Stephan Kaußen Zehn Jahre nach der Apartheid · 2015-11-27 · SWP-Studie Stiftung Wissenschaft...

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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Stephan Kauen Zehn Jahre nach der Apartheid Südafrika als Brücke zwischen Europa und Afrika? S 12 April 2004 Berlin

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SWP-StudieStiftung Wissenschaft und PolitikDeutsches Institut für InternationalePolitik und Sicherheit

Stephan Kaußen

Zehn Jahrenach der ApartheidSüdafrika als Brückezwischen Europa und Afrika?

S 12April 2004Berlin

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Inhalt

Problemstellung und Empfehlungen 5

Einleitung 7

Das politische System Südafrikas 9Überragende Stellung des Staatspräsidenten 9Demokratischer Zentralismusversus Machtressourcenstreuung 10»Miracle of the ordinary« 11Administrative und staatsbürgerliche Defizite 11Bedeutungsverlust der Provinzen undzentrale Macht des ANC 12Fest verankerter Pluralismus,Parlamentarismus und Medienstatus 13Freie Marktwirtschaft, finanzpolitischeDisziplin und Korporatismus 14

Hauptakteure, zentrale Interessen undKontinuitäten im neuen Südafrika 16Zentralist Thabo Mbeki 16Zwiespältige präsidiale Bilanz desPragmatikers und Afrikanisten Mbeki 17Stigma, Strategien und Dilemmaweißer Opposition 18Schwarze Opposition zum ANC? 21Nichtkompatibilität des traditionellenmit dem modernen Südafrika 22

Hauptrisiken für die demokratischeEntwicklung Südafrikas 24Verschmelzung von Staat und Parteiunter hegemonialem ANC? 24Mbekis Versagen in der Zimbabwe-und Aids-Politik 25»Crisis of Expectations« 26

Möglichkeiten deutscher undeuropäischer Einflußnahme auf dieweitere Demokratisierung Südafrikas 29Förderung des Pluralismus 29Nachhaltige Wirtschaftsförderung 31Forderung nach Kohärenz deutscher undeuropäischer Politik 32

Fazit 33

Anhang: Literatur und Abkürzungen 35

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Dr. Stephan Kaußen lehrt Politikwissenschaft an der RWTHAachen und ist Autor des Buches »Von der Apartheid zurDemokratie. Die politische Transformation Südafrikas« (2003)

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SWP-BerlinZehn Jahre nach der Apartheid

April 2004

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Problemstellung und Empfehlungen

Zehn Jahre nach der Apartheid.Südafrika als Brücke zwischen Europa und Afrika?

Beiträge zu afrikapolitischen Debatten werden häufignach den Kategorien Afro-Optimismus oder Afro-Pessi-mismus sortiert. Diese Kategorienbildung suggeriert,daß die Bewertung der Entwicklung des afrikanischenKontinents weniger das Ergebnis sachlicher Analyseals individueller Einstellungen ist. Sie wird auch derTatsache nicht gerecht, daß sich Afrika, insbesonderedie Region südlich der Sahara, immer mehr differen-ziert. Als positives Extrem dieser Differenzierung giltSüdafrika � politisch wie wirtschaftlich.

Wirtschaftlich läßt sich kein anderes Land südlichder Sahara in Industrialisierungsgrad, Qualität derphysischen Infrastruktur, Vielfalt der Auslandsinvesti-tionen sowie Dichte und Umfang der Außenhandels-beziehungen mit Südafrika vergleichen. Mit nur 7%der Gesamtbevölkerung der Region produziert es ca.40% des sub-saharischen Bruttoinlandsprodukts. Zu-dem penetrieren südafrikanische Investoren undHändler immer mehr afrikanische Märkte. Südlich derSahara ist Südafrika für Deutschland mit Abstand derwichtigste Investitionsstandort und Handelspartner.

Politisch zeichnet sich das Land zehn Jahre nachdem Ende des Apartheidsystems vor allem durch eineunerwartete Stabilität aus. Angesichts der Ausgangs-bedingungen ist dies eine kaum zu überschätzendeLeistung.

Wegen der politischen und wirtschaftlichen Er-folgsbilanz gibt es nicht wenige, die Südafrika zumModell für die Entwicklung anderer afrikanischerStaaten stilisieren. Sie vernachlässigen dabei, daß sichSüdafrika in seinen gesellschaftlichen Besonderheitenund historischen Erfahrungen grundlegend von denmeisten anderen afrikanischen Staaten unterscheidet.Südafrika zeichnet sich durch ein eigentümlichesGemisch europäischer und afrikanischer Traditionen,Kulturen und Institutionen aus. Das europäische Ele-ment ist viel stärker ausgeprägt als anderswo, nichtnur wegen des weißen Bevölkerungsanteils von ca.10% der 46 Mio. Südafrikaner. Was im Innern ofterhebliche Mentalitätsunterschiede und soziale Kon-flikte schafft, qualifiziert das Land nach außen alselementares Bindeglied zwischen Europa und Afrika.Hierin liegt mehr noch als in der relativen wirtschaft-lichen Kraft des Landes seine Bedeutung für Deutsch-land und Europa. Südafrika könnte aufgrund seines

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Problemstellung und Empfehlungen

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institutionellen Organisationsgrades und seines west-lichen Demokratieanspruchs eine Hauptrolle bei derpolitischen Stabilisierung und wirtschaftlichen Ent-wicklung der Region südlich der Sahara spielen.

Die Wahrnehmung einer solchen Rolle setzt zumeinen die Bereitschaft der südafrikanischen Regierungvoraus, sie anzunehmen, zum anderen die Bewah-rung der politischen Stabilität und demokratischenVerfaßtheit. Für ersteres gab es unter den PräsidentenMandela und Mbeki zahlreiche positive Anzeichen.Zweiteres ist Gegenstand der Analysen dieser Studie,die langfristige Entwicklungen im Blick hat, aber auchaktuelle Tendenzen und die Ergebnisse der Wahlenvom 14. April 2004 einbezieht.

Fazit dieser Analysen ist, daß in Südafrika zur Zeitmehr das Wie der demokratischen Konsolidierung inFrage steht als das Ob. Entsprechend sind die grund-sätzlichen Risiken für die politische Stabilität desLandes derzeit relativ gering. Nach wie vor lastet aberdas historische Erbe schwer auf der weiteren Demo-kratisierung des Landes. Unter den Buren Südafrikasist eine Wagenburgmentalität noch immer weit ver-breitet, unter den »britischen« Südafrikanern einpolitisch-kulturelles Überlegenheitsgefühl. Anhänger,Aktivisten und vor allem Spitzenrepräsentanten desANC schätzen die Geschlossenheit der ehemaligen Be-freiungsbewegung bislang oftmals mehr als interneMeinungsvielfalt. Zudem ließ sich das jahrzehntelangdurch die Apartheid aufgebaute Mißtrauen zwischenden Bevölkerungsgruppen nur ansatzweise abbauen.

Neben diesem historischen Ballast sind es auchaktuelle politische Entwicklungen, die eine besondereHerausforderung für die demokratische Zukunft Süd-afrikas darstellen. An erster Stelle ist hier die NeigungThabo Mbekis und seiner engeren Gefolgschaft zu nen-nen, eine Art Super-Präsidentialismus zu etablieren,Entscheidungsprozesse zu zentralisieren und Dissensin der Regierungspartei bzw. bei den sie unterstützen-den gesellschaftlichen Gruppen immer weniger zu-zulassen. Die Gefahr besteht, daß die Mehrheits-verhältnisse im Parlament, die eine Ablösung des ANCaus der Regierungsverantwortung auf absehbare Zeitunwahrscheinlich machen, das Dominanzstreben derParteiführung verstärken und die Unterscheidungzwischen Partei und Staat zusehends verwischen.

Zweitens scheint die objektiv gegebene Notwendig-keit, im Innern wie nach außen eine Brücke zwischenEuropa und Afrika zu schlagen, Mbeki des öfteren ineine Position zu bringen, in der er weder die eine nochdie andere Rolle konsequent spielen kann. Prominen-teste Beispiele sind die Wirtschaftspolitik, Mbekis Ver-

halten in der Frage der Aids-Bekämpfung und seinUmgang mit der Krise in Zimbabwe.

Mbekis Führungsanspruch basiert � anders als imFalle Nelson Mandelas � weniger auf seiner Persönlich-keit als vielmehr auf seinem taktischen Geschick beider internen Führung der Partei. Seine Fähigkeit, diesozioökonomischen Erwartungen zu erfüllen, wurdejedoch von seinen Anhängern offensichtlich über-schätzt. Und darin liegt die dritte zentrale Heraus-forderung für die Demokratie Südafrikas: Trotzmakroökonomischer Stabilität und erheblicher staat-licher Investitionen in Gesundheit, Bildung, Wasser-und Energieversorgung konnte die Regierung die Hoff-nung auf eine deutliche Hebung des Lebensstandardsfür die Masse der Bevölkerung nicht erfüllen. Der Auf-bau einer neuen schwarzen Mittel- und Oberschichtist gelungen, die weitere Streuung ökonomischer Zu-gewinne nicht. Letzteres stellt ein Bedrohungspoten-tial für die Legitimität der demokratischen Ordnungdar. Gleichzeitig verstärkt sich bei der weißen Minder-heit das Gefühl der Marginalisierung, weil die Regie-rung die Bedürfnisse der armen Bevölkerungsschich-ten zumindest rhetorisch in den Mittelpunkt rückt.Überdies gibt die extrem hohe Alltags- und Schwerst-kriminalität weiteren Anlaß zur Unzufriedenheitmit der staatlichen Politik, die es auf verschiedenenFeldern zu verbessern gilt.

Deutschland kann einen Beitrag zur Bewältigungdieser Herausforderungen leisten:! Auf diplomatischem Wege sollte die Wichtigkeit

des capacity-building betont werden, damit der Staatund seine Institutionen künftig effektiver arbeitenkönnen (siehe z.B. Justizsystem). Zur weiteren Stär-kung des Rechts- und Sozialstaates bedarf es ver-besserter personeller und materieller Ressourcen.

! Deutsche Institutionen, insbesondere die partei-nahen politischen Stiftungen, sollten sich paralleldazu weiterhin um die Förderung des politischenPluralismus bemühen und sich dabei vor allem aufzivilgesellschaftliche Kräfte konzentrieren.

! Der Fokus bei der Unterstützung wirtschaftlicherEntwicklung sollte auf der Förderung beschäfti-gungsintensiver Sektoren liegen.

! Nicht weniger relevant ist die Forderung nachverbesserter Kohärenz deutscher und europäischerPolitik. Entwicklungshilfe und damit indirektauch Demokratieförderung sollten nicht durchAgrarmarktpolitik und Schuldendienst konter-kariert werden.

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Einleitung

SWP-BerlinZehn Jahre nach der Apartheid

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Einleitung

Das neue Südafrika verdient größte Anerkennung,bewertet man die politischen und gesellschaftlichenVerhältnisse in diesem jungen demokratischen Staatam Kriterium der Stabilität. Ein Jahrzehnt nach demEnde der Apartheid findet man am Kap der GutenHoffnung einen Zustand weitgehender demokrati-scher Normalität vor, der bis zur großen politischenWende kaum vorstellbar schien.

Diese Wende wurde im Februar 1990 durch dendamaligen Staatspräsidenten FW de Klerk eingeleitet,der die südafrikanische »Mauer« zwischen Schwarzund Weiß einriß. Kurz nachdem die Berliner gefallenwar, öffnete der Führer des Afrikaaner-Establishments1

den Verhandlungsweg zur Überwindung der Rassen-trennung. Beide Ereignisse standen in engem Zusam-menhang, da de Klerk in der Schwächung der Macht-verhältnisse im Ostblock eine Minderung der »kom-munistischen Gefahr« (mit dem ANC an der Spitze) für

1 Zahlreiche deutschsprachige Autoren schreiben »Afri-kaaner« mit zwei a, um die gesellschaftlich bedeutende, ausden frühen »Buren« hervorgegangene Gruppe von denübrigen »Afrikanern« des Kontinents zu unterscheiden. Dieser»weiße Stamm Afrikas« (Allister Sparks, The Mind of SouthAfrica. The Story of the Rise and Fall of Apartheid, London1990) entstand aus den holländischen und hugenottischen(später auch deutschen) Siedlern, die im 17. Jahrhundert alserste Weiße nach Südafrika kamen. Er war es auch, der ab1948 die Apartheid institutionalisierte. Heute macht er nochca. die Hälfte der 4,5 Mio. weißen Südafrikaner aus. Dieandere Hälfte stammt von britischen Siedlern ab, die seit demfrühen 19. Jahrhundert ins Land kamen. Neben diesen rund10% Weißen besteht Südafrikas Bevölkerung aus etwa 4 Mio.»Farbigen/Coloureds«, die von ehemaligen Sklaven (z.B. ausMalaysia) und Gruppen der Ureinwohner »Khoisan« abstam-men und mehrheitlich Mischlinge sind. Dazu gibt es ca.1 Mio. Inder � und selbstverständlich die große schwarzeBevölkerungsmehrheit, unter der die Zulu mit 10 Mio. diegrößte Gruppe bilden; vgl. Franz Ansprenger, Südafrika � Per-spektiven der Demokratie nach der Apartheid, in: Paul Keven-hörster/Dietrich Thränhardt (Hg.), Demokratische Ordnungennach den Erfahrungen von Totalitarismus und Diktatur,Münster/Hamburg/London 2003, S. 10. Daß allgemein undauch hier zur Beschreibung der südafrikanischen Gesell-schaft weiterhin auf Begriffe wie »weiß«, »schwarz«, »farbig«und gar »rassisch« zurückgegriffen werden muß, liegt einer-seits am Mangel an Alternativen, andererseits aber vor alleman der Tatsache, daß man sie in Südafrika wie selbstverständ-lich weiter verwendet � auch nach dem Ende der Apartheid.

Südafrika sah. Die daraus resultierende eigene Posi-tion relativer Stärke glaubte er nutzen zu können, umeine dauerhafte politische Machtteilung zwischenSchwarz und Weiß nach eigenen Vorgaben institutio-nalisieren zu können. Ein partieller Trugschluß, derjedoch dem Wohle des Landes die Bahn brechen sollte.

Ein friedliches und normal geartetes Zusammen-leben der antagonistischen Gruppen schien am Kaplange unmöglich, weil die Rassentrennung so uner-bittlich von den weißen Südafrikanern aufrechterhal-ten worden war. Der treffend als »low profile civil war«beschriebene Bürgerkrieg beherrschte das Land wiedie internationale Wahrnehmung Südafrikas auchüber das Wendejahr 1990 hinaus, weil neben der Aus-einandersetzung zwischen Schwarzen und Weißeneine noch blutigere innerhalb der schwarzen Parteien(ANC und Inkatha) tobte, die Tausende Tote forderte.

Erst ein Elitenkompromiß zwischen der altenpolitischen und wirtschaftlichen Führung und derkommenden schwarzen politischen Klasse um den imFebruar 1990 nach 27 Jahren Haft entlassenen NelsonMandela ermöglichte eine friedvolle Koexistenz. Ausder Sackgasse der Apartheid � die sich durch einenegative Stabilität auszeichnete, in der das weißeRegime alle Kräfte zur Selbsterhaltung mobilisierenmußte und sich die schwarze Opposition als nichtstark genug zu dessen Überwindung erwies � gingim Laufe von vier Verhandlungsjahren das südafri-kanische »Wunder« der allgemeinen Demokratisie-rung hervor. Es erhielt mit der Einigung auf die Über-gangsverfassung vom November 1993 sein Herzstück,noch bevor die weltweit beachteten demokratischenGründungswahlen im April 1994 den endgültigenBeginn einer neuen Ära markierten.

Seitdem ist die politische Gleichberechtigungaller Südafrikaner alltäglich geworden. Drei natio-nale Parlaments- und Regional- sowie zwei Lokal-wahlen fanden im neuen Südafrika statt und führtenzu klaren Ergebnissen: Die schwarze Bevölkerungs-mehrheit besitzt über ihre Repräsentanten ein großes,im politischen Bereich entscheidendes Gewicht, aberauch Weiße und Farbige sind gemessen an ihremBevölkerungsanteil überproportional vertreten.

Letzteres gilt für andere gesellschaftliche Teil-bereiche noch stärker als für die Politik. In der Wirt-

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Einleitung

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schaft etwa blieb die Vormachtstellung der alten(weißen) Eliten bislang weitgehend unangetastet. Des-halb ist es berechtigt, von einer »narrow transition« zusprechen, die nur die politische Machtlage veränderte.Neu ist freilich eine wachsende schwarze Ober- undMittelschicht, weshalb der Zustand der positiven Sta-bilität weitaus fundierter erscheint, als es noch voreinem Jahrzehnt vorstellbar war: Weder wurde diealte sozioökonomische Gesellschaftsordnung parallelzum konsequenten politischen Systemwechsel voll-ends beibehalten (was zu weiteren revolutionärenAktivitäten geführt hätte), noch kam es zu der vonvielen befürchteten und von anderen herbeigesehntenradikalen Transformation der Besitzverhältnisse. Fürletztere war der heute mit Zweidrittelmehrheit regie-rende Afrikanische Nationalkongreß (ANC) gemein-sam mit seinen Allianzpartnern aus Gewerkschaften(COSATU) und Kommunistischer Partei (SACP) nochbis in die frühen neunziger Jahre eingetreten. Letzt-lich begnügte man sich jedoch mit dieser Form der»narrow transition«.

Somit läßt sich, so paradox das klingen mag, einsteter Wandel in Stabilität ausmachen, denn diegesellschaftliche und wirtschaftliche Emanzipationder einst vollständig (politisch und wirtschaftlich)Unterprivilegierten hat tiefgreifend eingesetzt undhält an, ohne dabei alles Alte hinwegzufegen. Forciertwird dieser Prozeß von politischen Entscheidungs-trägern, die eine Gratwanderung zwischen den Mehr-heits- und Minderheitsinteressen der stark divergie-renden gesellschaftlichen Gruppen vollziehenmüssen. Dies gelang aus der Sicht vieler Beobachterinsgesamt gut � aus der Perspektive derer hingegen,die materiell bisher gar nicht oder kaum von derTransformation profitierten (und das ist quantitativimmer noch die stärkste Bevölkerungsgruppe), nur inunzureichender Weise. Man muß Südafrika deshalbals eine � im Vergleich zu europäischen und nordame-rikanischen Verhältnissen � »umgekehrte Zweidrittel-Gesellschaft« begreifen.

Hierin besteht die innergesellschaftliche Parallel-aufgabe des neuen Südafrika: Vielen der mittlerweilepolitisch Gleichberechtigten muß nun auch sozio-ökonomisch mehr gegeben werden, ohne den Wirt-schafts- und Funktionseliten zu viel von ihrem Wohl-stand und Einfluß zu nehmen � Wandel in Stabilität,eine Gratwanderung zwischen entwicklungspoliti-scher Dynamik und besitz- und strukturwahrenderStatik. Wieviel Wandel verträgt Südafrika, ohne daßseine Funktionalität gefährdet wird? Diese Funktio-nalität ist für das Land lebenswichtig und könnte

auch für die Region des Südlichen Afrika und denganzen Kontinent entscheidend werden. Die übereilteAbkehr vom erfolgreichen Modell der »narrow tran-sition« hieße »Afrikanisierung« im hier negativ ver-standenen Sinne, nämlich Aufgabe der politischen,partiellen kulturellen und weitreichenden wirtschaft-lichen Kompatibilität Südafrikas mit dem Westen.2

Auf dieser aber basiert nicht zuletzt die für afri-kanische Verhältnisse große Prosperität und Stabili-tät am Kap, bisher und auch zukünftig.

2 In dieser Studie kann die grundsätzliche entwicklungs-politische und beinahe polit-philosophische Frage leidernicht diskutiert werden, ob »afrikanische Lösungen« und eineAbkehr von der Globalisierungs- und Wachstumsideologiesinnvoller wären als die Anlehnung an den Westen. Für Süd-afrika scheint letzteres zumindest gegenwärtig ohne Alter-native zu sein, und die zugrunde gelegten Prämissen und diegegebenen Empfehlungen beziehen sich ausdrücklich aufden im afrikanischen Vergleich sehr westlich geprägten Staatam Kap mit seiner »fortschrittlichen Gesellschaft«.

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Überragende Stellung des Staatspräsidenten

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Das politische System Südafrikas

Als Ausdruck der historisch gewachsenen gesellschaft-lichen Kräfte- und Interessenverhältnisse brachte dieÜbergangsverfassung von 1993 einen Kompromißzwischen Mehrheitsherrschaft und Minderheiten-beteiligung hervor, der sich anfangs besonders pro-minent in der Übergangsinstitution einer Regierungder Nationalen Einheit niederschlug. An ihr warenalle relevanten Gruppen beteiligt, die Grundlagebildete ein konkordanzähnliches Proporzsystem, dassich an den Wahlergebnissen von 1994 orientierte.1996, drei Jahre früher als geplant, trat diese Sonder-regelung allerdings auf Betreiben des früheren Staats-chefs und neuen Vize-Präsidenten De Klerk außerKraft. Seitdem hat der verhandelte große Kompromißeine unauffälligere Form angenommen, nämlich dieeiner normalisierten marktwirtschaftlichen und föde-ralen Ordnung innerhalb eines Zweikammernsystems,das auf regionale Besonderheiten Rücksicht nehmensoll. Auf der Grundlage einer modernen liberalenVerfassung sind neben den allgemeinen Menschen-rechten kulturelle Gruppenrechte (wie Sprache undErziehung) sowie vor allem Rechtsstaatlichkeit undParteienpluralismus garantiert. Ein bislang sehrbedeutendes Verfassungsgericht überwacht die Ein-haltung der Verfassungsprinzipien und konnte schonmanch brisante realpolitische Entscheidung im Par-teienstreit präjudizieren oder gar verbindlich treffen.Die Autorität der Verfassung und die Unabhängigkeitder Justiz (rule of law) werden bislang in vorbildlicherWeise anerkannt und gewahrt.

Somit etablierte sich ein stabiler, allseits respektier-ter institutioneller Überbau, der jedoch in der Verfas-sungswirklichkeit Mängel aufweist. Diese Schwach-stellen ergeben sich allerdings nicht so sehr aus einemprinzipiellen Defizit der Staatskonstruktion, sonderneher aus den gesellschaftlichen Realitäten: Denn imneuen Südafrika wird weiterhin nach ehemals staat-lich vorgegebenen (»rassischen«) Identifikations-kriterien gedacht und gewählt, weshalb das Reprä-sentationssystem nicht »politisch neutral« und wert-orientiert funktioniert, sondern stark herkunfts-orientiert. In diesem Falle hat die Stabilität zu einerVerkrustung geführt. Die ANC-Allianz beherrscht dankder Unterstützung durch die schwarze Bevölkerungdie Parteienlandschaft mit einer stabilen Zweidrittel-

mehrheit. Für die weitgehend weiße Opposition bleibtnur ein Anteil von maximal 20%, da die schwarzeInkatha Freedom Party (IFP) trotz des Endes der Regie-rung der Nationalen Einheit in einer Koalition mitdem ANC verblieben ist � zumindest bis zu den Wah-len 2004.

Weder auf dem rechten noch auf dem linken Seg-ment des Parteienspektrums (siehe unten, S. 19) gibtes eine nennenswerte politische Kraft. Südafrika ver-fügt über einen eindeutig modernisierenden, säku-laren Parteienblock im Zentrum, der das Land aufder Grundlage gemeinsamer demokratischer Wertein die neue Ära führt. Hier ist der fortgesetzte Eliten-kompromiß lebendig.

Überragende Stellung des Staatspräsidenten

Während all dies auch zur politischen Stabilität bei-getragen hat und im Falle des historisch belastetenANC�Inkatha-Verhältnisses ursprünglich kaum erhofftwerden durfte, ergibt sich gleichzeitig ein erheblichesProblem für das politische System � nämlich unterdem Aspekt der Gewaltenteilung. Diese ist zwar auchin anderen Systemen tendenziell immer mehr einIdealbild, das in der Realität durch einen Bedeutungs-zuwachs der Exekutive gegenüber der Legislativegeschwächt wird, doch verstärkt sich dieses Ungleich-gewicht in Südafrika eben wegen der beschriebenenverkrusteten Mehrheitsverhältnisse. Auf abseh-bare Zeit scheint der ANC durch seinen Bonus alsBefreiungsbewegung unangefochten, was durchausals typisch für Afrika gelten darf.

In dieser Konstellation erhält insbesondere derStaatspräsident eine ungeheuer große und auf Dauerkaum gefährdete Machtfülle, die ohnehin durch dieZusammenlegung der beiden Ämter des Staats- undRegierungschefs vorgegeben ist. In dieser Hinsichtbesteht partiell also doch ein systemisches Defizit,das durch die Wahlergebnisse noch verstärkt wird.Was sich zu Zeiten eines Nelson Mandela ob dessenpersönlicher Integrität als Vorteil präsidialer Ent-scheidungsfreiheit erwiesen haben mag, kannsich im Nach-Mandela-Südafrika durchaus insNegative kehren.

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Das politische System Südafrikas

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Der Staatspräsident geht aus jener Partei hervor,die bei den nationalen Parlamentswahlen die meistenStimmen gewinnt, denn das Parlament wählt denPräsidenten. Insofern hat Südafrika formal ein par-lamentarisches System. Andererseits legt die Kom-petenzfülle und die faktische Unangefochtenheit desPräsidenten, der ebenfalls ANC-Chef und in dieser(wegen ihrer Exilhistorie) hierarchischen Partei nahe-zu allein maßgebend ist, den Schluß nahe, daß Süd-afrika de facto einen Superpräsidialismus ausgeprägthat. Dieser wird zumindest so lange Bestand haben,wie der legendäre Mythos des ANC unter den schwar-zen Massen ungebrochen und der gesunde demo-kratische Feedback-Mechanismus von Konkurrenz-wahlen noch nicht umfassend ausgebildet ist.

Die Ergebnisse wichtiger Parteien bei den natio-nalen Wahlen in Prozent:

Partei 1994 1999 2004

ANC 62,65 66,36 69,68

DP/DA 1,73 9,55 12,37

IFP 10,54 8,59 6,97

NP/NNP 20,39 6,87 1,65

UDM � 3,42 2,28

FF 2,17 0,80 0,89

PAC 1,25 0,71 0,73

ID � � 1,73

Das Prinzip der wechselnden Herrschaftsbestellungper Wählervotum kommt bislang nicht zur Geltung,weshalb man vorsichtig auch von einer defekten oderzumindest partiell defizitären Demokratie sprechenkönnte. Fakt bleibt allerdings, daß diese Zustände ausfreien und ergebnisoffenen Wahlen hervorgehen undsomit schwerlich zu beanstanden sind.

Die Gefahr einer »typisch afrikanischen« Präsidial-hegemonie, die Südafrika mittelfristig drohen könnte,wird vielfach von internationalen und südafrikani-schen Analysten nicht in dieser Form herausgestellt.Das gilt trotz des Fehlens jener sonst auf dem Konti-nent zumeist üblichen Direktwahl des Staatschefs.Sehr viel wird deshalb von der Persönlichkeit unddem Führungsstil des Präsidenten abhängen: Zentra-lisiert er die Macht weiterhin, wie dies Thabo Mbekitendenziell tut, oder gibt es irgendwann eine Gegen-bewegung hin zu diversifizierteren demokratischen,ja vielleicht gar subsidiären Elementen?

Demokratischer Zentralismusversus Machtressourcenstreuung

Eine solche Gegenbewegung scheint dauerhaft wün-schenswert, da ein ausgeprägter demokratischer Zen-tralismus � so die Bezeichnung des angesehenen Poli-tologen Tom Lodge von der University of Witwaters-rand (Johannesburg) in seiner ANC-Analyse aus demJahr 2003 � in einer solch heterogenen Gesellschaftnur vorübergehend sinnvoll sein kann. Auch wennaktuell der ANC als Garant für Ordnung, Stabilität,Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit ohne Alter-native ist, sollte man sich mittel- und langfristiggerade wegen der mosaikhaften Bevölkerungsstrukturum eine möglichst breite Machtressourcenstreuungbemühen. Diese wäre das Gegenteil des »revolutio-nären« Anspruchs des ANC, in alle Sphären der Gesell-schaft hineinzuregieren. Denn dies versucht er durch-aus, wie etwa die Politikansätze der »affirmativeaction«, des »black economic empowerment« undder Besetzung vieler, im engen Sinne auch nicht-politischer Schlüsselpositionen mit ANClern zeigt.3

In Südafrika besteht eine gewisse Tradition der Ein-parteiendominanz; insofern schließt der ANC an dieÄra der Nationalen Partei (NP) an. Zwar existiertenauch unter der über ein halbes Jahrhundert währen-den institutionalisierten Apartheid eine parlamen-tarische Opposition sowie andere Artikulationskanäle(unabhängige Medien, Zivilgesellschaft). De facto aberhatte die Regierung eben auch eine durch Wahlenimmer wieder bestätigte strukturelle Mehrheit. Diesewurde genutzt, um dem gesellschaftlichen Aufstiegder eigenen Klientel alle Türen zu öffnen � auf Kostender übrigen Gruppen.

Im heutigen Regierungshandeln ist zweifellos unab-dingbar, daß dem ehemals gänzlich unterprivilegier-ten Bevölkerungsteil günstigere Zugangsmöglich-keiten zu Jobs und Positionen eröffnet werden alsdem vormals exklusiv darüber verfügenden. Zu starkschlug sich die Apartheid in ungerechten Status-verhältnissen nieder. Doch widersprechen »affirmativeaction« und »black empowerment« bei aller morali-schen Berechtigung nicht nur dem eigenen Anspruch

3 Mbeki macht aus diesem revolutionären Anspruch nieeinen Hehl, wie etwa sein Letter from the President von EndeFebruar 2004 (Vol. 4, No. 7) erneut verdeutlicht, in demdas gleiche Vokabular gebraucht wird wie vor der demokra-tischen Wende: Die »revolutionary transformation of oursociety« sei weiterhin das Ziel des ANC, die Bewegung stündevor der Aufgabe eines dialektischen Prozesses aus »revolutionand reform«.

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»Miracle of the ordinary«

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des ANC, eine »non-racial society« anzustreben, son-dern vielfach auch dem allgemeinen Postulat, unterAusnutzung des vorhandenen politischen und wirt-schaftlichen Potentials den Auf- und Ausbau effektiverStrukturen in Administrationen und Wirtschaft voran-zutreiben. Ein unbestreitbares Erbe der Apartheid istes nämlich leider auch, daß Weiße wegen der frühergesetzlich verbrieften Bildungs- und Ausbildungs-vorteile sowie der weitreichenden Jobreservierungüber ein Know-how verfügen, das sich der Rest derheute ca. 46 Mio. Südafrikaner4 erst nach und nachaneignen kann. Schon das grundlegende, wenn auchdamals wohl unausgesprochene Prinzip des gran-diosen Elitenkompromisses der frühen neunzigerJahre hatte laut Ex-Verfassungsrichter Johann Kriegler,der 1994 Wahlleiter war, aus Sicht des amtierendenRegimes gelautet: »Your legitimacy, my ability«.5 Dieneue politische Führung würde insofern nach derWahl zwar eine uneingeschränkte demokratischeLegitimität besitzen, nicht jedoch die Erfahrung, umin Bereichen wie Politik, Wirtschaft und Justiz zuführen bzw. für reibungslose Abläufe auf den ver-schiedenen Ebenen zu sorgen. Dieser Kompromißohne Alternative ist wegen der weiter bestehendengegenseitigen Abhängigkeit der Gruppen am Kapimmer noch notwendig, wenn auch in abgeschwäch-ter und weniger formalistischer Form.

»Miracle of the ordinary«

Daß der pragmatische Kompromiß der Kooperationweiterhin möglich bleibt, beweist das miracle of theordinary, das dem großen Wunder der verhandeltenRevolution folgte. Heutzutage ist die Kooperation vonMenschen verschiedener ethnischer Herkunft in Be-trieben und Verwaltungen alltäglich. Das ist an sichschon bemerkenswert, eine »Balkanisierung« imgroßen politischen wie kleinen gesellschaftlichenRahmen ist nicht eingetreten. Dies gilt auch für denreligiösen Bereich: In Südafrika gibt es kaum religiöseExtremisten und entsprechende politisch-gesellschaft-liche Auseinandersetzungen. Die dominierende Rollespielt das Christentum, das freilich in verschiedeneafrikanische und europäische (vorrangig protestanti-sche) Glaubensgemeinschaften zerfällt. Daneben gibt

4 Ein Zensus vom Oktober 2001 kam auf 44,8 Mio. Südafri-kaner und ein durchschnittliches Bevölkerungswachstumvon 800 000 pro Jahr seit 1996 (Quelle: Statistics SA � unter<www.statssa.gov.za/Census2001>).5 So gegenüber dem Autor im Januar 2003 in Johannesburg.

es viele Muslime und Hindu, vor allem in den Regio-nen Kapstadt und Durban. Diese Prägungen sind fürden politischen Betrieb � bislang jedenfalls � nichtvon Relevanz. Der ANC vereinigt praktisch alle Konfes-sionen unter seinem Dach. Auch dies ist ein Stabili-tätsfaktor.

Doch während im privaten Bereich nach wie voreine gewisse Trennung fortbesteht, ist es eine traurigeIronie, daß in der Nach-Mandela-Phase gerade auf poli-tischer Ebene oftmals ein Diskurs in alten (Rassen-)Kategorien geführt wird, die eigentlich schon über-wunden schienen. Nach einer 350jährigen Geschichtegetrübten »Zusammen«lebens ist dies jedoch wenigüberraschend und sollte sich nicht zwangsläufig allzunegativ auf die Leistungsfähigkeit der neuen Ordnungauswirken. Das geistige nation-building, Mandelasgroßes Projekt, blieb jedoch (nicht nur zu seinereigenen Enttäuschung) bislang unvollendet. Was dieweitere Etablierung des faktischen state-building an-geht, scheint ein anderes Faktum wichtiger zu sein:die alltägliche Kooperation, das Einüben der neuenVerhältnisse selbst durch die scheinbar »resisten-testen« Funktionäre. Daß etwa die ehemals ausschließ-lich von Weißen geführten konservativen staatlichenSicherheitsinstitutionen 1994 in den Elitenpakt ein-bezogen wurden bzw. das Militär durch dessen Spit-zenfunktionär General Constand Viljoen aktiv diesemPakt beitrat, wirkt bis heute fort und ist ein beruhi-gendes Zeugnis für den Elitenkompromiß der Süd-afrikaner. Dadurch blieb das staatliche Gewaltmono-pol bislang unangefochten, ein essentieller Faktor fürdie demokratische Konsolidierung. Dessen enormeBedeutung wird nicht zuletzt durch den vergleichen-den Blick auf die wechselvolle Demokratiegeschichteetwa in Südeuropa, Lateinamerika oder auch in derTürkei deutlich, wo Militärs nicht selten in die zivilenpolitischen Belange eingriffen. Auch andere poten-tielle, weil historisch anti-demokratisch sozialisierte»Veto-Akteure« verhalten sich in Südafrika gegenüberder neuen Ordnung großenteils loyal. Südafrika hatseinen Modus vivendi gefunden.

Administrative undstaatsbürgerliche Defizite

Allerdings funktionieren besonders die unteren undmittleren Polizei- und Justizebenen noch nichtreibungslos, was unter anderem zu einem erheblichenDefizit bei der Ahndung der enormen Kriminalitätführt. Das neue Südafrika hat die unrühmliche Kultur

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Das politische System Südafrikas

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der Gewalt aus der Apartheid-Ära noch nicht über-winden können. Inkompetenz und quantitative Über-forderung der Behörden werden unheilvoll ergänztvon undemokratischen und anti-staatsbürgerlichenVerhaltensweisen. Auf der institutionellen Seite wardies im Zuge der nötigen Transformation im Nach-Apartheid-Staat schwerlich anders zu erwarten, aufder moralischen Ebene sowie im Hinblick auf dieinnere Sicherheit muß man diesen Mißstand jedochals die bislang größte Enttäuschung am Kap bezeich-nen. Die Kriminalitätsbekämpfung leidet einerseitseklatant unter dem verstärkten Wohlstandsgefälle,was für »middle income countries« allerdings nichtungewöhnlich ist, da die Schere zwischen allgemeinsichtbarem und auf legalem Wege erreichbarempersönlichem Wohlstand oft weit auseinandergeht.Andererseits erwiesen sich altgediente Beamte undvermeintliche Funktionseliten als teilweise untauglichfür die neue Ordnung. An ihnen mußte jedoch fest-gehalten werden, solange Ersatz noch nicht in aus-reichender Qualität und Menge ausgebildet werdenkonnte. Letzteres gilt ebenso für eine durchgreifendeStaatsbürgerkultur, die ebenfalls der Alltagskrimi-nalität und -verrohung entgegenwirken sollte.

Während viele Bereiche halbstaatlicher Administra-tion mitunter hervorragend funktionieren, wie etwadas Banken- und Finanzwesen, die Telekommunika-tion oder Stromversorgung, machen sich administra-tive Schwächen vor allem auf der Ebene der neun Pro-vinzen bemerkbar. Diese litten und leiden partielldarunter, daß sie die ehemaligen Homeland-Struk-turen der Apartheid-Ära integrieren mußten. Nichtzuletzt deshalb finden sich auf der regionalen Ebeneviel zu große Verwaltungsapparate (800 000 von 1,2Mio. Beamten sind in den Provinzen tätig), die wegenihres unzureichend ausgebildeten Personals auchnoch ineffizient arbeiten. Das Eastern Cape, in der dieEx-Homelands Ciskei und Transkei aufgingen, mußhier als eine besonders unrühmliche Paradeprovinzgenannt werden. Dort sind regelmäßig zahllose ver-waltungstechnische Unzulänglichkeiten zu verzeich-nen. Sie reichen von der Unfähigkeit, angewieseneGelder aus der nationalen Zentrale für entsprechendeentwicklungsfördernde Projekte und Einzelhaushalteauszugeben, bis hin zu jahrelangen Auszahlungen vonstaatlichen Renten an Scheinberechtigte, die lediglichin den Behördenkarteien existieren. Korruption ist inSüdafrika leider keine Seltenheit.

Darüber hinaus ist immer noch ein Sogeffekt zubeobachten, der sich mit dem politischen Umbrucheingestellt hat: Die besten Kräfte zieht es von der Pro-

vinz- und Lokalebene ins Zentrum der Macht. Sie sindfrüher oder später entweder im nationalen Parlamentoder im Regierungsapparat anzutreffen und stehenden nachgeordneten Strukturen nicht mehr direkt zurVerfügung. Diese Entwicklung verschlechtert dannzwangsläufig die an sich schon negative Leistungs-bilanz vieler Provinzen, deren politische Entkräftungdurch die nationale Zentrale allerdings mit ebendiesem Argument auch wieder gerechtfertigt werdenkann. So entsteht ein wechselseitiger Prozeß, dernicht der sozioökonomischen Entwicklung dient, dadiese insbesondere auf regionaler und lokaler Ebeneansetzen muß. Hier könnten NGOs mehr noch alsbisher alternativ herangezogen werden und die (oft-mals überforderten) formellen politischen Institu-tionen entlasten.

Fazit: Trotz der Stärke des ANC als Partei mußman in Südafrika von einem partiell schwachen Staatsprechen, dem die Implementierung seiner Politik oft-mals nicht gelingt.

Bedeutungsverlust der Provinzen undzentrale Macht des ANC

Prominenter Ausdruck der zentralistisch motiviertenBereitschaft des ANC, die regionalen Zuständigkeitenmitunter massiv zu beeinflussen, ist die Abberufungbzw. Neubestellung von Ministerpräsidenten einzel-ner Provinzen durch den Staatspräsidenten. ThaboMbeki enthob beispielsweise mit Patrick »Terror«Lekota (Orange Freestate) und Tokio Sexwale (Gauteng)zwei gewählte Regierungschefs ihres Amtes und ver-setzte sie auf andere Posten � wenn auch mit demmöglicherweise berechtigten Argument, politischeRivalenkämpfe entschärfen zu müssen. In einigenProvinzen gab es hitzige (zum Teil ethnisch moti-vierte) Fraktionskämpfe innerhalb des ANC, die sichauf die Entwicklung der jeweiligen Regionen negativauswirkten. Die politischen Auseinandersetzungenerscheinen dabei oftmals als Ziel an sich.

Insgesamt ist der südafrikanische Föderalismuseher schwach ausgeprägt, zumindest schwächer, alser in den Verfassungsverhandlungen ursprünglichavisiert worden war. Damals hatte man gerade dieEigenständigkeit der Provinzen innerhalb der föde-ralen Ordnung als eine Art Garantie für den Einflußder starken Minderheiteninteressen (Afrikaaner undFarbige im Westkap, Zulu in KwaZulu-Natal) betrach-tet. Innenminister Mangosuthu Buthelezi (IFP) sprachdeshalb nicht zu Unrecht davon, daß Südafrika mit

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Fest verankerter Pluralismus, Parlamentarismus und Medienstatus

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seiner Form des Föderalismus »the worst of bothworlds« etabliert habe: Den hohen Kosten für zusätz-liche Institutionen stünde unter den gegebenenUmständen nur ein geringer Nutzen entgegen.6

Mittlerweile sind die föderalen Eigenheiten durcheine vieldiskutierte Verfassungsergänzung weiternivelliert worden. Durch ein vom Verfassungsgerichtgenehmigtes Gesetz durften Abgeordnete in derletzten Legislaturperiode nicht nur auf regionalerEbene, sondern in allen Parlamenten in einem fest-gelegten Zeitraum (14 Tage im März/April 2003) dieFraktion wechseln, ohne ihren Parlamentssitz zuverlieren. Infolgedessen verfügte der ANC � ohneneuerliche Wahlen � nicht nur in der nationalenLegislative erstmals über eine eigenständige Zwei-drittelmehrheit, die er zuvor mit 62,65% (1994) und66,36% (1999) knapp verfehlt hatte, sondern auch inden beiden bis dato von anderen Parteien mehrheit-lich geführten Provinzen Western Cape und KwaZulu-Natal. Die übrigen sieben Provinzen dominiert derANC ohnehin mit 70-, 80- und 90%igen Mehrheiten.

Es darf weiterhin darüber gestritten werden, obdiese sogenannte floor crossing-Regelung, die fortanjeweils im zweiten und vierten Jahr der fünfjährigenLegislaturperioden greifen soll, mit dem strikten Ver-hältniswahlrecht des neuen Südafrika kompatibel ist.Auf dieses Wahlrecht hatte man sich vor 1994 ge-einigt, als man zur Unterstützung kleinerer Parteienvom alten Mehrheitswahlrecht abgerückt war. Dieendgültige Verfassung von 1996 verbot einerseits denFraktionswechsel unter Androhung des Mandats-verlusts, ließ aber andererseits durch einen Zusatz-artikel Raum für gesetzliche Ergänzungen, der nungenutzt wurde. Aktuell wird über eine neuerlicheÄnderung des strikten Verhältniswahlrechts disku-tiert, auch um die Verantwortlichkeit der Abgeord-neten wieder stärker an Wahlkreise und Wähler zubinden als ausschließlich an Parteien. Für eine Demo-kratie ist es jedenfalls ein fragwürdiges Verfahren,wenn Abgeordnete, die ausschließlich über Partei-listen gewählt wurden, durch ihren Parteiwechseldie Mehrheitsverhältnisse so gravierend verändernkönnen.

6 19.7.1997 in Ulundi auf einer IFP-Konferenz;vgl. <www.ifp.org.za/speeches>.

Fest verankerter Pluralismus,Parlamentarismus und Medienstatus

Da das Parteiensystem Defizite aufweist, ist für dieBürger die Verankerung anderer Repräsentations-formen und Einflußmöglichkeiten von großerBedeutung. Im Gegensatz zu den meisten anderenOrdnungen in Afrika zeichnet sich das politischeSystem Südafrikas durch eine Offenheit für Einflüsseaus, die außerhalb des politischen Zentrums entste-hen und der Einparteienhegemonie entgegenwirkensollten. Südafrika hat eine vitale Zivilgesellschaft, einestarke, diversifizierte Wirtschaft und freie Medien.Diese informellen � weil nicht staatlichen oder ge-wählten � Institutionen der Demokratie besitzen tat-sächlich auch Einfluß auf das Handeln der Regierung.

Davon zeugte beispielsweise 2002 die Änderung derHIV/Aids-Politik der Regierung, die auf öffentlichenDruck, die Mitwirkung von NGOs (einschließlich desEx-Präsidenten Mandela) und die abschließende Ent-scheidung des Verfassungsgerichts hin zustande kam.Auch weniger herausragende Beispiele ließen sichnennen, bei denen eine Einwirkung auf politische Ent-scheidungen bzw. Gesetzeswerke durch außerparla-mentarische Kräfte nachgewiesen werden kann. Sofinden etwa in der Wirtschaftspolitik inländische undausländische Interessen Berücksichtigung.

Ein Bindeglied zwischen Gesellschaft und politi-schem Zentrum bilden die parlamentarischen Aus-schüsse, die jedem Bürger und jeder Organisationoffenstehen, in denen sich also extraparlamentarischeInteressenvertreter einbringen können. Hier zähltkommunikative Macht, das bessere Argument siegtdabei nicht selten über Gruppeninteressen oder ur-sprüngliche Vorstellungen von Parteien. Zudemverfügt Südafrika mit dem National Economic Devel-opment and Labour Council (NEDLAC) über ein institu-tionalisiertes Verhandlungsgremium, in dem Regie-rung, Wirtschaft, Gewerkschaften und Zivilgesell-schaft vertreten sind. Der Council übertrifft etwa dasdeutsche Bündnis für Arbeit an Bedeutung, Intensitätund Offenheit. Während in reifen Demokratien mitRecht behauptet werden kann, daß solche konsens-orientierten Gremien der VerhandlungsdemokratieEntscheidungen oftmals eher verschleppen als ihreQualität steigern, trägt der NEDLAC im neuen, nochnicht konsolidierten Südafrika zur diversifiziertenInteressenartikulation und zum gesellschaftlichenAusgleich bei. Dies gilt trotz der faktischen Bevor-mundung demokratischer Strukturen, die streng

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genommen einzig und allein dem Parlament vor-behalten sein sollten.

Dem Parlament darf man unabhängig von dieserformalen Schwächung jedenfalls ein gelungenes erstesJahrzehnt attestieren. Immerhin mußte die neueLegislative, die unter hoher personeller Fluktuation zuleiden hatte,7 die Nach-Apartheid-Ordnung erst schaf-fen und bis 1996 zusätzlich als verfassungsgebendeVersammlung tätig sein. Auch hier galt es ein Erbe derApartheid zu überwinden, das in der Marginalisierungdes Parlaments durch PW Botha bestand, den letztenklassischen Staatschef der alten Ordnung. Wenn man(wie die meisten der 1994 Gewählten) nicht über par-lamentarische Erfahrung verfügt, ist es besondersschwer, sich Freiräume gegenüber der Exekutive zuverschaffen. Eine Stärkung des Parlaments gegenüberder Regierung ist daher weiterhin dringend wün-schenswert.

Nicht zuletzt die Medien spielen eine gewichtigeRolle bei der Überwachung des Regierungshandelns.Sie sind grundsätzlich frei und scheuen sich nicht,Bestechungsskandale und andere Formen von Miß-wirtschaft aufzudecken und das politische Geschäftkritisch kommentierend zu begleiten. Dies war ihnenbereits unter der Apartheid in begrenztem Maße mög-lich, weshalb man hier auf eine teildemokratischeTradition zurückgreifen kann, die der Einparteien-dominanz entgegenwirken dürfte. Auch diese Basismuß erhalten und möglichst ausgebaut werden. Süd-afrikas Demokratie braucht starke Medien zur Siche-rung politischer Transparenz und zur Beschneidungder Einparteien- und Präsidentenhegemonie � undkönnte auch in diesem Punkt Vorbildfunktion inAfrika haben, im Sinne des westlichen Demokratie-verständnisses.

Freie Marktwirtschaft, finanzpolitischeDisziplin und Korporatismus

Zur Aufrechterhaltung der demokratischen Stabilitätdürfte die Einbettung Südafrikas in die internationaleGemeinschaft entscheidend beitragen. Wie der Zusam-menbruch des Ostblocks einst das Ende der Apartheidermöglichte, so verhindert die globalisierte, vomWesten wirtschaftlich und ideologisch dominierteWelt heute den Rückfall in allzu undemokratische Zu-stände. Südafrika ist als Wirtschaftspartner für die

7 Vgl. Richard Calland (Hg.), The First 5 Years. A Review ofSouth Africa�s Democratic Parliament, IDASA, Kapstadt 1999.

westliche Welt � gerade als Rohstofflieferant, Absatz-markt und Produktionsstandort (z.B. Autoindustrie) �zu wichtig, als daß man einen neuerlichen, jetzt wirt-schaftspolitischen Systemwechsel hinnehmen könnte.Die strategischen Interessen und faktischen inter-nationalen Einflüsse sind hierfür zu stark.

Im Gegensatz zur früheren ANC-Propaganda (dievon Teilen der ANC-Allianz mit COSATU und SACPgleichwohl immer noch verbreitet wird) hat das neueSüdafrika eine freie Marktwirtschaft etabliert, die weitüber den einstigen protektionistischen Staatskapitalis-mus hinausgeht. Der Staat versteht sich zwar alsstarker, aber nicht als alleiniger Akteur. Er sorgt sichum Disziplin in der öffentlichen Finanzpolitik, wassich nicht nur in einer für Schwellenländer sehrmoderaten Inflationsrate von bislang durchschnittlichca. 8% niederschlägt (avisiert sind 6 bis 3%, nach stetszweistelligen Quoten in der späten Apartheid-Ära),sondern auch in der recht niedrigen Staatsverschul-dung (im öffentlichen Sektor beispielsweise unter 50%des BIP gegenüber 64% 1994).8 Das Haushaltsdefizitliegt bei nur noch 1,5%, was verglichen mit den 9,5%bei Regierungsübernahme 1994 einen enormen Erfolgdarstellt. Damit erfüllt Südafrika die internationalenKriterien, die beispielsweise im Rahmen der politisch-wirtschaftlichen Konditionalität der Kreditgeber oderauch insgesamt an einen Investitionsstandort angelegtwerden. Investitionen werden jedoch immer nochgehemmt durch einige »weiche« Faktoren (z.B. Angstvon Anlegern und potentiellen Arbeitsimmigrantenvor Kriminalität) und durch einen hohen Leitzins vonca. 13% (real also 17%). Darüber hinaus leidet das Wirt-schaftswachstum von konstant ca. 2% seit 1994 nichtzuletzt unter einer niedrigen privaten Kapitalakkumu-lation und allgemeinen Sparquote, was zum Teilauf das traditionelle Versorgungsverhalten in afrikani-schen Großfamilien zurückzuführen ist.9

Insgesamt besteht im neuen Südafrika ein korpora-tistisches System, das durch eine starke Verzahnungformeller und informeller politischer Akteure charak-terisiert ist. Dies zeigt schon der Blick auf die ANC-Allianz, durch die etwa die Gewerkschaften mehr alsindirekt an der Regierung beteiligt sind. Bei der jüng-sten ANC-Konferenz in Stellenbosch im November2002 wurden zahlreiche Parteimitglieder ins natio-

8 Vgl. Batho Pele, 23.2.2004; Financial Mail, 24.1.2003, bzw.Finanz und Wirtschaft, 10.7.2002, wonach Südafrika 2001beim Wirtschaftswachstum unter den Top 7 der Welt ran-gierte.9 Letztere wirken allerdings ihrerseits unzweifelhaft stabili-sierend auf das Sozialsystem.

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Freie Marktwirtschaft, finanzpolitische Disziplin und Korporatismus

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nale Exekutivkomitee (NEC) gewählt, die auch Gewerk-schaftsinteressen vertreten oder aber zum Arbeitgeber-lager zählen. Nicht wenige exponierte ANC- und Regie-rungsvertreter besitzen system-charakteristischeDoppel- und Dreifachmitgliedschaften in den verschie-denen Organisationen, wie etwa der (weiße) Industrie-und Handelsminister Alec Erwin, der als Mitglied derkommunistischen Partei auch für den neo-liberalenWirtschaftskurs verantwortlich zeichnet. Wie durch-dringend und stabil dieses Konstrukt ist, bewieseneinmal mehr die Parteitagswahlergebnisse: Ein Wirt-schaftskapitän wie Cyril Ramaphosa, der einst alsGewerkschaftsführer den großen Elitenkompromißder friedlichen Transition für den ANC aushandelteund heute das Inbild privatwirtschaftlichen Aufstiegsim Sinne des »black economic empowerment« ver-körpert, erhielt ebenso viele Stimmen wie MathewPhosa oder Tokio Sexwale. Beide hatten sich ebenfallsformal aus der Regierungspolitik zurückgezogen undPosten auf höchster Wirtschaftsebene übernommen.Überflügelt wurden sie nur von einem Mann, dernicht nur Farbiger ist, sondern die Wünsche derLinken im ANC-Lager nach einem »deficit spending«immer wieder zurückweisen muß: FinanzministerTrevor Manuel. Er erhielt zum zweiten Mal nach 1997,als das neo-liberale Wirtschaftsprogramm GEAR dasstärker auf Umverteilung abgestimmte Wiederaufbau-und Entwicklungsprogramm (RDP) bereits faktischabgelöst hatte, bei der Wahl der NEC-Vertreter diemeisten Stimmen.10

10 Vgl. Tom Lodge, The ANC and the Development of PartyPolitics in Modern South Africa, Johannesburg 2003, S. 21.

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Hauptakteure, zentrale Interessen und Kontinuitäten im neuen Südafrika

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Hauptakteure, zentrale Interessen und Kontinuitätenim neuen Südafrika

Die Viten der eben genannten Akteure dokumentierenden Übergang einer einstigen Befreiungsbewegung zueiner fast normalisierten Partei. Daß dieser Übergangfreilich noch nicht beendet ist, läßt sich auch an demMann aufzeigen, der noch eine Stufe über ihnen steht:Präsident Thabo Mbeki.

Zentralist Thabo Mbeki

Der 61jährige war bereits unter Nelson Mandela Vize-Präsident Südafrikas und hatte de facto schon ab 1997neben dem ANC-Vorsitz den Posten des Regierungs-chefs inne, von dem sich Mandela freiwillig nach undnach zurückzog. Mbeki nutzte diese Stellungen dazu,weitere Kompetenzen an sich zu ziehen. Der seit 1999amtierende Präsident verfügt heute über mehr Macht,als die große Ikone Mandela je hatte. Mbeki ist dabeinicht selten als Parteichef aufgetreten, der es vorzog,ihm gewogene Genossen um sich zu scharen. Nach-dem sich Mbeki bei Mandela in der Gunst um dessenNachfolge durchgesetzt hatte, verließ mit dem unter-legenen Ramaphosa ein echter Gigant die operativeFunktionärsspitze des ANC. Politische Verdrängung istauch sonst Mbekis Strategie gegenüber potentiellenRivalen. Loyalität ist für ihn offensichtlich besonderswichtig, was nicht zuletzt seiner langen Zeit im Exilgeschuldet sein dürfte. Dort etablierte sich zwangs-läufig eine gewisse Kultur des Mißtrauens gegenübermöglichen Intriganten. Zu parteiinterner Trans-parenz und zur Freisetzung politischer Potentialeträgt diese Strategie allerdings nicht bei � worin einselbstverschuldetes, gewachsenes Defizit des ANCmbekischer Prägung besteht.

Mbeki wuchs zuerst in London und dann in Sam-bias Hauptstadt Lusaka zur rechten Hand des seitBeginn der sechziger Jahre exilierten ANC-Chefs OliverTambo heran. Meriten erwarb er sich als (unter sowje-tischem Einfluß ausgebildeter) Freiheitskämpfer, alsÖkonom (Studium im britischen Sussex) und als füh-render Diplomat der Organisation. Er spielte eineHauptrolle bei den geheimen Kontakten zwischenAfrikaanern und ANC, die ab Mitte der achtziger Jahreden Weg für De Klerks »Refolution« � die in Wahrheiteine Mischung aus Reform von oben und Revolution

von unten war � ebnen sollten. Durch seine Diploma-tie erwarb sich Mbeki zusätzliches Vertrauen im Lagerdes politischen Gegners, der deshalb 1999 relativberuhigt der offiziellen Regierungsübernahme ent-gegensehen konnte.11

Dieser Übergang von Mandela zu Mbeki vollendeteeinen Generationswechsel in der Führung des Landes,der bis auf die IFP mit Buthelezi an der Spitze alle rele-vanten Parteien erfaßte. Mittlerweile ist neben Mbekimit Vize-Präsident Jacob Zuma ein weiterer Nachfolgerjener älteren Fraktion in die erste Reihe von Staat undPartei vorgestoßen, die noch von den ANC- und Lan-desgeschicken vor dem Soweto-Aufstand von 1976,dem Massaker von Sharpeville 1960 und den folgen-den Parteienverboten geprägt war. Viele von ihnenwaren oft lange in Haft gewesen (wie Mandela, Thabosverstorbener Vater Govan Mbeki oder auch die im Mai2003 verschiedene ANC-Ikone Walter Sisulu).

Mbeki setzt die Tradition der Xhosa in der ANC-Führung fort. Nicht wenige Analysten sehen in derethnischen Xhosa-Dominanz innerhalb der Organisa-tion den womöglich ausschlaggebenden Grund dafür,daß Mbeki Mandelas Nachfolger wurde und nichtRamaphosa, der der Ethnie der Venda zugehört.Mit Zuma installierte der Präsident allerdings einenVize aus dem Stamm der Zulu. Dies hatte sicherlichmindestens zwei taktische Gründe: Mbeki wolltezum einen dem beschriebenen Eindruck einer »Xhosa-Nostra« entgegenwirken und zum anderen denKontakt mit der Inkatha und einen möglichst direktenEinfluß auf die Provinz KwaZulu-Natal aufrecht-erhalten.

Thabo Mbeki steht für eine moderne wirtschafts-politische Ausrichtung von ANC und Regierung, die erim November 2002 in Stellenbosch nochmals bekräf-tigte, indem er abstritt, daß der ANC früher eine sozia-listische Ausrichtung gehabt habe. Dabei kalkulierteer wohl nicht nur das Erstaunen der parteipolitischen

11 So sagte im Juni 1999 Ex-Oppositionsführer Colin Eglin,einer der großen alten Demokraten Südafrikas, im Gesprächmit dem Autor, daß der neue Präsident »eine gute Wahl« sei,»denn es hätte viel schlimmer kommen können«. Mit diesemZusatz meinte er wohl radikalere personelle Alternativen,etwa die stets lärmende und in Skandale verwickelte WinnieMandela.

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Zwiespältige präsidiale Bilanz des Pragmatikers und Afrikanisten Mbeki

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Gegner ein, sondern auch den Protest des linkenSpektrums im eigenen Lager. Von einem Druck vonCOSATU und SACP auf die präsidiale Politik kannohnehin kaum noch die Rede sein, eher umgekehrt.So mußte sich etwa SACP-Vize Jeremy Cronin nach-träglich dafür entschuldigen, daß er 2002 in einemInterview vor einer »Zanufication« des ANC gewarntund damit auf mögliche Parallelen zu Zimbabwesdegenerierter Quasi-Staatspartei angespielt hatte.

Für alle Teile der ANC-Allianz dürfte gleichermaßengelten, daß sie sich vom gegenseitig gestützten Macht-erhalt mehr versprechen als von einer schon mehr-fach herbeigeredeten � und vom politischen Gegnerebenso wie von konsequenten Konkurrenzdemokratenersehnten � Spaltung der Allianz. Mbeki scheint einMeister der internen Administration zu sein, des divideet impera. Das macht ihn als Führer zwar nicht geradebeliebt, aber konkurrenzlos. Ein Nachfolger für dasso entscheidende Präsidentenamt ist derzeit nicht inSicht.

Zwiespältige präsidiale Bilanz desPragmatikers und Afrikanisten Mbeki

Während Mbeki seine Machtposition seit 1999 effektivausbaute, ließ er vielen Versöhnungshoffnungen imNach-Mandela-Südafrika nur wenig Raum. Er betontestets, wie sehr Südafrika noch ein Land »zweier Natio-nen« sei, einer armen schwarzen und einer reichenweißen. Damit ignorierte er aus populistischen Grün-den nicht nur den sozialen Aufstieg vieler Schwarzerin Politik und Wirtschaft, sondern untergrub auchnachhaltig das Mandela-Projekt des nation-building.Mbeki trug nicht dazu bei, den neuerlichen inner-gesellschaftlichen Riß zu überbrücken, der unteranderem als Folge der umstrittenen Tätigkeit derWahrheits- und Versöhnungskommission im letztenDrittel der neunziger Jahre entstanden war. In derVerfassungspräambel wird die »unity in diversity«gleichsam zur Staatsmaxime erhoben. Mbeki vernach-lässigt jedoch den ersten Aspekt, die Einheit aller Süd-afrikaner.

Mbeki ist ein moderner Afrikanist, der aus pragma-tischen Gründen die Kooperation mit den Weißenpflegt, ohne sie aus der Verantwortung für vergange-nes und noch bestehendes moralisches und sozioöko-nomisches Unrecht zu entlassen. Er wirkt nicht de-eskalierend auf den innergesellschaftlichen Streit derpolitischen Parteien ein, sondern schürt vielmehr dasSchwarz-Weiß-Klischee. Damit bestätigt er all jene, die

nach Mandelas Versöhnungskurs eine Betonung afri-kanischer Interessen und Politik erwartet hatten.

Was das eigene Lager wohl stärker überrascht,ist die bisherige Unfähigkeit, das Versprechen eines»better life for all« einzulösen. Mit diesem Sloganwar der ANC einst angetreten. Und Mandela hattewohl vorrangig wegen seiner dürftigen sozioöko-nomischen Transformationsbilanz frühzeitig dieRegierungsführung niedergelegt. Mbeki sollte alsMacher neuen Schwung in den Wirtschaftsprozeßbringen, weshalb man ihn auch »Mr. Delivery« taufte.

Südafrika muß seine Wirtschaftspolitik in einerSituation betreiben, die von einer schlechten inter-nationalen Konjunktur gekennzeichnet ist. Der all-gemeine Abschwung in den Industrienationen hatteeine geringere Bereitschaft zu Investitionen in Süd-afrika zur Folge,12 der erhoffte kleine Marshall-Planfürs Kap blieb ein Traum Mandelas und Mbekis. Diesist beiden aber nur partiell anzulasten, denn eineskann man den neuen südafrikanischen Regierungenwirklich nicht vorwerfen: sich nicht intensiv uminternationale Investoren bemüht zu haben. Vielenlinken Kritikern, die aus dem traditionellen ANC-Lagerder Gewerkschafter und Sozialisten stammen, geht dieteils sozialdemokratische, teils stark neo-liberalePolitik Mbekis in ihrer Investorenfixiertheit zu weit.Sie plädieren für eine stärker nachfrageorientiertePolitik, höhere Löhne, größere Binnenkaufkraft sowieeinen interventionistischeren Staat. Fakt ist, daß dieMbeki-Administration sich auf einen Kompromißzwischen beiden ökonomischen Glaubensrichtungeneingelassen hat und damit weniger Erfolg hatte, alserwartet und versprochen worden war. Das 1996/97weitgehend von oben und ohne Abstimmung mit derParteibasis etablierte GEAR-Programm stellte nachder Devise »Umverteilung durch Wachstum« kon-stante Wachstumsraten von 6% und viele neue Arbeits-plätze in Aussicht. Von beidem ist man heute weitentfernt. Umstritten bleibt, ob die linke Strategie des»Wachstums durch Umverteilung« erfolgreichergewesen wäre.

12 Laut einer südafrikanischen Studie erhielt das Landzwischen 1994 und 2000 Direktinvestitionen, die durch-schnittlich nur einem Prozent des BIP entsprachen, währendandere Schwellen- und Transformationsstaaten in dieserBeziehung wesentlich besser abschnitten: Argentinien, Brasi-lien und Mexiko mit jeweils 2,5 bis 3% des BIP, Malaysia mit 3bis 5% und Ungarn und die Tschechische Republik mit 4 bis5%; vgl. Sampie Terreblanche, A History of Inequality in SouthAfrica 1652�2002, Scottsville/Sandton 2002, S. 145f.

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Hauptakteure, zentrale Interessen und Kontinuitäten im neuen Südafrika

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Unzweifelhaften Verbesserungen der Lebensbedin-gungen von Millionen Menschen (wie der Grund-versorgung mit Wohnungen, mit Wasser- und Strom-anschlüssen, dem Zugang zu Schulen und medizini-schen Einrichtungen) steht eine (nur ungenau zuberechnende) Arbeitslosenquote von ca. 35%13 ent-gegen, die nicht gesunken, sondern gestiegen ist �trotz oder gerade wegen der Privatisierung einst staat-licher Unternehmen, festgelegter Mindestlöhne undstrikter Arbeitsgesetze, die sich an deutschen Gewerk-schaftsvorbildern orientieren und hier wie dort eherdenjenigen helfen, die Arbeit haben, als denen, diewelche suchen.

In all dem spiegelt sich die Suche des neuen Süd-afrika nach dem richtigen wirtschaftspolitischen Weg.Die Regierung will für ein Wirtschaftswachstumsorgen, das neue Aufstiegschancen eröffnet, ohnebereits etablierte Mitglieder des wohlhabenden Süd-afrika auszuschließen. Daß sich die Hoffnung auf ein»better life for all« letztendlich als Illusion erweisenwürde (im Sinne einer sozioökonomischen Verbesse-rung aller Lebensumstände der Menschen, nicht imSinne von neuen, allgemeinen demokratischen Frei-heitsrechten), hätte man wissen und vielleicht so auchsagen können. Da man es nicht tat, droht dem neuenSüdafrika früher oder später eine »crisis of expecta-tions«. Wohl die Hälfte der Gesellschaft verharrtimmer noch in absoluter Armut, und linke Ökonomenwie Professor Sampie Terreblanche von der UniversitätStellenbosch behaupten, daß die Armut seit 1994sogar größer geworden sei: Die neue Staats- und Wirt-schaftselite hätte sich vom neo-liberalen Zeitgeist kor-rumpieren lassen. Selbst die Gewerkschaften als Teilder »neuen Elite« würden sich nur für die Menschenstark machen, die bereits Arbeit hätten.14

Mbeki steht weiterhin vor der Herausforderung,die bisherigen positiven Errungenschaften zu betonen

13 Diese 35% sind ein Mittelwert aus verschiedenen Arbeits-losenstatistiken, die je nach Bemessungskriterien zwischen25 und 45% schwanken. Diese Ungenauigkeit kann in Süd-afrika nicht verwundern. Während selbst in verwaltungs-technisch hervorragend ausgestatteten Ländern der »ErstenWelt« wie Deutschland oder den USA die Quoten von poli-tisch bestimmten Bemessungskriterien abhängen, kommt insolchen der partiellen »Dritten Welt« (neben anderen statisti-schen Unwägbarkeiten) der riesige Faktor des informellenSektors hinzu. In ihm sind Millionen von Menschen beschäf-tigt, die formal betrachtet außerhalb des (regulären) Arbeits-marktes stehen, tatsächlich aber über ein regelmäßiges Ein-kommen verfügen.14 So im Gespräch mit dem Autor im Januar 2004 und inseinem Buch: A History of Inequality [wie Fn. 12], z.B. S. 46ff.

und das noch nicht Erreichte glaubhaft in Aussicht zustellen. Daß er dabei die Reihen der eigenen, oftmalsenttäuschten Klientel durch eine Art Vereinigungs-ideologie zu schließen bereit ist, die sich gegen einenvermeintlichen gemeinsamen, reaktionären weißenGegner richtet,15 scheint aus seiner Warte logisch.Problematisch ist diese Strategie nicht zuletzt deshalb,weil sich viele Weiße, die für das angestrebte Wachs-tum mit ihren Qualifikationen wichtig bleiben, mehrund mehr marginalisiert fühlen. Dafür sprechenunter anderem recht hohe Auswanderungsquoten,die wegen statistischer Mängel nur schwer zu quanti-fizieren sind, jedoch in die Hunderttausende gehendürften. Der zu beklagende auswanderungsbedingteBrain-Drain dürfte dem Land, seinem Entwicklungs-potential und damit langfristig auch seiner Stabilitätjedenfalls sehr teuer zu stehen kommen. Ob dieMotive für diese Emigration letztlich begründet sind,ist eine andere Frage. Der ANC hat immerhin längstnicht so umwälzende Veränderungen vorgenommen,wie 1994 im weißen Lager befürchtet wurde. Stattdessen bedient er mit seiner bisherigen Politik eherdie Interessen der Mittelschichten und der Wohl-habenden, als jene dies oftmals wahrhaben und hono-rieren wollen. Der ANC ist mit seiner Stabilitäts-garantie eigentlich das Beste, was den alten Elitenpassieren konnte. Vielleicht merken sie es nicht,zumindest aber will es im aufgeheizten politischenDiskurs kaum jemand aussprechen.

Stigma, Strategien und Dilemmaweißer Opposition

Für dieses tatsächliche Kommunikations- und mög-liche Politikdefizit, auf das europäische Freunde undPartner die Opposition ebenso diplomatisch hin-weisen sollten wie den ANC auf seine möglichen Fehl-

15 Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise die Debat-ten rund um die nationale Rassismuskonferenz am 30.8.2000in Johannesburg in den Medien vom August/September bzw.die Reden Mbekis insgesamt, die unter <www.anc.org> oder<www.polity.org.za> nachzulesen sind. Im Letter from the Presi-dent von Ende Februar 2004 (Vol. 4, No. 7) bezeichnete derANC die oppositionelle DA als »South Africa�s principal politi-cal representative of those who are determined to preservethe privileges they derived from the apartheid system. [...] TheDA increased its strength [...] by adopting [...] the policies ofthe NP when it was still the party of apartheid. Thus it gainedthe support of the bitter-enders who rejected the NNP as itthought to redefine itself as a party in favour of a non-racialdemocracy«.

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Stigma, Strategien und Dilemma weißer Opposition

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entwicklungen, steht vor allem ein Mann Pate: TonyLeon. Der Rechtsanwalt und Repräsentant einer neuenPolitikergeneration ist seit 1999 offizieller Opposi-tionsführer und kritisiert � so hat es den Anschein �aus Prinzip beinahe alles und jedes an der Regierung.Leon löste nach der Wahlenttäuschung der Demo-cratic Party (DP) von 1994 die alte Garde um ParteichefZach de Beer, Helen Suzman und Colin Eglin ab, diesich stets als liberale Opposition gegen die Apartheid-NP verstand und diesen Kurs auch gegenüber demdominanten ANC bzw. der Regierung der NationalenEinheit vertrat. Zu viel Staat sei nicht gut, lautet eingrundsätzliches DP-Credo. Vielmehr müsse man dieMarktkräfte befreien, um ein großes Wirtschafts-wachstum zu ermöglichen.

Damit stehen sich die politisch-ökonomischenKonzepte des modernen Südafrika relativ deutlichgegenüber: Liberale, marktorientierte und investoren-fixierte DP (heute DA) hier, staatsinterventionistischeund auf aktive Umverteilung abzielende Linke(COSATU und SACP) dort. Der ANC steht kurioserweisemit dem Flügel Mbekis, des Finanzministers Manuelsowie des Industrie- und Handelsministers Erwinzwischen bzw. mit einem Fuß in beiden Lagern. Derpolitische Diskurs in der Öffentlichkeit ist polarisiert:Mbeki contra Leon, Leon contra Mbeki heißt dieKonstellation. Sie zwingt die Regierung zwar ständigim besten Sinne effektiver Opposition zu Wachsam-keit und zur Rechtfertigung ihrer Politik (demo-kratische »accountability«), geht in der erlebtenSchärfe aber über eine politisch sinnvolle Auseinan-dersetzung hinaus und sorgt damit für eine gewisseneuerliche Spaltung der Nach-Mandela-Gesellschaft.

»Fight back« hieß der Slogan Leons, mit dem er denWahlkampf 1999 bestritt und der seiner Partei nachenttäuschenden 1,7% im Jahre 1994 knapp 10% derStimmen bescherte. Auf diese Weise konnte er daskonservative und gemäßigte weiße Lager einen, daszuvor neben der DP in die rechte Freiheitsfront (FF)von Ex-General Viljoen und vor allem die NP aufge-splittert war. Dies hat zur Folge, daß es rechts von derDP, die inzwischen mit der kleinen Federal Alliancedie Democratic Alliance (DA) bildet, keine nennens-werte politische Kraft mehr gibt.

Gleiches gilt übrigens für das linke Spektrum,wo die im Anti-Apartheid-Kampf einflußreichen PAC(Pan Africanist Congress) und AZAPO (AzanianPeople�s Organisation) hinter dem ANC nur nocheine zu vernachlässigende Rolle spielen. Somit darfein unangefochtenes politisches Zentrum konstatiertwerden, das radikalen Elementen ähnlich wenig

Raum bietet wie die aktuelle Parteienlandschaft inDeutschland. Das ist ein positiver politischer Standort-faktor Südafrikas.

Unter dem Aufstieg der DP litt ausgerechnet diePartei am meisten, die früher deren stets überlegenerKonkurrent gewesen war: die NP. Die Partei, die ehe-mals die Apartheid befürwortete, heißt seit dem Ab-tritt De Klerks aus der Parteiführung und deren Über-nahme durch Marthinus van Schalkwyk (der den letz-ten Apartheid-Präsidenten und damaligen südafri-kanischen Vize-Präsidenten 1996 beerbte) »Neue« NP(NNP). Dieser eher plumpe Namenswechsel reichtejedoch offensichtlich nicht, um den alten Ballast ab-zuwerfen. Das Stigma der Apartheid-Befürworterinwird die Partei in den Augen der meisten Südafrikanerso schnell nicht los.

Van Schalkwyk ist mittlerweile Premier im WesternCape, nachdem seine beiden Vorgänger in diesem Amt2002 über Skandale gestolpert waren. Der dritte West-kap-Premier innerhalb von sechs Monaten war ur-sprünglich im Hinblick auf die Kommunalwahlen2000 in die DA eingetreten, hatte diese dann aber imStreit mit Leon 2001 wieder verlassen. Statt dessensitzt die NNP seit 2002 in der Provinzregierung mitdem ANC in einem Boot, betreibt also eine Art Erneue-rung der einst von ihr gesprengten Regierung derNationalen Einheit. Daß die NNP-Gefolgschaft beidiesem Schlingerkurs noch mehr schrumpfen dürfte,hat der Urnengang 2004 gezeigt.

Der schnelle (N)NP-Niedergang ist trotz des Endesder Apartheid ein erstaunliches Phänomen, besonderswenn man bedenkt, über welche Strukturen und Res-sourcen der Apparat dieser Partei landesweit verfügte.Von 20,39% für die NP in der 1994er Wahl fiel die NNPbereits fünf Jahre später auf gerade noch ein Dritteldieses Wertes zurück, 2004 blieb nicht einmal einZehntel. Da sich auch die Farbigen � als bislang treueNach-Apartheid-Klientel � noch stärker dem ANC bzw.der DA zugewandt haben, dürfte die Partei bald jeg-liche Bedeutung verlieren. Somit steht am Ende derersten politischen Generationswechsel eines fest: Dieeinstigen Träger der alten Ordnung werden wohl,anders als zahlreiche Postkommunisten in Osteuropaoder ehemalige autoritäre Elemente in anderen Trans-formationsstaaten, nie mehr eine wirklich entschei-dende Rolle bei der Regierungsbildung spielen.

Die weiße Opposition befindet sich insgesamt ineinem Dilemma, da es zweifelhaft ist, ob die DA mitdem konfrontativen Stil ihres Parteiführers Leon tieferals bisher ins schwarze Wählerreservoir vordringenkann. Gegen die von der DA verfolgte Westminster-

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Konzeption einer strikten Opposition spricht jeden-falls, daß weiße Kritiker der schwarzen Regierungs-politik von den Kritisierten oftmals allzu schnellmit dem Rassismusvorwurf bedacht werden: Wei-ße hielten sich eben immer noch für besser undSchwarze per se für unfähig.

Dieser Vorwurf spielt in vielen Reden Mbekis einezentrale Rolle. Und nicht selten diente die auch imWahlkampf 200416 wieder zur Geltung gekommeneRhetorik dazu, den Zusammenhalt der eigenen Regie-rungsallianz zu beschwören, die es nicht nötig habe,sich von »yesterday�s oppressors« Vorhaltungenmachen zu lassen. Die undemokratischen Unter-drücker von gestern gerierten sich heute als die »trueor better democrats«.17 Dabei wird wohl bewußt igno-riert, daß die DP bzw. ihre Vorgängerin PFP (Progres-sive Federal Party) in parlamentarischer Oppositionzur regierenden NP und zur institutionalisiertenApartheid standen. Diese Nuance fällt im aufge-ladenen öffentlichen Diskurs des politischen Süd-afrika ebenso unter den Tisch wie der berechtigteEinwand, die PFP/DP hätte durch ihr Verbleiben imApartheid-Parlament indirekt zur Legitimation desalten Regimes beigetragen.18 Unzweifelhaft dürfte

16 Im Rahmen dieses Wahlkampfs, an dem 21 Parteien teil-nahmen, entdeckte Mbeki nach Jahren der Vernachlässigungauch wieder das einstige ANC-Herzstück und Umverteilungs-programm RDP.17 So machte Mbeki bei einem COSATU-Kongreß am18.9.2000 folgende für ihn typische Bemerkung:»There are some people in our country today who presentthemselves as being better democrats than you who belongto our historic Congress Movement. Yet, they were nowhereto be seen when heroes and heroines of this movement sacri-ficed their lives, served jail sentences and were driven intobanishment and exile because they dared to struggle fordemocracy. [...] Today, these newly born democrats have takenit as their special responsibility to define for all of us whatdemocracy is and how a democratically elected governmentshould govern. [...] They argued [...] that they had to be strongas an opposition because they were the best guarantors ofdemocracy in our country while we, if we became too strong,would introduce dictatorship and take away democraticrights of the people. [...] These forces of privilege want to bestrong so that they can determine the agenda. [...] They wantus to be weak so that we are unable to discharge our respon-sibilities with regard to the pursuit of the national demo-cratic revolution, so that we are unable to bring about thefundamental social transformation of our country.« (Zit. in:<www. polity.org.za>.)18 Was nicht nur von verschiedenen politischen Amts-trägern betont wird, sondern auch in manchen Medien. Bei-spielsweise kommentierte der Political Editor der Johannes-burger Tageszeitung Star, Khathu Mamaila, am 30.1.2003 mitentsprechendem Grundtenor: »The DA, despite its attempt to

sein, daß ihre Gefolgschaft über Jahrzehnte zumin-dest sozioökonomisch von der hierarchischenGesellschaftsordnung profitierte. Somit leidet auchdie DP unter dem Stigma einer »weißen Systempartei«.

Tatsächlich ist es � wie wohl nach dem Ende jederDiktatur oder jedes autoritären Systems � nicht immereinfach auseinanderzuhalten, wer bis zur Wendeaktiver Unterstützer, stiller Profiteur oder auch nurpassiver Dulder des alten Regimes war. Und obwohldiese Kategorisierung am Kap in gewisser Weise durchdie Hautfarbe vorgegeben war und ist, sind die Um-stände doch komplizierter. Denn immerhin hatten esauch einige wenige Schwarze zu Wohlstand gebracht,und Schwarze waren es auch, die schließlich alsTräger der Homeland-Strukturen fungierten. Letzteresführt Oppositionschef Tony Leon immer wieder gernins Feld, dem seinerseits von Mbeki vorgeworfen wird,daß seine Wurzeln in einer reichen Gegend der wirt-schaftlich starken Provinz Gauteng lägen und er sichschwerlich in die Rolle der bedürftigen Schwarzen ver-setzen könne.

Die weißen Kritiker sprechen in diesem Fall gernvon einer schwarzen Kritikunfähigkeit und Empfind-lichkeit. Schließlich seien die alten Zeiten längst vor-bei, man begegne sich immerhin schon seit einemJahrzehnt auf Augenhöhe und dürfe deshalb auchinhaltliche Kritik üben. Diese Einlassung ist einerseitsnachvollziehbar, angesichts der lange währendenUnterdrückung und politischen Rechtlosigkeit derSchwarzen aber auch wenig sensibel. Hier wird einlangfristiger Annäherungsprozeß der Mentalitätennötig sein, der beidseitiges Verständnis verlangt.Daran mangelt es im neuen Südafrika noch.

Andererseits, und damit zurück zum oppositio-nellen Dilemma, ist zweifelhaft, ob die Anlehnungs-strategie der NNP mit dem Ziel konsensueller Einfluß-nahme auf die ANC- und Regierungspolitik großeErfolgschancen hat. Diese Konstellation einer neuer-lichen NNP-ANC-Kooperation, die auf dem bloßenWunsch nach Machtbeteiligung oder der ehrlichenÜberzeugung basieren mag, zu harsche Kritik sei kon-traproduktiv, entbehrt nicht einer gewissen Ironie:Denn hier arbeiten ausgerechnet Afrikaaner und ANCzusammen, nicht aber die einstige Apartheid-Opposi-tion PFP/DP und die neue Mehrheit. Allerdings habenSchwarze und Afrikaaner/Buren bei aller Rivalität

shake off its past, is an offspring of an exclusive white oppo-sition party that, while it opposed apartheid laws, gave legiti-macy to the racist regime by taking part in the system thatcondemned blacks to be second-class citizens.«

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Schwarze Opposition zum ANC?

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eines gemeinsam: Sie waren einst Leidensgenossen,als die Briten ihre imperiale Politik auf Südafrika aus-dehnten und die bereits ansässigen Schwarzen undWeißen zurückdrängten. Dadurch war es nicht zuletztzum »Großen Treck« in den 1830er Jahren und zumBurenkrieg (1899�1902) gekommen. Die Afrikaanertraten lange Zeit nicht so deutlich als die großen Profi-teure der hierarchischen Gesellschaftsordnung in Er-scheinung wie die Briten, bis sie 1948 eine institutio-nalisierte Apartheid etablierten und somit selbst diepolitische und gesellschaftliche Führung auf Kostender Schwarzen übernahmen. Dieser gemeinsamehistorische Opferstatus, der heute durch eine Domi-nanz des Englischen im schulischen, universitären,medialen und kulturellen Bereich neuen Auftrieberfährt, mag die aktuelle Kooperation � und MbekisAntipathie gegenüber der DP � zumindest mit erklä-ren. Die »official opposition« erwuchs nämlich ausdem Lager der britischstämmigen und immer schongutsituierten Südafrikaner. Sie hat nie das politischinduzierte und mit einem gewissen Aufholbedürfnisbegründbare »upliftment« ihrer Gruppe betreibenmüssen, sondern ist auch heute noch in dieser Gesell-schaftsschicht beheimatet, selbst wenn die DA mittler-weile von der Mehrheit aller Weißen als politischeRepräsentantin anerkannt wird.

Es scheint insgesamt so, als müsse die Oppositioneinen Mittelweg finden, der dem berechtigten Bedürf-nis nach Artikulation abweichender Interessen undPositionen in einer Demokratie Raum gibt und zu-gleich mit dem eher konsensuellen Konzept von Op-position in Afrika verträglich ist. Ob letztere Opposi-tionsform dann noch diesen Namen verdient bzw.wirklich mehr Einflußmöglichkeiten eröffnet, ist frag-lich � unter dem Aspekt des gesellschaftlichen Frie-dens ist sie aber ein Gebot der historischen Sensibili-tät. Gleiches gilt gegebenenfalls für die Option, aufkurz oder lang eine oppositionelle Regenbogen-koalition zu bilden, die sich aus den gerade genanntenweißen und gleich zu beleuchtenden schwarzen Par-teien bzw. aus noch gar nicht existierenden Formie-rungen bilden müßte, die sich dann ähnlich wie dieSammlungsbewegung des neuen kenianischen Präsi-denten Mwai Kibaki zu einer Alternative zur etablier-ten Regierung entwickeln könnte. Allerdings hinktdieser Vergleich schon deshalb, weil der ANC (imGegensatz zur KANU, die bis Ende 2002 über 40 Jahrelang in Kenia geherrscht hatte) selber schon eineRegenbogenkoalition darstellt. Damit hat der ANCeinen durchaus legitimen Zusatzanspruch auf dieFührung des Landes erwirkt, den er bisher auch noch

nicht verspielt hat. Südafrika ist noch in einem guten,weil politisch und wirtschaftlich stabilen Zustand �auch wegen der behutsamen Transformationspolitikdes ANC. Dementsprechend schwer fällt eine inhalt-liche Oppositionsarbeit, zumindest wenn sie aus demkonservativen Lager kommen soll.

Schwarze Opposition zum ANC?

Daß es schwarze Oppositionspolitiker erst recht nichtleicht haben, einen gewichtigen Platz neben dem ANCzu ergattern, belegt das Schicksal des United Demo-cratic Movement (UDM) unter Bantu Holomisa. Dereinstige Homeland-General und zwischenzeitlicheANCler errang zwar bei den 1999er Wahlen aus demStand einigermaßen respektable 3,42%, die er vorallem den Wählern im Eastern Cape und den in denTownships von Kapstadt lebenden Xhosa verdankte.Seine inhaltlich alternativarme Bewegung erhielt aberwahrscheinlich schon 2003 den Todesstoß, als zahl-reiche Parteimitglieder das floor crossing-Gesetz fürden Übertritt zum regierenden ANC nutzten. Ob sichneue Gruppierungen, wie die im gleichen Zusammen-hang von der landesweit respektierten Ex-PAC-Front-frau Patricia De Lille gebildeten Independent Demo-crats (ID), dauerhafter etablieren können, bleibt ab-zuwarten.

Unter den aktuell bedeutenden Parteien spielt dieIFP Buthelezis eine kuriose Zwitterrolle zwischen kon-sequenter Regierungsbeteiligung und Opposition zumANC. Obwohl die beiden früheren Todfeinde in vielenPunkten immer noch ideologische Welten trennen, istdie IFP 1994 national und in KwaZulu-Natal durchausbeständige Koalitionen mit dem ANC eingegangen. ImWahlkampf 2004 ließ sich die IFP aber auf eine ober-flächliche, weniger inhaltlich abgestimmte »coalitionfor change« mit der DA ein. Vor allem sticht ein Unter-schied zwischen der IFP und dem ANC bzw. eben auchder DA hervor, der insgesamt die Zerrissenheit Süd-afrikas deutlich macht: die Spaltung zwischen Tradi-tion und Moderne. Während der ANC ebenso wie dieDA eine strikte Demokratisierung und Modernisie-rung Südafrikas anstrebt, vertritt die zugleich markt-wirtschaftlich ausgerichtete IFP den traditionell-konservativen Teil der Schwarzen, mehrheitlich natür-lich der Zulu.

Das Kontinuitätenproblem des neuen Südafrikaschlägt ähnlich wie bei den weißen Parteien durch,denn IFP und UDM fehlt eine eigene Geschichte desAnti-Apartheid-Kampfes, zumindest eine solch kon-

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sequente wie die des ANC. Während Holomisa hierfast gar nichts vorzuweisen hat, herrscht über Buthe-lezis historisches Wirken als politisches Aushänge-schild der Zulu bis heute Uneinigkeit. Natürlichverfocht er die Sache der Schwarzen und plädiertefür eine Umwälzung der rassischen politischen undgesellschaftlichen Verhältnisse sowie für die Frei-lassung der (rivalisierenden) Ikone Mandela. Dochdistanzierte er sich auch entschieden genug vomSystem der Weißen? Hatte Buthelezi nicht sowohl dieinternationalen Sanktionen gegen Südafrika als auchden bewaffneten Befreiungskampf (beides ANC-Strate-gien) abgelehnt? Und hatte seine Inkatha sich nichtzumindest phasenweise vom Regime korrumpierenlassen? Waren außerdem die vielen Toten der späterenÜbergangsjahre nicht auch wesentlich auf die (langegeheimgehaltene) Kooperation zwischen Inkatha-Aktivisten und Regime (»Third Force«) zurückzufüh-ren?19 Hier fehlt unzweifelhaft einige Substanz füreinen ANC-ähnlichen Bonus als unbeugsamer Be-freiungskämpfer.

Buthelezi sieht eine seiner Hauptaufgaben offenbarimmer noch darin, dem Zulu-Stamm mitsamt seinen(undemokratischen) Traditionen den ihm zustehen-den historischen Platz zu sichern. Deshalb vertritt erauch die Forderung nach einem expliziteren Föderalis-mus, mit deren Hilfe er schon in den Verfassungs-verhandlungen der neunziger Jahre eine weitgehendeAutonomie KwaZulu-Natals durchsetzen wollte. Damitstand der Führer von königlichem Blute an der Seiteder konservativen, ja radikalen Weißen, die ebenfallseigene autonome Zonen (»Volksstaat«) für sich bean-spruchten, ohne daß beide sich letztlich gegen dengesamtnational ausgerichteten ANC hätten behauptenkönnen.

So ist das jahrelange Verbleiben der IFP in denANC-Koalitionen wohl eher ein faktischer und objektivbetrachtet wichtiger Beitrag zum nation-building alsAusdruck ernsthaft konkurrierender Machtausübung.Wie sich diese Position verändern könnte, wenn derin den letzten Jahren immer moderater auftretende

19 Vgl. Nelson Mandela, Long Walk to Freedom, London 1994,S. 703ff, und Allister Sparks, Morgen ist ein anderes Land. Süd-afrikas geheime Revolution, Berlin 1995, S. 231ff. Hier wirdunter anderem die immer wieder anzutreffende und seiner-zeit weit verbreitete Meinung widerlegt, bei den Inkatha-ANC-Auseinandersetzungen habe es sich um einen ethnischenKonflikt gehandelt. Tatsächlich ging es weit weniger umKämpfe zwischen Zulu und Xhosa, sondern um solche inner-halb der Zulu, nämlich zwischen »Monarchisten/Traditiona-listen« und »Modernen/Demokraten«.

Buthelezi als letztes Relikt der alten Ära einmalnicht mehr unangefochtener Inkatha-Chef sein wird,bleibt abzuwarten. Gewisse Ansätze zur Kooperationmit DA oder NNP gibt es wohl � und werden auchlängst schon ausgelotet. Konservatismus und Markt-wirtschaft hieße die gemeinsame ideologische Basis.

Nichtkompatibilität des traditionellenmit dem modernen Südafrika

Tatsächlich zeigt sich hier jedoch auch eine sozio-kulturelle Spaltung: Beim Blick auf das ländlicheSüdafrika � exemplarisch dafür wird das ehemaligeHomeland KwaZulu immer wieder genannt, obwohldie Provinz KwaZulu-Natal mit Durban über die nebenJohannesburg, Kapstadt und Pretoria vierte großeMetropole des Landes verfügt und es viele andere,mindestens ebenso traditionelle Gebiete gibt � wirddeutlich, wie wenig kompatibel Teile der Gesellschaftmit der liberal-demokratischen Verfassung Südafrikassind. Millionen von Menschen leben in überkomme-nen Stammeshierarchien, die kaum von der demokra-tischen Modernisierung berührt wurden. Hier herr-schen Könige und Stammesfürsten, hier ist man vonder Akzeptanz und Umsetzung der demokratischenIndividualrechte einer durchkapitalisierten, »republi-kanischen« Gesellschaft mitunter noch sehr weit ent-fernt. Auch dies ist eine Kontinuität des alten Süd-afrika. Vor allem die Beibehaltung traditioneller afri-kanischer Strukturen an der kontinentalen Südspitzestellt ein besonderes Problem dar � nicht nur für mög-liche Parteienkonstellationen, sondern gegebenen-falls auch für den gesamten Entwicklungsprozeß desLandes.

Diese Traditionalität hat allerdings nicht nur nega-tive Seiten. Dies zeigt sich etwa in der Landfrage, inder die vom ANC avisierte Reform der Besitz- undBestellungsverhältnisse bislang nicht so zügig wieversprochen vorangetrieben werden konnte.20 Hiermag es für viele Menschen durchaus von Vorteil sein,nicht auf individuelle Besitztitel angewiesen, sondernTeil einer Clan-ähnlichen Gemeinschaft zu sein.Idealerweise werden dabei Aufgaben und sozialeLeistungen geteilt, das schwache Individuum profi-tiert vom starken Kollektiv. Auch die kulturelle und

20 Im Zuge der Landreform wurden bislang erst ca. 3% desin weißen Händen befindlichen Agrarlandes an schwarzeBedürftige umverteilt (afrika süd, 6�02 und 3�03; Die Zeit,11.3.2004).

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Nichtkompatibilität des traditionellen mit dem modernen Südafrika

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regionale Verwurzelung scheint hier einen größerenStellenwert zu haben als individuelle Entwicklungs-möglichkeiten. Dem liberal-republikanischenGeist der Verfassung dürfte dieser viele MillionenMenschen umfassende Teil Südafrikas jedenfallsnicht entsprechen.

Bis heute tut sich der ANC schwer damit, das wider-sprüchliche Verhältnis zwischen der Autorität gewähl-ter demokratischer Strukturen und dem Macht-anspruch traditioneller Führer grundlegend zu klä-ren. Der Versuch, diese Problematik durch Neuord-nung von Wahlkreisen im Rahmen der 2000er Kom-munalwahl zu lösen, war nicht mehr als eine kleineEtappe auf dem Weg einer durchgreifenden Demo-kratisierung Südafrikas. Dieser Weg ist offensichtlichin Teilen der Gesellschaft noch weit, während anderebereits dem westlichen Ideal einer liberalen Demo-kratie sehr nahe kommen. Auch hier bildet Südafrikaeine Schnittstelle zwischen Afrika und der westlichenWelt. Daß diese Thematik im Bewußtsein des ANC undauch für seine konkrete Politik dennoch eine ernsteRolle spielt, zeigt eine neuerliche Gesetzesinitiativeder Regierung zur Verteilung von Kompetenzen undAufgaben zwischen demokratischen Institutionen und»traditional leaders«, die im Sommer 2003 in ein WhitePaper mündete.21

Auch im Rahmen dieser Thematik wird eine Ambi-valenz der unter konkurrenzdemokratischen Gesichts-punkten ungesunden ANC-Dominanz sichtbar: Viel-leicht ist es gut, daß der ANC qua Zweidrittel-Wahl-ergebnis die Autorität und Gelassenheit besitzt, diePrioritäten im neuen Südafrika vorzugeben. Allzumassive sozioökonomische und kulturelle Umwälzun-gen könnten sich als eine nicht zu bestehende Bela-stungsprobe der unterschwellig fragilen Verhältnisseerweisen. Gleiches gilt für die aus Sicht der meistenSchwarzen nur schwer erfüllbaren Forderungen vielerWeißer nach gänzlicher Unantastbarkeit ihrer Besitz-stände, wie sie etwa im Falle der rechtsstaatlich aus-gerichteten Landreform nach dem Prinzip »willingbuyer, willing seller« praktiziert wird. Hier könnte derANC ebenso wie gegen die traditionellen Führer auseiner Position der Stärke heraus härter vorgehen. Ertut beides nicht, sei es aus Unsicherheit, Machtkalküloder wirklicher Besorgnis um die weitere Funktio-nalität des Systems und die Stabilität des Landes. Daß

21 Siehe »Draft Traditional Leadership and GovernanceFramework Bill« (Juni 2003), nachzulesen unter <www.dplg.gov.za/Documents/Bills>.

er die Stabilität auf diese Weise tatsächlich sichert,sollte zumindest gesehen und honoriert werden.

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Hauptrisiken für die demokratische Entwicklung Südafrikas

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Hauptrisiken für die demokratische Entwicklung Südafrikas

Neben der drohenden »crisis of expectations« unddem Traditionalitätenproblem wird besonders deut-lich, daß der ANC zwar erster Garant der stabilenDemokratie ist, gleichzeitig jedoch die größte Gefahrfür deren Konsolidierung darstellt. Dieses Paradoxonergibt sich aus dem uneingeschränkten Machtstatusdes ANC, der im Interesse der gesellschaftlichen Trans-formation einerseits erhaltenswert, aus anderer Per-spektive wiederum gefährlich erscheint. Uneinge-schränkte Macht verschafft Handlungsfreiheit, auchgegenüber starken überkommenen Interessen undStrukturen (weißer wie schwarzer). Einparteienhege-monie belastet jedoch langfristig die Demokratie, dadie wechselnde Herrschaftsbestellung nun einmal zuihrem Wesen gehört.

Verschmelzung von Staat und Parteiunter hegemonialem ANC?

Das langfristige Hauptrisiko für die durchgreifendeDemokratisierung am Kap könnte also das Selbst-verständnis des ANC sein. Die Organisation begreiftsich nach wie vor eher als Bewegung denn als bloßePartei. Das hat zur Folge, daß der ANC wohl auchweiterhin bestrebt sein wird, möglichst viele Macht-positionen innerhalb der Gesellschaft mit eigenenLeuten zu besetzen � vom Staatspräsidenten über denChef der Zentralbank (aktuell ist dies der ehemaligeANC-Arbeitsminister Tito Mboweni) bis hin zum ober-sten Staatsanwalt, vom größten Manager in der Privat-wirtschaft bis hin zum kleinsten Bürgermeister. Nichteine Streuung der Machtressourcen oder eine Tren-nung der Sphären (Politik, Wirtschaft, Kultur undMedien etc.) nach pluralistischem Muster scheint dasZiel des ANC, sondern eher deren Kontrolle. DieserVorsatz mag auf dem Glauben an die Richtigkeit deseigenen Handelns bzw. an den Auftrag zur gesell-schaftlichen Transformation beruhen, in jedem Falldroht aber ein mittel- und langfristiger Prozeß derVerschmelzung von Partei und Staat. Diese Entwick-lung scheint unter den beschriebenen Voraussetzun-gen fast zwangsläufig zu sein und war in vielenanderen Ländern zu beobachten. Deshalb sollte, so-weit diplomatisch möglich, sowohl innergesellschaft-

lich als auch durch internationale Freunde Süd-afrikas � wie gerade durch Deutschland unter Kanz-ler Schröder � auf eine solche Gefahr hingewiesenwerden. Dies bedarf aufgrund der Kolonial- und Apart-heidgeschichte zwar einer besonderen Sensibilität, er-scheint aber unbedingt geboten.

Auch das Apartheid-System beruhte � wenn manvon der rassistischen Ausrichtung einmal absieht �originär auf einer »missionarischen Idee«, war ein Ver-such, gesellschaftliche Strukturen und Hierarchienzum Wohle der eigenen Klientel vorzugeben. Wenn esauch letztlich unangemessen ist, hier die Unterdrück-ten von einst mit ihren Unterdrückern auch nur an-nähernd gleichzusetzen, gewinnt doch der Aspekt derhegemonialen Tradition in Südafrika zusätzlich anRelevanz, wenn man den Blick in die ähnlich struktu-rierten Nachbarländer Zimbabwe und Namibia rich-tet, die 1980 bzw. 1990 unabhängig wurden: Dort ent-wickelten sich aus ANC-nahen Befreiungsbewegungenunkontrollierbare Machtblöcke, Zimbabwe degene-rierte vollends zu einem despotischen System. Einehemals gefeierter, frei gewählter und offenbar mitguten demokratischen Absichten angetretener RobertMugabe mißbrauchte das ihm übertragene Amt desStaatspräsidenten in einer Weise, wie sie umstrittenerkaum sein könnte. Das von ihm regierte Land geht injeder Beziehung zugrunde, natürliche Ressourcenwerden vergeudet und zerstört, wie jüngst neben deneinst ertragreichen landwirtschaftlichen Nutzflächenauch der Wildbestand als touristisch nutzbares Erbe.Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht,nicht nur weil die Dürre im Südlichen Afrika wütet.Der einstige Befreier Mugabe herrscht autokratischund wiegelt die Zimbabwer gegeneinander auf, seineHandlanger fühlen sich nicht an Recht und Gesetzgebunden. Staatliche Willkür hat das rule of law alsoberstes Prinzip ersetzt. Der um sich greifende Macht-wahn und Klientelismus wird von internationalenwie südafrikanischen Beobachtern mit großer Sorgegesehen. Bleibt die Hoffnung, daß dieses Beispielabschreckend wirkt und Südafrika die Fehler desMugabe-Regimes gerade deshalb nicht wiederholt,weil abzusehen ist, wohin sie in einem ähnlich struk-turierten Land führen.

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Mbekis Versagen in der Zimbabwe- und Aids-Politik

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Der Blick nach Namibia zeigt allerdings, daß esPräsidenten gibt, die sich von Mugabe eher inspiriertals abgeschreckt fühlen. Auch Sam Nujoma wird eineweitere, von der Verfassung nicht vorgesehene präsi-diale Amtszeit antreten und sie vom SWAPO-domi-nierten Parlament absegnen lassen, da er sich als Ex-Befreier offenbar für unersetzbar hält. Nicht selten istdies der Anfang vom Ende einer Demokratie, und manmuß gerade Nelson Mandela großes Lob dafür zollen,daß er dem Irrglauben an eine dauerhaft verdienteMacht nicht verfiel und trotz seiner tadellosen Repu-tation im In- und Ausland einem jüngeren NachfolgerPlatz machte, obwohl ihm die Verfassung noch eineLegislatur zugestanden hätte.

Mbekis Versagen in derZimbabwe- und Aids-Politik

Ob dieser Wechsel tatsächlich zum Wohle Südafrikaswar, muß Thabo Mbeki erst noch unter Beweis stellen.Hierfür müßte er erstens auch künftig die politischeKooperation zwischen Schwarz und Weiß zulassenbzw. selbst aktiver betreiben � und zweitens 2009Mandelas Beispiel folgen. Durch seine wenig eindeu-tigen Distanzierungen von Mugabe sehen sich Skep-tiker bestätigt, die bei Mbeki eine Tendenz zum Auto-ritarismus zu erkennen glauben. So gibt etwa der Um-stand zu denken, daß der Präsident seine Außen-ministerin Dlamini-Zuma nicht zurechtwies, als sieerklärte, man werde Mugabe und seine ZANU-PF »nie-mals kritisieren«, da es sich schließlich um eine ver-schwesterte Bewegung zur Befreiung von kolonialenStrukturen handele.22

Mbeki selbst betont allzu sehr Zimbabwes Selbst-bestimmungsrecht, das eine direkte Einmischungverbiete (so etwa am 9. Mai 2003 im wöchentlichenLetter from the President im Internetportal ANC today).Daß er damit das Recht auf Selbstbestimmung der-jenigen Zimbabwer übergeht, die von dem in zweifel-haften Wahlen bestätigten Regime verfolgt werden(Opposition, Justiz, Medien, weiße Farmer etc.),scheint für Mbeki ebenso sekundär zu sein wie der

22 Vgl. Sunday Independent, 11.1.2003. Bedenkenswert istin diesem Zusammenhang die Einschätzung der KapstädterMenschenrechtlerin und Zeitungskommentatorin RhodaKadalie, daß die schwarze Solidarität den neuen Regierungenoffensichtlich wichtiger zu sein scheint als das strikte Beste-hen auf uneingeschränkter Einhaltung der Menschenrechte:»Victims don�t make good democrats.« (So im Gespräch mitdem Autor im Januar 2003 in Kapstadt.)

Umstand, daß Mugabes Regime den internationalüblichen und mittlerweile auch von afrikanischenOrganisationen (AU, NEPAD, SADC) formuliertenAnforderungen der Demokratie-Durchsetzung (goodgovernance) in keiner Weise entspricht. Mbekis stilleDiplomatie in der Region ist bislang jedenfalls wedervon Erfolg gekrönt noch im Sinne des neuen und sooft betonten afrikanischen Selbstanspruchs konse-quent. Daran änderte auch die Troika-Mission nichts,die Mbeki zusammen mit Nigerias Präsident Obasanjound Malawis Staatschef Muluzi im Mai 2003 nach Zim-babwe führte. Die Troika begnügte sich schließlichdamit, Mugabe und Oppositionsführer Tsvangirai zumDialog aufzufordern. Diese Aufforderung war oben-drein an die unverständliche Vorbedingung geknüpft,daß letzterer den Sieg Mugabes bei den umstrittenenWahlen 2002 anerkennen müsse.23

Mbekis internationalem Renomee hat es zweifel-los auch schwer geschadet, daß er sich in der Aids-Bekämpfung so zurückhaltend, ja kontraproduktivverhalten hat. Seine Weigerung, den kausalen Zusam-menhang von HIV und Aids anzuerkennen, und seinePolitik, statt auf Freigabe von Medikamenten, die dieÜbertragung des Virus von schwangeren Müttern aufihre ungeborenen Kinder unterbinden sollen, aufExpertenkommissionen zur Klärung von Grundsatz-fragen der Aids-Entstehung zu setzen, zeigt ihn nichtgerade als einen verantwortungsvoll und pragmatischhandelnden Präsidenten. Vielmehr scheint Mbeki inseiner zwanghaften Suche nach afrikanischen Lösun-gen in beinahe irrationale Verhaltensmuster zu ver-fallen, die ihm zwar eine Abgrenzung vom »west-lichen wissenschaftlichen Mainstream« erlauben, ihnaber gleichzeitig international isolieren und dem Vor-wurf unterlassener Hilfeleistung aussetzen könnten.

23 Eine gute Zusammenfassung der Entwicklungen in undum Zimbabwe, die wegen der engen nachbarschaftlichenVerbindungen auch für Südafrikas internationales Ansehenwichtig sind, liefert afrika süd, 3�03. Darin bringt der angese-hene südafrikanische Journalist Allister Sparks in einem Arti-kel die Dringlichkeit des Zimbabwe-Problems ebenso wiedie Notwendigkeit einer deutlicheren Positionierung Mbekiszum Ausdruck:»Not tut eine rasche Einigung über einen sofortigen RücktrittMugabes, einschließlich der garantierten Immunität gegendie Verfolgung seiner Verbrechen, um ihm den Rückzug zuermöglichen und den Weg frei zu machen für einen neuenFührer mit einheimischer und internationaler Glaubwürdig-keit, der die regierende Zanu-PF übernehmen kann. [...]Bleibt es jedoch beim sanftpfötigen diplomatischen Umher-geschleiche, geht eine weitere Landwirtschaftssaison verlo-ren, und das Elend wird sich zur Katastrophe auswachsen.Für Simbabwe und die Region.«

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Hauptrisiken für die demokratische Entwicklung Südafrikas

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Schlimmer als der persönliche Imageschaden ist alldies jedoch für die betroffenen Menschen in Süd-afrika, die unter dem schleichenden Völkermorddurch das Virus und der Passivität der Regierung baldnoch stärker leiden werden, als sie es schon tun.

Nach seriösen Schätzungen beläuft sich der Anteilvon HIV-Positiven an der Bevölkerung auf mindestens10%, in manchen Segmenten ist gar von 30 bis 40%auszugehen, etwa unter den Frauen im ländlichenKwaZulu-Natal.24 Das Magazin des South AfricanInstitute of Race Relations (SAIRR), Fast Facts (1/2001),nannte für das Jahr 2000 die Zahl von 6 Mio. HIV-Positiven in Südafrika, ca. 13% der Bevölkerung. Be-reits 2006 dürfte die Quote auf über 15% steigen, undbis 2015 könnten laut dieser Schätzung 6 bis 10 Mio.Aids-Tote zu beklagen sein. Bislang erhalten Aids-Bekämpfung und -Aufklärung allerdings nicht dengebührenden Stellenwert in der Politik Südafrikas.Die hohe Sterberate von derzeit über 300 000 Südafri-kanern pro Jahr25 wird sich auch deshalb negativ aufdie Produktivität der südafrikanischen Wirtschaft aus-wirken, weil immer mehr Menschen ausfallen, die erstkurz zuvor ausgebildet wurden. Schmerzlich betroffenist auch der Bildungsbereich, da fatalerweise gerade inländlichen Regionen viele Lehrkräfte jungen und mitt-leren Alters die Krankheit in sich tragen, so daß diedringend nötige Ausbildung der Kinder zwangsläufigweiteren Schaden nehmen dürfte.

Nicht zuletzt schließt das Thema Aids an die ange-sprochene traditionelle afrikanische Problematikinnerhalb Südafrikas an. Ausgerechnet die Menschennämlich, die die größten Entwicklungsrückständezu beklagen haben, werden im Gefolge der Epidemienoch weiter zurückgeworfen. Wo traditionelle Lebens-weisen vorherrschen, bleibt die Aufklärung marginalund die (ungeschützte) Promiskuität oftmals die Regel.

24 So sprach Buthelezi in seiner Kritik an Mbekis »State ofthe Nation Address« vom 12.2.2002 in Kapstadt von einer40%igen HIV-Infektionsrate unter den Müttern in KwaZulu-Natal und warf der Regierung vor, daß sie dieses Problemoffensichtlich nicht mit dem nötigen Nachdruck angehe.Ein Test unter Angehörigen der südafrikanischen Streit-kräfte ergab eine Infektionsrate von 11%, einer unter denMitarbeitern der Firma Goldfields 26,7% (Mail & Guardian,3.�9.8.2001), ein weiterer unter Fernfahrern in der Zulu-Pro-vinz brachte ein Ergebnis von 56%! (Die Zeit, 8.5.2003.) Vontäglich 1700 Neu-Infektionen sei in Südafrika auszugehen,was aufs Jahr gerechnet 620 000 entspreche (ebd.). All dieshabe in den letzten fünf Jahren die mittlere Lebenserwartungder Südafrikaner von 58 auf 48 Jahre gesenkt (der überblick,2003/2, S. 92).25 Der Spiegel, (2003) 29.

Hinzu kommt der zur Risikoverkennung beitragendeGlaube an irrationale Versprechungen einflußreicherWunderheiler. Gemessen am Entwicklungsniveau desmodernisierten Südafrika droht diesen Regionen einedramatische Stagnation oder sogar ein Rückfall. Inmodernen Regionen ist Aids mangels Aufklärung undPrävention zwar auch ein gravierendes Problem, dasaber insgesamt rationaler angegangen und damithoffentlich bald effektiver bekämpft werden kann.

Die Behauptung der Regierung, daß die Aids-Aus-breitung auch eine Folge der Unterentwicklung sei(durch starke Anfälligkeit des Immunsystems auf-grund schlechter Ernährung und entsprechenderKrankheiten), ist sicherlich nicht gänzlich falsch. Siedarf aber definitiv nicht von massiver Aufklärung undVersorgung mit Medikamenten abhalten, solange diegewünschte sozioökonomische Entwicklung nochnicht eingesetzt hat. Mbeki hat hier bislang offensicht-lich versagt. Mit wichtigen Beiträgen können aus-ländische Geldgeber und NGOs in dieser Hinsichtkompensierend wirken.

»Crisis of Expectations«

Ähnlich wie im Falle der Aids-Problematik dürfte sichbei Millionen von Menschen auch aufgrund der aus-bleibenden persönlichen sozioökonomischen Entwick-lung ein Gefühl des Alleingelassenseins einstellen. Dieordentlichen Wachstumsraten von über 2%, die diesüdafrikanische Wirtschaft seit 1994 durchschnittlicherzielte (2003 1,9%), reichen nicht aus, um entwick-lungsdynamisch auf alle Ebenen der Gesellschaftdurchzuschlagen. Man erhoffte sich immer wiedereinen baldigen Anstieg der Quote auf 6%, um das Ver-sprechen des »better life for all« annähernd einlösenzu können, doch war diese Hoffnung bislang verge-bens. Die Gründe hierfür sind in einer Mischung ausinternationalen Faktoren und den Strategien der süd-afrikanischen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zusuchen. Zur potentiellen Verstärkung der »crisis ofexpectations« trägt bei, daß die Bevölkerung durchkonstant hohe Geburtenraten unter den Schwarzensowie durch Zuwanderung aus anderen Teilen Afrikasstetig wächst. Deshalb gelingt es Politik und Wirt-schaft nicht annähernd, den jungen Nachrückerneinen Arbeitsplatz zu bieten, geschweige denn den-jenigen, die bereits seit langem ohne Job sind.

Gerade im landwirtschaftlichen Sektor, in dem seit1994 ungefähr die Hälfte der 1,4 Mio. Jobs verloren-gingen, zeigte sich, was sozialstaatlich akzentuierte

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»Crisis of Expectations«

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und gut gemeinte, aber anscheinend überzogene unddeshalb teils kontraproduktive Gesetze und Zwängebei den mit ihnen konfrontierten Arbeitgebern bewir-ken können, nämlich die Beendigung vieler legalerBeschäftigungsverhältnisse. Diese Entwicklung istdeshalb so dramatisch, weil an einem einzigen Ein-kommen � wie in Afrika üblich � häufig ganze Groß-familien hängen. Viele Familien, die zuvor wegeneines Angestellten auf den Farmen leben durften undnicht selten mit Schulunterricht und Lebensmittelnversorgt wurden, mußten deshalb nach dessen Kün-digung ihren Platz räumen. Speziell für eine Gesell-schaft auf der Entwicklungsstufe Südafrikas, die sichpartiell auf Erste-Welt-, überwiegend aber auf Dritte-Welt-Niveau befindet, ist es besonders wichtig undgleichzeitig schwierig, einen Kompromiß zwischendem postulierten Recht auf Arbeit und dem Schutzvor Ausbeutung zu finden. Aktuell bleibt vielen Men-schen nur der Wechsel in den informellen Sektor,was die ohnehin zunehmende Verstädterung nurnoch verstärkt. Fest steht, daß die Arbeitslosigkeitunter allen Umständen gesenkt werden muß, gege-benenfalls wohl auch unter Inkaufnahme niedrigerSozialstandards.

Südafrika könnte ohne eine neue Dynamik auf demArbeitsmarkt bald oder doch zumindest mittelfristigeine Legitimationskrise der neuen demokratischenOrdnung erleben. Von dieser Ordnung hatte mansich schließlich nicht nur politische, sondern auchökonomische Rechte und direkte Verbesserungenversprochen. Während sich die Einkommensspannezwischen Weißen und Schwarzen insgesamt ver-kleinert, weitet sie sich zusehends zwischen reichenund armen Schwarzen.26 Neben diesem enormenSprengpotential für den sozialen Frieden breitet sichauch unter den Afrikaanern ein Gefühl der Margi-

26 Das Buch von Professor Sampie Terreblanche (Stellen-bosch) zur politischen Ökonomie Südafrikas trägt nichtumsonst den Titel »A History of Inequality in South Africa1652�2002«, bezieht also explizit die Nach-Apartheid-Äramit ein. Hier beklagt Terreblanche das Verhalten der neuenschwarzen Elite, die sich genauso ignorant gegenüber derbitteren Armut weiter Bevölkerungsteile zeige wie früher(und auch heute noch) die weiße. Konkret seien die Einkom-men der bestverdienenden 20% der schwarzen Haushalte (ca.6 Mio. Menschen) in den vergangenen 30 Jahren um mehrals 60% gestiegen, die der ärmsten 40% (ca. 18 Mio. Menschen)im gleichen Zeitraum um etwa 60% gefallen. 1975 wäre dasEinkommen der wohlhabenderen Schwarzen achtmal sohoch gewesen wie das der armen, 1991 19mal, 1996 31mal,und heutzutage sei es ca. 40mal höher! (Terreblanche, A Historyof Inequality [wie Fn. 12], S. 132f.)

nalisierung aus. Der »weiße Stamm Afrikas« beklagtneben den Folgen von »affirmative action« und »blackempowerment« ein Zurückdrängen seiner Kultur undSprache in den Medien und Bildungseinrichtungen.Offiziell gibt es zwar elf Amtssprachen im neuen Süd-afrika. Gegenüber dem Afrikaans und den neun Bantu-sprachen Ndebele, Pedi, Sotho, Swazi, Tsonga, Tswana,Venda, Xhosa und Zulu ist jedoch das Englische diedominante Lingua franca. Damit werden oftmalsgroße Gruppen � neben Afrikaanern auch Farbige undvor allem Schwarze � zu strukturellen Minderheiten,da sie der ersten Amts- und Umgangssprache nichtausreichend mächtig sind bzw. diese ablehnen. Auchhierin zeigt sich das schwere Erbe des neuen Süd-afrika, das sich aus der extrem heterogenen Gruppen-vielfalt des alten zusammensetzt. Der nun bestehendeDruck zur kulturellen Vereinheitlichung wird vomANC forciert und durch die wirtschaftliche Globalisie-rung und die politische Integration in die internatio-nale Gemeinschaft noch verstärkt. Es ist erstaunlich,wie wenig sich die angedeuteten sozioökonomischenEnttäuschungen und sozio-kulturellen Spannungenbislang zuungunsten der demokratischen Legitimitätausgewirkt haben.

Zur »crisis of expectations« trägt ebenfalls bei, daßdie Alltags- und Schwerkriminalität nicht in aus-reichendem Maße bekämpft worden sind. Daß sienicht eingedämmt werden konnten, liegt neben demextremem Wohlstandsgefälle und der in der Apart-heid gewachsenen Kultur der Gewalt und Illegalität anKapazitätsproblemen insbesondere auf den mittlerenund unteren institutionellen Ebenen (bis hin zu denstets überfüllten und personell schlecht ausgestatte-ten Gefängnissen). Die Tatsache, daß es heutzutage zu-mindest keine gewaltsamen ethnischen Auseinander-setzungen gibt, ist mit Blick auf andere Staaten desKontinents, den Balkan oder den Nahen Osten jedochalles andere als selbstverständlich. Offensichtlichzeichnet das neue Südafrika nicht nur eine geschicht-lich begründete Kultur der Gewalt aus, sondern glück-licherweise auch ein neues, stabilisierendes Mindest-maß an gesamtgesellschaftlicher Toleranz.27

27 Angesichts der zurückliegenden Apartheid muß mangerade den ehemals Unterdrückten zugute halten, daß sieselbst die eklatantesten öffentlichen Symbole der einst ver-haßten Führungsethnie unangetastet ließen, wie das Denk-mal für Afrikaans in Paarl und besonders das Pretoria über-ragende Vortrekker-Monument. Schließlich war die Einfüh-rung von Afrikaans als Pflichtsprache im Schulunterricht derSchwarzen 1976 der zündende Funke des Soweto-Aufstandes;das Vortrekker-Monument wiederum erinnert an die Land-

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Hauptrisiken für die demokratische Entwicklung Südafrikas

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Tatsächlich hat das Land sowohl im mentalen,gruppenspezifisch-kulturellen Bereich als auch imsozioökonomischen Rahmen mit erheblichen Alt-lasten und andauernden Disparitäten zu kämpfen.Daran wird sich nur langfristig etwas ändern lassen,nicht zuletzt durch eine gezielte Bildungspolitik. Wiedie Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC)bei allen sonstigen Mängeln einen breiten »Nie-wieder-Apartheid«-Konsens als moralische Basis etablierenkonnte, durch den die Achtung der Menschenrechtedas inzwischen unumstößliche Fundament der Gesell-schaft bildet, so werden gleiche Bildungschancenund das schulische Miteinander der verschiedenenMenschen und Gruppen zugunsten eines gesellschaft-lichen Ausgleichs wirken. Die Regierung tut dies-bezüglich wohl ihr Bestes und investiert seit Jahrenca. 20% (!) ihres Budgets in den Bildungsbereich.Auch künftig muß es eine Kernaufgabe staatlichenund nichtstaatlichen Handelns bleiben, eine neueKultur und eine daraus resultierende Struktur derGesellschaft zu fördern.

nahme der Buren, die letztlich auf Kosten der Schwarzenging.

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Förderung des Pluralismus

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Möglichkeiten deutscher und europäischer Einflußnahme auf dieweitere Demokratisierung Südafrikas

Förderung des Pluralismus

Externe Kräfte können den Prozeß der tiefgreifendenDemokratisierung unterstützen. Sie waren übrigensauch schon ein enorm wichtiger Faktor bei der Über-windung der Apartheid. Ihre Unterstützung hat des-halb also eine gute Tradition in Südafrika. Dabei soll-ten nicht nur politisch formelle Wege der Kooperationbeschritten werden, sondern auch informelle, die aufhalb- oder nichtstaatlicher Ebene verlaufen.

Oben wurde vor einer allzu deutlichen Hegemoniedes ANC gewarnt, die zwar aktuell zur gesellschaft-lichen und politischen Stabilität beiträgt, mittel- undlangfristig jedoch negative Folgen für die Demokratiehaben dürfte. Mithin gilt es, beiden Aspekten gerechtzu werden. Während die Regierung legitimer Partnerdeutscher und europäischer Politik bleiben muß,sollten weitere Akteure ermittelt und unterstütztwerden, die eine allzu starke Machtressourcenkonzen-tration in staatlichen Händen verhindern. Die erstenJahre des neuen Südafrika haben gezeigt, daß die Re-gierung als alleiniger Akteur der Transformation über-fordert ist. Die Versuchung des ANC, sämtliche Pro-jekte des sozialen Wandels bestimmen und umsetzenzu wollen, wird von den internationalen Gebern inso-fern gefördert, als sie ihre Mittel wie zu Zeiten desAnti-Apartheid-Kampfes ANC-nahen Kanälen zuführen.Diese sind jetzt jedoch nicht mehr Teil der außer-parlamentarischen und zivilgesellschaftlich-konstruk-tiven Opposition, sondern indirekt an der Regierungs-verantwortung beteiligt. Hier sollte ein Umdenkeneinsetzen und mehr Diversifizierung stattfinden.28

Viele klassische NGOs sind in manchen Bereichenweit besser als staatliche Stellen geeignet, soziale Ent-wicklungsarbeit sowie demokratische und medizini-sche Aufklärung vor Ort zu leisten. Sie verfügen überKnow-how und Zugang zu den betroffenen Bevölke-rungsgruppen � und besitzen deshalb Legitimität, ob-wohl sie nicht eigentlich demokratisch legitimiert

28 Dies mahnt auch die Financial Mail vom 24.1.2003 an.Nach Angaben dieser Zeitung sind bisher nur 15 bis 20% dervon ausländischen Regierungen zur Verfügung gestelltenGelder direkt an den »nonprofit sector« gegangen, ohne zuvordurch südafrikanische Regierungskanäle geschleust wordenzu sein.

sind. Basisorientierung ist hier oftmals wichtiger alsdas politische Mandat. Allerdings gilt ebenso wie inder Politik für alle NGOs, daß Verantwortlichkeit undRechenschaftspflicht gegenüber den südafrikanischenBürgern und ausländischen Gebern eingefordertwerden müssen. Nelson Mandela sprach zu Recht da-von, daß Südafrika nach den Jahrzehnten der Willküreine neue »culture of accountability« ausbilden müsse.

Ideale Ansatzpunkte für gesellschaftliche Einfluß-nahme auf die Politik sind die parlamentarischen Aus-schüsse im südafrikanischen System. Sie bilden einverbindendes Element zwischen gesellschaftlicherPeripherie und politischem Zentrum, von dem alleSeiten profitieren können und sollten. Es käme geradezu Transitionszeiten, in denen sich das neue politischeSystem noch finden muß, einer nicht hinnehmbarenVerschwendung von Ressourcen und Wissen gleich,wenn spezialisierte zivilgesellschaftliche Organisa-tionen ihre Kapazitäten nicht einbringen könnten.Daß es seit dem Soweto-Aufstand und noch bis in diespäten achtziger und gar neunziger Jahre hinein eine(im Kampf gegen die Apartheid entstandene) Kulturdes Boykotts gegeben hatte und der Slogan »liberationbefore education« hoch im Kurs stand, beweist dieDringlichkeit der Förderung von brachliegendemHumankapital. Geistige Entwicklung ermöglichtsozioökonomische Fortschritte. Dementsprechendsollten Bildungs- und Ausbildungseinrichtungenunterstützt werden, ob finanziell, materiell29 oder

29 Hilfreich könnte ein duales Ausbildungssystem wie inDeutschland sein, das mit entsprechenden Unterrichts- undhandwerklichen Materialien ausgestattet ist sowie über eineschulisch-betriebliche Verknüpfung verfügt. Hier könntenKonzepte und Trainer nach Südafrika transferiert werden.Wie wichtig die Hilfe beim Aufbau eines guten Schul- undAusbildungssystems ist, zeigt allein schon die Tatsache, daß1996 (laut Batho Pele, 30.11.2001) 34,3% der Bevölkerung amKap unter 15 Jahre alt waren. Die neue Generation könntedurch gemeinsames Aufwachsen alte, trennende Muster vonGruppenidentitäten abstreifen und multiple Identitäten aus-bilden, die eine wirkliche Abkehr von der Apartheid bedeu-teten. Gleichzeitig birgt diese Bevölkerungspyramide einenormes gesellschaftliches Druckpotential, denn die jungenLeute drängen schnell auf den Arbeitsmarkt und müssen dar-über hinaus eben auch sozio-kulturell geschult und integriertwerden. Diese Aufgabe darf nicht vernachlässigt werden,

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Möglichkeiten deutscher und europäischer Einflußnahme auf die weitere Demokratisierung Südafrikas

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personell, ob staatlicher oder privater Natur. Dies giltfür die Geber- und Nehmerseite gleichermaßen.

Einige Beispiele sollen angeführt werden, um dasweite Spektrum der förderungswürdigen informellenAkteure anzudeuten: So blickt etwa das Institut füreine demokratische Alternative in Südafrika (IDASA)auf eine noch junge, aber reiche Tradition des gesell-schaftlichen Brückenbaus zurück. Diese Traditionhatte mit der Organisation von Gesprächsrundenzwischen Apartheid-Establishment und ANC in denachtziger Jahren begonnen und setzt sich heute durchengagiertes Mitwirken an Gesetzgebungsverfahrenim Rahmen der parlamentarischen Ausschüsse fort.IDASA betreibt politisches Monitoring und vertritt dieInteressen benachteiligter sozialer Gruppen, die an-sonsten kaum eine Stimme im politischen Willens-bildungsprozeß hätten. Damit fungiert das KapstädterInstitut als Katalysator demokratischer Integrationund Vernetzung zwischen Allgemeinheit und poli-tischem Prozeß. Letzteres gilt beispielsweise auch fürdie in Johannesburg ansässigen politischen Analyse-Institute Centre for Policy Studies (CPS) und SouthAfrican Institute of Race Relations (SAIRR), ebensofür politische Stiftungen, die beispielsweise deutscheund europäische Parteien und Interessen in Südafrikavertreten, sowie für funktionale nationale und inter-nationale Institutionen (Handelskammern, Berufs-verbände etc.).30

Die praktische Vertiefung des Versöhnungsprozes-ses hat sich beispielsweise die Gruppe Khulumani zumZiel gesetzt, die Menschen vertritt, die unter den Ver-brechen der Apartheid besonders gelitten und deshalbvor der TRC ausgesagt haben. Vielen steht neben dermoralischen Entschuldigung seitens der Täter aucheine materielle Wiedergutmachung durch den Staatzu. Bislang wurden die Entschädigungsempfehlungender TRC an die Regierung jedoch kaum umgesetzt.Nachdem die Kommissionsarbeit offiziell im Frühjahr2003 mit einem letzten Abschlußbericht eingestellt

wenn die Konsolidierung der südafrikanischen Demokratiegelingen soll.30 Leitend könnte die Vorstellung eines Netzes der genann-ten und ähnlicher Institutionen sein, das sich über Südafrikaund irgendwann einmal auch über weitere Teile des Konti-nents legen ließe. Es würde den Austausch von Erfahrungen,Waren und Dienstleistungen ermöglichen sowie Knoten-punkte für staatliche und nichtstaatliche Aktivitäten schaf-fen. Damit dieses Know-how weiterhin entwickelt und ein-gebracht werden kann, sollten politische Stiftungen und an-dere Einrichtungen, die sich auf regionale Analysen und Ex-pertisen verstehen, erhalten bleiben, auch wenn dies Geldkostet.

wurde, will Khulumani diesem Mißstand abhelfen.Der Entschädigungsprozeß könnte zusätzlich durchden Umstand neue Dynamik erhalten, daß 2003 ersteSammelklagen von Apartheid-Opfern gegen ausländi-sche Profiteure und Kreditgeber des alten Regimes ein-gereicht wurden. Bislang jedenfalls zog sich die Nach-Apartheid-Regierung auf das Argument zurück, für be-gangenes Unrecht unter dem altem Regime nicht ver-antwortlich zu sein. Im übrigen verwies sie auf diestaatliche Mittelknappheit. Hier sind auch internatio-nale Geldgeber gefordert � entweder zur freiwilligenUnterstützung oder gar zum Begleichen historischerSchuld(en).

Ein weiteres Beispiel zivilgesellschaftlichen Engage-ments ist die Hilfe zur Selbsthilfe, die jene Frauenpraktizieren, die sich in der Homeless People�s Feder-ation zusammengeschlossen haben. Seit 1991 habensie nicht weniger als 10 000 Häuser in Billigbauweiseund Eigenarbeit errichtet. Sie bildeten einen Fonds, inden nahezu mittellose Frauen ihr weniges Geld ein-zahlen konnten, um dann mit Hilfe von Kreditengemeinsam Häuser im Wert von etwa 1.200 Euro proEinheit zu bauen. Materialbeschaffung und Bau erfol-gen in Eigenregie durch die Organisation, die mit in-und ausländischen Hilfsgeldern unterstützt wird undinsoweit die Regierung bei der Erfüllung ihrer Ver-pflichtungen entlastet.

Daß NGOs sinnvolle Politik auch gegen die Regie-rung durchzusetzen in der Lage sind, bewies die Treat-ment Action Campaign (TAC), die den Präsidenten undseine umstrittene Gesundheitsministerin zum Ein-lenken in der Aids-Politik zwang. Die Kampagne er-zeugte enormen öffentlichen Druck (nicht nur wegender Unterstützung durch Mandela) und erwirkte letzt-lich das Urteil des Verfassungsgerichts gegen die Re-gierungspolitik, die daraufhin 2002 geändert werdenmußte. Allerdings, und dies sei als Fazit der hier ge-wählten Beispiele erlaubt, ist zivilgesellschaftliche Ein-flußnahme nicht zwangsläufig auf Konfrontation aus-gerichtet, wie die zahlreichen Gesetzgebungsprozesseund dazugehörigen Ausschußsitzungen innerhalb desparlamentarischen Betriebs dokumentieren.

Damit sollte exemplarisch dargestellt werden, wievielfältig die Anknüpfungspunkte für ausländische In-itiativen zur Förderung von Demokratie und Entwick-lung im neuen Südafrika sind, eben weil das Landüber viele zivilgesellschaftliche Organisationen ver-fügt, die Unterstützung verdienen und bereits effek-tive Strukturen vorweisen können. Letzteres ist eindurchaus »unafrikanischer« Pluspunkt am Kap � eineMischung aus staatlich orientiertem Gießkannen-

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Nachhaltige Wirtschaftsförderung

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prinzip und der gezielten Projektförderung scheintdeshalb sinnvoll. Dies wird und muß der ANC eben-falls erkennen, der die staatlichen Kapazitäten nochmehr überfordern würde, wenn er Teile der Zivilgesell-schaft weiterhin als Konkurrenz empfände, wie dies inder jüngeren Vergangenheit oftmals geschah.

Nachhaltige Wirtschaftsförderung

Freilich ist der Staat bei größeren Projekten etwa imBereich der Infrastruktur nicht zu ersetzen. So hat dieRegierung beispielsweise ein 30 Mrd. Rand-Projektbeschlossen, mit dem Südafrikas Straßen in den kom-menden fünf Jahren instand gehalten werden sollen.Aber auch hier bestehen Einflußmöglichkeiten fürausländische Politik und nichtstaatliche Akteure.Diese könnten etwa dafür werben, daß entsprechendeAufträge erstens transparent und zweitens an Firmenvergeben werden, die arbeitsintensiv ausgelegt sind.Der Einsatz von Menschen sollte gerade in einem Landmit hoher Arbeitslosenquote dem von Maschinen vor-gezogen werden, selbst wenn dies ein wenig teurerist. Hier könnten ausländische Geber gegebenenfallsFinanzierungslücken schließen und damit vielenMenschen eine Beschäftigung ermöglichen.31

Das gleiche Prinzip gilt bei der gesamten Industrie-förderung, auch durch private Investitionen. Diesesollen selbstverständlich betriebswirtschaftlich sinn-voll sein, doch bieten sich unter dem Aspekt der Indu-zierung von Eigendynamik beschäftigungsintensiveSektoren mehr an als kapitalintensive. Beispielsweisebewirken Investitionen in der Tourismusindustrie oft-mals recht schnell die Schaffung ganzer Arbeitsplatz-

31 Im Bereich der Infrastrukturförderung bietet sich vorallem der Ausbau von Straßen und Schienen an, die wirt-schaftliche Zentren wie etwa Johannesburg (Südafrika),Maputo (Mozambique) und Harare (Zimbabwe) etc. länder-übergreifend verbinden. So könnte der Warenaustauschgefördert werden, um einen größeren Binnenmarkt für dieSADC-Volkswirtschaften logistisch zu begünstigen. Schautman beispielsweise in Ostafrika auf das Transport-NadelöhrNairobi�Mombasa-»Highway« bzw. die parallel verlaufendealte Uganda-Bahn, die als einzige Verbindung zwischendiesen beiden kenianischen Großstädten dient, so wirdschnell klar, warum das vermeintliche ostafrikanische Wirt-schaftszentrum Kenia nicht florieren kann. Im Gegensatzdazu besteht etwa zwischen der wirtschaftlich stärksten süd-afrikanischen Region Johannesburg/Pretoria und den bots-wanischen Metropolen Gaborone und Francistown eine guteStraßenverbindung und herrscht ein entsprechend regerGütertransfer zwischen diesen demokratisch stabilen SADC-Partnern.

ketten: Vom Manager eines Hotels bis zum Übersetzer,vom Hausmeister über den Koch, Kellner, Fahrer undBuchhalter bis zur Wasch- und Reinigungskraft ent-stehen Jobs, die allesamt dem recht diversifiziertenAusbildungsniveau Südafrikas entsprechen.

Ein weiterer Standortfaktor und Ansatzpunkt füreine wirksame Außenunterstützung der Entwicklungdrängt sich gerade an der Südspitze Afrikas auf. Die indiesem Teil des Kontinents besonders reizvolle Naturbedarf aufgrund des überwiegend semi-ariden Klimasspezieller Maßnahmen zu ihrem Schutz und Erhalt.Nicht nur die landwirtschaftlichen Produkte Südafri-kas haben höchste Qualität, auch der Tourismus profi-tiert von den grandiosen Naturräumen am Kap. Dastouristische Boomland Südafrika wurde nicht zuletztdank der bisherigen Verschonung vom internatio-nalen Terrorismus zum Reiseziel mit den weltweithöchsten Wachstumsraten.32 2002 kamen mehr alssechs Millionen ausländische Besucher,33 um die Tier-,Pflanzen- und Bergwelt zu erleben. Hier steckt einnoch wesentlich größeres Potential, das jedoch inverantwortungsvoller Weise erschlossen werden sollte.

Ökologische Verträglichkeit und Nachhaltigkeitmüssen jedenfalls wichtige Prinzipien bei der forcier-ten Entwicklung sein. Dies ist für die Befriedigung derBedürfnisse ausländischer Besucher besonders rele-vant, muß aber auch für die Grundbedürfnisse derEinheimischen angestrebt werden. Bei ganzjährighoher Sonnenintensität bieten sich etwa Warmwasser-aufbereitung und Stromgewinnung durch Sonnen-kollektoren an, die gerade im kleinen, dezentralenRahmen eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen.Ähnlich sieht es bei der Nutzung der Windkraft undder behutsamen und effektiven Wassernutzung aus,die wegen der vielen Trockenzonen ein besondersheikles Thema darstellt. In diesen Bereichen könnteausländisches Know-how helfen. Deutschland dürfteaufgrund seiner führenden Position im Bereich derregenerativen Energien hierfür besonders geeignetsein. Technologietransfer und privatwirtschaftlicheInvestitionen könnten sich von Südafrika aus � analogzu den demokratischen Strukturen � im ganzen Kon-tinent ausbreiten.

32 Vgl. New African, (August/September 2003), S. 50.33 Darunter sind die Deutschen nach den Briten die zweit-stärkste Gruppe (Batho Pele, [2002] 2).

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Möglichkeiten deutscher und europäischer Einflußnahme auf die weitere Demokratisierung Südafrikas

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Forderung nach Kohärenz deutscher undeuropäischer Politik

Besonders auf dem landwirtschaftlichen Sektor spieltder westlich dominierte Weltmarkt wegen der durchSubventionierung verursachten Preisverzerrungenallerdings eine zwielichtige Rolle. Der europäischeund der US-amerikanische Markt bieten Südafrikazwar Chancen, machen diese aber gleichzeitig durchtarifäre und nichttarifäre Einfuhrerschwernisse zu-nichte. Südafrika hat mittlerweile ein Handelsabkom-men mit der EU geschlossen � zum beiderseitigenNutzen, wie es heißt. Damit dieser aber auch wirklichzum Tragen kommen kann, bedarf es aus südafrikani-scher Sicht einer größeren Kohärenz europäischerPolitik, was im übrigen auch aus Sicht der angren-zenden Länder des Südlichen Afrika gilt.34 Ist es bei-spielsweise sinnvoll, aus dem Entwicklungshilfeetateinen Schlachthof in Namibia oder Südafrika zufördern, wenn man gleichzeitig subventioniertesEU-Rindfleisch so billig auf dem Weltmarkt anbietet,daß es trotz der entstehenden Transportkosten an derSüdspitze Afrikas günstiger zu kaufen ist als einheimi-sches Fleisch? Das gleiche gilt für landwirtschaftlicheGüter wie Obst und Wein, die ein wichtiges Segmentder südafrikanischen Exporte bilden (bzw. ein nochstärkeres bilden könnten) und deshalb faire Markt-zugangschancen brauchen. Auch wenn dies angesichtsder komplizierten Strukturen und Interessen dernationalen und der EU-Politik nicht einfach erscheint,darf doch die Forderung nach sinnvoller Abstimmungder verschiedenen europäischen Politikbereiche inbilateralen und WTO-Verhandlungen nicht vollendsaußer acht gelassen werden. Vielmehr muß ein weite-rer Abbau der tarifären und nichttarifären Handels-barrieren der industrialisierten Welt gegenüber Süd-afrika als einem emerging market und Produzentenangestrebt werden. Schließlich ist die Kaprepublik ein(entwicklungs-)politischer Brückenkopf des Westens inAfrika, der in beiderseitigem Interesse besser stark alsschwach sein sollte.

Ein weiteres Feld der Kooperation zwischen Süd-afrika, Deutschland und Europa könnte die Regelungdes Schuldendienstes sein. Bislang sind viele Mittel desneuen Staates an Rückzahlungen von Krediten gebun-

34 Für ganz Afrika stellte Zeit-Korrespondent BartholomäusGrill (Die Zeit, 25.4.2002) die Rechnung auf, daß dem Kon-tinent allein wegen des Agrarprotektionismus� Europas,Nordamerikas und Japans jährlich Exporteinnahmen vonetwa 20 Mrd. US-Dollar entgingen � eine Summe, die doppeltso hoch sei wie die Summe der Entwicklungshilfe an Afrika.

den, für die das alte Regime verantwortlich zeichnete(Stichwort odius debts). Die neue Führung hat sich beider Schuldenaufnahme extrem zurückgehalten, wasjedoch international nicht in ausreichender Weisehonoriert wird. So wie Südafrika unter Mandelaseinem ehemaligen (und früher deutschen) Protek-torat Namibia nach dessen Unabhängigkeit im Jahre1990 die Schulden erließ, würde eine Verringerungder Schuldenlast der jetzigen südafrikanischen Regie-rung neue Entwicklungs- und Umverteilungsspiel-räume eröffnen. Davon könnten neben den Menschenam Kap wiederum ausländische Produzenten profi-tieren, da auf diese Weise die südafrikanische Investi-tions- und Kaufkraft indirekt gestärkt würde und sichsomit der Absatzmarkt für in- und ausländische Pro-dukte erweiterte.

Ein Schuldenerlaß wäre eine Art Belohnung für dasneue Südafrika, das sich (ohne ausgiebige Inanspruch-nahme der Bretton-Woods-Institutionen) als vollkom-men systemkonform mit westlichen makroökonomi-schen Vorstellungen sowie den allgemeinen Praktikenund Anforderungen von Internationalem Währungs-fonds und Weltbank gezeigt hat. Diese Übereinstim-mung geht letztlich so weit, daß linke Kritiker in Süd-afrika von einem »self imposed structural adjustmentprogramme« sprechen. Nicht zuletzt mit Blick aufdiese zahlreichen Kritiker sollte die internationaleGemeinschaft der Mbeki-Administration gute Argu-mente an die Hand geben, indem sie durch eine Ent-schuldungspolitik neue Mittel zur sozioökonomischenEntwicklung freisetzt.

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Fazit

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Fazit

Insgesamt bietet Südafrika gute Bedingungen sowohlfür staatliche und NGO-Kooperationen als auch fürprivate Auslandsinvestitionen, gerade im Vergleich zuanderen Schwellenländern. Das politische System istrechtsstaatlich verläßlich und funktional, die Regie-rungspolitik marktwirtschaftlich und stabilitätsorien-tiert, der Arbeitskräftepool groß und recht diversifi-ziert. Im zurückliegenden Jahrzehnt hat es am Kapweder dramatische wirtschaftliche Einbrüche (wievor Jahren in Fernost oder zuletzt in Argentinien undUruguay) noch politische Unruhen (wie unlängst inVenezuela) gegeben.

Im neuen Südafrika steht, im Gegensatz zu weitenTeilen Afrikas, hinsichtlich der demokratischen Ent-wicklung nicht mehr das große Ob im Mittelpunkt derDiskussion, sondern nur noch die Detailfrage des Wie.Dies gilt es anzuerkennen und in alle zurückliegendbehandelten Blickrichtungen aktiv zu kommunizie-ren. Innergesellschaftlich muß die überzogene Kritikder Opposition und der Medien relativiert und das inder Gesellschaft fehlende Bewußtsein für das bis-lang Erreichte verstärkt werden, um die respektablenErrungenschaften nicht zu gefährden. Gesamt-afrikanisch sollte das positive Beispiel der Entwick-lung und demokratischen Stabilität am Kap möglichstSchule machen. Und aus europäischer Perspektiveschließlich sollte man noch deutlicher zur Kenntnisnehmen, welch stabiler Partner der Nach-Apartheid-Staat für politische, zivilgesellschaftliche und wirt-schaftliche Kooperation (aktuell jedenfalls) ist.

Allerdings bleibt genau zu beobachten, in welcheRichtung sich die südafrikanische Demokratie weiter-entwickelt. Nicht umsonst stellte Samuel P. Hunting-ton als Analytiker der weltweiten »Dritten Demokrati-sierungswelle« für die jüngeren Transformations-staaten, zu denen auch Südafrika zählt, folgendes fest:»With third-wave democracies the problem is notoverthrow but erosion: the intermittent or gradualweakening of democracy by those elected to lead it.«35

Diese These haben in Südafrikas Nachbarschaft zu-mindest Zimbabwe und ansatzweise auch Namibiasowie in Osteuropa Weißrußland und Rußland bestä-

35 Samuel P. Huntington, Democracy for the Long Haul, in:Journal of Democracy, 7 (April 1996) 2, S. 3�13 (8).

tigt. An sie sollte man sich eben auch in Südafrikarechtzeitig erinnern. Präsidialer Zentralismus undEinparteienhegemonie mögen Indikatoren derbefürchteten demokratischen Erosion sein. Geradeam Kap lassen sie sich aber gegebenenfalls dank derpluralistischen Gegenkräfte und der guten Beziehun-gen zu europäischen Freunden kontrollieren. Einpartnerschaftlicher, die Altlasten der Vergangenheitberücksichtigender und zugleich konstruktiv-kriti-scher Dialog bleibt für die formellen diplomatischenBeziehungen ebenso wünschenswert wie die Offenhal-tung informeller Kanäle durch politische Stiftungen,NGOs im Sozialbereich oder Wirtschaftsverbände.

Sollte sich der in der aktuellen ANC-Hegemonie mitseiner konstanten Zweidrittel-Mehrheit und in Mbekisfaktischem Superpräsidialismus zum Ausdruck kom-mende strukturelle Demokratie-Zuschnitt allerdingsweiterhin negativ entwickeln, wäre dies weder demWunsch nach einer pluralen Ordnung in Südafrikanoch der Hoffnung auf eine wirkliche Demokratie aufdem Kontinent (AU, NEPAD) förderlich. Wie sollensich mehrere starke afrikanische Führer präsidialerRegime (etwa aus Südafrika, Ägypten, Nigeria, Libyen)auf gesamtafrikanischer Ebene dazu bereit finden,einen kollektiveren Führungsstil zu pflegen als inihren Heimatsystemen? Woraus soll die Autoritäteines afrikanischen Parlaments erwachsen, wenn dienationalen Pendants marginalisiert und Oppositionennicht im konstruktiven Sinne verstanden und akzep-tiert werden? Dies ist ein Problem der politischenKultur, an der es in vieler Hinsicht noch zu fehlenscheint. In diesem Zusammenhang muß auch aufdie mangelnden personellen Ressourcen verwiesenwerden, unter denen nationale und kontinentaleDemokratie-Institutionen in Afrika zu leiden haben.Trotzdem gilt es, die südafrikanische Führung inihrem Streben nach good governance in weiteren TeilenAfrikas zu unterstützen.

Südafrika selbst hat in dieser Hinsicht vergleichs-weise große Potentiale und einen beachtlichen Ent-wicklungsstand erreicht, der vom Zustand vielerpseudo-demokratischer »Staatshüllen« in Afrika weitentfernt ist. Seine politische und wirtschaftliche Ord-nung zeichnet sich durch einen hohen Organisations-und Rationalitätsgrad aus, die Rechtsstaatsgarantie als

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Fazit

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erste Voraussetzung einer demokratischen Konsolidie-rung wird beherzigt. Zwischen Südafrika und Europabesteht daher weitgehende politische, wirtschaftlicheund (partielle) kulturelle Kompatibilität. Dieser Vorteilist zumindest in den entscheidenden Teilen der Gesell-schaft gegeben, weshalb Südafrika � trotz aller be-schriebenen Defizite � auch zehn Jahre nach demEnde der Apartheid als Bindeglied zwischen Afrikaund dem politischen Westen ohne Alternative bleibt.

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Abkürzungen

ANC African National CongressAU African UnionAZAPO Azanian People�s OrganisationBIP BruttoinlandsproduktCOSATU Congress of South African Trade UnionsDA Democratic AllianceDP Democratic PartyFF Freedom FrontGEAR Growth, Employment and RedistributionID Independent DemocratsIDASA Institute for a Democratic Alternative in South AfricaIFP Inkatha Freedom PartyKANU Kenya African National UnionNEC National Executive Committee (des ANC)NEDLAC National Economic Development and Labour CouncilNEPAD New Partnership for Africa�s DevelopmentNGO Non-governmental OrganisationNNP New National PartyNP National PartyPAC Pan Africanist CongressPFP Progressive Federal PartyRDP Reconstruction and Development ProgrammeSACP South African Communist PartySADC Southern African Development CommunitySAIRR South African Institute for Race RelationsSWAPO South West Africa People�s OrganisationTAC Treatment Action CampaignTRC Truth and Reconciliation CommissionUDM United Democratic MovementZANU-PF Zimbabwe African National Union�Patriotic Front