Betrachtung so lenken, da sie bis zu jener Grenze gefhrt wird, wo sichdas Erkennen an seinen Anfang gestellt sieht. Von Wahrheit oder Irrtum, Richtigkeit oder Unrichtigkeit jenerAusfhrungen, die nach unserer Auffassung dem Augenblicke vorangehen, in dem wir am Beginne der

  • Erkenntnistheorie stehen, kann daher nirgends die Rede sein. Dieselben haben nur die Aufgabe, zweckmig zudiesem Anfange hinzuleiten. Niemand, der im Begriffe steht, sich mit erkenntnistheoretischen Problemen zubefassen, steht zugleich dem mit Recht sogenannten Anfange des Erkennens gegenber, sondern er hat bereits, biszu einem gewissen Grade, entwickelte Erkenntnisse. Aus diesen alles zu entfernen, was

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    durch die Arbeit des Erkennens gewonnen ist, und den vor derselben liegenden Anfang festzustellen, kann nur durchbegriffliche Erwgungen geschehen. Aber den Begriffen kommt auf dieser Stufe kein Erkenntniswert zu, sie habendie rein negative Aufgabe, alles aus dem Gesichtsfelde zu entfernen, was der Erkenntnis angehrt, und dahin zuleiten, wo die letztere erst einsetzt. Diese Erwgungen sind die Wegweiser zu jenem Anfang an den der Akt desErkennens herantritt, gehren aber demselben noch nicht an. Bei allem, was der Erkenntnistheoretiker vor derFeststellung des Anfangs vorzubringen hat, gibt es also nur Zweckmigkeit oder Unzweckmigkeit, nichtWahrheit oder Irrtum. Aber auch in diesem Anfangspunkte selbst ist aller Irrtum ausgeschlossen, denn der letzterekann erst mit dem Erkennen beginnen, also nicht vor demselben liegen.Den letzten Satz darf keine andere als die Erkenntnistheorie fr sich in Anspruch nehmen, die von unserenErwgungen ausgeht. Wo der Ausgangspunkt von einem Objekte (oder Subjekte) mit einer gedanklichenBestimmung gemacht wird, da ist der Irrtum allerdings auch im Anfange, nmlich gleich bei dieser Bestimmung,mglich. Es hngt ja die Berechtigung derselben von den Ge setzen ab, welche der Erkenntnisakt zugrunde legt. Dieselbe kann sich aber erst im Verlaufe der erkenntnistheoretischen Untersuchungen ergeben. Nur wenn man sagt: ichsondere alle gedanklichen, durch Erkennen erlangten Bestimmungen aus meinem Weltbilde aus und halte nur allesdasjenige fest, was ohne mein Zutun in den Horizont meiner Beobachtung tritt, dann ist aller Irrtum ausgeschlossen.Wo ich mich grundstzlich aller Aus-

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    sage enthalte, da kann ich auch keinen Irrtum begehen.Insofern der Irrtum erkenntnistheoretisch in Betracht kommt, kann er nur innerhalb des Erkenntnisaktes liegen . DieSinnestuschung ist kein Irrtum. Wenn uns der Mond im Aufgangspunkte grer erscheint als im Zenit, so habenwir es nicht mit einem Irrtume, sondern mit einer in den Naturgesetzen wohl begrndeten Tatsache zu tun. EinFehler in der Erkenntnis entstnde erst, wenn wir bei der Kombination der gegebenen Wahrnehmungen im Denkenjenes grer und kleiner in unrichtiger Weise deuteten. Diese Deutung liegt aber innerhalb des Erkenntnisaktes.Will man wirklich das Erkennen in seiner ganzen Wesenheit begreifen, dann mu man es unzweifelhaft zunchst daerfassen, wo es an seinen Anfang gestellt ist, wo es einsetzt. Auch ist klar, da dasjenige, was vor diesem Anfangliegt, nicht in die Erklrung des Erkennens mit einbezogen werden darf, sondern eben vorausgesetzt werden mu. Indas Wesen dessen einzudringen, was hier von uns vorausgesetzt wird, ist Aufgabe der wissenschaftlichen Erkenntnisin ihren einzelnen Zweigen. Hier wollen wir aber nicht besondere Erkenntnisse ber dieses oder jenes gewinnen,sondern das Erkennen selbst untersuchen. Erst wenn wir den Erkenntnisakt begriffen haben, knnen wir ein Urteildarber gewinnen, was die Aussagen ber den Weltinhalt fr eine Bedeutung haben, die im Erkennen berdenselben gemacht werden.Deshalb enthalten wir uns solange jeglicher Bestimmung ber das unmittelbar Gegebene, solange wir nicht wissen,welchen Bezug eine solche Bestimmung zu dem Bestimmten hat. Selbst mit dem Begriff des Un-

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    mittelbar-Gegebenen sprechen wir nichts ber das vor dem Erkennen Liegende aus. Er hat nur den Zweck, aufdasselbe hinzuweisen, den Blick darauf zu richten. Die begriffliche Form ist hier im Anfange der Erkenntnistheorienur die erste Beziehung, in welche sich das Erkennen zum Weltinhalte setzt. Es ist mit dieser Bezeichnung selbst frden Fall vorgesorgt, da der gesamte Weltinhalt nur ein Gespinst unseres eigenen Ich ist, da also der exklusiveSubjektivismus zu Recht bestnde; denn von einem Gegebensein dieser Tatsache kann ja nicht die Rede sein. Sieknnte nur das Ergebnis erkennender Erwgung sein, d. h. sich durch die Erkenntnistheorie erst als richtigherausstellen, nicht aber ihr als Voraussetzung dienen.In diesem unmittelbar gegebenen Weltinhalt ist nun alles eingeschlossen, was berhaupt innerhalb des Horizontesunserer Erlebnisse im weitesten Sinne auftauchen kann: Empfindungen, Wahrnehmungen, Anschauungen, Gefhle,Willensakte, Traum- und Phantasiegebilde, Vorstellungen, Begriffe und Ideen. Auch die Illusionen undHalluzinationen stehen auf dieser Stufe ganz gleichberechtigt da mit anderen Teilen des Weltinhalts. Denn welchesVerhltnis dieselben zu anderen Wahrnehmungen haben, das kann erst die erkennende Betrachtung lehren.Wenn die Erkenntnistheorie von der Annahme ausgeht, da alles eben Angefhrte unser Bewutseinsinhalt sei, dannentsteht natrlich sofort die Frage: wie kommen wir aus dem Bewutsein heraus zur Erkenntnis des Seins, wo ist dasSprungbrett, das uns aus dem Subjektiven ins Transsubjektive fhrt? Fr uns liegt die Sache

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  • ganz anders. Fr uns sind das Bewutsein sowohl wie die Ich -Vorstellung zunchst nur Teile des UnmittelbarGegebenen, und welches Verhltnis die ersteren zu den letzteren haben, ist erst ein Ergebnis der Erkenntnis.Nicht vom Bewutsein aus wollen wir das Erkennen bestimmen, sondern umgekehrt: vom Erkennen aus dasBewutsein und das Verhltnis von Subjektivitt und Objektivitt. Da wir das Gegebene zunchst ohne allePrdikate lassen, so mssen wir fragen: wie kommen wir berhaupt zu einer Bestimmung desselben, wie ist esmglich, mit dem Erkennen irgendwo anzufangen? Wie knnen wir den einen Teil des Weltbildes z. B. alsWahrnehmung, den andern als Begriff, den einen als Sein, den andern als Schein, jenen als Ursache, diesen alsWirkung bezeichnen, wie knnen wir uns selbst von dem Objektiven abscheiden und als Ich gegenber demNOT-Ich ansehen ?Wir mssen die Brcke von dem gegebenen Weltbilde zu jenem finden, welches wir durch unser Erkennenentwickeln. Dabei begegnen wir aber der folgenden Schwierigkeit. Solange wir das Gegebene blo passiv anstarren,knnen wir nirgends einen Ansatzpunkt finden, an den wir anknpfen knnten, um von da aus das Erkennenweiterzuspinnen. Wir mten im Gegebenen irgendwo den Ort finden, wo wir eingreifen knnen wo etwas demErkennen Homogenes liegt. Wre alles wirklich nur gegeben, dann mte es beim bloen Hinausstarren in dieAuenwelt und einem vllig gleichwertigen Hineinstarren in die Welt unserer Individualitt sein Bewenden haben.Wir knnten dann die Dinge hchstens als Auenstehende beschreiben, aber niemals sie

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    begreifen . Unsere Begriffe htten nur einen rein uerlichen Bezug zu dem, worauf sie sich beziehen, keineninnerlichen. Es hngt fr das wahrhafte Erkennen alles davon ab, da wir irgendwo im Gegebenen ein Gebietfinden, wo unsere erkennende Ttigkeit sich nicht blo ein Gegebenes voraussetzt, sondern in dem Gegebenen ttigmitten darinnen steht. Mit anderen Worten: Es mu sich gerade bei dem strengen Festhalten an dem Blo-Gegebenen herausstellen, da nicht alles ein solches ist. Unsere Forderung mu eine solche gewesen sein, da siedurch ihre strenge Einhaltung sich teilweise selbst aufhebt. Wir haben sie gestellt, damit wir nicht willkrlichirgendeinen Anfang der Erkenntnistheorie festsetzen, sondern denselben wirklich aufsuchen. Gegeben in unseremSinne kann alles werden, auch das seiner innersten Natur nach Nicht- Gegebene . Es tritt uns eben dann blo formellals Gegebenes entgegen, entpuppt sich aber bei genauerer Betrachtung von selbst als das, was es wirklich ist.Alle Schwierigkeit in dem Begreifen des Erkennens liegt darinnen, da wir den Weltinhalt nicht aus uns selbsthervorbringen. Wrden wir das, so gbe es berhaupt kein Erkennen. Eine Frage fr mich kann durch ein Ding nurentstehen, wenn es mir gegeben wird.Was ich hervorbringe, dem erteile ich seine Bestimmungen; ich brauche also nach ihrer Berechtigung nicht erst zufragen.Dies ist der zweite Punkt unserer Erkenntnistheorie. Er besteht in dem Postulat: es mu im Gebiete des Gegebenenetwas liegen, wo unsere Ttigkeit nicht im Leeren schwebt, wo der Inhalt der Welt selbst in diese Ttigkeit eingeht.

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    Haben wir den Anfang der Erkenntnistheorie in der Weise bestimmt, da wir ihn vllig vor die erkennende Ttigkeitlegten, um durch kein Vorurteil innerhalb des Erkennens dieses selbst zu trben, so bestimmen wir jetzt den erstenSchritt, den wir in unserer Entwicklung machen, auch so, da von Irrtum oder Unrichtigkeit nicht die Rede seinkann. Denn wir fllen kein Urteil ber irgend etwas, sondern zeigen nur die Forderung auf, die erfllt werden mu,wenn berhaupt Erkenntnis zustande kommen soll. Es kommt alles darauf an, da wir mit vollkommener kritischerBesonnenheit uns des folgenden bewut sind: wir stellen das Charakteristikum selbst als Postulat auf, welches jenerTeil des Weltinhalts haben mu, bei dem wir mit unserer Erkenntnisttigkeit einsetzen knnen.Ein anderes ist aber auch durchaus unmglich. Der Weltinhalt als gegebener ist ja ganz bestimmungslos. Kein Teilkann durch sich selbst den Ansto geben, von ihm aus den Anfang zu einer Ordnung in diesem Chaos zu machen.Da mu also die erkennende Ttigkeit einen Machtspruch tun und sagen: so und so mu dieser Teil beschaffen sein.Ein solcher Machtspruch tastet auch das Gegebene in keiner Weise in seiner Qualitt an. Er bringt keine willkrlicheBehauptung in die Wissenschaft. Er behauptet eben gar nichts, sondern er sagt nur: wenn Erkenntnis als mglicherklrbar sein soll, dann mu nach einem Gebiet gesucht werden, wie es oben bezeichnet worden ist. Ist ein solchesvorhanden, dann gibt es eine Erklrung des Erkennens, sonst nicht. Whrend wir den Anfang der Erkenntnistheoriemit dem Gegebenen im allgemeinen machten, schrnken wir jetzt die

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    Forderung darauf ein, einen bestimmten Punkt desselben ins Auge zu fassen.Wir wollen nun an unsere Forderung nher herantreten. Wo finden wir irgend etwas in dem Weltbilde das nicht bloein Gegebenes, sondern das nur insofern gegeben ist, als es zugleich ein im Erkenntnisakte Hervorgebrachtes ist ?Wir mssen uns vollstndig klar darber sein, da wir dieses Hervorbringen in aller Unmittelbarkeit wieder gegebenhaben mssen. Es drfen nicht etwa Schlufolgerungen ntig sein, um dasselbe zu erkennen. Daraus geht schon

  • hervor, da die Sinnesqualitten nicht unserer Forderung gengen. Denn von dem Umstande, da diese nicht ohneunsere Ttigkeit entstehen, wissen wir nicht unmittelbar sondern nur durch physikalische und physiologischeErwgungen. Wohl aber wissen wir unmittelbar, da Begriffe und Ideen immer erst im Erkenntnisakt und durchdiesen in die Sphre des Unmittelbar-Gegebenen eintreten. Daher tuscht sich auch kein Mensch ber diesenCharakter der Begriffe und Ideen. Man kann eine Halluzination wohl fr ein von auen Gegebenes halten, aber manwird niemals von seinen Begriffen glauben, da sie ohne eigene Denkarbeit uns gegeben werden. Ein Wahnsinnigerhlt nur Dinge und Verhltnisse, die mit Prdikaten der Wirklichkeit ausgestattet sind, fr real, obgleich sie esfaktisch nicht sind; nie aber wird er von seinen Begriffen und Ideen sagen, da sie ohne eigene Ttigkeit in die Weltdes Gegebenen eintreten. Alles andere in unserem Weltbilde trgt eben einen solchen Charakter, da es gegebenwerden mu, wenn wir es erleben wollen, nur bei

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    Begriffen und Ideen tritt noch das Umgekehrte ein: wir mssen sie hervorbringen, wenn wir sie erleben wollen.Nur die Begriffe und Ideen sind uns in der Form geben, die man die intellektuelle Anschauung genannt hat. Kantund die neueren an ihn anknpfenden Philosophen sprechen dieses Vermgen dem Menschen vollstndig ab, weilalles Denken sich nur auf Gegenstnde beziehe und aus sich selbst absolut nichts hervorbringe. In der intellektuellenAnschauung mu mit der Denkform zugleich der Inhalt mitgegeben sein. Ist dies aber nicht bei den reinen Begriffenund Ideen * wirklich der Fall: Man mu sie nur in der Form betrachten, in der sie von allem empirischen Inhalt nochganz frei sind. Wenn man z. B. den reinen Begriff der Kausalitt erfassen will, darf man sich nicht an irgend einebestimmte Kausalitt oder an die Summe aller Kausalitten halten, sondern an den bloen Begriff derselben.Ursachen und Wirkungen mssen wir in der Welt aufsuchen, Ursachlichkeit als Gedankenform mssen wir selbsthervorbringen, ehe wir die ersteren in der Welt finden knnen.Wenn man aber an der Kantschen Behauptung festhalten wollte, Begriffe ohne Anschauungen seien leer, so wre esundenkbar, die Mglichkeit einer Bestimmung der gegebenen Welt durch Begriffe darzutun. Denn man nehme an,es seien zwei Elemente des Weltinhaltes gegeben: a und b. Soll ich zwischen denselben ein Verhltnis aufsuchen, somu ich das an der Hand einer inhaltlich bestimmten Regel tun; diese kann ich aber nur im Er-

    * Unter Begriff verstehe ich eine Regel, nach welcher die zusammenhanglosen Elemente der Wahrnehmung zu einerEinheit verbunden werden. Kausalitt z. B. ist ein Begriff. Idee ist nur ein Begriff mit grerem Inhalt. Organismus,ganz abstrakt genommen, ist eine Idee.

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    kenntnisakte selbst produzieren, denn aus dem Objekte kann ich sie deshalb nicht nehmen, weil die Bestimmungendieses letzteren mit Hilfe der Regel eben erst gewonnen werden sollen. Eine solche Regel zur Bestimmung desWirklichen geht also vollstndig innerhalb der rein begrifflichen Entitt auf.Bevor wir nun weiterschreiten, wollen wir erst einen mglichen Einwand beseitigen. Es scheint nmlich, als obunbewut in unserem Gedankengange die Vorstellung des Ich , des persnlichen Subjekts eine Rolle spiele,und da wir diese Vorstellung in dem Fortschritte unserer Gedankenentwicklung bentzen, ohne die Berechtigungdazu dargetan zu haben. Es ist das der Fall, wenn wir z. B. sagen: wir bringen Begriffe hervor oder wir stellendiese oder jene Forderung . Aber nichts in unseren Ausfhrungen gibt Veranlassung, in solchen Stzen mehr alsstilistische Wendungen zu sehen. Da der Erkenntnisakt einem Ich angehrt und von demselben ausgeht, daskann, wie wir schon gesagt haben, nur auf Grund erkennender Erwgungen festgestellt werden. Eigentlich mtenwir vorlufig nur von dem Erkenntnisakt sprechen, ohne einen Trger desselben auch nur zu erwhnen. Denn alles,was bis jetzt feststeht, beschrnkt sich darauf, da ein Gegebenes vorliegt, und da aus einem Punkte diesesGegebenen das oben angefhrte Postulat entspringt; endlich, da Begriffe und Ideen das Gebiet sind, das diesemPostulate entspricht.Da der Punkt, aus dem das Postulat entspringt, das Ich ist, soll damit nicht geleugnet werden. Aber wirbeschrnken uns frs erste darauf, jene beiden Schritte der Erkenntnistheorie in ihrer Reinheit hinzustellen.

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    V. ERKENNEN UND WIRKLICHKEIT

    Begriffe und Ideen sind es also, in denen wir das gegeben haben, was zu gleich ber das Gegebene hinausfhrt.Damit aber ist die Mglichkeit geboten, auch das Wesen der brigen Erkenntnisttigkeit zu bestimmen.Wir haben durch ein Postulat aus dem gegebenen Weltbilde einen Teil ausgesondert, weil es in der Natur desErkennens liegt, gerade von diesem so gearteten Teile auszugehen. Diese Aussonderung wurde also nur gemacht,um das Erkennen begreifen zu knnen. Damit mssen wir uns aber auch zugleich klar darber sein, da wir dieEinheit des Weltbildes knstlich zerrissen haben.Wir mssen einsehen, da das von uns aus dem Gegebenen abgetrennte Segment, abgesehen von unserer Forderung

  • und auer derselben, in einer notwendigen Verbindung mit dem Weltinhalte stehe. Damit ist der nchste Schritt derErkenntnistheorie gegeben. Er wird darinnen bestehen, die Einheit, welche behufs Ermglichung der Erkenntniszerrissen worden ist, wieder herzustellen.Diese Wiederherstellung geschieht in dem Denken ber die gegebene Welt. In der denkenden Weltbetrachtungvollzieht sich tatschlich die Vereinigung der zwei Teile des Weltinhalts: dessen, den wir als Gegebenes auf demHorizonte unserer Erlebnisse berblicken, und dessen, der im Erkenntnisakt produziert werden mu, um auchgegeben zu sein. Der Erkenntnisakt ist die Synthese dieser beiden Elemente. Und zwar erscheint in jedem ein-

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    zelnen Erkenntnisakte das eine derselben als ein im Akte selbst Produziertes, durch ihn zu dem blo GegebenenHinzu gebrachtes. Nur im Anfang der Erkenntnistheorie selbst erscheint das sonst stets Produzierte als einGegebenes.Die gegebene Welt mit Begriffen und Ideen durchdringen, ist aber denkende Betrachtung der Dinge. Das Denken istsomit tatschlich der Akt, wodurch die Erkenntnis vermittelt wird. Nur wenn das Denken von sich aus den Inhalt desWeltbildes ordnet, kann Erkenntnis zustande kommen. Das Denken selbst ist ein Tun, das einen eigenen Inhalt imMomente des Erkennens hervorbringt. Soweit also der erkannte Inhalt aus dem Denken allein fliet, bietet er fr dasErkennen keine Schwierigkeit. Hier brauchen wir blo zu beobachten; und wir haben das Wesen unmittelbargegeben. Die Beschreibung des Denkens ist zugleich die Wissenschaft des Denkens.In der Tat war auch die Logik nie etwas anderes als eine Beschreibung der Denkformen, nie eine beweisendeWissenschaft. Der Beweis tritt erst ein, wenn eine Synthesis des Gedachten mit anderweitigem Weltinhaltestattfindet. Mit Recht sagt daher Gideon Spicker in seinem Buche: Lessings Weltanschauung (S. 5): Da dasDenken an sich richtig sei, knnen wir nie erfahren, weder empirisch, noch logisch. Wir knnen hinzufgen: BeimDenken hrt alles Beweisen auf. Denn der Beweis setzt bereits das Denken voraus. Man kann wohl ein einzelnesFaktum, nicht aber das Beweisen selbst beweisen. Wir knnen nur beschreiben, was ein Beweis ist. In der Logik istalle Theorie nur Empirie; in dieser Wissenschaft gibt es nur Beobachtung. Wenn wir aber auer unserem

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    Denken etwas erkennen wollen, so knnen wir das nur mit Hilfe des Denkens, d. h. das Denken mu an einGegebenes herantreten und es aus der chaotischen Verbindung in eine systematische mit dem Weltbilde bringen.Das Denken tritt also als formendes Prinzip an den gegebenen Weltinhalt heran. Der Vorgang dabei ist folgender: Eswerden zunchst gedanklich gewisse Einzelheiten aus der Gesamtheit des Weltganzen herausgehoben.Denn im Gegebenen ist eigentlich kein Einzelnes, sondern alles in kontinuierlicher Verbindung. Diese gesondertenEinzelheiten bezieht nun das Denken nach Magabe der von ihm produzierten Formen aufeinander und bestimmtzuletzt, was sich aus dieser Beziehung ergibt.Dadurch, da das Denken einen Bezug zwischen zwei abgesonderten Partien des Weltinhaltes herstellt, hat es garnichts von sich aus ber dieselben bestimmt. Es wartet ja ab, was sich infolge der Herstellung des Bezuges vonselbst ergibt. Dieses Ergebnis erst ist eine Erkenntnis ber die betreffenden Teile des Weltinhaltes. Lge es in derNatur des letzteren, durch jenen Bezug berhaupt nichts ber sich zu uern: nun, dann mte eben derDenkversuch milingen und ein neuer an seine Stelle treten. Alle Erkenntnisse beruhen darauf, da der Mensch zweioder mehrere Elemente der Wirklichkeit in die richtige Verbindung bringt und das sich hieraus Ergebende erfat.Es ist zweifellos, da wir nicht nur in den Wissenschaften, wo es uns die Geschichte derselben sattsam lehrt,sondern auch im gewhnlichen Leben viele solche vergebliche Denkversuche machen; nur tritt in den einfachenFllen, die uns doch zumeist begegnen, der richtige

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    so rasch an die Stelle der falschen, da uns diese letzteren gar nicht oder nur selten zum Bewutsein kommen.Kant schwebte diese von uns abgeleitete Ttigkeit des Denkens zum Behufe der systematischen Gliederung desWeltinhaltes bei seiner synthetischen Einheit der Apperzeption vor. Aber wie wenig sich derselbe die eigentlicheAufgabe des Denkens dabei zum Bewutsein gebracht hat, geht daraus hervor, da er glaubt, aus den Regeln, nachdenen sich diese Synthesis vollzieht, lassen sich die Gesetze a priori der reinen Naturwissenschaft ableiten. Er hatdabei nicht bedacht, da die synthetische Ttigkeit des Denkens nur eine solche ist, welche die Gewinnung dereigentlichen Naturgesetze vorbereitet.Denken wir uns, wir lsen irgend einen Inhalt a aus dem Weltbilde los, und ebenso einen andern b. Wenn es zurErkenntnis eines gesetzmigen Zusammenhanges zwischen a und b kommen soll, so hat das Denken zunchst a inein solches Verhltnis zu b zu bringen, durch das es mglich wird, da sich uns die bestehende Abhngigkeit alsgegebene darstellt. Der eigentliche Inhalt eines Naturgesetzes resultiert also aus dem Gegebenen, und dem Denkenkommt es blo zu, die Gelegenheit herbeizufhren, durch die die Teile des Weltbildes in solche Verhltnissegebracht werden, da ihre Gesetzmigkeit ersichtlich wird. Aus der bloen synthetischen Ttigkeit des Denkens

  • folgen also keinerlei objektive Gesetze.Wir mssen uns nun fragen, welchen Anteil hat das Denken bei der Herstellung unseres wissenschaftlichenWeltbildes im Gegensatz zum blo gegebenen Weltbilde ? Aus unserer Darstellung folgt, da es die Form derGesetzmigkeit besorgt. Nehmen wir in unserem obi-

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    gen Schema an, da a die Ursache, b die Wirkung sei. Es knnte der kausale Zusammenhang von a und b nieErkenntnis werden, wenn das Denken nicht in der Lage wre, den Begriff der Kausalitt zu bilden. Aber um imgegebenen Falle a als Ursache, b als Wirkung zu erkennen, dazu ist notwendig, da jene beiden dem entsprechen,was unter Ursache und Wirkung verstanden wird. Ebenso steht es mit anderen Kategorien des Denkens.Es wird zweckmig sein, hier auf die Ausfhrungen Humes ber den Begriff der Kausalitt mit einigen Wortenhinzuweisen. Hume sagt, die Begriffe von Ursache und Wirkung haben ihren Ursprung lediglich in unsererGewohnheit. Wir beobachten fters, da auf ein gewisses Ereignis ein anderes folgt, und gewhnen uns daran diebeiden in Kausalverbindung zu denken, so da wir erwarten, da das zweite eintritt, wenn wir das erste bemerken.Diese Auffassung geht aber von einer ganz irrigen Vorstellung von dem Kausalittsverhltnis aus. Begegne ichdurch eine Reihe von Tagen immer demselben Menschen, wenn ich aus dem Tore meines Wohnhauses trete, sowerde ich mich zwar nach und nach gewhnen, die zeitliche Folge der beiden Ereignisse zu erwarten, aber es wirdmir gar nicht einfallen, hier einen Kausalzusammenhang zwischen meinem und des andern Menschen Erscheinen andemselben Orte zu konstatieren. Ich werde noch wesentlich andere Teile des Weltinhaltes aufsuchen, um dieunmittelbare Folge der angefhrten Tatsachen zu erklren. Wir bestimmen den Kausalzusammenhang eben durchausnicht nach der zeitlichen Folge, sondern nach der inhaltlichen Bedeutung der als Ursache und Wirkung bezeichnetenTeile des Weltinhaltes.

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    Daraus, da das Denken nur eine formale Ttigkeit beim Zustandebringen unseres wissenschaftlichen Weltbildesausbt, folgt: der Inhalt eines jeden Erkenntnisses kann kein a priori vor der Beobachtung (Auseinandersetzung desDenkens mit dem Gegebenen) feststehender sein, sondern mu restlos aus der letzteren hervorgehen.In diesem Sinne sind alle unsere Erkenntnisse empirisch.Es ist aber auch gar nicht zu begreifen, wie das anders sein sollte. Denn die Kantschen Urteile a priori sind imGrunde gar keine Erkenntnisse, sondern nur Postulate.Man kann im Kantschen Sinne immer nur sagen: wenn ein Ding Objekt einer mglichen Erfahrung werden soll,dann mu es sich diesen Gesetzen fgen. Das sind also Vorschriften, die das Subjekt den Objekten macht. Mansollte abe