Stipancic: Werde damit fertig, Genosse!
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1966). Es scheint, als hätten wir heute in Exjugoslawien nur
dank Einzelner, die »damit fertig wurden«, eine entsprechende
Kunstgeschichte, und das trotz widriger ökonomischer Umstän-
de und eines unterentwickelten Kunstsystems.
Die erste Ausstellung in der Reihe »Neue Tendenzen« wur-
de 1961 auf Initiative des in Deutschland lebenden brasilia-
nischen Künstlers Almir Mavignier veranstaltet. Zusammen mit
den Kuratoren der Galerie für zeitgenössische Kunst Zagreb
hatte er die Idee zu einer Ausstellung, die die damalige Situation
der Gegenwartskunst wiedergeben sollte (hauptsächlich den
Kanon der geometrischen Abstraktion, im Grunde der neokons-
truktivistischen Kunst). Zur Ausstellung kamen vorwiegend
Kunstschaffende aus dem Westen, zum Beispiel Piero Manzoni,
die Gruppe ZERO, Manfredo Massironi, François Morellet oder
Dieter Roth. Die zweite Ausstellung im Jahr 1963 präsentierte
58 KünstlerInnen, darunter Getulio Alviani, Enrico Castellani,
Enzo Mari, Henk Peeters, die Gruppe GRAV, Julio Le Parc, Grup-
po T und Gianni Colomo. Bei der dritten Auflage 1965 verdop-
pelte sich die Anzahl der KünstlerInnen noch einmal. Der über-
wiegende Teil der ausgestellten Werke gehörte nunmehr zur
optischen und kinetischen Kunst. Zum ersten Mal kamen neben
KünstlerInnen aus den Vereinigten Staaten auch welche aus
Osteuropa. Aus der Sowjetunion kam die Gruppe Dviženije, aus
dem übrigen Osteuropa Imre Bak, Zdenek Sykóra und Miloš
Urbásek. Auf der vierten »Neue Tendenzen« 1969 stammten fast
die Hälfte der Beiträge aus Nordamerika, meist von Mathema-
tikerInnen, PhysikerInnen oder IngenieurInnen, da es um Compu-
terkunst ging. Die fünfte Auflage 1973 galt der Konzeptkunst,
wobei viele der Ausstellenden aus Amerika und dem übrigen
Westen sowie aus Osteuropa kamen (Štefan Belohradský,
Endre Tót, John Baldessari, Daniel Buren usw.).
Das Genre Filmfestival (GEFF) fand von 1963 bis 1970
statt und wurde von Mitgliedern des Kinoclub Zagreb (der Verei-
nigung der Amateurfilmschaffenden) auf Initiative von Mihovil
Pansini gegründet. Das Festival galt dem Experimentalfilm oder,
wie es hieß, dem Antifilm. In nur wenigen Jahren reifte das
GEFF zu einem internationalen Event heran, auf dem 1970 der
amerikanische Undergroundfilm unter dem Hauptthema Sexu-
alität präsentiert wurde. Der Untertitel des Festivals lautete
»Sexualität als Weg zu einem neuen Humanismus«.
Die Gruppe Gorgona wiederum entfaltete zwischen 1959
und 1966 unterschiedlichste Aktivitäten, die mit der Moderne
brachen, welche im ehemaligen Jugoslawien so etwas wie
einen offiziellen Status innehatte. Die Gruppe schuf Konzepte,
Projekte, führte Kunstaktionen aus usw. Erste Formen der
Entmaterialisierung des Kunstobjekts finden sich unter ihren
Arbeiten. So verschickte Josip Vaništa 1962 an 50 Adressa-
tInnen vom Verteiler des Studio G in Zagreb eine Einladung, auf
der er schlicht »freundlich einlud«. Unerwähnt blieb, wohin
und wozu man eingeladen war. Bei dieser Einladungskarte ist
die Kunst fast immateriell. Sie besteht nur aus einem Text, der
Text: Branka Stipancic, Übersetzung: Thomas Raab
Wie funktionierte die Kunstszene in Jugoslawien? Ich möchte
diese Frage hier anhand von Zagreb in den 1960er-Jahren
behandeln. Jugoslawien war damals blockfrei und folgte dem
sogenannten Dritten Weg, der weder markwirtschaftlich wie
im Westen noch kommunistisch wie im Ostblock ausgerichtet
war. Das angepeilte Wirtschaftssystem nannte man »Selbst-
verwaltung«. Und in diesem Schwebezustand fand die Kultur
immer Auswege.
Um zu zeigen, dass sich die Menschen in Jugoslawien
im Gegensatz zu jenen in anderen osteuropäischen Ländern nicht
einfach vom Rest der Welt abschneiden ließen, möchte ich
mit einem Zitat des Komponisten Milko Kelemen beginnen, dem
Gründer der internationalen Musik Biennale: »Mitte der 1950er-
Jahre wohnte ich in Darmstadt, wo ich arbeitete und an der be-
rühmten Darmstädter Schule studierte. Dort traf ich zum ersten
Mal Penderecki. […] Als ich dann 1959 nach Zagreb zurückkam,
kam mir die Idee zur Biennale. Ich suchte den damaligen Zagre-
ber Bürgermeister Veceslav Holjevac auf und teilte ihm mit,
dass ich gerne ein großes Festival organisieren würde. Er blick-
te nicht einmal von seinen Akten auf. Erst als ich ihm sagte,
dass ich, sollte er nicht zusagen, das Festival in Belgrad machen
würde, sah er mich wie von der Tarantel gestochen an. ›Was
willst du machen, was willst du machen?‹, brüllte er. ›Ich kann
dir einen Berg Dinar geben, aber keinen einzigen Dollar.‹ Ich
fragte ihn, wie ich denn damit die Oper aus Deutschland, das
Ballett aus Russland oder ein Orchester aus Amerika engagieren
sollte. Doch er meinte nur: ›Werde damit fertig, Genosse!‹ Ich
wusste genau, was ich zu tun hatte. Ich begann, mit der Sowjet-
union zu verhandeln. Jugoslawien war damals so etwas wie
eine Drehscheibe für die Weltpolitik. Ich ging zu Furzeva, die da-
mals russische Kulturministerin war. Ich erzählte ihr vom wach-
senden Einfluss Amerikas und des Westens in Jugoslawien,
und dass wir in Zagreb dringend das Leningrader Ballet und die
Moskauer Philharmoniker brauchten. Sie sagte sofort zu. Und
ich musste gar nichts bezahlen.«
Daraufhin reiste Kelemen in die USA und besuchte das State
Department in Washington. Dort hatte er einige Gespräche, in
denen er herausstrich, dass Jugoslawien unter größtem rus-
sischen Einfluss stünde und dass die Russen der Zagreb Bien-
nale schon zugestimmt hätten. Kelemen wollte das Chicago
Philharmonic Orchestra und das San Francisco Ballet. Er bekam
alles, was er von den Amerikanern wollte. »Nachdem ich die
Russen und Amerikaner gewonnen hatte, war der Rest ein Kin-
derspiel. Kein Wunder, dass sie mich später den Musikdiplo-
maten nannten«, schließt Kelemen seinen Bericht.1
Die Musik Biennale (MB) wurde 1961 gegründet. Berühmte
MusikerInnen und TänzerInnen aus Ost und West kamen nach
Zagreb, was zu Zeiten des Kalten Krieges in anderen Ländern
kaum vorkam. In den frühen 1960er-Jahren traten das Bolschoi-
theater und die Hamburger Staatsoper auf, Igor Strawinsky kam,
Mauricio Kagel, Luigi Nono, John Cage, Lukas Foss, Schostako-
witsch, Witold Lutoslawski, Mstislav Rostropowitsch, Stock-
hausen, Bruno Maderna, Pierre Schaeffer, Olivier Messiaen und
viele andere mehr. Eine ganze Generation von Avantgarde-
komponisten wie Ivo Malec oder Dubravko Detoni fand sich ein.
Doch es entstanden noch viele andere große Kulturein-
richtungen nach dem Motto »Werde damit fertig, Genosse«. Ich
nenne hier nur ein paar: die internationale Ausstellungsreihe
»Neue Tendenzen« (1961–1973), das Genre Filmfestival (1963–
1970) und die neoavantgardistische Gruppe Gorgona (1959–
1 www.nacional.hr/clanak/33933/46-godina-poslije
»Werde damit fertig, Genosse!«Zur Internationalisierung
der kroatischen Kulturszene seit den 1960er-Jahren
Igor Stravinski während einer Probe auf der 2. Musik Biennale Zagreb 1963
Die Sopranistin Martina Arroyo, Solistin bei der Eröffnung der 3. Musik Biennale 1965
Pierre Schaeffer bei dem Panel »What is Music to Us?«, 14. Mai 1965
Student Centre Forum Zagreb
Josip Stojanovic, erster Direktor der Musik Biennale Zagreb, in der Istra Konzerthalle, 1961Courtesy Muzicki Biennale Zagreb sowie Cantus Ltd., Zagreb
Karlheinz Stockhausens erster Besuch auf der Musik Biennale 1965
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einen einfachen Gedanken formuliert: eine Einladung zu oder
auf nichts. Vaništa karikiert eine soziale Konvention, um sie sub-
versiv zu Kunst zu machen. Der Künstler fügt sich in die Funk-
tionsweise der Galerie ein, nur um sie dann von innen her zu kri-
tisieren. Dieses Werk steht gänzlich außerhalb der Bildtradition
und stellt viele Fragen zum Kontext von Galerien. Zugleich ist es
eine verwirrende neodadaistische Provokation und eine konzep-
tuelle Aktion, die die philosophischen Grundfragen nach dem Was,
dem Wo und dem Warum aufwirft.
1964 schuf Vaništa ein »Gemälde«, das er nicht malte,
sondern nur auf der Leinwand als Text beschrieb. Damit begann
er, der immer schon ein großes Feingefühl für Immaterielles
hatte, das Visuelle durch dessen sprachliches Äquivalent zu er-
setzen.
Die Mitglieder der Gruppe entwickelten die Eigenheit,
sich Zitate aus der Literatur zu schicken, die das Befinden ihrer
»gorgonischen« Gemeinschaft ausdrückten und die alle kennen
sollten. Die Zitate Vaništas belegen seine Beschäftigung mit Yves
Klein, John Cage, Allan Kaprow, Alain Robbe-Grillet, Laotse
und vielen anderen. Zentral sind Äußerungen zur Vorstellung der
Leere oder Substanzlosigkeit. Beim Lesen dieser »Gedanken
des Monats« kann man erkennen, wie eng die Gruppe mit der
internationalen Avantgarde in Verbindung stand.
Die Kunst der Gorgona-Gruppe kann nicht (wie es bei
Kunst aus dem Osten oft geschieht) als verspätete Nachahmung
westlicher Kunst interpretiert werden. Sie ließ sich einfach auf
gleicher Augenhöhe von ihr inspirieren. Diese Verbindung wird
vor allem an der Antizeitschrift »Gorgona« kenntlich, die von
1961 bis 1966 unter Mitarbeit von Victor Vasarely, Harold Pinter
und Dieter Roth erschien. Jede Nummer wurde von nur einem
Künstler gestaltet. Die Bedachtnahme auf das Medium selbst
nahm die in den 1970er-Jahren aufkommenden Künstlerbücher
vorweg. Antizeitschriften von Piero Manzoni, Enzo Mari und vie-
len anderen waren schon in Vorbereitung, wurden jedoch leider
nie produziert. Vaništa korrespondierte auch mit Fontana, Rau-
schenberg und anderen bezüglich einer Teilnahme. Er platzierte
im holländischen Magazin »Null« eine Anzeige für »Gorgona«,
und sein Briefwechsel mit Hans Sohm, Henk Peeters oder dem
New Yorker Buchhändler George Witterborn (der »Gorgona«
ins MoMA einführte) belegen den Wunsch dieses Künstlers, das
richtige Zielpublikum zu erreichen.
Die »Gorgonier« entwickelten ein fast umfassendes künst-
lerisches System. Es gelang ihnen, so viel in Eigenregie zu
machen, dass sie zu einer Zeit, in der privates Unternehmertum
beinahe unmöglich war, eine Galerie mitten im Zentrum Zagrebs
betreiben konnten. Sie fanden mit ihren Möglichkeiten das Aus-
langen und wurden so, wie es Bürgermeister Holjevac so schön
gesagt hatte, »damit fertig«. Sie entdeckten ein Schlupfloch
im Gesetz, mieteten einen Rahmenladen und organisierten dort
1962 und 1963 Ausstellungen (mit Mitgliedern des Studio G,
Morellet, Dorazio und anderen). Dabei arbeiteten die Leute von
Gorgona vorwiegend mit Kunsthistorikern und Kuratoren wie
Matko Meštrovic, Radoslav Putar oder Dimitrije Bašicevic Man-
gelos zusammen. Dank dieser kamen sie in Kontakt mit der Ga-
lerie für zeitgenössische Kunst und den »Neuen Tendenzen«,
was sich auch im Ausstellungsprogramm manifestierte. Manche
Mitglieder von Gorgona waren Maler (Josip Vaništa, Julije Knifer,
Marijan Jevšovar, Djuro Seder), andere wie Ivan Kožaric oder
Miljenko Horvat waren Bildhauer bzw. Architekten. Die Gruppe
hatte auch »korrespondierende Mitglieder« aus anderen Kunst-
sparten wie Musik, Theater oder Film – etwa Milko Kelemen
(MB) oder Mihovil Pansini (GEFF). Die Stärke von Gorgona be-
stand in der Offenheit und den Verbindungen mit der heimischen
und internationalen Kunstszene. Dennoch meinte Vaništa ein-
mal, dass sie in einer mit Ideologie übervollen Welt im Grunde
nur normales Verhalten, ein natürliches Leben angestrebt hätten.2
Wie aber reagierte die Gesellschaft auf Gorgona? Die Aktionen
fanden nur wenig Widerhall in den Zeitungen. Doch immerhin
blieben sie nicht unerwähnt. Einmal erwähnte eine große natio-
nale Tageszeitung Knifers »Gorgona«-Heft auf der Witzseite
(seine Antizeitschrift bestand einzig aus einem leeren Leporello).
Die Publikation privater Editionen war damals wie in allen ost-
europäischen Staaten verboten, weswegen Vaništa, zum Glück
ohne ernste Folgen, von der Polizei verhört wurde. Božo Bek,
der Direktor der Galerie für zeitgenössische Kunst, half ihm, in-
dem er die »Gorgonier« schlankweg als »Exzentriker« be-
schrieb. Die Gruppe bewegte sich also am Rand der Gesell-
schaft. Ihre Wirkung jedoch erscheint, anders als die von
Schriftstellern und Filmemachern der Zeit, harmlos. Deshalb
wurde sie von der Gesellschaft geduldet, die sie dennoch
weder schätzte noch unterstützte.
Was sollen wir aus heutiger Sicht von diesen wichtigen
Beispielen halten? In Kroatien gibt es bis heute keine sinn-
volle Kulturpolitik, kein »Kunstsystem«, ja nicht einmal einen
Kunstmarkt, der Anreize bieten könnte. Ist die Aussage »werde
damit fertig« also auch heute noch gültig? Und wenn ja, was
folgt daraus?
Die Musik Biennale wird bis heute ohne Unterbrechung
veranstaltet. Sie hat zwar nicht mehr dieselbe Bedeutung wie
damals, als John Cage die Grenzen der Kunst überschritt, ist
aber immer noch ein ernst zu nehmendes und respektables Un-
ternehmen. Ankäufe aus den »Neue Tendenzen«-Ausstellungen
bildeten den Nukleus der internationalen Sammlung der Galerie
für zeitgenössische Kunst, der einzigen ihrer Art im ehemaligen
Jugoslawien. Doch obwohl das nunmehrige Museum für zeitge-
nössische Kunst viele einschlägige Zeitdokumente (Briefe, Fo-
tos, Tonaufnahmen usw.) in seinem Bestand hält, gelang es ihm
nicht, diese so wichtige Kunstbewegung zu historisieren. Ein
schönes Buch über die »Neuen Tendenzen« erschien erst un-
längst am ZKM.
Ein Buch über das GEFF wurde bereits 1963 veröffentlicht,
doch gibt es seit damals keinerlei neue Studien. GEFF übte
einen entscheidenden Einfluss auf den Experimentalfilm, den
Antifilm und auf die Videokunst aus. Doch haben es unsere
KunsthistorikerInnen bis dato verabsäumt, vergleichende Unter-
suchungen des Amateur- und Experimentalfilms sowie der
bildenden Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
durchzuführen.
Die Aktionen der Gruppe Gorgona stehen nicht auf der
Prioritätenliste des Museums für zeitgenössische Kunst. Das Ar-
chiv von Josip Vaništa wird immer mehr verstreut. Also sind wir
auch diesbezüglich an unserer historischen Aufgabe gescheitert.
Wie schon früher hängt auch heute in Kroatien zu viel
vom Einsatz Einzelner oder von Glücksfällen ab. So kann man
bestimmt keine seriöse Kunstgeschichte schreiben.
2 Josip Vaništa, in: Marija Gattin, Gorgona – Protocol of Submitting Thoughts. Museum of Contemporary Art. Zagreb 2002, S. 157.
Josip VanistaGorgona no. 1, 1961Gorgona no. 11, 1966
Mitglieder von Gorgona in der Ausstellung von Julije Knifer in der Galerie für zeitgenössische Kunst, Zagreb, 1966
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