Stipancic: Werde damit fertig, Genosse!

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1966). Es scheint, als hätten wir heute in Exjugoslawien nur dank Einzelner, die »damit fertig wurden«, eine entsprechende Kunstgeschichte, und das trotz widriger ökonomischer Umstän- de und eines unterentwickelten Kunstsystems. Die erste Ausstellung in der Reihe »Neue Tendenzen« wur- de 1961 auf Initiative des in Deutschland lebenden brasilia- nischen Künstlers Almir Mavignier veranstaltet. Zusammen mit den Kuratoren der Galerie für zeitgenössische Kunst Zagreb hatte er die Idee zu einer Ausstellung, die die damalige Situation der Gegenwartskunst wiedergeben sollte (hauptsächlich den Kanon der geometrischen Abstraktion, im Grunde der neokons- truktivistischen Kunst). Zur Ausstellung kamen vorwiegend Kunstschaffende aus dem Westen, zum Beispiel Piero Manzoni, die Gruppe ZERO, Manfredo Massironi, François Morellet oder Dieter Roth. Die zweite Ausstellung im Jahr 1963 präsentierte 58 KünstlerInnen, darunter Getulio Alviani, Enrico Castellani, Enzo Mari, Henk Peeters, die Gruppe GRAV, Julio Le Parc, Grup- po T und Gianni Colomo. Bei der dritten Auflage 1965 verdop- pelte sich die Anzahl der KünstlerInnen noch einmal. Der über- wiegende Teil der ausgestellten Werke gehörte nunmehr zur optischen und kinetischen Kunst. Zum ersten Mal kamen neben KünstlerInnen aus den Vereinigten Staaten auch welche aus Osteuropa. Aus der Sowjetunion kam die Gruppe Dviženije, aus dem übrigen Osteuropa Imre Bak, Zdenˇ ek Sykóra und Miloš Urbásek. Auf der vierten »Neue Tendenzen« 1969 stammten fast die Hälfte der Beiträge aus Nordamerika, meist von Mathema- tikerInnen, PhysikerInnen oder IngenieurInnen, da es um Compu- terkunst ging. Die fünfte Auflage 1973 galt der Konzeptkunst, wobei viele der Ausstellenden aus Amerika und dem übrigen Westen sowie aus Osteuropa kamen (Štefan Bˇ elohradský, Endre Tót, John Baldessari, Daniel Buren usw.). Das Genre Filmfestival (GEFF) fand von 1963 bis 1970 statt und wurde von Mitgliedern des Kinoclub Zagreb (der Verei- nigung der Amateurfilmschaffenden) auf Initiative von Mihovil Pansini gegründet. Das Festival galt dem Experimentalfilm oder, wie es hieß, dem Antifilm. In nur wenigen Jahren reifte das GEFF zu einem internationalen Event heran, auf dem 1970 der amerikanische Undergroundfilm unter dem Hauptthema Sexu- alität präsentiert wurde. Der Untertitel des Festivals lautete »Sexualität als Weg zu einem neuen Humanismus«. Die Gruppe Gorgona wiederum entfaltete zwischen 1959 und 1966 unterschiedlichste Aktivitäten, die mit der Moderne brachen, welche im ehemaligen Jugoslawien so etwas wie einen offiziellen Status innehatte. Die Gruppe schuf Konzepte, Projekte, führte Kunstaktionen aus usw. Erste Formen der Entmaterialisierung des Kunstobjekts finden sich unter ihren Arbeiten. So verschickte Josip Vaništa 1962 an 50 Adressa- tInnen vom Verteiler des Studio G in Zagreb eine Einladung, auf der er schlicht »freundlich einlud«. Unerwähnt blieb, wohin und wozu man eingeladen war. Bei dieser Einladungskarte ist die Kunst fast immateriell. Sie besteht nur aus einem Text, der Text: Branka Stipanˇ ci´ c, Übersetzung: Thomas Raab Wie funktionierte die Kunstszene in Jugoslawien? Ich möchte diese Frage hier anhand von Zagreb in den 1960er-Jahren behandeln. Jugoslawien war damals blockfrei und folgte dem sogenannten Dritten Weg, der weder markwirtschaftlich wie im Westen noch kommunistisch wie im Ostblock ausgerichtet war. Das angepeilte Wirtschaftssystem nannte man »Selbst- verwaltung«. Und in diesem Schwebezustand fand die Kultur immer Auswege. Um zu zeigen, dass sich die Menschen in Jugoslawien im Gegensatz zu jenen in anderen osteuropäischen Ländern nicht einfach vom Rest der Welt abschneiden ließen, möchte ich mit einem Zitat des Komponisten Milko Kelemen beginnen, dem Gründer der internationalen Musik Biennale: »Mitte der 1950er- Jahre wohnte ich in Darmstadt, wo ich arbeitete und an der be- rühmten Darmstädter Schule studierte. Dort traf ich zum ersten Mal Penderecki. […] Als ich dann 1959 nach Zagreb zurückkam, kam mir die Idee zur Biennale. Ich suchte den damaligen Zagre- ber Bürgermeister Ve´ ceslav Holjevac auf und teilte ihm mit, dass ich gerne ein großes Festival organisieren würde. Er blick- te nicht einmal von seinen Akten auf. Erst als ich ihm sagte, dass ich, sollte er nicht zusagen, das Festival in Belgrad machen würde, sah er mich wie von der Tarantel gestochen an. ›Was willst du machen, was willst du machen?‹, brüllte er. ›Ich kann dir einen Berg Dinar geben, aber keinen einzigen Dollar.‹ Ich fragte ihn, wie ich denn damit die Oper aus Deutschland, das Ballett aus Russland oder ein Orchester aus Amerika engagieren sollte. Doch er meinte nur: ›Werde damit fertig, Genosse!‹ Ich wusste genau, was ich zu tun hatte. Ich begann, mit der Sowjet- union zu verhandeln. Jugoslawien war damals so etwas wie eine Drehscheibe für die Weltpolitik. Ich ging zu Furzeva, die da- mals russische Kulturministerin war. Ich erzählte ihr vom wach- senden Einfluss Amerikas und des Westens in Jugoslawien, und dass wir in Zagreb dringend das Leningrader Ballet und die Moskauer Philharmoniker brauchten. Sie sagte sofort zu. Und ich musste gar nichts bezahlen.« Daraufhin reiste Kelemen in die USA und besuchte das State Department in Washington. Dort hatte er einige Gespräche, in denen er herausstrich, dass Jugoslawien unter größtem rus- sischen Einfluss stünde und dass die Russen der Zagreb Bien- nale schon zugestimmt hätten. Kelemen wollte das Chicago Philharmonic Orchestra und das San Francisco Ballet. Er bekam alles, was er von den Amerikanern wollte. »Nachdem ich die Russen und Amerikaner gewonnen hatte, war der Rest ein Kin- derspiel. Kein Wunder, dass sie mich später den Musikdiplo- maten nannten«, schließt Kelemen seinen Bericht. 1 Die Musik Biennale (MB) wurde 1961 gegründet. Berühmte MusikerInnen und TänzerInnen aus Ost und West kamen nach Zagreb, was zu Zeiten des Kalten Krieges in anderen Ländern kaum vorkam. In den frühen 1960er-Jahren traten das Bolschoi- theater und die Hamburger Staatsoper auf, Igor Strawinsky kam, Mauricio Kagel, Luigi Nono, John Cage, Lukas Foss, Schostako- witsch, Witold Lutoslawski, Mstislav Rostropowitsch, Stock- hausen, Bruno Maderna, Pierre Schaeffer, Olivier Messiaen und viele andere mehr. Eine ganze Generation von Avantgarde- komponisten wie Ivo Malec oder Dubravko Detoni fand sich ein. Doch es entstanden noch viele andere große Kulturein- richtungen nach dem Motto »Werde damit fertig, Genosse«. Ich nenne hier nur ein paar: die internationale Ausstellungsreihe »Neue Tendenzen« (1961–1973), das Genre Filmfestival (1963– 1970) und die neoavantgardistische Gruppe Gorgona (1959– 1 www.nacional.hr/clanak/33933/46-godina-poslije »Werde damit fertig, Genosse!« Zur Internationalisierung der kroatischen Kulturszene seit den 1960er-Jahren Igor Stravinski während einer Probe auf der 2. Musik Biennale Zagreb 1963 Die Sopranistin Martina Arroyo, Solistin bei der Eröffnung der 3. Musik Biennale 1965 Pierre Schaeffer bei dem Panel »What is Music to Us?«, 14. Mai 1965 Student Centre Forum Zagreb Josip Stojanovi´ c, erster Direktor der Musik Biennale Zagreb, in der Istra Konzerthalle, 1961 Courtesy Muzi ˇ cki Biennale Zagreb sowie Cantus Ltd., Zagreb Karlheinz Stockhausens erster Besuch auf der Musik Biennale 1965 30 31 springerin Heft 1/2011

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Zur Internationalisierung der kroatischen Kulturszene seit den 1960er-Jahren

Transcript of Stipancic: Werde damit fertig, Genosse!

1966). Es scheint, als hätten wir heute in Exjugoslawien nur

dank Einzelner, die »damit fertig wurden«, eine entsprechende

Kunstgeschichte, und das trotz widriger ökonomischer Umstän-

de und eines unterentwickelten Kunstsystems.

Die erste Ausstellung in der Reihe »Neue Tendenzen« wur-

de 1961 auf Initiative des in Deutschland lebenden brasilia-

nischen Künstlers Almir Mavignier veranstaltet. Zusammen mit

den Kuratoren der Galerie für zeitgenössische Kunst Zagreb

hatte er die Idee zu einer Ausstellung, die die damalige Situation

der Gegenwartskunst wiedergeben sollte (hauptsächlich den

Kanon der geometrischen Abstraktion, im Grunde der neokons-

truktivistischen Kunst). Zur Ausstellung kamen vorwiegend

Kunstschaffende aus dem Westen, zum Beispiel Piero Manzoni,

die Gruppe ZERO, Manfredo Massironi, François Morellet oder

Dieter Roth. Die zweite Ausstellung im Jahr 1963 präsentierte

58 KünstlerInnen, darunter Getulio Alviani, Enrico Castellani,

Enzo Mari, Henk Peeters, die Gruppe GRAV, Julio Le Parc, Grup-

po T und Gianni Colomo. Bei der dritten Auflage 1965 verdop-

pelte sich die Anzahl der KünstlerInnen noch einmal. Der über-

wiegende Teil der ausgestellten Werke gehörte nunmehr zur

optischen und kinetischen Kunst. Zum ersten Mal kamen neben

KünstlerInnen aus den Vereinigten Staaten auch welche aus

Osteuropa. Aus der Sowjetunion kam die Gruppe Dviženije, aus

dem übrigen Osteuropa Imre Bak, Zdenek Sykóra und Miloš

Urbásek. Auf der vierten »Neue Tendenzen« 1969 stammten fast

die Hälfte der Beiträge aus Nordamerika, meist von Mathema-

tikerInnen, PhysikerInnen oder IngenieurInnen, da es um Compu-

terkunst ging. Die fünfte Auflage 1973 galt der Konzeptkunst,

wobei viele der Ausstellenden aus Amerika und dem übrigen

Westen sowie aus Osteuropa kamen (Štefan Belohradský,

Endre Tót, John Baldessari, Daniel Buren usw.).

Das Genre Filmfestival (GEFF) fand von 1963 bis 1970

statt und wurde von Mitgliedern des Kinoclub Zagreb (der Verei-

nigung der Amateurfilmschaffenden) auf Initiative von Mihovil

Pansini gegründet. Das Festival galt dem Experimentalfilm oder,

wie es hieß, dem Antifilm. In nur wenigen Jahren reifte das

GEFF zu einem internationalen Event heran, auf dem 1970 der

amerikanische Undergroundfilm unter dem Hauptthema Sexu-

alität präsentiert wurde. Der Untertitel des Festivals lautete

»Sexualität als Weg zu einem neuen Humanismus«.

Die Gruppe Gorgona wiederum entfaltete zwischen 1959

und 1966 unterschiedlichste Aktivitäten, die mit der Moderne

brachen, welche im ehemaligen Jugoslawien so etwas wie

einen offiziellen Status innehatte. Die Gruppe schuf Konzepte,

Projekte, führte Kunstaktionen aus usw. Erste Formen der

Entmaterialisierung des Kunstobjekts finden sich unter ihren

Arbeiten. So verschickte Josip Vaništa 1962 an 50 Adressa-

tInnen vom Verteiler des Studio G in Zagreb eine Einladung, auf

der er schlicht »freundlich einlud«. Unerwähnt blieb, wohin

und wozu man eingeladen war. Bei dieser Einladungskarte ist

die Kunst fast immateriell. Sie besteht nur aus einem Text, der

Text: Branka Stipancic, Übersetzung: Thomas Raab

Wie funktionierte die Kunstszene in Jugoslawien? Ich möchte

diese Frage hier anhand von Zagreb in den 1960er-Jahren

behandeln. Jugoslawien war damals blockfrei und folgte dem

sogenannten Dritten Weg, der weder markwirtschaftlich wie

im Westen noch kommunistisch wie im Ostblock ausgerichtet

war. Das angepeilte Wirtschaftssystem nannte man »Selbst-

verwaltung«. Und in diesem Schwebezustand fand die Kultur

immer Auswege.

Um zu zeigen, dass sich die Menschen in Jugoslawien

im Gegensatz zu jenen in anderen osteuropäischen Ländern nicht

einfach vom Rest der Welt abschneiden ließen, möchte ich

mit einem Zitat des Komponisten Milko Kelemen beginnen, dem

Gründer der internationalen Musik Biennale: »Mitte der 1950er-

Jahre wohnte ich in Darmstadt, wo ich arbeitete und an der be-

rühmten Darmstädter Schule studierte. Dort traf ich zum ersten

Mal Penderecki. […] Als ich dann 1959 nach Zagreb zurückkam,

kam mir die Idee zur Biennale. Ich suchte den damaligen Zagre-

ber Bürgermeister Veceslav Holjevac auf und teilte ihm mit,

dass ich gerne ein großes Festival organisieren würde. Er blick-

te nicht einmal von seinen Akten auf. Erst als ich ihm sagte,

dass ich, sollte er nicht zusagen, das Festival in Belgrad machen

würde, sah er mich wie von der Tarantel gestochen an. ›Was

willst du machen, was willst du machen?‹, brüllte er. ›Ich kann

dir einen Berg Dinar geben, aber keinen einzigen Dollar.‹ Ich

fragte ihn, wie ich denn damit die Oper aus Deutschland, das

Ballett aus Russland oder ein Orchester aus Amerika engagieren

sollte. Doch er meinte nur: ›Werde damit fertig, Genosse!‹ Ich

wusste genau, was ich zu tun hatte. Ich begann, mit der Sowjet-

union zu verhandeln. Jugoslawien war damals so etwas wie

eine Drehscheibe für die Weltpolitik. Ich ging zu Furzeva, die da-

mals russische Kulturministerin war. Ich erzählte ihr vom wach-

senden Einfluss Amerikas und des Westens in Jugoslawien,

und dass wir in Zagreb dringend das Leningrader Ballet und die

Moskauer Philharmoniker brauchten. Sie sagte sofort zu. Und

ich musste gar nichts bezahlen.«

Daraufhin reiste Kelemen in die USA und besuchte das State

Department in Washington. Dort hatte er einige Gespräche, in

denen er herausstrich, dass Jugoslawien unter größtem rus-

sischen Einfluss stünde und dass die Russen der Zagreb Bien-

nale schon zugestimmt hätten. Kelemen wollte das Chicago

Philharmonic Orchestra und das San Francisco Ballet. Er bekam

alles, was er von den Amerikanern wollte. »Nachdem ich die

Russen und Amerikaner gewonnen hatte, war der Rest ein Kin-

derspiel. Kein Wunder, dass sie mich später den Musikdiplo-

maten nannten«, schließt Kelemen seinen Bericht.1

Die Musik Biennale (MB) wurde 1961 gegründet. Berühmte

MusikerInnen und TänzerInnen aus Ost und West kamen nach

Zagreb, was zu Zeiten des Kalten Krieges in anderen Ländern

kaum vorkam. In den frühen 1960er-Jahren traten das Bolschoi-

theater und die Hamburger Staatsoper auf, Igor Strawinsky kam,

Mauricio Kagel, Luigi Nono, John Cage, Lukas Foss, Schostako-

witsch, Witold Lutoslawski, Mstislav Rostropowitsch, Stock-

hausen, Bruno Maderna, Pierre Schaeffer, Olivier Messiaen und

viele andere mehr. Eine ganze Generation von Avantgarde-

komponisten wie Ivo Malec oder Dubravko Detoni fand sich ein.

Doch es entstanden noch viele andere große Kulturein-

richtungen nach dem Motto »Werde damit fertig, Genosse«. Ich

nenne hier nur ein paar: die internationale Ausstellungsreihe

»Neue Tendenzen« (1961–1973), das Genre Filmfestival (1963–

1970) und die neoavantgardistische Gruppe Gorgona (1959–

1 www.nacional.hr/clanak/33933/46-godina-poslije

»Werde damit fertig, Genosse!«Zur Internationalisierung

der kroatischen Kulturszene seit den 1960er-Jahren

Igor Stravinski während einer Probe auf der 2. Musik Biennale Zagreb 1963

Die Sopranistin Martina Arroyo, Solistin bei der Eröffnung der 3. Musik Biennale 1965

Pierre Schaeffer bei dem Panel »What is Music to Us?«, 14. Mai 1965

Student Centre Forum Zagreb

Josip Stojanovic, erster Direktor der Musik Biennale Zagreb, in der Istra Konzerthalle, 1961Courtesy Muzicki Biennale Zagreb sowie Cantus Ltd., Zagreb

Karlheinz Stockhausens erster Besuch auf der Musik Biennale 1965

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einen einfachen Gedanken formuliert: eine Einladung zu oder

auf nichts. Vaništa karikiert eine soziale Konvention, um sie sub-

versiv zu Kunst zu machen. Der Künstler fügt sich in die Funk-

tionsweise der Galerie ein, nur um sie dann von innen her zu kri-

tisieren. Dieses Werk steht gänzlich außerhalb der Bildtradition

und stellt viele Fragen zum Kontext von Galerien. Zugleich ist es

eine verwirrende neodadaistische Provokation und eine konzep-

tuelle Aktion, die die philosophischen Grundfragen nach dem Was,

dem Wo und dem Warum aufwirft.

1964 schuf Vaništa ein »Gemälde«, das er nicht malte,

sondern nur auf der Leinwand als Text beschrieb. Damit begann

er, der immer schon ein großes Feingefühl für Immaterielles

hatte, das Visuelle durch dessen sprachliches Äquivalent zu er-

setzen.

Die Mitglieder der Gruppe entwickelten die Eigenheit,

sich Zitate aus der Literatur zu schicken, die das Befinden ihrer

»gorgonischen« Gemeinschaft ausdrückten und die alle kennen

sollten. Die Zitate Vaništas belegen seine Beschäftigung mit Yves

Klein, John Cage, Allan Kaprow, Alain Robbe-Grillet, Laotse

und vielen anderen. Zentral sind Äußerungen zur Vorstellung der

Leere oder Substanzlosigkeit. Beim Lesen dieser »Gedanken

des Monats« kann man erkennen, wie eng die Gruppe mit der

internationalen Avantgarde in Verbindung stand.

Die Kunst der Gorgona-Gruppe kann nicht (wie es bei

Kunst aus dem Osten oft geschieht) als verspätete Nachahmung

westlicher Kunst interpretiert werden. Sie ließ sich einfach auf

gleicher Augenhöhe von ihr inspirieren. Diese Verbindung wird

vor allem an der Antizeitschrift »Gorgona« kenntlich, die von

1961 bis 1966 unter Mitarbeit von Victor Vasarely, Harold Pinter

und Dieter Roth erschien. Jede Nummer wurde von nur einem

Künstler gestaltet. Die Bedachtnahme auf das Medium selbst

nahm die in den 1970er-Jahren aufkommenden Künstlerbücher

vorweg. Antizeitschriften von Piero Manzoni, Enzo Mari und vie-

len anderen waren schon in Vorbereitung, wurden jedoch leider

nie produziert. Vaništa korrespondierte auch mit Fontana, Rau-

schenberg und anderen bezüglich einer Teilnahme. Er platzierte

im holländischen Magazin »Null« eine Anzeige für »Gorgona«,

und sein Briefwechsel mit Hans Sohm, Henk Peeters oder dem

New Yorker Buchhändler George Witterborn (der »Gorgona«

ins MoMA einführte) belegen den Wunsch dieses Künstlers, das

richtige Zielpublikum zu erreichen.

Die »Gorgonier« entwickelten ein fast umfassendes künst-

lerisches System. Es gelang ihnen, so viel in Eigenregie zu

machen, dass sie zu einer Zeit, in der privates Unternehmertum

beinahe unmöglich war, eine Galerie mitten im Zentrum Zagrebs

betreiben konnten. Sie fanden mit ihren Möglichkeiten das Aus-

langen und wurden so, wie es Bürgermeister Holjevac so schön

gesagt hatte, »damit fertig«. Sie entdeckten ein Schlupfloch

im Gesetz, mieteten einen Rahmenladen und organisierten dort

1962 und 1963 Ausstellungen (mit Mitgliedern des Studio G,

Morellet, Dorazio und anderen). Dabei arbeiteten die Leute von

Gorgona vorwiegend mit Kunsthistorikern und Kuratoren wie

Matko Meštrovic, Radoslav Putar oder Dimitrije Bašicevic Man-

gelos zusammen. Dank dieser kamen sie in Kontakt mit der Ga-

lerie für zeitgenössische Kunst und den »Neuen Tendenzen«,

was sich auch im Ausstellungsprogramm manifestierte. Manche

Mitglieder von Gorgona waren Maler (Josip Vaništa, Julije Knifer,

Marijan Jevšovar, Djuro Seder), andere wie Ivan Kožaric oder

Miljenko Horvat waren Bildhauer bzw. Architekten. Die Gruppe

hatte auch »korrespondierende Mitglieder« aus anderen Kunst-

sparten wie Musik, Theater oder Film – etwa Milko Kelemen

(MB) oder Mihovil Pansini (GEFF). Die Stärke von Gorgona be-

stand in der Offenheit und den Verbindungen mit der heimischen

und internationalen Kunstszene. Dennoch meinte Vaništa ein-

mal, dass sie in einer mit Ideologie übervollen Welt im Grunde

nur normales Verhalten, ein natürliches Leben angestrebt hätten.2

Wie aber reagierte die Gesellschaft auf Gorgona? Die Aktionen

fanden nur wenig Widerhall in den Zeitungen. Doch immerhin

blieben sie nicht unerwähnt. Einmal erwähnte eine große natio-

nale Tageszeitung Knifers »Gorgona«-Heft auf der Witzseite

(seine Antizeitschrift bestand einzig aus einem leeren Leporello).

Die Publikation privater Editionen war damals wie in allen ost-

europäischen Staaten verboten, weswegen Vaništa, zum Glück

ohne ernste Folgen, von der Polizei verhört wurde. Božo Bek,

der Direktor der Galerie für zeitgenössische Kunst, half ihm, in-

dem er die »Gorgonier« schlankweg als »Exzentriker« be-

schrieb. Die Gruppe bewegte sich also am Rand der Gesell-

schaft. Ihre Wirkung jedoch erscheint, anders als die von

Schriftstellern und Filmemachern der Zeit, harmlos. Deshalb

wurde sie von der Gesellschaft geduldet, die sie dennoch

weder schätzte noch unterstützte.

Was sollen wir aus heutiger Sicht von diesen wichtigen

Beispielen halten? In Kroatien gibt es bis heute keine sinn-

volle Kulturpolitik, kein »Kunstsystem«, ja nicht einmal einen

Kunstmarkt, der Anreize bieten könnte. Ist die Aussage »werde

damit fertig« also auch heute noch gültig? Und wenn ja, was

folgt daraus?

Die Musik Biennale wird bis heute ohne Unterbrechung

veranstaltet. Sie hat zwar nicht mehr dieselbe Bedeutung wie

damals, als John Cage die Grenzen der Kunst überschritt, ist

aber immer noch ein ernst zu nehmendes und respektables Un-

ternehmen. Ankäufe aus den »Neue Tendenzen«-Ausstellungen

bildeten den Nukleus der internationalen Sammlung der Galerie

für zeitgenössische Kunst, der einzigen ihrer Art im ehemaligen

Jugoslawien. Doch obwohl das nunmehrige Museum für zeitge-

nössische Kunst viele einschlägige Zeitdokumente (Briefe, Fo-

tos, Tonaufnahmen usw.) in seinem Bestand hält, gelang es ihm

nicht, diese so wichtige Kunstbewegung zu historisieren. Ein

schönes Buch über die »Neuen Tendenzen« erschien erst un-

längst am ZKM.

Ein Buch über das GEFF wurde bereits 1963 veröffentlicht,

doch gibt es seit damals keinerlei neue Studien. GEFF übte

einen entscheidenden Einfluss auf den Experimentalfilm, den

Antifilm und auf die Videokunst aus. Doch haben es unsere

KunsthistorikerInnen bis dato verabsäumt, vergleichende Unter-

suchungen des Amateur- und Experimentalfilms sowie der

bildenden Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

durchzuführen.

Die Aktionen der Gruppe Gorgona stehen nicht auf der

Prioritätenliste des Museums für zeitgenössische Kunst. Das Ar-

chiv von Josip Vaništa wird immer mehr verstreut. Also sind wir

auch diesbezüglich an unserer historischen Aufgabe gescheitert.

Wie schon früher hängt auch heute in Kroatien zu viel

vom Einsatz Einzelner oder von Glücksfällen ab. So kann man

bestimmt keine seriöse Kunstgeschichte schreiben.

2 Josip Vaništa, in: Marija Gattin, Gorgona – Protocol of Submitting Thoughts. Museum of Contemporary Art. Zagreb 2002, S. 157.

Josip VanistaGorgona no. 1, 1961Gorgona no. 11, 1966

Mitglieder von Gorgona in der Ausstellung von Julije Knifer in der Galerie für zeitgenössische Kunst, Zagreb, 1966

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