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fallbericht Neuropsychiatr (2019) 33:165–169 https://doi.org/10.1007/s40211-018-0280-3 Strangulation als szenische Handlung. Ein Fallbericht über einen Pseudosuizidversuch im Verlauf einer NREM- Parasomnie Omid Amouzadeh-Ghadikolai · Laura Pascale-Scharmüller · Andreas Baranyi · Michael Lehofer · Michael Saletu Eingegangen: 19. März 2018 / Angenommen: 18. Juni 2018 / Online publiziert: 10. Juli 2018 © Der/die Autor(en) 2018 Zusammenfassung Es ist allgemein bekannt, dass schlafwandelnde Personen komplexe, szenische Ver- haltensmuster zeigen, welche mit nicht-intendierten Konsequenzen einhergehen. Nicht selten kann es dabei zu Verletzungen des Betroffenen kommen. Spo- radisch wurde aber auch ein bizarres selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten besonderen Ausmaßes beschrieben, welches von der Tötung des Lebens- gefährten bis hin zum akzidentellen (Pseudo-)Suizid reicht. Wir berichten in diesem Artikel von einem 28-jähri- gen Patienten, der eines Nachts unvermittelt den Ver- such unternahm, sich mit einer Peitsche zu erhängen, und diskutieren die Gründe, die dafür sprechen, die- ses bizarre Verhalten als szenische Handlung im Ver- lauf einer NREM-Parasomnie zu interpretieren, sowie die Schwierigkeiten, die sich in der Beweisführung er- geben. O. Amouzadeh-Ghadikolai () · M. Lehofer Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie III, Standort Süd, Landeskrankenhaus Graz Süd/West, Wagner Jauregg Platz 1, 8053 Graz, Österreich [email protected] O. Amouzadeh-Ghadikolai · L. Pascale-Scharmüller · M. Saletu Bereich für Schlafmedizin, Standort Süd, Landeskrankenhaus Graz Süd/West, Wagner Jauregg Platz 1, 8053 Graz, Österreich O. Amouzadeh-Ghadikolai Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie, Medizinische Universität Graz, Auenbruggerplatz 3, 8036 Graz, Österreich A. Baranyi Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz, Auenbruggerplatz 3, 8036 Graz, Österreich Schlüsselwörter Pseudosuizid · Schlafwandel · Para- somnie · Polysomnographie Strangulation as scenic behavior. A case report of a pseudosuicide in the course of a NREM- parasomnia Summary It is generally accepted, that sleepwalk- ers show complex behaviors leading to non-intended consequences. It is not unusual that these persons are thereby injured. However, sporadically a bizarre endangering of themselves or others is reported also, which ranges from homicide of the life partner to ac- cidental (pseudo-)suicide. In this article, we report on a 28year-old man who unexpectedly attempted to hang himself by a whip at night. We discuss the reasons, why this bizarre act should actually be taken as a scenic behavior in the course of a NREM-parasomnia, and the difficulty to proof this claim. Keywords Pseudosuicide · Somnambulism · Parasom- nia · Polysomnography Einleitung Der Somnambulismus zählt zur Gruppe der NREM- Parasomnien (Arousalstörungen), die komplexe mo- torische Störungen umfasst, die während des Schlafs oder während des Übergangs vom Wachen zum Schla- fen auftreten können. Er kommt durch eine Dissozia- tion von Schlafen und Wachen zustande. Die parti- ell wachen Patienten sind dabei „wach genug“, um komplexe motorische Bewegungen auszuführen, aber „noch nicht ausreichend wach“, um adäquat antwor- ten oder reagieren zu können. Für das partielle Erwa- chen liegt in der Regel eine Amnesie vor. K Strangulation als szenische Handlung. Ein Fallbericht über einen Pseudosuizidversuch im Verlauf einer. . . 165

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    Neuropsychiatr (2019) 33:165–169https://doi.org/10.1007/s40211-018-0280-3

    Strangulation als szenische Handlung. Ein Fallberichtüber einen Pseudosuizidversuch im Verlauf einer NREM-Parasomnie

    Omid Amouzadeh-Ghadikolai · Laura Pascale-Scharmüller · Andreas Baranyi · Michael Lehofer · Michael Saletu

    Eingegangen: 19. März 2018 / Angenommen: 18. Juni 2018 / Online publiziert: 10. Juli 2018© Der/die Autor(en) 2018

    Zusammenfassung Es ist allgemein bekannt, dassschlafwandelnde Personen komplexe, szenische Ver-haltensmuster zeigen, welche mit nicht-intendiertenKonsequenzen einhergehen. Nicht selten kann esdabei zu Verletzungen des Betroffenen kommen. Spo-radisch wurde aber auch ein bizarres selbst- oderfremdgefährdendes Verhalten besonderen Ausmaßesbeschrieben, welches von der Tötung des Lebens-gefährten bis hin zum akzidentellen (Pseudo-)Suizidreicht.Wir berichten in diesem Artikel von einem 28-jähri-gen Patienten, der eines Nachts unvermittelt den Ver-such unternahm, sich mit einer Peitsche zu erhängen,und diskutieren die Gründe, die dafür sprechen, die-ses bizarre Verhalten als szenische Handlung im Ver-lauf einer NREM-Parasomnie zu interpretieren, sowiedie Schwierigkeiten, die sich in der Beweisführung er-geben.

    O. Amouzadeh-Ghadikolai (�) · M. LehoferAbteilung für Psychiatrie und Psychotherapie III, StandortSüd, Landeskrankenhaus Graz Süd/West, Wagner JaureggPlatz 1, 8053 Graz, Ö[email protected]

    O. Amouzadeh-Ghadikolai · L. Pascale-Scharmüller ·M. SaletuBereich für Schlafmedizin, Standort Süd,Landeskrankenhaus Graz Süd/West, Wagner JaureggPlatz 1, 8053 Graz, Österreich

    O. Amouzadeh-GhadikolaiUniversitätsklinik für Medizinische Psychologie undPsychotherapie, Medizinische Universität Graz,Auenbruggerplatz 3, 8036 Graz, Österreich

    A. BaranyiUniversitätsklinik für Psychiatrie und PsychotherapeutischeMedizin, Medizinische Universität Graz,Auenbruggerplatz 3, 8036 Graz, Österreich

    Schlüsselwörter Pseudosuizid · Schlafwandel · Para-somnie · Polysomnographie

    Strangulation as scenic behavior. A case reportof a pseudosuicide in the course of a NREM-parasomnia

    Summary It is generally accepted, that sleepwalk-ers show complex behaviors leading to non-intendedconsequences. It is not unusual that these personsare thereby injured. However, sporadically a bizarreendangering of themselves or others is reported also,which ranges from homicide of the life partner to ac-cidental (pseudo-)suicide.In this article, we report on a 28year-old man whounexpectedly attempted to hang himself by a whip atnight. We discuss the reasons, why this bizarre actshould actually be taken as a scenic behavior in thecourse of a NREM-parasomnia, and the difficulty toproof this claim.

    Keywords Pseudosuicide · Somnambulism · Parasom-nia · Polysomnography

    Einleitung

    Der Somnambulismus zählt zur Gruppe der NREM-Parasomnien (Arousalstörungen), die komplexe mo-torische Störungen umfasst, die während des Schlafsoder während des Übergangs vomWachen zum Schla-fen auftreten können. Er kommt durch eine Dissozia-tion von Schlafen und Wachen zustande. Die parti-ell wachen Patienten sind dabei „wach genug“, umkomplexe motorische Bewegungen auszuführen, aber„noch nicht ausreichend wach“, um adäquat antwor-ten oder reagieren zu können. Für das partielle Erwa-chen liegt in der Regel eine Amnesie vor.

    K Strangulation als szenische Handlung. Ein Fallbericht über einen Pseudosuizidversuch im Verlauf einer. . . 165

    https://doi.org/10.1007/s40211-018-0280-3http://crossmark.crossref.org/dialog/?doi=10.1007/s40211-018-0280-3&domain=pdfhttp://orcid.org/0000-0002-6103-7224

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    Gewöhnlich treten Parasomnien in der Kindheit aufund sind hier Ausdruck des reifenden Gehirns. Siekönnen im Erwachsenenalter fortbestehen oder aberauch neu auftreten. Die Gesamtprävalenz der Para-somnie wird mit 4% in der Normalbevölkerung ange-geben. Im Kindes- und Jugendalter beträgt die Präva-lenz über 10%.

    Die Parasomnien werden gemäß der Empfehlungder American Academy of Sleep Medicine (AASM), dieals Manual in Form der International Classification ofSleep Disorders (ICSD-3) [1] vorliegt und eine größe-re Differenzierung der schlafbezogenen Störungen alsdie ICD-10 und das DSM-5 Manual aufweist, diagnos-tisch in Untergruppen unterteilt (Tab. 1).

    Wie aus Tab. 1 ersichtlich, werden Parasomnienje nach dem Zeitpunkt ihres Auftretens grundsätz-lich nach REM- und N(on)REM-Schlaf eingeteilt. DerREM (Rapid-Eye-Movement)-Schlaf ist durch rascheAugenbewegungen und einen relaxierten Muskelto-nus gekennzeichnet. Er tritt in etwa 3- bis 4-malin der Nacht in einem Abstand von ca. 60–90minauf. Die übrigen Schlafstadien werden als NREM-Schlaf zusammengefasst. Die Einteilung parasom-nischer Phänomene nach der Art der Schlafstadienberuht auf der Erkenntnis, dass das Aufwachen ausdiesen mit unterschiedlichen Bewusstseinszuständenverbunden ist [2].

    Arousalstörungen aus dem NREM-Schlaf scheinenhäufig mit einer Enthemmung „grundlegender Trie-be“ (wie Nahrungsaufnahme, Sexualtrieb und Aggres-sion) einherzugehen. Man nimmt an, dass zentraleMustergeneratoren Instinktbewegungen erzeugen, dieim Wachzustand durch den präfrontalen Kortex in-hibiert worden wären. Das Verhalten während dieserEpisoden ist nicht der äußeren Situation angemessen,weshalb sie oftmals als „psychogen“ bedingt oder als„halluzinatorische Phänomene“ verkannt werden [3].

    Aus Tab. 1 wird auch deutlich, dass sich die Schlaf-medizin mit zahlreichen Phänomenen beschäftigt,welchen bei psychopathologischen Erwägungen einehohe differenzialdiagnostische Relevanz zukommen

    Tab. 1 Einteilung der Parasomnien nach ICSD-3

    Einteilung der ParasomnienArousal-Störungenaus dem NREM-Schlafheraus:

    Schlaftrunkenheit

    Schlafwandeln (Somnambulismus)

    Pavor nocturnus

    Schlafbezogene Essstörung

    Mit dem REM-SchlafassoziierteParasomnien:

    REM-Schlaf-Verhaltensstörung

    Rezidivierte isolierte Schlaflähmung

    Albträume

    Andere Parasomnien: Exploding-head-Syndrom

    Schlafbezogene Halluzination

    Enuresis nocturna

    Parasomnien durch körperliche Erkrankung

    Parasomnien durch Medikamente, Drogen oderandere Substanzen

    kann. Dies trifft im Besonderen auch auf die Beur-teilung der Zurechnungsfähigkeit von Handlungenzu, bei welchen etwas oder jemand zu Schaden kam.Besonderes mediales Aufsehen erlangt dabei immerwieder die Diskussion von (Pseudo-?)Suiziden vonSomnambulikern [4, 5], zuletzt etwa der unerwarteteSuizid des aufstrebenden Designers Tobias Wong imJahr 2010 [6].

    Der folgende Fallbericht handelt von einem ganzähnlich gelagerten Fall, nämlich einem 28-jährigenSomnambuliker, der eines Nachts unvermittelt denVersuch unternahm, sich mit einer Peitsche zu er-hängen. Wir diskutieren die Gründe, die dafür spre-chen, diese bizarre Handlung als szenische Handlungeiner NREM-Parasomnie zu interpretieren, sowie dieSchwierigkeiten, die sich in der Beweisführung erge-ben.

    Kasuistik

    Hr. X, ein 28-jähriger Patient, wurde gemäß § 8 desUnterbringungsgesetzes von der Intensivstation andie psychiatrische Abteilung überstellt. Der Patientwurde aufgrund einer Amnesie bezüglich der ver-gangenen Ereignisse und einer mangelnden Krank-heitseinsicht vorerst im geschützten Bereich unter-gebracht. Allerdings wurde bereits in der Dokumen-tation des Erstgesprächs festgehalten, dass keinerleidepressive oder psychotische Symptomatik fassbarwar. Da sich auch in der bald darauf erfolgten Fremd-anamnese mit den Angehörigen kein Hinweis auf einepsychiatrische Erkrankung oder Anzeichen für eineSelbstgefährdung fand, erfolgte die Überstellung desPatienten in den offenen Bereich.

    Hr. X und die Angehörigen zeigten sich ausgespro-chen erschüttert und auch verwirrt bezüglich der fürsie unverständlichen Ereignisse, die sich in der Nachtvor der Einweisung zugetragen haben: Er habe an die-sem Abend einen Maskenball besucht und dort in ra-scher Folge eine beträchtliche Menge Alkohol zu sichgenommen. Darum beschloss er, die Veranstaltungnoch vor der mitternächtlichen Demaskierung zu ver-lassen. Die Trinkmenge ließ sich eigen- und fremd-anamnestisch recht genau rekonstruieren: In etwa 5hhabe er folgende Getränke konsumiert: Zwei GläserSekt, sieben große Bier, einen Schnaps und ein Wod-ka-Mischgetränk.

    Aufgrund der hohen Trinkmenge übergab er seinenAutoschlüssel der Lebensgefährtin, die noch bei eini-gen Arbeiten vor Ort half, und begab sich zu Fuß nachHause. Etwas nach Mitternacht kam er zuhause an,putzte sich die Zähne, zog sich aus und ging ins Bett.Die Lebensgefährtin kam kurze Zeit später nach Hau-se und sprach ihn an, als er sich im Halbschlaf befand.Sie gingen hinunter in die Küche, und es folgte eineDiskussion über das Ausmaß seines Rauschzustandes.Die Diskussion war kurz und keineswegs hitzig. Dar-aufhin ging er wieder nach oben. Ab demMoment, als

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    er sich wieder ins Bett legte, fehlte ihm aber jedwedeErinnerung.

    Die Lebensgefährtin aber wurde bald darauf auf einlautes Bellen des Hundes aufmerksam. Als sie nachse-hen ging, erstarrte sie plötzlich vor Schreck, als Hr. Xmit einer Peitsche um den Hals die Stiege runtergekul-lert kam. Er war nicht ansprechbar. Der hinzugerufeneNotarzt intubierte Hrn. X bei GSC 6 noch vor Ort undtransferierte ihn ins Landesklinikum. Der toxikologi-sche Befund um 01:55 Uhr wies 0,91 Promille Äthanolim Blut aus.

    Die Erinnerung des Hrn. X setzte erst mit etwa7:00 Uhr morgens wieder ein, als er auf der In-tensivstation mit blauen Strangulationsstriemen amHals erwachte. Die von Seiten der Polizei veranlass-te Spurensicherung führte zu einem rekonstruiertenTathergang, wonach Hr. X sich mit einer Brauch-tumspeitsche an einem Haken im (ans Schlafzimmerangrenzende) Arbeitszimmer, an welchem früher einBoxsack hing, stranguliert habe. Dabei sei aber dasLeder gerissen. Er habe sich daraufhin über die Stiegegeschleppt und sei dort zu Sturz gekommen.

    Psychiatrische Diagnostik und Abklärung

    Weder in der Eigen-, noch in der Fremdanamnesefand sich aus psychopathologischer Sicht ein Hinweisfür eine Suizidalität oder eine psychiatrische Grunder-krankung. Von den 10 Risikofaktoren für Suizidalitätder SAD PERSONS Scale [7] wies Hr. X lediglich denalkoholisierten Zustand auf. Er zeigte sich durchwegsin einer euthymen, ruhigen, geordneten, im Rahmender Abklärung vielleicht leicht besorgten, psychischenVerfassung. Die beruflichen und familiären Verhält-nisse waren stabil. Hinsichtlich psychiatrischer Be-handlungen und Suizidversuchen zeigte sich die Ana-mnese bland.

    Eine MRT des Schädels, ein EEG und zahlreichepsychometrische Tests führten ebenfalls zu keinemrichtungsweisenden Befund.

    Schlafbezogene Exploration

    Die schlafbezogene Exploration förderte jedoch Schlaf-wandeln als Phänomen zu Tage, welches bereits inder Kindheit auftrat und immer noch auftrete. Mittler-weile falle er jedoch nur mehr etwa alle zwei Monatedurch merkwürdige nächtliche Handlungen auf. Of-fenbar versuche er meist die Toilette zu finden, wasihm selten gelinge. Zuletzt urinierte er in den Kleider-schrank. Unlängst redete die Freundin ihn in einemsolchen Zustand an, woraufhin er angespannt, gereiztund aggressiv reagierte. Als etwa 10-jähriges Kindging er im Ferienlager in ein anderes Zimmer undwurde im oberen Bett eines Stockbettes wieder mun-ter. In Rauschzuständen, wie sie eingangs geschildertwurden, seien solcherart Ereignisse häufiger als sonstüblich aufgetreten.

    Nach kurzem stationärem Aufenthalt wurde Hr. Xmit der Verdachtsdiagnose einer NREM-Parasomnieund der Empfehlung entlassen, im Schlaflabor vor-stellig zu werden, einer Empfehlung, der er kurz da-rauf selbständig nachkam.

    Schlafmedizinische Diagnostik

    Im Schlaflabor kam mit der Polysomnografie (PSG)das zurzeit umfassendste Verfahren zur Messung derphysiologischen Funktionen im Schlaf zur Anwen-dung. Hier zeigte sich eine normale Schlafeffizienzbei einer unauffälligen Schlafarchitektur, v.a. ein nor-maler Tiefschlafanteil mit 15% und einen REM-Schlafmit regulärer Atonie. In der Videoaufzeichnung konn-te kein eindeutiges Parasomnieereignis festgehaltenwerden. Die Aufwachrate war im Normbereich. Esfand sich kein Hinweis für eine schlafbezogene Atem-störung oder periodische Beinbewegungen (etwa alsmöglicher Trigger für Parasomnieereignisse).

    Das begleitende EEG zeigte keine Zeichen einererhöhten Erregungsbereitschaft oder epilepsietypi-sche Potenziale. Doch konnte besonders in der erstenNachthälfte ein cyclic alternating pattern (CAP) be-obachtet werden (siehe Abb. 1). Dabei handelt essich um Sequenzen transienter elektrokortikaler Er-eignisse in regelmäßigen Intervallen, die sich vonder Hintergrundaktivität abheben [8, 9]. Die genaueQuantifizierung ergab eine mit 43% deutlich erhöh-te CAP Rate (Normbereich bei jungen Erwachsenen:25–30%).

    Diskussion

    Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die diagnos-tische Zuordnung des in Frage stehenden nächtlichenEreignisses sehr schwierig gestaltet und nicht mit letz-ter Sicherheit erfolgen kann.

    Die Eigen- und Fremdanamnesen sowie der psy-chopathologische Befund scheinen aber gegen dasVorliegen einer psychiatrischen Grunderkrankung zusprechen. Zwar ist es denkbar, dass im intoxikiertenZustand tatsächlich im Affekt bewusst ein Suizidver-such verübt wurde, der nun aber im Schulterschlussder gesamten Familie unter den Tisch gekehrt wurde,um z.B. die Stigmatisierung durch eine psychiatrischeDiagnose zu verhindern. Doch schien uns die Betrof-fenheit der Beteiligten dafür zu sehr einfühlbar undnicht simuliert.

    Für einen pathologischen Rauschzustand war dieAlkoholmenge zu hoch und es fehlte die Tendenz zurFremdaggression. Eine schlafbezogene hypermotori-sche Epilepsie (sleep-related hypermotor epilepsy) istaufgrund der unauffälligen Befunde des Routine-EEGund der Schlaf-EEG-Ableitung im Rahmen der PSGallein durchaus nicht ausgeschlossen, doch zeigensich bei einer solchen meist nur Sekunden dauern-de, motorische Stereotypien ohne szenischen Verlauf,

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    Abb. 1 Cyclic alternating pattern (CAP) in der Polysomnographie des Patienten

    die zudem mit einer sehr hohen Frequenz (oft jedeNacht) auftreten [10].

    Die Bizarrheit, Komplexität und Unvermitteltheitder selbstgefährdenden Handlung, welche in der ers-ten Nachthälfte und offenbar mit geöffneten Augenvollzogen wurde, sprechen gemeinsam mit der ein-schlägigen Anamnese und der retrograden Amnesiesehr stark für eine szenische Handlung im Rahmeneines Somnambulismus, der bekanntlich durch Alko-holeinfluss und Schlafentzug provoziert werden kann[2, 3]. Leider wird in der PSG nur äußerst selten einsolches Parasomnieereignis direkt aufgezeichnet. In-direkt richtungsweisend sind aber eine hypersynchro-ne Deltaaktivität sowie eine erhöhte cyclic alternatingpattern (CAP) Rate, welche letztere auch wir in derPSG vorfanden. Sie dienen als Marker einer NREM-Instabilität, die als pathophysiologisches Korrelat desSomnambulismus angesehen wird [9, 11]. Dieser Be-fund stützte somit die positive Anamnese hinsichtlichdes Somnambulismus, wodurch jener in unseren Au-gen zur wahrscheinlichsten Ursache der Strangulationavancierte.

    In der Therapie des Schlafwandels können ver-suchsweise niedrigdosiert Benzodiazepine mit länge-rer Halbwertszeit (z.B. Clonazepam) oder verschiede-ne „anekdotisch als wirksam berichtete“ [2] Antikon-vulsiva eingesetzt werden [12, 13]. Als Wirkmecha-nismus wird eine Tiefschlafunterdrückung angenom-men.

    Die verhaltenstherapeutisch angewandte Vorsatz-bildung sowie die Hypnose können mögliche thera-peutische Interventionen darstellen [12, 14]. Es liegenaber ebenso wie für die pharmakologischen Interven-tionen keine Daten zum Effekt über einen längerenZeitraum vor, weshalb keine der genannten Maßnah-men als sichere Therapieempfehlung angesehen wird[2, 3, 12].

    Aufklärung hinsichtlich provozierender Faktoren(z.B. Alkoholabusus oder Schlafentzug), Absicherungder Bettumgebung sowie die Instruktion des Bett-partners (beruhigendes „Talking Down“) haben sichbislang am effektivsten zur Verhütung einer Selbst-oder Fremdverletzung erwiesen [2]. Auch im vor-liegenden Fall schienen uns diese Maßnahmen amehesten zielführend.

    Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass beider differentialdiagnostischen Abklärung nächtlicherStörungen und Ereignisse der verschiedensten Artauch Parasomnien in Betracht gezogen werden soll-ten. Besonders in unklaren oder bizarren Fällen sollteneben einer gründlichen EEG-Abklärung auch eineVorstellung in einem Schlafmedizinischen Zentrummit neuropsychiatrischem Schwerpunkt erwogenwerden. Im Falle einer entsprechenden Diagnosestel-lung sind Maßnahmen zur Verhütung einer Selbst-oder Fremdgefährdung verhältnismäßig einfach um-zusetzen.

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    Danksagung Wir bedanken uns bei unserem Patienten fürdie freundliche Zustimmung zur Publikation dieses Fallbe-richts.

    Funding Open access funding provided by Medical Univer-sity of Graz.

    Interessenkonflikt O. Amouzadeh-Ghadikolai, L. Pascale-Scharmüller, A. Baranyi, M. Lehofer und M. Saletu geben an,dass kein Interessenkonflikt besteht.

    Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Com-mons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffent-licht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Ver-breitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Formaterlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) unddie Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur CreativeCommons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungenvorgenommen wurden.

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    K Strangulation als szenische Handlung. Ein Fallbericht über einen Pseudosuizidversuch im Verlauf einer. . . 169

    http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.dehttp://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de

    Strangulation als szenische Handlung. Ein Fallbericht über einen Pseudosuizidversuch im Verlauf einer NREM-ParasomnieZusammenfassungSummaryEinleitungKasuistikPsychiatrische Diagnostik und AbklärungSchlafbezogene ExplorationSchlafmedizinische Diagnostik

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