Strafkolonie, Gefängnis, Museum

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Bauwelt 23 | 2008 26 Thema Museum in Veenhuizen Bauwelt 23 | 2008 27 Strafkolonie, Gefängnis, Museum Umbau eines Handwerkshofs in Veenhuizen: Atelier Kempe Thill Kritik: Hubertus Adam Fotos: Ulrich Schwarz Lageplan mit disparater Mi- schung der Funktionen: Die drei kleinen Riegel im Wes- ten und der geschlossene Hof im Westen fungieren auch heute als Gefängnis, der in der Mitte gelegene Hof ist seit 2005 Gefängnismuseum, und das langgezogene Baukörper- ensemble im Süden ist das neue Handwerksmuseum von Kempe Thill. Lageplan im Maßstab 1 : 10.000, Grundriss im Maßstab 1 : 2000 Die Provinz Drenthe gehört zu den abgelegenen Gebieten der Niederlande. Eine Mülldeponie stellt mit 40 Metern die höchste Erhebung dar, Wälder und Heideflächen prägen weite Teile der Landschaft, der Westen der Provinz ist durchzogen von ei- nem dichten System aus Gräben und Kanälen, viele von ihnen aus der Zeit des früheren Torfabbaus. Veenhuizen, eine Ortschaft 20 Kilometer nordwestlich der Provinzhauptstadt Assen, verweist schon durch seinen Na- men (veen = Torfmoor) auf die ursprüngliche wirtschaftliche Grundlage. Vereinzelte Gehöfte bestimmten das Bild der Land- schaft, als im 18. Jahrhundert mit dem Torfstechen begonnen wurde. Zu einer festen Siedlungsstruktur kam es erst, als die „Maatschappij van Weldadigheit“ (Gesellschaft für Wohltätig- keit“) 1822 in Veenhuizen eine Kolonie für Waisenkinder, Ob- dachlose und Landstreicher einrichtete. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden die bestehenden Anstalten in Gefäng- nisse umgewandelt. Das blieb so bis zur jüngsten niederlän- dischen Justizreform. Die Veränderungen im Strafvollzug führ- ten dazu, dass eine Reihe der Gebäude umgenutzt werden konnte; die bizarre „Straflandschaft“ von Veenhuizen zieht heute viele Besucher an. Markantes Beispiel für die Transfor-

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Bauwelt 23 | 200826 Thema Museum in Veenhuizen Bauwelt 23 | 2008 27

Strafkolonie, Gefängnis, MuseumUmbau eines Handwerkshofs in Veenhuizen: Atelier Kempe Thill Kritik: Hubertus Adam Fotos: Ulrich Schwarz

Lageplan mit disparater Mi-schung der Funktionen: Die drei kleinen Riegel im Wes-ten und der geschlossene Hof im Westen fungieren auch heute als Gefängnis, der in der Mitte gelegene Hof ist seit 2005 Gefängnismuseum, und das langgezogene Baukörper-ensemble im Süden ist das neue Handwerksmuseum von Kempe Thill.

Lageplan im Maßstab 1:10.000, Grundriss im Maßstab 1:2000

Die Provinz Drenthe gehört zu den abgelegenen Gebieten der Niederlande. Eine Mülldeponie stellt mit 40 Metern die höchste Erhebung dar, Wälder und Heideflächen prägen weite Teile der Landschaft, der Westen der Provinz ist durchzogen von ei-nem dichten System aus Gräben und Kanälen, viele von ihnen aus der Zeit des früheren Torfabbaus.

Veenhuizen, eine Ortschaft 20 Kilometer nordwestlich der Provinzhauptstadt Assen, verweist schon durch seinen Na-men (veen = Torfmoor) auf die ursprüngliche wirtschaftliche Grundlage. Vereinzelte Gehöfte bestimmten das Bild der Land-schaft, als im 18. Jahrhundert mit dem Torfstechen begonnen wurde. Zu einer festen Siedlungsstruktur kam es erst, als die „Maatschappij van Weldadigheit“ (Gesellschaft für Wohltätig-keit“) 1822 in Veenhuizen eine Kolonie für Waisenkinder, Ob-dachlose und Landstreicher einrichtete. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden die bestehenden Anstalten in Gefäng-nisse umgewandelt. Das blieb so bis zur jüngsten niederlän-dischen Justizreform. Die Veränderungen im Strafvollzug führ-ten dazu, dass eine Reihe der Gebäude umgenutzt werden konnte; die bizarre „Straflandschaft“ von Veenhuizen zieht heute viele Besucher an. Markantes Beispiel für die Transfor-

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ArchitektenAtelier Kempe Thill, Rotter-dam

MitarbeiterAndré Kempe, Oliver Thill, David van Eck mit Teun van der Meulen, Cornelia Sailer, Sebastian Heinemeyer, King-man Brewster, Jeroen Heitz-bergen, Takashi Nakamura

TragwerksplanungABT, Velp

mation ist ein ehemaliger Handwerkshof für Strafgefangene, der jetzt vom Büro Kempe Thill zum „Erfgoedcentrum“ umge-baut wurde und ein Besucherzentrum, Schulungsräume so-wie handwerkliche Werkstätten umfasst.

Gründer der „Maatschappij van Weldadigheit“ war 1818 Johannes van den Bosch (1780–1844), der zunächst in der Ko-lonie Niederländisch-Indien Karriere in der Armee gemacht hatte und als Militäringenieur unter anderem für die Festungs-werke von Batavia verantwortlich gewesen war. Als er 1813 in die Heimat zurückkehrte, fand er sein Land in bitterster Armut vor: Von den zwei Millionen Einwohnern konnten 10% ihren Unterhalt nicht bestreiten, waren von Almosen abhängig und rutschten häufig in Obdachlosigkeit und Kriminalität ab. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, gründete van den Bosch mit seiner Gesellschaft binnen kurzer Zeit vier Siedlerkolo-nien in der ländlichen Abgeschiedenheit der Provinz Drenthe. Denjenigen, die in den großen Städten gescheitert waren, sollte durch Arbeit in der Moorkolonisation, der Landwirt-schaft oder in Handwerksbetrieben die Möglichkeit gegeben werden, ihr Leben selbst zu finanzieren. Weil die freiwilligen Angebote aber nicht im erhofften Maße auf Zuspruch stießen,

Die Architekten entkernten die völlig zugebaute Anlage. Der doppelgieblige Baukör-per im Norden beinhaltet künf-tig die Schauwerkstatt, im Osten liegen Büros und klei-nere Werkstätten, der große Bau im Süden umfasst das Mu-seum.

Schema vorher–nachher im Maßstab 1:2000, Grundriss und Schnitt im Maßstab 1:500, Fensterdetail 1:20

entwickelte van den Bosch einen neuen Typus, nämlich die Zwangskolonie. Als Pilotprojekt fungierte Ommerschans in der Provinz Overijssel, perfektioniert wurde das System in Veenhuizen, wo die „Maatschappij van Weldadigheit“ 30 Qua-dratkilometer Land erworben hatte. Ausgehend von dem Ka-nal Kolonievaart, welcher der Entwässerung der Moorflächen ebenso diente wie dem Abtransport des Torfs, wurden im Ab-stand von 700 Metern Straßen angelegt. Durch Querachsen entstand daraus ein klares Rastersystem, in das sich in gebüh-rendem Abstand drei „gestichte“ (Anstalten) einfügten, also die eigentlichen Strafkolonien Veenhuizen I, II und III. Im Grunde stellte das Gesamtensemble eine weitläufige klassizis-tische Idealplanung dar – getragen von der Idee, dass Rigidität und Strenge nicht nur die Überwachung erleichtern, sondern auch zur Besserung der Menschen beitragen könnten. Bei den – vermutlich von van den Bosch selbst – nach dem Vorbild von Kasernen entworfenen drei Anstaltsbauten handelte es sich um von Grachten umgebene, nur über eine Zugbrücke zu erreichende eingeschossige Gevierte aus Backstein mit Sattel-dach; mit 145 Metern Seitenlänge umfassten sie einen riesi-gen Innenhof von 125 Metern im Quadrat. Die bis zu 2000 In-

sassen waren in Schlafsälen für 80 Personen untergebracht, darüber hinaus fanden sich in den streng rational organisier-ten „gestichten“ Werkstätten, Unterrichtsräume und Zimmer für das Personal.

Veenhuizen II ist als einzige der drei ursprünglichen An-stalten erhalten geblieben und dient seit 2005 – umgebaut durch Mayke Schijve vom „Rijksgebouwendienst“, dem nieder-ländischen Reichsbaudienst, und eingerichtet vom Büro Kin-korn aus Tilburg – als Gefängnismuseum. Mit interaktiven Installationen, welche die Besucher zur aktiven Teilnahme animieren, wird zum einen über die Geschichte Veenhuizens informiert; andererseits thematisiert die Ausstellung die Ge-schichte des niederländischen Rechtswesens und Strafvollzugs im Wandel der Zeit. Veenhuizen ist dafür zweifellos geeignet, denn 1859 übernahm der Staat das auch als „niederländisches Sibirien“ titulierte Veenhuizen von der hochverschuldeten „Maatschappij van Weldadigheit“. Der schlechte Zustand vie-ler Gebäude, aber auch die Neuerungen im Strafvollzug zwan-gen alle Beteiligten, die Zukunft von Veenhuizen zu überden-ken. Ein 2002 installiertes Entwicklungsbüro hilft dabei, Zu-kunft und Tradition auf sinnvolle Weise zu verbinden.

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Die Funktion des neuen Muse-ums- und Handwerkskomple-xes ist bisher eher unscharf: Das „Erfgoedcentrum“ (über-setzt etwa Erbgutzentrum) bietet Informationen zur Ge-schichte der Strafkolonie, will aber auch zur Pflege histori-scher Handwerkstechniken an-leiten. Selbst ein Baumarkt für altes, recyceltes Baumate-rial soll hier einziehen.

Das neu eröffnete „Erfgoedcentrum“ informiert Besucher und Bewohner über die Geschichte und kulturhistorische Bedeu-tung der Kolonie und des Gefängnisdorf. Das Areal befindet sich unmittelbar südwestlich des zum Gefängnismuseum um-gebauten „gesticht“ Veenhuizen II und war als Handwerkshof der benachbarten Strafanstalt Esserhem zugeordnet. Die Ar-chitekten, die nach einem Auswahlverfahren 2005 den Auf-trag für den Umbau erhielten, führten das mit Schuppen und ephemeren Strukturen verbaute und seit 15 Jahren leer ste-hende Ensemble aus Ziegelbauten mit Satteldächern auf sein ursprüngliches Erscheinungsbild zurück. Sichtbarste Zeichen der jetzigen Intervention ist der Umgang mit den Öffnungen. An allen umgenutzten Bauten wurden vor Teilen der Fassaden vier Meter hohe Festverglasungen mit schwarzen Rahmenpro-filen angebracht; dazu kommen Türen in gleicher Höhe, die aus emailliertem schwarzem Spiegelglas bestehen. Als flä-chige Elemente, die deutlich vor die bestehende Außenhaut treten, folgen die Verglasungen einer Strategie der Inszenie-rung; die eigentlich unspektakulären Gebäude werden wie in einer Vitrine ausgestellt und zugleich als Bauten für die Öf-fentlichkeit nobilitiert.

Auch im Inneren waren die Architekten darauf bedacht, die bestehende Struktur von beiläufigen Einbauten zu befreien. Besonders deutlich wird dies in der ehemaligen Schmiede, die nun das Besucherzentrum ist. Die Zwischendecke wurde zum Teil entfernt, um einen Aufgang in das Obergeschoss einzufü-gen; der eindrucksvolle hölzerne Dachstuhl avancierte zum raumbeherrschenden Element. Das gesamte Innere ist in neu-tralem Weiß gestrichen, und auch der Boden wurde mit wei-ßer Betonfarbe überzogen. Das ist nach Ansicht der Entwerfer weniger eine Referenz an den „white cube“ der Ausstellungs-architektur als vielmehr ein Verweis auf das klassizistische Ideal, dem die Kolonie Veenhuizen folgte. Gleichermaßen zu-rückhaltend sind auch die übrigen Bauten gehalten, die sich um einen mit Betonplatten und Schotterflächen gestalteten Hofraum gruppieren: das langgestreckte Seminar- und Schu-lungsgebäude sowie die aus zwei parallelen Satteldachhäu-sern bestehenden Werkstätten. Hier sollen Menschen, die auf-grund ihrer Behinderung auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, Beschäftigung finden. Im kleinen Rahmen lebt die Idee, die einst zur Gründung der Kolonie von Veenhuizen ge-führt hatte, auch heute noch weiter.