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Stellungnahme zur Sitzung des Innenausschusses Abgeordnetenhaus Berlin am 4. März 2013 Entwurf eines Gesetzes über Übersichtsaufnahmen zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen Drs. 17/0642 vom 9. November 2012 Prof. Dr. jur. Clemens Arzt Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin

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Stellungnahme zur Sitzung des Innenausschusses

Abgeordnetenhaus Berlin am 4. März 2013

Entwurf eines Gesetzes über Übersichtsaufnahmen zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen

Drs. 17/0642

vom 9. November 2012

Prof. Dr. jur. Clemens Arzt Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement

Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin

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VORBEMERKUNG

Die Einladung, als Sachverständiger an der Sitzung des Innenausschusses

teilzunehmen, ging mir erst wenige Tage vor der Sitzung zu, was mit Blick auf

die notwendige rechtliche Prüfung des Gesetzentwurfs zu bedauern ist. Eine

vertiefte und ausführliche rechtliche Bewertung erforderte die Erstellung eines

Rechtsgutachtens. Im Rahmen einer Stellungnahme für das Abgeordnetenhaus

können daher nachfolgend nur die zentralen Fragen in knapper Darstellung

behandelt werden.

ZUM GESETZENTWURF

Gesetzesüberschrift und Regelungsgegenstand

Eingangs sei auf einen deutlichen Widerspruch zwischen der Gesetzesüber-

schrift und den Regelungen des Gesetzes selbst verwiesen. Während die

Überschrift ausschließlich auf Übersichtsaufnahmen hinweist, stellen diese im

Gesetz selbst nur einen Teil der getroffenen gesetzlichen Regelung in § 1 II

dar, wohingegen die §§ 1 I und 3 sich gerade nicht mit dieser Maßnahme, son-

dern anderen versammlungsbezogenen Maßnahmen befassen. Im Sinne der

Transparenz und Normenklarheit ist dies nicht.

Vereinbarkeit des Gesetzentwurfs mit Art. 59 II VvB

Ausweislich § 1 I des Gesetzentwurfs (nachfolgend GE) soll für Bild- und Ton-

aufnahmen durch die Polizei bei Versammlungen unter freiem Himmel § 12a

des Versammlungsgesetzes gelten.

Unklar ist zunächst, auf welches Gesetz hier verwiesen wird; eine genaue Be-

stimmung erfolgt nicht. Gemeint ist laut Gesetzesbegründung offenbar das

Versammlungsgesetz des Bundes von 1953 (VersG), eine präzise Festlegung

– auch hinsichtlich welcher Fassung des VersG – kann hierin nicht gesehen

werden. Darüber mögen sich Juristen mit Blick auf die Föderalismusreform

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2006 einig sein, ob dies alle Parlamentarier, insbesondere aber die Bürgerin-

nen und Bürger zu erkennen vermögen, erscheint mehr als zweifelhaft.

Der Verweis in § 1 I GE kann in unterschiedlicher Weise verstanden werden,

was auch Fragen mit Blick auf die Normenklarheit aufwirft:

Einerseits könnte man hierin eine Inkorporierung des Wortlauts des § 12a

VersG in das Berliner Landesrecht sehen. Hierfür spricht der Wortlaut, nach

dem § 12a VersG „gilt“. Es wird also nicht geregelt, dass dieses anwendbar

sein soll oder dass nach Maßgabe dieses Gesetzes gehandelt werden soll (vgl.

etwa § 31 III 2 ASOG Berlin), sondern dass § 12a VersG in Berlin geltendes

Recht sein soll.

Wenn im Land Berlin der Wortlaut des § 12a VersG als Landesrecht

„gelten“ soll, muss dieser im vollen Wortlaut in der Gesetzesvorlage an-

gegeben werden, weil sonst ein Verstoß gegen Art. 59 II VvB bejaht

werden müsste (vgl. SächsVerfGH, Urt. 19.4.2011 - Vf. 74-II-10).

Andererseits könnte der Verweis aber auch so verstanden werden, dass der

Gesetzgeber eine solche Inkorporierung nicht wollte und der Auffassung ist,

dass für Versammlungen unter freiem Himmel in Berlin § 12a VersG des Bun-

des anwendbar sein soll; dann würde im Land Berlin für Versammlungen unter

freiem Himmel eine Regelung gelten, die im Bundesrecht für Versammlungen

in geschlossenen Räumen gilt. Begründet wird dies mit der Ersetzung des

§ 19a VersG durch § 3 GE.

Dies mag zulässig sein, Normenklarheit für die Gesetzesunterworfenen

folgt hieraus nicht.

Ersetzung von Bundesrecht im Sinne des Art. 125a I GG

Art. 74 I 1 Nr. 3 GG sah bis zur Föderalismusreform 2006 eine Gesetzge-

bungskompetenz des Bundes auch für das Versammlungsrecht vor, die durch

das 52. ÄndG zum GG mit Wirkung zum 1.9.2006 aufgehoben wurde. Nach

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Art. 125a I 1 GG gilt Bundesrecht, das zuvor im Rahmen der konkurrierenden

Gesetzgebung nach Art. 74 I GG erlassen wurde nach der Föderalismusreform

2006 fort, soweit dieses nicht entsprechend Art. 125a I 2 GG durch Landes-

recht ersetzt wird.

Fraglich ist, ob in dem vorgelegten Gesetzentwurf (nachfolgend GE) eine „Er-

setzung“ oder zulässige „Teilersetzung“ des VersG zu sehen ist. In einer Ent-

scheidung vom 9.6.2004 stellte das BVerfG (1 BvR 636/02) fest: „Die Länder

dürfen allerdings eine landesrechtliche Neuregelung durch Ersetzung des Bun-

desrechts vornehmen, wenn eine bundesgesetzliche Ermächtigung dazu auf

der Grundlage des Art. 125a Abs. 2 Satz 2 GG geschaffen worden ist. Aus die-

ser Rechtslage folgt im Umkehrschluss, dass es den Ländern verwehrt ist, bei

Fortbestand der bundesrechtlichen Regelung einzelne Vorschriften zu ändern.

Die andernfalls entstehende Mischlage aus Bundes- und Landesrecht für ein

und denselben Regelungsgegenstand im selben Anwendungsbereich wäre im

bestehenden System der Gesetzgebung ein Fremdkörper.“ (Rn. 103)

Nicht ganz widerspruchsfrei präzisierte das Gericht dies dann wie folgt: „Diese

im Laufe der Gesetzgebungsgeschichte erfolgten Veränderungen im Wortlaut

zeigen, dass das Wort "ersetzt" mit Bedacht gewählt worden ist. Allein die Frei-

gabe durch den Bund ermöglicht die Ersetzung durch eine landesrechtliche

Neuregelung. Eine solche Ersetzung unterscheidet sich von einer nur teilwei-

sen Änderung bei Fortbestand der bundesrechtlichen Regelung. Die Ersetzung

des Bundesrechts erfordert, dass der Landesgesetzgeber die Materie, gegebe-

nenfalls auch einen abgrenzbaren Teilbereich, in eigener Verantwortung regelt.

Dabei ist er nicht gehindert, ein weitgehend mit dem bisherigen Bundesrecht

gleich lautendes Landesrecht zu erlassen.“ (Rn. 105)

Die Überschrift des GE spricht von einem Gesetz über Übersichtsaufnahmen

zur Lenkung und Leitung (…). Eine umfassende landesrechtliche Neuregelung

des Versammlungsrechts, also eine Ersetzung von Bundesrecht durch Landes-

recht im Sinne des Art. 125a I 2 GG, hält der Gesetzgeber zum jetzigen Zeit-

punkt offenbar aus zeitlicher Perspektive für nicht möglich, will aber mit der Ge-

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stattung von Übersichtsaufnahmen nicht warten, bis eine solche vollständige

Berliner Regelung des Versammlungsrechts erfolgt ist (Gesetzesbegründung

S. 2).

Dieser Ansatz ist insofern problematisch, als die Unzulässigkeit polizeilicher

Maßnahmen in dem nunmehr vorgeschlagenen Rahmen spätestens durch das

Urteil des VG Berlin vom 5.7.2010 bekannt ist, also seit fast drei Jahren eine

vollständige Neuregelung des Versammlungsrecht hätte erfolgen können. Zu-

dem ist nicht erkennbar, weshalb an dem derzeitigen Rechtszustand nunmehr

unbedingt und zeitlich dringend eine Änderung durch eine Teilregelung erfolgen

müsste, da offenkundig die Berliner Polizei über den gesamten vorgenannten

Zeitraum hinweg in der Lage war und ist, durchschnittlich bis zu 3000 und mehr

Versammlungslagen pro Jahr, darunter nicht wenige Großdemonstrationen,

auch ohne so genannten Übersichtsaufnahmen zu bewältigen. Hinweise da-

rauf, dass dies nur unter mehr oder weniger erheblichen Einschränkungen

möglich war, sind weder der Gesetzesbegründung zu entnehmen noch sonst

bekannt.

Es bestehen daher Zweifel an der Notwendigkeit einer gesetzlichen

Neuregelung von Bild- und Tonaufnahmen im Land Berlin.

§ 3 GE bestimmt, dass durch die gesetzliche Regelung des Landes Berlin

§ 19a VersG ersetzt wird. Sodann verweist § 1 I GE auf § 12a VersG und kom-

pensiert gleichsam den durch § 3 GE vorgenommenen Nichtanwendungsbe-

fehl. Es soll offenbar nach dem Willen des Gesetzgebers für Versammlungen

unter freiem Himmel weiterhin der Regelungsgehalt des Versammlungsrechts

des Bundes in Gestalt des Versammlungen in geschlossenen Räumen regeln-

den § 12a VersG anwendbar sein. „Angereichert“ wird dies dann durch § 1 II

GE, der so genannte Übersichtsaufnahmen gestattet.

Eine Ersetzung und aller Regelungen des VersG zu Bild- und Tonauf-

zeichnungen und ggf. deren Ergänzung, die für Normenklarheit sorgen

würde, ist – aus welchen Gründen auch immer – durch den Berliner

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Gesetzgeber nicht gewollt, wäre aber vorzugswürdig, wenn Regelungs-

bedarf bejaht wird.

Es stellt sich aber die Frage, ob man die Regelung in § 1 II GE als abgrenzba-

ren Teilbereich im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG ansehen kann.

Abgrenzbare Teilbereiche des VersG sind sicherlich die einzelnen Abschnitte

des Gesetzes. Die gesetzliche Neuregelung durchbricht aber gerade diese

auch für den Betroffenen klar erkennbare Aufteilung in auf alle Versammlungen

anwendbare Normen einerseits und Normen, die (a) nur für Versammlungen in

geschlossenen Räumen gelten (Abschnitt II) sowie Normen, die (b) nur für öf-

fentliche Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge gelten (Abschnitt

3). Nun war diese Durchbrechung zwar auch in der Vergangenheit durch die

Verweisung in § 19a VersG (wie auch durch § 18 I VersG) gegeben, ob man in

der vorgeschlagenen Neuregelung allerdings einen „abgrenzbaren Teilbereich“

im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG sehen kann, erscheint zweifelhaft,

weil die Systematik des VersG hier vollständig „durchlöchert“ wird. Teilnehme-

rInnen an Versammlungen unter freiem Himmel und deren Veranstalter müs-

sen zukünftig nicht nur die Verweisungen in § 18 I beachten, sondern auch

wissen, dass in Berlin § 19a VersG nicht gilt, dessen Verweisung auf § 12a

VersG aber ersetzt wird durch den Verweis in § 1 I des Landesrechts und zu-

dem ergänzt wird durch § 1 II des Landesrechts; Normenklarheit sieht anders

aus.

Im Ergebnis soll also nach § 1 I GE für Versammlungen unter freiem Himmel

§ 12a VersG „gelten“. Daneben soll dann für so genannte Übersichtsaufnah-

men die Regelung in § 1 II GE gelten. Für den einheitlichen Lebenssachverhalt

„Versammlung unter freiem Himmel“ gelten mithin auf der Ebene des Ver-

sammlungsrechtes, das Beschränkungen eines gewichtigen Grundrechts nor-

menklar und hinreichend bestimmt regeln müsste, unterschiedliche Rechts-

grundlagen des Landes- und des Bundesrechtes.

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Wenn mithin nach dem Versammlungsrecht des Bundes Bild- und Tonaufnah-

men bei einer Großdemonstration oder -kundgebung unter freiem Himmel nicht

gefertigt werden dürfen (mangels Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen

des § 12a VersG), darf unter Umständen nach Berliner Versammlungsrecht

gefilmt werden, wenn die Polizei das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzun-

gen des § 1 II GE bejaht. Die nach Art. 125a I in der Auslegung durch das

BVerfG notwendig abgrenzbaren Teilbereiche werden hier aber nicht etwa

räumlich, zeitlich, sachlich oder sonst nachvollziehbar für die Eingriffsbetroffe-

nen abgegrenzt, sondern allein entsprechend der rechtlichen Beurteilung der

Berliner Polizei.

Dies widerspricht Art. 125a II GG ebenso wie den Anforderungen an die

hinreichende Bestimmtheit und Normenklarheit bei Informationseingriffen

in einem noch dazu durch Art. 8 GG besonders geschützten Bereich.

Verweis auf § 12a VersG

Nicht ohne verfassungsrechtliche Probleme ist auch der Verweis in § 1 I auf §

12a VersG für Versammlungen unter freiem Himmel, denn § 12a VersG selbst

wird mit Blick auf den fehlenden Gesetzesvorbehalt des Art. 8 GG (vgl. nur De-

penheuer in: Maunz/Dürig, GG, Art. 8 Rn 151) für Versammlungen in geschlos-

senen Räumen verbreitet als mit der Verfassung nicht vereinbar angesehen

(vgl. nur Brenneisen/Wilksen, Versammlungsrecht, S. 436; Diet-

el/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 15. Aufl., § 12a Rn 6 f.;

Ott/Wächtler/Heinhold, Gesetz über Versammlungen und Aufzüge, 7. Aufl.,

§ 12a Rn. 10).

Ob der Verweis eines Berliner Gesetzes auf eine verfassungswidrige Norm ei-

nes Bundesgesetzes dessen Verfassungswidrigkeit gleichsam durch Inkorpora-

tion in das Landesrecht und eine „Umdeutung“ der Anwendbarkeit von Ver-

sammlungen in geschlossenen Räumen auf Versammlungen unter freiem

Himmel in Berlin „heilen“ kann, erscheint mehr als fraglich.

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In diesem Kontext ist auch zu fragen, ob Bild- und Tonaufnahmen bei Ver-

sammlungen in geschlossenen Räumen im Land Berlin weiterhin den Regelun-

gen des § 12a VersG unterfallen sollen, der von der wohl herrschenden Mei-

nung (s.o.) als verfassungswidrig angesehen wird. Wäre es nicht notwendig,

bei einer Ersetzung im Sinne von Art. 125a I 2 auch diesen Bereich mit zu re-

geln, um von einer (Teil-)Ersetzung ausgehen zu können?

Grundrechtseingriff durch so genannte Übersichtaufnahmen

Die Idee, so genannte Übersichtsaufnahmen stellten keinen Grundrechtseingriff

in die durch Art. 8 GG garantierte Versammlungsfreiheit dar, wurde insbeson-

dere in der polizei(recht-)lichen Literatur lange Zeit mit großem Nachdruck ver-

treten, um Bild- und Tonaufnahmen auch dann anfertigen zu können, wenn die

tatbestandlichen Anforderungen aus §§ 12a, 19a VersG nicht erfüllt sind. Über-

sichtsaufnahmen stellen nach dieser Auffassung grundrechtsfreies (?) Handeln

dar und könnten auf die allgemeine Aufgabennorm im Polizeirecht gestützt

werden (so noch Knape/Kiworr, ASOG, 10. Aufl., S. 351, die zugleich auf die

schon 1990 beispielsweise durch Riegel vertretene Gegenauffassung verwei-

sen und sich dieser im Kern auf S. 352 auch anschließen; die Eingriffsnatur

eindeutig bejahend hingegen schon 1992 bspw. Rid-

der/Breitbach/Rühl/Steinmeier, Versammlungsrecht, 1992, § 12a Rn. 21; eben-

so eindeutig auch das von Polizeipraktikern verfasste Lehrbuch von Brennei-

sen/Wilksen, a.a.O., S. 276 ff.).

Auch in der Rechtsprechung war früh erkennbar, dass so genannte Über-

sichtsaufnahmen einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit darstellen, nach-

dem bereits vor einem knappen Vierteljahrhundert das OVG Bremen am

24.4.1990 (DVBl. 1990, 1048, Leitsatz 1) feststellte, dass jede Datenerhebung

im Versammlungsumfeld ohne Rechtsgrundlage unzulässig ist:

„Die Dokumentation eines Demonstrationszuges durch Video- und Fotoauf-

nahmen ist unabhängig davon, ob Übersichts- oder Einzelaufnahmen angefer-

tigt werden, ein Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit“

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In der Entscheidung des BVerfG vom 17.2.2009 (1 BvR 2492/08) zum

BayVersG (also vor der beim VG Berlin streitgegenständlichen Verhandlung)

stellte das Gericht mit Blick auf die mögliche Identifizierbarkeit von Versamm-

lungsteilnehmerInnen bei Übersichtsaufzeichnungen fest:

„Ein prinzipieller Unterschied zwischen Übersichtsaufzeichnungen und perso-

nenbezogenen Aufzeichnungen besteht diesbezüglich, jedenfalls nach dem

heutigen Stand der Technik, nicht.“ (Rn. 130)

Dass das Gericht sich hier mit Aufzeichnungen befasste und nicht mit Aufnah-

men war der Entscheidung über das BayVersG geschuldet und nicht so zu ver-

stehen, dass bei letzteren eine andere rechtliche Bewertung zu erfolgen habe;

dies haben auch nachfolgende instanzgerichtliche Entscheidungen deutlich

gemacht.

So stellte denn folgerichtig das VG Berlin in seiner Entscheidung vom 5.7.2010

(1 K 905.09) in Rn. 18 unter Verweis auf die Entscheidung des BVerfG zum

Bayerischen Versammlungsgesetz klar,

„dass ein prinzipieller Unterschied zwischen Übersichtsaufnahmen und perso-

nenbezogenen Aufnahmen nicht mehr besteht (…).“

Mochte die Berliner Polizei die Entscheidung des OVG Bremen für weitere rund

20 Jahre im Falle eines Nichtvorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen des

§ 12a VersG ignorieren, ist dies nicht länger möglich, nachdem auch das VG

Münster 21.8.2009 (1 K 1403/08), bestätigt durch das OVG Münster

23.11.2010 (5 A 2288/09) sowie VG Berlin am 5.7.2010 im Anschluss an die

o.a. Entscheidung des OVG Bremen wie auch die Entscheidung des BVerfG

vom 17.2.2009 zum BayVersG eindeutig bestätigt haben, dass bereits Bild-

und Tonaufnahmen (auch ohne Aufzeichnung) bei Versammlungen im Sinne

des Art. 8 GG einen Grundrechtseingriff darstellen (vgl. nur VG Berlin, a.a.O.

Rn. 16):

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„Daran gemessen stellt die Beobachtung der Versammlung im Kamera-

Monitor-Verfahren einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Denn wenn

der einzelne Teilnehmer damit rechnen muss, dass seine Anwesenheit oder

sein Verhalten bei einer Versammlung durch die Behörden registriert wird,

könnte ihn dies von einer Teilnahme abschrecken oder ihn zu ungewollten Ver-

haltensweisen zwingen, um den beobachtenden Polizeibeamten möglicher-

weise gerecht zu werden (…).

Und sodann weiter in Rn. 17:

„Es macht hier keinen Unterschied, ob die durch die Polizei gefertigten Auf-

nahmen auch gespeichert wurden, denn das Beobachten der Teilnehmer stellt

bereits einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Das polizeiliche Handeln

knüpft allein an die Wahrnehmung des Versammlungsrechts durch die Teil-

nehmer an.“

Die genannten Gerichte haben daher eine Fertigung von Bild- und Tonaufnah-

men bei Versammlungen unter freiem Himmel immer dann für unzulässig er-

klärt, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 19a, 12a VersG –

oder der Strafprozessordnung, was hier nicht zu betrachten ist – nicht vorlie-

gen. Dass die Videoaufnahmen in dem vom VG Berlin zu entscheidenden Fall

nicht vom VersG gedeckt waren, hat auch der Vertreter der Berliner Polizei

beim Verfahren vor dem VG Berlin eingestanden. Hier wurde offenbar ein Ab-

weichen von der eindeutigen Gesetzeslage als polizeiliche Notwendigkeit an-

gesehen und die Idee der Gesetzesgebundenheit der Verwaltung (Art. 20 III

GG) mit einer interessanten Nonchalance bedacht.

Aufnahme vs. Aufzeichnung

Zunächst ist zu klären, ob der vom Gesetzgeber in § 1 II verwendete Begriff der

Übersichtsaufnahme überhaupt hinreichend bestimmt festlegt, was zulässig

sein soll. Eine Bild- und Tonaufnahme (§ 12a VersG) kann ebenso wie eine

Übersichtsaufnahme (§ 1 II GE) in der Terminologie des Datenschutzrechts nur

als Datenerhebung (§ 3 III BDSG) verstanden werden, wohingegen die Auf-

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zeichnung dieser Aufnahmen als Datenspeicherung anzusehen ist (§ 3 IV 1 Nr.

1 BDSG). Dies hat auch der Berliner Gesetzgeber erkannt und z.B. in § 24

ASOG zutreffende Begrifflichkeiten verwendet, wovon vorliegend aber wieder

abgewichen wird, ohne dass hierfür eine Begründung ersichtlich wäre.

Der insoweit eindeutige Wortlaut des § 12a VersG wird in der versammlungs-

rechtlichen Literatur zum Teil verkannt (so Ott/Wächtler/Heinhold, a.a.O., § 12a

Rn. 5) oder es wird trotz des eindeutigen Wortlauts durch einen Rückschluss

aus den Regelungen in § 12a II VersG auch eine Aufzeichnung dieser Aufnah-

men für zulässig erachtet (so etwa Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 12a Rn. 19).

Problematisch ist vor diesem Hintergrund, dass sowohl § 1 I GE als auch § 1 II

GE (anders als der bereits genannte § 24 ASOG) den Begriff der „Aufnahme“

anstelle der „Aufzeichnung“ verwenden. Dies entspricht für § 1 I nicht den An-

forderungen der Normenklarheit und Normenbestimmtheit, weil für die Be-

troffenen nicht hinreichend klar ist, ob nur eine Datenerhebung oder auch eine

Datenspeicherung zulässig sein soll; zu vermuten ist, dass der Gesetzgeber

letzteres für zulässig hält, was auch in der polizeilichen Praxis so gehandhabt

wird.

Anders mag dies für § 1 II 1 GE gesehen werden, da § 1 II 2 GE eine Aufzeich-

nung ausdrücklich verbietet. § 1 GE kann aber mit Blick auf den Grundsatz der

Einheit der Rechtsordnung und dem Erfordernis der Widerspruchsfreiheit nur

als einheitliches Regelungsgebilde verstanden werden, zumal ja hier nach dem

Willen des Gesetzgebers eine Ersetzung im Sinne des Art. 125a I 2 GG vorlie-

gen soll.

Die Verwendung des Begriffs „Aufnahme“ kann in beiden Absätzen entweder

nur eine Erhebungsbefugnis eröffnen oder aber in beiden Absätzen auch die

Speicherung gestatten. Meint der Gesetzgeber in § 1 GE mit „Aufnahme“ nur

die Datenerhebung, dann ist unklar, ob damit eine den § 12a VersG begren-

zende Regelung getroffen werden soll, was aus Sicht der Versammlungsfreiheit

zu begrüßen wäre.

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Der Begriff „Aufnahme‘“ in § 1 I soll durch den Verweis auf § 12a VersG

offenbar einen anderen Regelungsgehalt haben als in § 1 II; dies ist mit

Blick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Normenklar-

heit und Normenbestimmheit bei Informationseingriffen nicht akzeptabel.

Übersichtsaufnahme vs. Aufnahme nach § 12a VersG

Die Notwendigkeit einer so genannten Übersichtsaufnahme ergibt sich aus

Sicht des Gesetzgebers allein daraus, dass die Polizei bei Versammlungen im

Schutzbereich des Art. 8 GG auch dann filmen will, wenn die Tatbestandsvo-

raussetzungen des § 12a VersG nicht erfüllt sind. Dies kann allenfalls dann

zulässig sein, wenn die Eingriffsintensität der Maßnahme deutlich niedriger ist

als im Falle des § 12a VersG. Hierauf verweist auch das VG Berlin, a.a.O., Rn.

18:

„Dieser [Polizeibeamte, d.V.] würde die Versammlungsteilnehmer – in der Re-

gel abseits stehend – wohl kaum in der Weise irritieren, wie ein nur wenige Me-

ter vor ihnen fahrender Übertragungswagen, der fortlaufend mehrere Kameras

auf Sie gerichtet hat.“

Eine geringere Eingriffsintensität wird damit begründet, dass es sich „nur“ um

eine Übersichtsaufnahme handele, womit diese offenbar von den Bild- und

Tonaufnahmen i.S.d. § 12a VersG abgegrenzt werden soll. Diese Abgrenzung

könnte darin liegen, dass etwa durch technische Vorgaben des Gesetzgebers,

wie bspw. die Festlegung der Distanz, der Brennweite oder der Winkeleinstel-

lung eine Identifizierung von TeilnehmerInnen unmöglich ist (vgl. Brennei-

sen/Wilksen, a.a.O., S. 276) oder aber, wenn bereits der Begriff selbst für den

durchschnittlichen Betroffenen hinreichend deutlich wäre.

Letzteres ist wohl zu verneinen; eine Recherche zeigt, dass die durchaus als

„Leitmedium“ geltende Enzyklopädie Wikipedia hierzu nicht einmal einen Ein-

trag verzeichnet. Im Handbuch der Verkehrsunfallrekonstruktion von

Burg/Moser, 2007, S. 500, wird unter Übersichtsaufnahme die Aufnahme eines

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verunglückten Fahrzeugs aus wenigen Metern Entfernung verstanden; das

medizinische Verständnis einer Übersichtaufnahme des Thorax geht von einer

geringen Entfernung und feingliedrigen Darstellung aus, wohingegen etwa die

Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe so zum Beispiel die Auf-

nahme eines gesamten Vulkans aus großer Entfernung bezeichnet.

Was eine Übersichtsaufnahme ist, lässt sich dem Umgangssprach-

gebrauch ebenso wenig entnehmen, wie es hierfür eine technische

Normung gäbe, die allgemein bekannt ist.

Es ist folglich im Interesse der Normenklarheit und Normenbestimmtheit durch

den Gesetzgeber selbst zu regeln, worin der Unterschied zwischen einer Bild-

und Tonaufnahme nach § 1 I GE einerseits und einer so genannten Über-

sichtsaufnahme nach § 1 II GE liegt. Dies kann nicht der Auslegung und Aus-

führungspraxis der Polizei überlassen werden und auch die Gerichte sind nach

der ständigen Rechtsprechung des BVerfG zu Informationseingriffen der Polizei

auf einen hinreichend bestimmten Prüfmaßstab angewiesen, um ggf. eine ef-

fektive Rechtskontrolle durchführen zu können.

Ein bloßer Verweis auf die Gesetzesbegründung reicht dabei nicht aus, zumal

auch diese für wenig Klarheit sorgt, wenn es auf S. 6 heißt: „Bei Übersichtsauf-

nahmen wird zudem von einem erhöhten Standort aus – etwa einem hydrauli-

schen Mast auf dem Dach eines Übertragungswagens oder einem Hubschrau-

ber in Weitwinkeleinstellung ein möglichst großer Bereich gezeigt.“ Dies sind

keine präzisen Festlegungen, zudem ist offenkundig, dass etwa die Aufnahme

aus einem Hubschrauber in 100 m Höhe oder auch noch deutlich höher einer-

seits mit der Aufnahme vom Dach eine Hauses an der Aufzugsstrecke oder

wiederum vom Dach eines Übertragungswagens nicht vergleichbar sind. Bei

letzterem ist schon die Idee der Übersichtsaufnahme kaum plausibel, wenn aus

einer Höhe von 3 bis 5 m eine Versammlung gefilmt wird.

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Der Begriff der Übersichtsaufnahme ist mithin im GE nicht hinreichend

bestimmt und nicht klar abgrenzbar von Bildaufnahmen nach § 1 I GE.

Dies stellt einen Verstoß gegen das Gebot der Normenbestimmheit dar.

Identifizierbarkeit bei so genannten Übersichtsaufnahmen

Die Gesetzesbegründung (S. 6) führt weiter aus, dass eine Identifizierung von

TeilnehmerInnen „in aller Regel“ (sic!) ausgeschlossen sei. Dies bedeutet, dass

eine solche Identifizierung eben auch möglich ist, schon bei bloßer Betrachtung

ohne weitere technische Bearbeitung oder Nutzung der opto-elektronischen

Funktionen der eingesetzten Kameras. Da es sich aber bei der so identifizier-

baren Person weder um einen Störer noch um einen Straftäter handelt (in bei-

den Fällen kämen andere Eingriffsbefugnisse zum Tragen), ermöglicht also die

Technik unter Umständen die Individualisierung und ggf. auch die Identifizie-

rung von Personen im Schutzbereich des Art. 8 GG. Hierzu stellt das VG Ber-

lin, a.a.O., Rn. 19, fest:

„Es besteht jederzeit die Möglichkeit, ohne weiteres von der Übersichtsauf-

nahme in die Nahaufnahme überzugehen und somit den Einzelnen individuell

zu erfassen.“

Die auch im GE nicht ausgeschlossene Identifizierung von Versamm-

lungsteilnehmerInnen stellte einen gravierenden Grundrechtseingriff dar

und wäre allenfalls unter den engen Voraussetzungen des § 15 I VersG

oder der StPO zulässig.

Die Gesetzesbegründung (ebd.) führt im Wiederspruch zu den vorherigen Aus-

führungen weiter aus: „Ein individuelles und besonderes Beobachten einzelner

Personen, etwa durch Heranzoomen, lässt die Vorschrift nicht zu.“ Es fragt sich

allerdings, wo dies in § 1 II GE mit hinreichender Bestimmtheit geregelt oder

gar ausdrücklich verboten wäre. Tatsächlich lässt sich diese Schlussfolgerung

aus dem Wortlaut des Gesetzes nicht entnehmen; eine Bindung der Polizei

durch die Gesetzesbegründung ist nicht ausreichend und es mangelt auch hier

an der hinreichenden Bestimmtheit, die allein durch ein ausdrückliches Verbot

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Abgeordnetenhaus Berlin – GE zu Übersichtsaufnahmen bei Versammlungen – Stellungnahme Prof. Dr. Clemens Arzt vom 1.3.2013

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der Individualisierung und Identifizierung von TeilnehmerInnen zu erlangen wä-

re.

Der Begriff der Übersichtsaufnahme schließt nicht mit hinreichender

Bestimmtheit aus, dass die Polizei die eingesetzten Kameras oder Mittel

der Bildbearbeitung auch zur Individualisierung und Identifizierung von

TeilnehmerInnen nutzt, was unvereinbar mit Art. 8 GG wäre.

Tatbestandliche Voraussetzungen für so genannte Übersichtsaufnahmen

Zulässig sollen die Aufnahmen sein, wenn dies „wegen der Größe oder Un-

übersichtlichkeit der Versammlung oder des Aufzuges im Einzelfall zur Len-

kung und Leitung des Polizeieinsatzes erforderlich ist.“

Ob eine solche Erforderlichkeit gegeben ist, obliegt damit allein der Beurteilung

der Polizei; eine gerichtliche Überprüfung anhand objektiver Maßstäbe er-

scheint hier schwerlich möglich. Zu der vergleichbaren Norm in § 24 IV ASOG

vertreten Knape/Kiworr (a.a.O., S. 361 f.) die Auffassung, dass alleine die Grö-

ße einer Veranstaltung als Begründung für die Ausweitung der Befugnisse der

Polizei zur Videoüberwachung rechtlichen Bedenken begegne. Auf das Vorlie-

gen tatsächlicher Anhaltspunkte dafür, dass wegen der Art und Größe einer

bestimmten Großveranstaltung erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicher-

heit entstehen, könne unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht ver-

zichtet werden. Dem ist der Gesetzgeber des ASOG in § 24 IV 2 so auch ge-

folgt.

Vorliegend, wo es um den Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit

wie auch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung von im Regel-

fall vielen tausend Menschen geht („wegen der Größe“), verzichtet derselbe

Gesetzgeber hingegen auf jegliche weitere Präzisierung und tatbestandliche

Begrenzung. Die Definitionsmacht liegt damit allein bei der Polizei; hält sie die

Maßnahme für erforderlich und stützt dies zum Beispiel auf polizeiliche Erfah-

rungen, ist dies nach dem Gesetzeswortlaut zulässig, weil selbiger keine Ab-

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Abgeordnetenhaus Berlin – GE zu Übersichtsaufnahmen bei Versammlungen – Stellungnahme Prof. Dr. Clemens Arzt vom 1.3.2013

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stützung auf bestimmte Tatsachen zu dieser spezifischen Versammlung for-

dert, die eine solche Notwendigkeit begründen könnten.

Obgleich hier weit unterhalb der hohen tatbestandlichen Anforderungen des

§ 12a VersG („erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ord-

nung“) Videoaufnahmen sollen gefertigt werden dürfen, verzichtet der Gesetz-

geber auf jede weitere Begrenzung, wohingegen das ASOG wie aufgezeigt

fordert, dass „tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen“, dass sol-

che Gefahren bestehen.

Völlig unklar und gesetzlich nicht näher bestimmt ist auch, ab wann eine Ver-

sammlung die für die Zulässigkeit des Grundrechtseingriffs relevante Größe

aufweist oder eine Unübersichtlichkeit derselben vorliegt. Nicht nachvollziehbar

ist, wann eine Versammlung unübersichtlich ist, obwohl diese eine geringe

Teilnehmerzahl aufweist; denn auch dies eröffnet die Zulässigkeit der Überwa-

chung, wie sich aus der Konjunktion „oder“ ergibt. Auch hier weicht der GE von

§ 24 IV 2 ASOG ab, der auf „Art und Größe“ einer Veranstaltung abstellt.

Nun ist dem Gefahrenabwehrrecht die Verwendung abstrakter Begrifflichkeiten

in unbestimmten Rechtsbegriffen nicht fremd; diese müssen aber eine vorher-

sehbare rechtliche Bewertung durch den von der Maßnahme Betroffenen wie

auch die Polizei ermöglichen die zudem einer gerichtlichen Kontrolle anhand

der gesetzlichen Voraussetzungen zugänglich ist und das hochrangige Rechts-

gut der Versammlungsfreiheit nicht mehr als notwendig einschränkt. Dies ist

hier nicht gewährleistet.

§ 1 II GE enthält keine den Eingriff in das gewichtige Schutzgut des Art.

8 GG rechtfertigenden tatbestandlichen Voraussetzungen.

Wenig plausibel ist auch, weshalb zum Beispiel der in der Gesetzesbegrün-

dung angeführte Kamerawagen hier ein geeignetes und erforderliches Mittel

sein soll, da dieser sich regelmäßig am Anfang oder am Ende eines Demonst-

rationszuges befindet und die damit gewonnenen Erkenntnisse auch leicht von

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einigen PolizeibeamtInnen an die Einsatzzentrale übermittelt werden können,

was einen deutlich geringeren Grundrechtseingriff darstellt, weil die Teilnehme-

rInnen nicht befürchten müssen, dass die Polizei dabei jederzeit von einer Bild-

aufnahme nach § 1 II GE in eine Bildaufzeichnung nach § 1 I / § 12a VersG

wechseln kann. Auch das VG Münster (NWVBl. 2009, 487) stellt unter Hinweis

auf die Begleitung einer Versammlung durch einen Kamerawagen fest:

„Diese Vorgehensweise in Verbindung mit den technischen Möglichkeiten einer

Videokamera mit Bildübertragung – wie etwa Weitwinkel, Zoom, Aufnahme-

funktion – vermag auch im Falle der Information über den Umfang der Maß-

nahme durch die Polizei eine besondere Einschüchterung zu bewirken (…).

Wer weiß, dass er als Versammlungsteilnehmer am Monitor überwacht wird,

wer jederzeit ohne Kenntnis des Zeitpunktes befürchten muss, dass er ‚heran-

gezoomt‘ und damit als Individuum registriert wird (…) wird sich insbesondere

gravierender beeinflusst fühlen (…) als derjenige, der lediglich durch Polizeibe-

amte ohne Einsatz technischer Hilfsmittel wahrgenommen oder mit einem

Fernglas beobachtet wird.“

Unzulässigkeit der Speicherung und offene Durchführung der Über-

sichtsaufnahmen

Die Unzulässigkeit der Aufzeichnung (Datenspeicherung) in § 1 II 2 ist grund-

sätzlich zu begrüßen. Hier läge es indes bei jeder einzelnen Versammlung an

der Polizei, die Nichtspeicherung dann auch vor Ort aktiv und wiederholt zu

kommunizieren, weil kein Versammlungsteilnehmer erkennen kann, ob die Bild-

und Tonaufnahmen gerade im Rahmen des § 1 I (Zulässigkeit der Speiche-

rung) oder im Rahmen des § 1 II (Unzulässigkeit der Speicherung) oder nach

der StPO (Zulässigkeit der Speicherung) durchgeführt werden. Diese Unge-

wissheit kann ebenfalls abschreckende und einschüchternde Wirkung entfalten,

worauf das VG Münster (NWVBl. 2009, 487) hinweist:

„ (…) wer nicht wahrnehmen kann, wann bei der aufnahmebereiten Kamera

beabsichtigt oder versehentlich der Aufnahmeknopf beträgt wird, wird sich ins-

besondere gravierender beeinträchtigt fühlen und sich daher (…) möglicher-

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weise anders verhalten, als derjenige, der lediglich durch Polizeibeamte ohne

Einsatz technischer Hilfsmittel wahrgenommen oder mit einem Fernglas beo-

bachtet wird.“

Offene Durchführung der Übersichtsaufnahmen

Grundsätzlich positiv hervorzuheben ist, dass der GE eine offene Anfertigung

der Aufnahmen anordnet. Es fragt sich dabei aber zugleich, weshalb dies bei

Bild- und Tonaufnahmen im Sinne von § 1 I GE nicht auch gelten soll, die nach

der Logik des GE wegen der dortigen Zulässigkeit der Individualisierbarkeit und

Identifizierung von TeilnehmerInnen einen deutlich schweren Eingriff darstellen.

Auch zeigt sich wieder, dass eine einheitliche Regelung eines abtrennbaren

Teilbereichs des Versammlungsrechts nicht gelungen ist, sondern offenkundig

– und ohne verfassungsrechtlichen Anlass – mit zweierlei Maß gemessen wird.

Fraglich ist jedoch insbesondere, wie die offene Durchführung in der Realität

aussehen soll. Bei der Nutzung eines polizeilichen Kraftfahrzeuges ist dies un-

problematisch. Anders sieht es bei der Nutzung von Hubschraubern aus, die

nicht in jedem Fall zweifelsfrei als polizeiliche erkannt werden können, wo aber

insbesondere nicht erkennbar ist, ob und wann mit dem Hubschrauber Bildauf-

nahmen nach § 1 II oder Bildaufzeichnungen nach § 1 1 / § 12a VersG durch-

geführt werden. Noch weniger gelingt dies bei der Nutzung von unbemannten

Luftfahrtsystemen (Drohnen), die bereits von anderen Länderpolizeien bei Ver-

sammlungen genutzt wurden.

Die Anregung des Rechtsausschusses, bei der Fertigung von Übersichtsauf-

nahmen Westen mit einer entsprechenden Aufschrift einzusetzen, erscheint mit

Blick auf die vorgenannten technischen Mittel kaum von einer realitätsnahen

Betrachtung beeinflusst.

Um die Anforderungen an die Offenheit der Durchführung zu erfüllen, müsste

daher vor und während der Versammlung und am Ort der Versammlung wie

auch während eines Aufzuges, zu dem ja immer neue TeilnehmerInnen im Ver-

lauf dazu stoßen können, für alle TeilnehmerInnen verständlich und in kurzen

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Abgeordnetenhaus Berlin – GE zu Übersichtsaufnahmen bei Versammlungen – Stellungnahme Prof. Dr. Clemens Arzt vom 1.3.2013

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Abständen seitens der Polizei kommuniziert werden, (1.) dass und (2.) nach

welcher Rechtsgrundlage (§ 1 I / § 12a VersG, § 1 II oder StPO) gerade Bild-

aufnahmen oder Bildaufzeichnungen gefertigt werden, weil dies durch den blo-

ßen Anblick der Kamera für die Versammlungsteilnehmer nicht offenkundig ist.

Eine einmalige Ankündigung am Beginn oder zuvor im Internet genügt hierbei

mit Sicherheit nicht (vgl. VG Hannover, 14.07.2011 – 10 A 5452/10, zur allge-

meinen Videoüberwachung).

Es müsste also auch jeder Wechsel der Ermächtigungsgrundlage von § 1 II

nach § 1 I / § 12a VersG oder in die StPO kommuniziert werden, weil die bei-

den letztgenannten Varianten mit Blick auf die Zulässigkeit der Individualisie-

rung und Datenspeicherung als deutlich eingriffsintensiver anzusehen sind,

ohne eine solche Kommunikation die TeilnehmerInnen aber ständig in Unwis-

senheit darüber wären, nach welcher Rechtsgrundlage die Polizei gerade Da-

ten erhebt; die Abschreckungswirkung dieser Unklarheit dürfte offenkundig sein

und wurde von der Rechtsprechung (s.o.) nachdrücklich hervorgehoben.

Die offene Durchführung der Maßnahme wäre grundsätzlich verfas-

sungsrechtlich zu begrüßen, ist in der Praxis aber kaum umzusetzen und

liefe daher nicht selten ins Leere. Da eine nicht offene Datenerhebung

mit Art. 8 GG nicht vereinbar ist, bleibt unklar, wie der Gesetzesbefehl in

der Realität umgesetzt werden soll.

Auswirkungen auf das Vermummungsverbot

Unterstellt man, dass im Rahmen des § 1 II GE keine Individualisierung und

Identifizierung erfolgen soll (zur Kritik an dieser Annahme s.o.), kann eine Ver-

mummung bei Versammlungen unter freiem Himmel, die nach § 1 II GE von

Übersichtsaufnahmen erfasst werden, nicht per se als Verstoß gegen § 17a II

Nr. 1 VersG angesehen werden. Die Norm fordert nämlich neben einer objekti-

ven Komponente (Aufmachung, die geeignet ist) auch, dass diese „den Um-

ständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern“.

Wenn seitens der Polizei eine Feststellung der Identität von Teilnehmern einer

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Versammlung mittels dieser Maßnahme ausdrücklich nicht geplant ist, kann

auch kein Verstoß gegen die Verbotsnorm vorliegen, die gerade kein absolutes

Verbot der Vermummung beinhaltet (statt vieler Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O. §

17a Rn. 26; Brenneisen/Wilksen, a.a.O., S. 198, 202; LG Hannover,

20.01.2009, StV 2010, 640; AG Rotenburg (Wümme), 12.07.2005, NStZ 2006,

358; KG Berlin, 11.06.2002, NJW 2002, 3789; a.A. KG, 07.10.2008, StV 2010,

637; s.a. VG Regensburg, 10.02.2012 – RO 9 E 12.257; zum Anspruch auf

Dispens) und insbesondere im Lichte der durch Art. 8 GG gewährleisteten Ge-

staltungsfreiheit auszulegen ist (vertiefend Güven, NStZ 2012, 425).

Dies bedeutet allerdings, dass die Polizei bei der Fertigung von Aufnahmen

nach § 1 II GE bekanntgeben müsste, wenn in Aufnahmen nach § 1 I / § 12a

VersG oder nach der StPO „gewechselt“ wird, weil dann die TeilnehmerInnen

die Gelegenheit haben müssen, eine eventuelle Vermummung abzunehmen

(vgl. § 20 I 1 Nr. 4 NdsVersG).

So genannte Übersichtsaufnahmen und demokratische Offenheit

Führt man sich abschließend nochmals die zentralen Erwägungen des Bun-

desverfassungsgerichts in der so genannten Brokdorf-Entscheidung (BVerfGE

69, 315/346 f.) vor Augen wird deutlich, dass die Maßnahme unter demokrati-

schen Gesichtspunkten mehr als problematisch ist:

„Nach alledem werden Versammlungen in der Literatur zutreffend als wesentli-

ches Element demokratischer Offenheit bezeichnet: "Sie bieten ... die Möglich-

keit zur öffentlichen Einflußnahme auf den politischen Prozeß, zur Entwicklung

pluralistischer Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest ...; sie

enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das

geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu

bewahren" (Hesse, aa0, S. 157; übereinstimmend Blumenwitz, a.a.O. [132 f.]).

Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und

geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die

Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes.

Hier gilt - selbst bei Entscheidungen mit schwerwiegenden, nach einem

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Abgeordnetenhaus Berlin – GE zu Übersichtsaufnahmen bei Versammlungen – Stellungnahme Prof. Dr. Clemens Arzt vom 1.3.2013

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Machtwechsel nicht einfach umkehrbaren Folgen für jedermann - grundsätzlich

das Mehrheitsprinzip. (…) Demonstrativer Protest kann insbesondere notwen-

dig werden, wenn die Repräsentativorgane mögliche Mißstände und Fehlent-

wicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf

andere Interessen hinnehmen (vgl. auch BVerfGE 28, 191 [202]). In der Litera-

tur wird die stabilisierende Funktion der Versammlungsfreiheit für das repräsen-

tative System zutreffend dahin beschrieben, sie gestatte Unzufriedenen, Unmut

und Kritik öffentlich vorzubringen und abzuarbeiten, und fungiere als notwendi-

ge Bedingung eines politischen Frühwarnsystems, das Störpotentiale anzeige,

Integrationsdefizite sichtbar und damit auch Kurskorrekturen der offiziellen Poli-

tik möglich mache (Blanke/Sterzel, a.a.O. [69]).“

Eine Verabschiedung des § 1 II GE stellte diese Ausführungen geradezu auf

den Kopf. Die Logik des § 1 II GE geht nämlich im Ergebnis dahin, dass umso

mehr Menschen sich in die demokratische Auseinandersetzung über eine be-

stimmte gesellschaftliche Frage einmischen und hierfür auch bereit sind, auf

die Straße zu gehen, also zu demonstrieren, umso größer wird deren Risiko,

dabei mittels so genannter Übersichtsaufnahmen nach § 1 II GE erfasst zu

werden, da § 1 II GE gerade in der Größe der Versammlung eine (wohl die we-

sentliche) Voraussetzung des Einsatzes sieht.

Umgekehrt hat dies wiederum möglicherweise zugleich den gegenteiligen Ef-

fekt, dass bei einer solchen gesellschaftlich relevanten Frage eine befürchtete

Überwachung durch den Einsatz so genannter Übersichtsaufnahmen wiederum

genau diesem Partizipationsgedanken qua Abschreckung und Einschüchterung

(vgl. hierzu die o.a. Rechtsprechung des BVerfG und der Instanzgerichte) ent-

gegenläuft.

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Abgeordnetenhaus Berlin – GE zu Übersichtsaufnahmen bei Versammlungen – Stellungnahme Prof. Dr. Clemens Arzt vom 1.3.2013

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Fazit

1. Die anlasslose Erstellung von Übersichtsaufnahmen bei friedlichen Ver-

sammlungen stellt einen erheblichen Eingriff in das Grundrecht auf Ver-

sammlungsfreiheit wie auch das Recht auf informationelle Selbstbe-

stimmung dar.

2. Die Erstellung von Bild- und Tonaufnahmen bei Versammlungen kann

nach einhelliger Rechtsprechung des BVerfG wie auch der Instanzge-

richte einschüchternde und abschreckende Wirkung auf potentielle Ver-

sammlungsteilnehmer haben.

3. Auch die Fertigung von so genannten Übersichtsaufnahmen stellt eine

Beschränkung der demokratischen Offenheit in der Bundeshauptstadt

Berlin dar, die gerade dann zum Tragen kommen soll, wenn sich beson-

ders viele Menschen im Rahmen der Versammlungsfreiheit für ein be-

stimmtes demokratisches Anliegen engagieren. Wer gerade die Größe

einer Versammlung zum Anlass ihrer Überwachung macht, verkennt

wesentliche Funktionen der Versammlungsfreiheit in der Demokratie.

Der Landesgesetzgeber wäre daher gut beraten, hierauf zu verzichten.

4. Die Maßnahme ist nicht erforderlich, weil bereits ein zweistufiges System

der Zulässigkeit von Bild- und Tonaufnahmen bei Versammlungen im

VersG einerseits und der StPO andererseits existiert und eine dritte Va-

riante kaum noch rechtssicher für die Polizei gehandhabt und für die

VersammlungsteilnehmerInnen transparent und nachvollziehbar ausge-

führt werden kann.

5. Die vorgeschlagene Neuregelung ist (je nach Auslegung des Rege-

lungsgehaltes von § 1 I GE) u.U. nicht mit Art. 59 II VvB vereinbar.

6. Die vorgeschlagene Neuregelung stellt aus meiner Sicht keine zulässige

Ersetzung von Bundesrecht nach Art. 125a I 2 GG dar.

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Abgeordnetenhaus Berlin – GE zu Übersichtsaufnahmen bei Versammlungen – Stellungnahme Prof. Dr. Clemens Arzt vom 1.3.2013

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7. Die vorgeschlagene Neuregelung weist keine dem Schutz der Versamm-

lungsfreiheit und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung adä-

quaten Tatbestandsvoraussetzungen für die Zulässigkeit der Maßnahme

auf.

8. Die vorgeschlagene Neuregelung ist in mehrfacher Hinsicht nicht mit

dem verfassungsrechtlichen Gebot der Normenklarheit und Normenbe-

stimmtheit insbesondere bei Informationseingriffen vereinbar und ver-

stößt damit gegen Art. 8 GG wie auch gegen das Grundrecht auf infor-

mationelle Selbstbestimmung.

gez. Prof. Dr. Clemens Arzt