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Strategiebewusstes Management

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ÜB

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BL

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3

Paradigmen strategischen Denkens

3.1 Das klassisch-rationalistische Paradigma . . . . . . . . . . 50

3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

3.3 Klassisch-rationalistisches Paradigma versus verständnisorientiertes Paradigma: Eine Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

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Paradigmen strategischen Denkens

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In den vorangegangenen Kapiteln wurde deutlich, dass strategischesManagement als Praxis sowie als Teilbereich der Managementwissenschaftdurch keine einheitliche theoretische Fundierung und Interpretation bzw.durch keinen akzeptierten Kanon an strategischen Instrumenten charakteri-siert ist. Im Diskurs des strategischen Managements treffen hingegen unter-schiedliche Definitionen, Schulen und Konzeptionen dessen, was Wirk-samkeit ausmacht aufeinander. Was wir unter „Strategischem Management“verstehen, hängt somit von kulturellen, historischen und theoretischenHintergründen ab. Einen „one best way“ strategischen Managements gibt esebenso wenig wie eine einzige theoretische Fundierung.

Die Vielfalt der unterschiedlichen Ansätze und deren Grundlagen kannjedoch strukturiert werden, indem diese zwei unterschiedlichen Paradig-men strategischen Managements zugeordnet wird:

Einem klassisch-rationalistischen Paradigma und

einem verständnisorientierten Paradigma.

Diese zwei Paradigmen bilden spezifische „Brillen“, mit denen strategi-sches Management auf je unterschiedliche Art und Weise wahrgenommenwerden kann. Da beide Paradigmen jedoch auf radikal unterschiedlichentheoretischen Grundlagen basieren, empfehlen diese mitunter entgegenge-setzte Handlungen. Die beiden Paradigmen unterscheiden sich in grund-legenden Fragen wie zum Beispiel:

Lernziele

Nachdem Sie diesen Teil durchgearbeitet haben, sollten Sie in derLage sein, die folgenden Fragen zu beantworten:

Wodurch unterscheidet sich das klassisch-rationalistische Para-digma strategischen Managements von einem verständnisorientier-tem Paradigma?

Welches Bild einer Organisation ergibt sich aus der klassisch-ratio-nalistischen Perspektive?

Aus welcher Interessensperspektive entwickelt sich das klassisch-rationalistische Paradigma?

Welche Aspekte betont das klassisch-rationalistische Paradigmaund welche Ziele werden hier primär verfolgt?

Aus welchen theoretischen Quellen speist sich das verständnisori-entierte Paradigma strategischen Managements?

In welchen Aspekten stellt das verständnisorientierte Paradigmadie Prämissen des klassisch-rationalistischen Paradigmas in Frage?

Welche Rolle wird dem Management aus einer klassisch-rationalis-tischen bzw. verständnisorientierten Perspektive zugeschrieben?

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Was ist der Mensch?

Ist der Mensch eine objektive Rechen- und Analysemaschine? Ein Pro-dukt seiner sozioökonomischen Umwelt? Ein Akteur mit beschränkterInformationsverarbeitungskapazität? Ein soziales Wesen? Ein mikropoli-tischer Akteur?

Wie interagieren Menschen bzw. Organisationen mit ihrer Umwelt?

Menschen und Organisationen haben die Wahl, ob sie die Interessenund Perspektiven anderer eher abwehren oder integrieren, ob sie an an-deren Meinungen interessiert sind oder ob diese Meinungen als Bedro-hung wahrgenommen werden.

Welche Umweltfaktoren sind entscheidend?

Unterschiedliche Paradigmen können unterschiedliche Faktoren als ent-scheidend betrachten, beispielsweise Macht, Markt, Politik, Technolo-gie, Wissen oder Kommunikation.

Grundannahmen als kognitive Basis

Die Bedeutung solcher Grundannahmen kann nicht hoch genug einge-schätzt werden, da diese die Basis für kognitive Suchprozesse bilden undfestlegen, welche Faktoren Relevanz besitzen, welche Handlungen ange-messen sind und welche Ziele erreicht werden sollen.

Argyris (1977) weist darauf hin, dass die Bedeutung derartiger Grundannah-men steigt, wenn diese dem Menschen nicht bewusst sind. In dem Ausmaß,in dem die Grundannahmen nicht mehr hinterfragt werden, verwandelnsich diese. Statt als brauchbare Denk- und Handlungswerkzeuge zu fungie-ren, beschränken die Grundannahmen die menschlichen Wahrnehmungenund Handlungsalternativen: Wir werden zu „Gefangenen unserer eigenenTheorien“ (Argyris, 1977). Paradigmatische Unterschiede müssen daher inden theoretischen Konzeptionen von strategischer Unternehmensführunggenauer betrachten werden.

ManagementfelderIn der Betrachtung einzelner Managementfelder wird an späterer Stelleersichtlich, dass sich diese Differenzen auf das Zielsystem der Organisation,auf Interaktionsmuster mit dem Umfeld, auf die Bedeutung „rationaler“Verfahren sowie auf den spezifischen Umgang mit Komplexität auswirken.

Da beide Paradigmen strategischen Managements unterschiedliche Wur-zeln, Prämissen und Zielorientierungen besitzen, sollten sie anhand folgen-der Fragen dargestellt werden:

Welches sind die historischen und erkenntnistheoretischen Wurzeln desjeweiligen Paradigmas?

Welche spezifischen Prämissen prägen die Vorstellung von Strategie imjeweiligen Paradigma und damit die Wahrnehmungs- und Handlungs-muster der organisationalen Praxis?

Welche Ziele werden explizit oder implizit in dem jeweiligen Para-digma verfolgt?

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3.1 Das klassisch-rationalistische Paradigma

3.1.1 Historische und erkenntnistheoretische Wurzeln

Das klassisch-rationalistische Paradigma entspricht dem ältesten und nochimmer einflussreichsten Denkansatz innerhalb des Strategiediskurses. Dasklassische Paradigma hat drei Wurzeln:

ein positivistisch-rationalistisches Weltbild,

die Verknüpfung von strategischer Unternehmensführung mit militäri-schen Konzepten und Prinzipien sowie

historisch spezifische Problemlagen und Problemlösungsstrategien US-amerikanischer Großunternehmen in den 1950er Jahren.

Das positivistisch-rationalistische Weltbild

Die klassischeVorstellung

Dem klassischen Ansatz liegt ein positivistisch-rationalistisches Weltbildzugrunde. Diese erkenntnistheoretische Position („naiver Realismus“) gehtdavon aus, dass die menschlichen Wahrnehmungen eine exakte Kopie derAußenwelt liefern können (Positivismus). „Die Welt da draußen“ kann sowahrgenommen werden, wie sie wirklich ist.1 Das klassische naturwissen-schaftlich-rationale Weltbild fußt auf dem Glauben einer rationalen undobjektiven Erfassbarkeit der Welt. Wenn etwas erfasst werden kann, dannist es auch – so die Hoffnung – beherrschbar. Da die klassische Vorstellungvon strategischer Unternehmensführung dieser positivistischen Traditionfolgt, ergeben sich weitreichende Konsequenzen: Eine positivistisch-ratio-nalistische Hintergrundtheorie hat enorme Auswirkungen darauf, was für„wahr“ gehalten wird und wie Organisationen und Menschen in Organisa-tionen wahrgenommen werden.

Der Mensch wird als rationaler Entscheider, als potenziell objektiver Beob-achter seiner Welt betrachtet. Whittington (1993) weist darauf hin, dass eineWurzel des klassischen Ansatzes auf das Menschenbild der Ökonomen des18. Jahrhunderts zurückgeht: Es ist das Idealbild des Homo Oeconomicus –der Mensch als rationales, seinen Eigennutzen maximierendes Individuum.Handlungen werden als Produkt bewusster und rationaler Analysen undEntscheidungen verstanden. Rationalität und die Fähigkeit zur rationalenEntscheidung werden als höchster Wert betrachtet, der den Mensch von derNatur unterscheidet und ihn über diese stellt. An späterer Stelle wirdersichtlich, welche Konsequenzen eine solche Theorie über den Menschenauf die Rolle hat, die den Vertretern des Top-Managements zugesprochen(bzw. von diesen beansprucht) wird.2 Das Menschenbild des Homo Oecono-micus wird begleitet von einer ebenfalls im positivistisch-rationalistischenWeltbild fußenden Auffassung von Organisation.

1 Beispielsweise der Markt, die Konkurrenten, unternehmensinterne Beziehungenoder auch Stärken und Schwächen der Organisation.

2 Siehe Abschnitt 1.1.2 und Abschnitt 1.2.2.

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3.1 Das klassisch-rationalistische Paradigma

Das positivistisch-rationalistische Weltbild ist im Kern ein mechanistisch-analytisches Weltbild: Es wird hierbei angenommen, dass alles – selbstjeder lebende Organismus – aus einzelnen Teilen besteht, und dass es mög-lich ist, komplexe Phänomene auf ihre Grundbausteine zu reduzieren bzw.in dieselben zu zerlegen. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass dieBeziehungen zwischen diesen Grundbausteinen von einem Beobachterobjektiv wahrgenommen werden können und die zerlegten Teile so ange-ordnet werden können, dass sie dem Willen des Konstrukteurs entspre-chend beherrschbar werden.

Organisationen werden dabei als „Maschinen“ betrachtet. Die Maschinen-metapher3 der Organisation entstand in den Sozial- und Wirtschaftswissen-schaften im 19. Jahrhundert, als in Folge der Industriellen Revolution eineVielzahl neuer Maschinen entwickelt wurde. Zentral war hierbei die Vor-stellung, dass Organisationen wie Maschinen designed werden können, umbestimmte Zwecke zu erfüllen.4

PrämissenDie Perspektive, die mit der Maschinenmetapher verbunden ist, betont dieFrage, wie eine „Organisationsmaschine“ konstruiert sein muss, um ihreAufgaben am effizientesten bzw. profitabelsten ausführen zu können.

Hatch (1997)5 nennt folgende Prämissen, welche mit einem derartigenOrganisationsverständnis verknüpft sind:

Organisationen sind rationale Systeme.

Die Organisation wird als gut geschmierte Maschine betrachtet, die auseinzelnen und ersetzbaren Teilen zusammengesetzt ist. Sie soll routine-mäßig, effizient und vorhersagbar funktionieren. Gleichfalls müssen dieMenschen möglichst reibungslos in die „Organisationsmaschine“ einge-passt werden.

Organisationen sind Hierarchien.

Ziele zu definieren und Entscheidungen zu treffen, ist Aufgabe des Top-Managements. Das „Fußvolk“ hat die Entscheidungen widerspruchsloszu implementieren. Es wird davon ausgegangen, dass Manager fähigsind, rationale Entscheidungen zu treffen und dass sie das Ziel verfol-gen, die Ergebnisse des Unternehmens zu optimieren. Der Manager wirdals „Ingenieur“ betrachtet, der die Organisationsmaschine designed,baut und steuert.

Die Organisation und ihre Prozesse können rational kontrolliert werden.

Da die Organisation als eine „Maschine“ betrachtet wird, kann sie auchrational kontrolliert und beeinflusst werden. Ähnlich einem Uhrwerksind klare kausale Beziehungen vorhanden, und das Management kann„an den richtigen Schrauben“ drehen, um zu den gewünschten Prozes-sen und Ergebnissen zu gelangen.

3 Siehe Morgan (1986).4 Beispielsweise wird eine Bohrmaschine designed, um ein Loch zu bohren.5 Siehe Hach (1997), S. 53ff.

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Organisationen sind Instrumente, mit denen Strategien umgesetzt wer-den können.

Wie ein Uhrwerk ist auch eine Organisation eine beliebig gestaltbareStruktur. Funktion dieser Struktur ist es, die strategischen Ziele zu ver-wirklichen. Die Organisation ist an die gewählte Strategie anzupassen.

Die Organisationsstruktur muss entsprechend der Strategie ausgerich-tet werden.

Hierbei wird davon ausgegangen, dass Strukturen das Verhalten beein-flussen.6

Auswirkungen Dieses mechanistisch-analytische Bild der Organisation hat weitreichendeAuswirkungen auf die Rolle und Funktion, welche dem Top-Managementzugeschrieben werden und auf die Art, wie Strategien entwickelt undumgesetzt werden.

Die Verknüpfung von strategischer Unternehmensführung mit militärischen Konzepten und Prinzipien

Eine zweite Wurzel des klassisch-rationalistischen Paradigmas strategischerUnternehmensführung ist die Verknüpfung mit militärischen Konzeptenund Prinzipien. Die klassische Definition von „Strategie“7 stellt ein Nahe-verhältnis zu militärischem Denken her:

Strategie: Genauer Plan des eigenen Vorgehens, der dazu dient, ein mili-tärisches, politisches, psychologisches oder ähnliches Ziel zu erreichen,indem man diejenigen Faktoren, die in die eigene Aktion hineinspielenkönnen, von vornherein einzukalkulieren versucht.

Strategisch: Genau geplant, einer Strategie folgend.

Strategische Waffen: Waffen von größerer Sprengkraft und Reichweite,die zur Abwehr und zur Zerstörung des feindlichen Kriegspotenzialsbestimmt sind.

Die etymologische Wurzel des Begriffs „Strategie“ ist im militärischen Kon-text der Antike angesiedelt: Strategie ist die Kunst der Heerführung (griech.stratos = Heer; agos = Führer). Der deutsche General Carl von Clausewitzzieht im 19. Jahrhundert erste Parallelen zwischen Militär und Wirtschaftund öffnet damit der Verwendung der Militärmetapher im Bereich der Öko-nomie bzw. des Managements ökonomischer Institutionen die Tür.

Akzeptiert man diese militärische Metapher und überträgt diese auf das Felddes strategischen Managements, so sind die Feinde des Unternehmens seineKonkurrenten. Auch fordernde Interessensgruppen, regelsetzende Behördenoder technologischer Wandel stellen eine Bedrohung dar: Die Umwelt einesUnternehmens wird primär als feindlich interpretiert. Strategie bedeutetsomit, dass die organisationalen Ressourcen – beispielsweise Kapital, Wis-sen, Technologie oder auch Beschäftigte – in Stellung gebracht werden. Zielder Strategie ist es, die eigene Position zu schützen und die Position der Geg-

6 Siehe Alfred Du Pont Chandler: Structure follows Strategy, Cambridge 1962.7 Duden Fremdwörterbuch (1982), Bd. 5, S. 730.

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3.1 Das klassisch-rationalistische Paradigma

ner anzugreifen. Das zu erobernde Territorium ist der Marktanteil. Entschei-dungen werden von dem General an der Spitze der Hierarchie getroffen.Pläne werden in den Räumlichkeiten des Generals entwickelt und vonUntergebenen exekutiert, ohne dabei in Frage gestellt zu werden.

Militärische Metaphern schaffen ein autoritäres Organisations-verständnis

Obwohl die Anwendung militärischer Metaphern auf das Management vonOrganisationen von einigen Wissenschaftlern als unangemessen und hinder-lich kritisiert wird, zieht sie sich bis heute in Wellen durch die Theorie undPraxis des strategischen Managements und bildet die Basis einflussreichertheoretischer Ansätze.8 Mit der militärischen Metapher wird implizit einspezifisches Welt- und Menschenbild transportiert: Es gilt, die eigene Posi-tion zulasten anderer zu verbessern und andere zu unterwerfen. Menschenin Organisationen werden entweder als „Befehlshaber“ oder als „Unter-gebene“ betrachtet, wobei Ersteren die Aufgabe der Planung der Strategieund taktischer Manöver zugesprochen und von Letzteren Gehorsam verlangtwird. Pfriem (2006) weist darauf hin, dass sich hinter den militärischenMetaphern ein autoritäres Organisationsverständnis verbirgt: Effizienz wirdals Konsequenz zentralistischer Kommandostrukturen betrachtet.

Die treffendste Kritik dieser Verknüpfung von militärischen Denkmusternmit strategischem Management stammt von dem OrganisationstheoretikerKarl Weick:

Militärische Organisations-sprache

Self-Fulfilling Prophecy

8 Beispielsweise Wettbewerbsansätze oder auch Positionierungsansatz.

Es gibt eine Metapher, die die Geschäftswelt beherrscht. DieseMetapher ist das Militär. Sie deutet an, was Geschäftsleute übersich selbst denken und was sie tun. (…) Betrachten Sie die folgen-den Beispiele der Organisationssprache: Organisationen habenStab und Linie und Kommandoketten. Sie entwickeln Strategienund Taktiken. Organisationen geben ihren Leuten Marschbefehle,lassen anmustern, greifen Konkurrenten an, rekrutieren MBAs,…blasen zum Rückzug, ziehen Informationen ein, schlagenSchlachten, … reden von Meuterei, benutzen Ablenkungsmanö-ver, reiten Attacken, disziplinieren ihre Truppen und beklagen,dass der Verhaltenskodex nicht funktioniert.

Warum hat die Militärmetapher die Manager so fest im Griff? Ein-mal deshalb, weil eine Militärmetapher eine ideale self-fulfillingprophecy ist. Nehmen Sie an, ich gehe in eine Situation in derAnnahme, die Person, die ich treffen werde, suche Streit. DiesePerson sieht meine feindselige, drohende Haltung und zahltdurch feindseliges Gebaren in gleicher Münze zurück. Darausschließe ich, dass meine ursprüngliche Annahme richtig war: Derandere wollte Streit. Es dämmert mir nie, dass ich derjenige war,der den Streit hervorgerufen hat. Genauso ist es im Geschäftsle-ben. Wenn ich annehme, ein Geschäft zu betreiben sei das gleichewie Kriegführen, dann wird diese Annahme eben die Kriege verur-sachen, die ich vorausgesagt hatte.

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Kaschieren vonUnsicherheit und

Unordnung

Begrenzte Lösungs-möglichkeiten

Weick (1985), S. 75-77.

Problemlagen und Problemlösungsstrategien US-amerika-nischer Großunternehmen in den 1950er Jahren

Hauptvertreter desklassisch-rationalis-

tischen Ansatzes

„Strategie“ als eigenständiges Feld der Unternehmensführung ist ver-gleichsweise jung und geht auf die Arbeiten von Peter Drucker (1946),Alfred Du Pont Chandler (1962), Alfred Sloan (1963) und Igor Ansoff (1965)zurück. Diese vier Autoren formulierten erstmals den Kern des klassischenAnsatzes strategischer Unternehmensführung: Die Einführung einer ratio-nalen Analyse, die Trennung von Strategieentwicklung und -implementie-rung sowie die Ausrichtung auf Profitmaximierung als zentrales Ziel. DieserKern des klassischen Ansatzes ist nicht zu trennen von der Geschichte US-amerikanischer Großunternehmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.Drei der vier Pioniere strategischen Managements standen in einem sehrengen Verhältnis zu den dominanten Unternehmen der US-Wirtschaft.

Alfred Sloan Alfred Sloan war Präsident von General Motors. Das Hauptproblem vonGeneral Motors – und anderen Unternehmen wie General Electrics oder Du

Aber militärische Metaphern mögen sich noch aus anderen Grün-den erhalten. Die Menschen haben nicht gerne mit Ungewissheitzu tun: Deshalb setzen sie militärische Drapierungen wie Hierar-chien und Kontrollspannen ein, um die Unordnung zu verbergen.Militärische Metaphorik erhält sich wahrscheinlich auch deshalb,weil sie kraftvoll, männlich und mitreißend wirkt. Man könntesogar annehmen, militärische Metaphern erhielten sich deswegen,weil das Geschäftsleben autoritäre Persönlichkeiten anzieht undsie in Machtpositionen setzt, von denen aus diese Leute dann ihreWeltsicht anderen aufzwingen.

Was auch immer ihre Ursprünge sein mögen, die Militärmetapherist, … eine schlechte Wahl, weil sie den Leuten nur eine sehrbegrenzte Anzahl von Möglichkeiten zur Lösung von Problemenund von Arten, sich zu organisieren, in Erwägung zu ziehenerlaubt.

Militärische Bilder ersparen den Managern die Mühe, ergiebigereWege zum Verständnis und zur Führung ihrer Geschäfte zusuchen. Und das ist traurig, weil militärische Bilder die Flexibilitäteinschränken, bornierte Lösungen fördern, nichts Interessantesüber Organisationen aussagen und sich selbst perpetuieren. ... Dieständige Verwendung militärischer Metaphern verstellt uns denBlick für eine andere Art Organisation, für Unternehmen nämlich,in denen Improvisation höher im Kurs steht als Vorausplanung,die Gelegenheiten nutzen, statt sich von Sachzwängen einengen zulassen, die neue Handlungsmöglichkeiten aufspüren, statt alteHandlungsweisen zu rechtfertigen, die Auseinandersetzungenhöher bewerten als Ruhe und die Zweifel und Widerspruch för-dern, statt Festhalten an traditionellen Vorstellungen zu verlangen.

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3.1 Das klassisch-rationalistische Paradigma

Pont – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Koordination einesenorm großen Unternehmens, welches in einer Vielzahl von Industrien tätigwar. Sloan war dreißig Jahre lang Präsident von General Motors. Sloanswichtigste Innovation war die Trennung zwischen Unternehmenspolitik bzw.Unternehmensstrategie und Strategieimplementierung. Für die Unterneh-mensstrategie war nur ein kleiner Kreis von Entscheidungsträgern zuständig.

Peter DruckerPeter Drucker, Publizist und Managementberater, arbeitete zwischen 1943und 1945 für General Motors und war von Sloans Ansatz beeindruckt. Diewichtigsten Werke von Drucker, Big Business (1947) und The Concept of theCorporation (1946), propagierten Sloans Ideen und trugen maßgeblich zurVerbreitung des rationalistisch-klassischen Verständnisses von Strategie bei.

Alfred Du Pont Chandler

Alfred Du Pont Chandler war Wissenschaftler und untersuchte in seinenFallstudien vier große US-amerikanische Unternehmen (General Motors, DuPont, Standard Oil und Sears), um mehr über den Zusammenhang zwi-schen Strategieentwicklung und Struktur zu erfahren. Du Pont Chandlerentstammte der Familie Du Pont, welche ein Viertel von General Motorsbesaß. Die Studie wurde vom Sloan Research Fund finanziert.

Am Beginn des klassisch-rationalistischen Ansatzes stehen somit drei Per-sonen und ein bedeutendes Unternehmen, General Motors. Es verwundertnicht, dass alle – auch aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihrer schichtspezi-fischen Interessen und ihrer Geschichte – die Überlegenheit eines „Top-down-Planungsansatzes“ betonten.

3.1.2 Merkmale und Prämissen des klassisch-rationalistischen Paradigmas

Das klassisch-rationalistische Paradigma strategischen Managements istdurch die folgenden Merkmale charakterisiert:

Hierarchie: Herausragende (Macht-)Position des Top-Managements

Rationalität: Betonung rationaler Analyse-Instrumente

Kontrolle und Planung: Funktion als Hebel der Veränderung

Hierarchie: Die herausragende (Macht-)Position des Top-Managements

Rolle und Bedeutung der Führungsebene

Das klassische Paradigma weist der obersten Führungsebene eine besondereRolle und Bedeutung zu: Die Angehörigen des Top-Managements werden alsrationale Analysten betrachtet, die den Gesamtüberblick über die Organisa-tion und ihre Umwelt haben und alle wichtigen Informationen bündeln. DieTop-Manager sind aufgrund ihrer Fähigkeiten diejenigen, die Informationenrational verarbeiten (können) und daraus die besten Strategien ableiten.

Die Rolle, die dem Top-Management von dem klassischen Paradigma zuge-sprochen wird übt prägenden Einfluss auf die Art und Weise aus, wie Ver-änderungen wahrgenommen werden, wie die Entstehung von Strategienerklärt wird, wie Implementierungsprobleme erklärt und gelöst und wieInnovationen erklärt werden.

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Macht, Wissenund Weitsichtwerden dem

Top-Managementzugeschrieben

In all diesen Aspekten wird dem Top-Management eine herausragendeRolle zugeschrieben: Es wird davon ausgegangen, dass auf dieser Führungs-ebene Wissen und Weitsicht vorhanden sind, um gegenwärtige Trends undzukünftige Entwicklungen wahrzunehmen. Strategien resultieren – entspre-chend diesem Bild – aus den „genialen“ Ideen des Top-Managements(Designschule) oder aus einer rationalen Planung (Planungsschule strategi-schen Managements) oder aus einer rationalen und objektiven Analyse(Positionierungschule).9 Implementierungsprobleme werden tendenziellals irrationaler Widerstand der unteren Ebenen interpretiert, welcher ent-weder durch Belehrung oder durch Zwang überwunden werden muss.Neuerungen entstehen aus dieser Perspektive ausschließlich top-down,etwa durch einen neuen Chief Executive Officer (kurz: CEO) oder durch einneues Management-Team.

Der klassische Ansatz schreibt den Angehörigen des Top-Managementsnicht nur enorme Macht und Befähigung zu, sondern geht zudem weitge-hend unreflektiert davon aus, dass sich die Strategen dem Unternehmenverpflichtet fühlen, in ihren Einschätzungen objektiv sind und aufgrundihrer überragenden Fähigkeiten – und nicht durch ihre klassenspezifischeSozialisation, ihre soziale Herkunft oder durch mikropolitische Strategien –ihre Position erreicht haben.

Rationalität: Die Betonung rationaler Analyse- und Planungsinstrumente im klassisch-rationalistischen Strategieverständnis

„Rationale“strategische

Techniken undKonzepte

Eine der zentralen Fragen der Strategieliteratur lautet: Auf welche Weisewerden strategische Entscheidungen getroffen? Klassische Lehrbücher, wel-che dem klassisch-rationalistischen Paradigma folgen, sind voll von Techni-ken und Konzepten rationaler Entscheidungsfindung. PlanungsorientierteInstrumente bzw. Finanztechniken stehen dabei im Vordergrund. Das klas-sisch-rationalistische Paradigma betont die „rationale“ Identifizierung vonMarktgegebenheiten und Wettbewerbsvorteilen und das „rationale“ Designvon Unternehmensstrukturen, Politiken und Geschäftseinheiten.

Strategie alsErgebnis

„technokratischerRationalität“

Das klassisch-rationalistische Paradigma zeichnet damit ein spezifischesBild von Strategie: Strategien entstehen aus einer bewussten, rationalenEntscheidung (rationalistische Entscheidungstheorie). Strategie selbst istein rationaler Prozess bewusster Analyse und Berechnung mit dem Ziel,langfristigen Nutzen zu maximieren. Das Verhalten von Managern zieltsomit darauf ab, eine „technokratische Rationalität“ zu perfektionieren.10

Die „rationale“ strategische Lenkung wird dabei als lineare und sequenti-elle Abfolge einzelner Schritte betrachtet. Das klassisch-rationalistischeGrundmodell strategischer Prozesse ist das systematische Denken – von derAnalyse zur Strategiebildung und von dieser zur Implementierung.

9 Siehe Kapitel 2.10 Siehe Alvesson und Willmot (1996).

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3.1 Das klassisch-rationalistische Paradigma

„Erst denken, dann handeln“

Im klassisch-rationalistischen Paradigma geht die Analyse der Handlung vor-aus: „Erst gänzlich durchdenken, dann handeln“ lautet das zentrale Motto.Den Ausgangspunkt bildet hierbei erneut die rationalistische Prämisse, dassdie Analyse in der Lage ist, entscheidende Einflussfaktoren objektiv ausfin-dig zu machen und verlässliche Vorhersagen über die Zukunft zu treffen.

Abbildung 3.1: Strategisches Management als rationaler Stufenplan

Ausgangspunkt der klassisch-rationalistischen Vorstellung von strategi-scher Unternehmensführung ist die Klärung der zu erreichenden Ziele. DieOrganisationsziele werden dabei als weitgehend unproblematisch undgegeben vorausgesetzt und nicht als interessengebunden und diskussions-würdig betrachtet.

Nachdem die Ziele festgesetzt sind, folgt entsprechend der klassischen Stra-tegiekonzeption die Analyse der internen und externen Gegebenheiten. Dieexterne Analyse hat zur Aufgabe, Chancen und Risiken ausfindig zumachen, beispielsweise Veränderungen auf dem Markt, in der Politik oderauch in der Technologie. Die interne Analyse soll Stärken und Schwächenim Hinblick auf ebendiese Chancen und Risiken identifizieren.11

Nachdem die Phase der Analyse abgeschlossen ist, das heißt die notwendi-gen Informationen gesammelt und verarbeitet wurden, beginnt die Phase derEntscheidung für eine konkrete Strategie bzw. für deren möglichst exakte

11 Siehe Hatch (1997).

Zielbildung

Analyse

Prognose

Entscheidung

Durchsetzung

Realisierung

Kontrolle

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Formulierung. Zwischen Analyse und Entscheidungsfindung wird einedirekte Verbindung konstruiert. Es scheint daher an dieser Stelle notwendig,die Analyse vollständig und umfassend durchzuführen, ehe Entscheidungengetroffen werden können. Es geht auf der Ebene der Strategieformulierungdarum, identifizierte Chancen zu nützen und Schwächen zu beseitigen.

Nachdem die Wahl einer Strategiealternative getroffen und die Strategieformuliert wurde, werden Ressourcen an die Einheiten und Individuenzugeteilt, welche die Strategie implementieren sollen.

Ist die Phase der Implementierung abgeschlossen, werden Kontrollsystemeentwickelt und eingesetzt, um die planmäßige Umsetzung und Zielerrei-chung überprüfen zu können. Das klassische Verständnis konzentriert sichdabei auf finanzielle Kriterien und vernachlässigt das tiefere Verständnisvon Prozessen in Unternehmen. Entsprechend den Zielpräferenzen desklassischen Paradigmas wird die Zielerreichung vor allem mit quantitativenInformationsgrößen wie Marktanteil und Profitrate gemessen. Diese Infor-mationen werden als Indikatoren für die Leistungsfähigkeit eines Unterneh-mens betrachtet und sollen anzeigen, wann eine Strategie verändert werdensoll. Obwohl andere Informationen und Erfolgsindikatoren wie Kunden-zufriedenheit, Reputation oder auch Auswirkungen auf die natürlicheUmwelt eine große Bedeutung haben, werden diese in der klassisch-rationa-listischen Strategiekonzeption eher vernachlässigt. Dies dürfte auch des-halb der Fall sein, da diese Informationen schwieriger zu erheben sind.

Die dem klassischen Paradigma zugrunde liegende Hoffnung lautet: Werdendie richtigen Informationen gesammelt und die richtigen Instrumente ange-wendet, dann werden die Organisation und die Umwelt vorhersagbar undformbar. In anderen Worten bedeutet dies, dass Organisation und die orga-nisationale Umwelt entsprechend den Plänen des Top-Managements verän-dert werden können. Der Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg wirddaher in der Fähigkeit zu einer rationalen Analyse und in der Fähigkeit,objektive Entscheidungen treffen zu können, verortet.12

(Hierarchische) Kontrolle und Planung als zentrale Hebel der Veränderung im klassisch-rationalistischen Strategieverständnis

Vollständigestrategische

Steuerung

Die Betonung von Rationalität im klassisch-rationalistischen Paradigmaführt konsequenterweise zu einer Sichtweise, welche „Planung“ und daraufaufbauend „Kontrolle“ als privilegierte Hebel betrachtet, um interne wieexterne Gegebenheiten beherrschen und gestalten zu können. Das klassisch-rationalistische Paradigma verfolgt die Idee einer „vollständigen strategi-schen Steuerung des Unternehmens“.13

12 Siehe Ansoff (1965, 1991) und Porter (1980, 1985).13 Eschenbach et. al. (2003), S. 31.

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3.1 Das klassisch-rationalistische Paradigma

Rationale Beherrschung von Einflussfaktoren und Individuen

Den spezifischen Vorstellungen von der Organisation als Maschine undvom Organisationsmensch als rationalem Entscheider bzw. steuerbaremProduktionsfaktor folgend, geht das klassische Paradigma strategischenManagements von der Annahme aus, dass die Vielfalt und Vielzahl der Ein-flussfaktoren ebenso rational beherrscht und verknüpft werden kann wiedie Aktivitäten derjenigen Individuen, die eine Organisation ausmachen,auf ein Ziel hin gebündelt werden können.

„Top-down“Strategische Prozesse werden im klassisch-rationalistischen Paradigmagrundsätzlich auf hierarchische Weise gedacht: Ideen und Vorgaben werdentop-down vorgegeben, die Umsetzung der Vorgaben des Top-Managementsdurch die anderen Organisationsteilnehmer wird ebenfalls top-down kont-rolliert. Kontrolle und Planung als Kernprinzipien des klassischen Paradig-mas beziehen sich jedoch nicht nur auf die Organisation selbst, sondernauch auf das Verhältnis zwischen der Organisation und deren Umwelt.

Unsicherheit als Ursache für Kontrolle

Der Versuch, alle Faktoren planbar zu machen und möglichst lückenloseKontrollsysteme zu schaffen, ist ein Hinweis auf ein tief sitzendes Miss-trauen, welches das klassische Paradigma kennzeichnet. Das vom klassisch-rationalistischen Ansatz wahrgenommene bzw. konstruierte Problem derUnsicherheit soll über Kontrollmechanismen beherrschbar gemacht werden.

Rational geplante Prozesse und Hierarchien

Die klassische Lösung des Unsicherheitsproblems liegt in geplanten Abläu-fen und im Design einer „rationalen“ hierarchischen Struktur. ChandlersMaxime „Structure follows Strategy“ (1962) dominiert bis heute die Lehrbü-cher strategischen Managements. Eine erfolgreiche Strategie beruht nachklassischer Perspektive auf einer rational geplanten Organisationsstruktur.Chandlers Maxime ist jedoch keine absolute Weisheit strategischenManagements, sondern erklärt sich aus dem Hauptproblem der großen US-amerikanischen Unternehmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts:Wie sollten große, diversifizierte Unternehmen ihre Aktivitäten „optimal“organisieren und koordinieren? Das zentrale Motiv des klassisch-rationalis-tischen Ansatzes war die Reduktion von komplexitätsbedingter Unsicher-heit. Die Problemlösung wurde in rational geplanten Prozessen und Struk-turen gesehen: Die divisionale Organisation14. Abgesehen davon, dass dasder Theorie strategischen Management ursprünglich zugrunde liegendeProblem eher eines der Organisationsstruktur und weniger ein Problem derstrategischen Ausrichtung war, haben heutige Unternehmen viel weitrei-chendere strategische Herausforderungen.

3.1.3 Das Zielsystem des klassischen Paradigmas

Profitmaximierung als oberstes Ziel

Das klassisch-rationalistische Paradigma bringt ein spezifisches Zielsystemhervor: Organisationsziele werden als weitgehend gegeben und unproble-matisch betrachtet. Profitmaximierung wird als „natürliches“ und oberstesZiel und als Ergebnis strategischer Unternehmensführung vorausgesetzt.15

Finanzieller Erfolg steht im Mittelpunkt, Wettbewerbsfähigkeit wird dabei

14 Siehe Schreyögg (1998).15 Siehe Whittington (1993).

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3

als Mittel zum Ziel betrachtet. Alvesson und Wilmott (1996) äußern sich kri-tisch gegenüber dieser Sichtweise:

Alvesson und Wilmott (1996), S. 129.

In dem klassisch-rationalistischen Paradigma werden Unternehmen daherprimär als rein ökonomische Institutionen zur Durchsetzung partikulärerInteressen (der Anteilseigner) betrachtet.

3.1.4 Ein Zwischenresümee

Zusammenfassend können folgende Merkmale des klassisch-rationalisti-schen Paradigmas festgehalten werden:

Die klassisch-rationalistische Konzeption beruht auf einem mechanis-tischen Weltbild und tendiert zu einem dementsprechenden Organisa-tionsverständnis (Organisation als Maschine).

Das klassisch-rationalistische Paradigma wurzelt in einem positivis-tisch-rationalistischen Weltbild, das Menschen als rationale Wesen und„Realität“ als der Vernunft zugänglich und objektiv wahrnehmbarbetrachtet. Das klassische Paradigma sucht daher in erster Linie nachden „richtigen“ Antworten bzw. gibt vor, die „richtigen“ Antworten aufentscheidende Fragen der Unternehmensführung geben zu können.

Die klassisch-rationalistische Konzeption betont die Rolle des (Top-)Managements und leistet der weitverbreiteten „Macher-Mentalität“ Vor-schub.

Die klassisch-rationalistische Konzeption neigt zu dem Glauben, dassOrganisationen planmäßig gestaltet werden können (Machbarkeits- undRationalitätsillusion).

Die klassisch-rationalistische Konzeption betrachtet strategisches Manage-ment als eine rationale, stufenförmige Abfolge von voneinander getrenntenAktivitäten (Analyse, Strategieformulierung, Implementierung). Strate-gien entstehen aus einer bewussten, rationalen Entscheidung heraus. DasDenken und das Handeln sind strikt voneinander getrennt (zu halten) undauf unterschiedlichen Hierarchieebenen angesiedelt.

Wirtschaftlicher Erfolg wird als Konsequenz der Fähigkeit zur rationa-len Analyse und zur objektiven Entscheidung betrachtet.

Die klassisch-rationalistische Konzeption strategischen Managements kon-zentriert sich stärker auf (quantitativ messbare) finanzielle Kriterien undvernachlässigt ein tieferes Verständnis von Prozessen in Organisationen.

Die zentralen Begriffe innerhalb der klassisch-rationalistischen Konzep-tion sind wie folgt: Plan, Analyse und Kontrolle. Rationale Planung undzentralisierte Entscheidungsfindung werden als einzig adäquate Hebel

From a managerial perspective, successful strategic managementis conceived in terms of mobilizing resources in ways thatstrengthen the focal organization`s command of its environmentand/or weakens the position of competitors.

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

betrachtet, um Einflussfaktoren zu beherrschen und um die gewähltenZiele zu erreichen.

Das klassisch-rationalistische Paradigma konstruiert die Organisations-umwelt als primär von Rivalität geprägt. Analyse, Zielsetzung undInstrumente sind daher meist auf die Beseitigung von Rivalen gerichtet.

Das klassische Paradigma stützt und propagiert ein Bild von strategischemManagement als eine rationale, geplante, hierarchische und auf Rivalitätgerichtete Aktivität. Das dies ein sehr beschränktes und einseitiges Ver-ständnis strategischen Managements darstellt, wurden und werden die zen-tralen Prämissen des klassisch-rationalistischen Ansatzes von Vertreterneines verständnisorientierten Paradigmas in Frage gestellt.

3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

Die Strategieliteratur und -praxis wurde und wird von dem klassisch-ratio-nalistischen Paradigma beherrscht. Eine Vielzahl von Wissenschaftlern undPraktikern stellten jedoch im Laufe der Jahrzehnte und verstärkt ab den1990er Jahren die Prämissen dieses dominanten Paradigmas in Frage.Obwohl die vielfältigen Infragestellungen nicht in ein einheitliches undwiderspruchsfreies Theoriegebäude integriert werden können, bieten siedennoch die Möglichkeit, die Beschränkungen des klassisch-rationalisti-schen Ansatzes zu erkennen und ein vielfältigeres Bild von strategischemManagement als Theorie und Praxis zu zeichnen.

Wie bereits bei der Betrachtung des klassisch-rationalistischen Paradigmaswerden auch für das verständnisorientierte Paradigma folgende drei Berei-che betrachtet:

Die historischen und erkenntnistheoretischen Wurzeln des verständnis-orientierten Paradigmas,

die wahrnehmungs- und handlungsprägenden Prämissen und

das implizite und explizite Zielsystem.

3.2.1 Historische und erkenntnistheoretische WurzelnKernaspekt der vielfältigen Kritik an dem klassischen Paradigma ist dieInfragestellung der Möglichkeit einer objektiven Wahrnehmung der Realitätund darauf aufbauend einer vollständig rationalen Strategie.

Kritischer Realismus

Verständnisorientierte Ansätze vertreten die Position eines kritischen Rea-lismus. Für den kritischen Realismus sind die Gegenstände der Außenweltnur durch inadäquate Vorstellungen erfassbar. Einsicht in die Außenweltentsteht erst durch eine subjektive Wahrnehmungsleistung. Wir „finden“die Wirklichkeit nicht, sondern wir „erfinden“, konstruieren sie. Dasbedeutet zugleich, dass das erkennende Subjekt – beispielsweise der Wis-senschaftler oder Manager – das zu Erkennende stets vor dem Hintergrundder persönlichen Vorstellungen, Erfahrungen, Konzepte und begrifflichenKategorien wahrnimmt.

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3

InstitutionelleEinflussfaktoren

Wissenschaftler wie Pettigrew (1973), Quinn (1980) oder Mintzberg (1987)stellten das idealisierte und rationalitätsgläubige Modell des klassischenAnsatzes in Frage und betonten die Bedeutung spezifischer institutionellerKontexte16 und die Bedeutung von Werten und Präferenzen der Entschei-dungsträger. Aus klassischer Perspektive stellen diese Aspekte keine rationa-len Antriebskräfte der Strategieentwicklung und -umsetzung dar, doch auseiner verständnisorientierten Perspektive17 erscheinen gerade derartige Fak-toren als prägende Einflussfaktoren auf die Strategieentwicklung und -imple-mentierung. Verständnisorientierte Ansätze rütteln somit am Fundament desklassischen Ansatzes: Dem unbedingten Glauben an die Rationalität.

AlternativeAnsätze der

Strategieforschung

Die Kritik am Kern des klassisch-rationalistischen Paradigmas speist sichaus unterschiedlichen Basistheorien. Whittington (1993) nennt drei wich-tige theoretische Ansätze der Strategieforschung:

Prozessansätze,

Systemansätze und

evolutionstheoretische Ansätze.

Ein weiterer wichtiger Argumentationsstrang entspringt der

kritischen (diskurstheoretischen) Management-Forschung (Critical Manage-ment Studies).

Wir werden diese unterschiedlichen Stränge der Kritik am klassisch-ratio-nalistischen Paradigma als „verständnisorientiertes“ Paradigma zusammen-fassen.

Prozessansätze

Prozessorientierte Ansätze stellen den Rationalitätsanspruch des klassi-schen Ansatzes grundlegend in Frage. Dieser Zweifel basiert auf einemanderen Menschen- und Organisationsverständnis als jenes des klassischenParadigmas:

Kritik amklassischen

Organisations- undMenschenbild

Autoren wie Richard Cyert, James March und Herbert Simon wiesen bereitsfrüh die Konstruktion des „Homo oeconomicus“ zurück und betonten dieKomplexität von Organisationen und Märkten. Ihnen schien es realisti-scher, von einem Menschenbild auszugehen, welches die kognitivenBeschränkungen der Individuen und das Vorhandensein unterschiedlicherInteressen, welche zu mikro-politischem Verhalten in Organisationen füh-ren, anerkennt.18 Diese Wissenschaftler gingen zudem davon aus, dassMenschen nicht mehr als eine Handvoll Einflussfaktoren gleichzeitig inBetracht ziehen können, eine Abneigung gegen eine unbeschränkte Suchenach weiteren relevanten Informationen haben, ihre Interpretationen immersubjektiv gefärbt sind und dass sie sich niemals strikt an vorgegebene Plänehalten. Die Möglichkeit völlig rationaler Strategieentwicklung und -umset-zung wird damit grundsätzlich in Frage gestellt.

16 Beispielsweise die Landeskultur, die Organisationskultur oder auch politischeProzesse.

17 Siehe Ezzamel und Willmott (2004).18 Siehe Cyert und March (1963).

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

Organisationen als soziale Institutionen

Damit geht auch ein anderes Organisationsbild einher: ProzessorientierteAnsätze folgen nicht der Maschinenmetapher des klassischen Paradigmas.Organisationen werden als soziale Institutionen mit spezifischen Normen,Routinen, Umgangsformen, Weltanschauungen und „Sprachen“ betrachtet,in denen unterschiedliche Interessen aufeinander treffen. Organisationenwerden aber auch in ihrer Eingebettetheit in einen soziopolitischen Kontextwahrgenommen.

Strategien bilden sich in einem pragmatischen Prozess

Ein solches Menschen- und Organisationsbild hat weitreichende Auswir-kungen darauf, wie die Entstehung von Strategien beschrieben wird: DieHerausbildung von Strategien wird eher über vielfältige pragmatische Pro-zesse des Lernens, des Aushandelns unterschiedlicher Interessen und desSchließens von Kompromissen erklärt.19

Anders als im klassisch-rationalistischen Paradigma werden hier Strategienals Ergebnis eines sozialen Prozesses verstanden. Strategien sind die Konse-quenz der Komplexität und Unvollkommenheit von Individuen, Märktenund Organisationen. Prozessorientierte Ansätze legen daher nahe, dieunvollkommene Realität zu akzeptieren und die alltäglichen Handlungenund Praktiken zum Ansatzpunkt für die Evolution von brauchbaren Strate-gien und die Analyse von Strategieprozessen zu machen. Strategisches Pla-nen hingegen geht aus dieser Perspektive an der Realität vorbei und wirdtendenziell als Zeit- und Ressourcenvergeudung betrachtet.

Betonung organisations-interner Ressourcen

Anders als das klassisch-rationalistische Paradigma, welches Strukturenund Märkte in den Mittelpunkt rückt, betonen prozessorientierte Ansätzedie Bedeutung von Ressourcen, die am Markt nicht erworben, sondern nurorganisationsintern entwickelt werden können. Damit sind Ressourcen wieFertigkeiten, kooperative Beziehungen, das „Klima“, Einstellungen oderauch Wissen gemeint.20

Systemansätze

Das sozio-ökonomische System beeinflusst Wahl und Rationalität

Systemtheoretisch inspirierte Forscher betonen, dass die Ziele und die stra-tegischen Handlungen von dem spezifischen sozioökonomischen Systembeeinflusst sind. Die nationale Kultur, die Organisationskultur, der sozialeBackground der Manager oder auch politisch-ökonomische Rahmenbedin-gungen – all diese Aspekte beeinflussen die Wahl der Ziele21 und die Art,wie diese erreicht werden sollen. Somit kann das Abweichen von „rationa-lem“, profitorientiertem Handeln, wie es das klassisch-rationalistischeParadigma einfordert, in unterschiedlichen Kontexten höchst rational sein.Die „Rationalität“ des klassisch-rationalistischen Ansatzes wird damit alsein historisch und kulturell spezifisches Phänomen erkennbar, das nichtohne den soziokulturellen Kontext seines Entstehens verstanden werdenkann.

19 Siehe Mintzberg (1987).20 Zur „Resource Based View“ siehe Abschnitt 7.1.21 Beispielsweise der Gewinn, das Ansehen, national-patriotische Ziele, Macht oder

auch das Gemeinwohl.

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Paradigmen strategischen Denkens

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3

Netzwerk sozialerBeziehungen

wirkt aufEntscheidungen ein

Ebenso verändert die systemtheoretisch inspirierte Perspektive das Bildvon organisationalen Entscheidungsträgern: Sie sind nicht mehr von ihrersozialen Umwelt losgelöste Rechenmaschinen oder rationale Konstruk-teure, sondern in soziale Systeme eingebettete Akteure.22 Systemtheoreti-sche Ansätze betonen, dass das ökonomische Verhalten von Individuenimmer in ein Netzwerk sozialer Beziehungen eingebettet ist. FamiliäreBeziehungen, das politisch-soziale System, die Art der Ausbildung, diesoziale Herkunft der Manager, das Gesellschaftssystem23 oder auch die Reli-gionszugehörigkeit wirken auf strategische bzw. ökonomische Entscheidun-gen ein. Was also aus klassischer Sichtweise irrational erscheinen mag, istvor dem Hintergrund eines spezifischen sozialen Kontextes möglicherweiserational und effizient.

Der systemische Ansatz geht davon aus, dass Strategien stets auch die spe-zifischen Sozialsysteme reflektieren, in welche die Akteure eingebettetsind. Diese Annahme hat Auswirkungen auf die Gestaltungsempfehlungen.

Betonung einersituations-

angepasstenRationalität

Hinsichtlich der Gestaltungsempfehlungen macht der systemische Ansatzsensibel dafür, dass die spezifische Rationalität des klassisch-rationalisti-schen Ansatzes nicht in allen Kontexten erfolgreich angewendet werdenkann. Auf diese Weise wird eine andere Art der Rationalität betont: Eine derSituation angepasste und weniger eine abstrakt-logische Rationalität. WennStrategien wirksam sein sollen, müssen sie soziologisch sensibel, sprich anspezifische soziale Kontexte angepasst sein. Dies ist eine klare Absage anden „one best way“ des klassisch-rationalistischen Paradigmas.

Nutzen durchVerständnis

sozialer Systeme

Das systemtheoretische Hinterfragen klassisch-rationalistischer Prämissenerhellt somit die Bedeutung sozialer Rahmenbedingungen für die strategi-sche Unternehmensführung. Strategisches Management ist aus dieser Pers-pektive nicht die Anwendung eines „objektiv“ rationalen Kalküls und ratio-naler Instrumente, sondern der Versuch, Nutzen aus einem vertieftenVerständnis spezifischer sozialer Systeme, der Organisation selbst und derorganisationalen Umwelt zu ziehen: Die systemische Perspektive fordert denUniversalitätsanspruch des klassisch-rationalistischen Paradigmas heraus.

Evolutionstheoretisch inspirierte Ansätze

ErfolgreicheStrategien als

Ergebnis derUmwelt

Evolutionstheoretisch inspirierte Ansätze stellen die „Rationalität“ desklassischen Paradigmas in Frage, indem sie Zweifel an dessen Glauben aneine umfassende Steuerungsmöglichkeit und Gestaltbarkeit vorbringen.Evolutionisten wie Hannan und Freeman (1988) oder Williamson (1991)betonen, dass die klassische Vorstellung von Strategie als rationale undzukunftsorientierte Planung eine gefährliche Wunschvorstellung ist. DieOrganisationsumwelt wird als weniger beeinflussbar und aus evolutionärerPerspektive als weniger vorhersehbar betrachtet. Aus evolutionärer Sichtüberleben diejenigen Unternehmen, die sich am besten an ihre Umweltanpassen. Erfolgreiche Strategien basieren dabei weniger auf der (rationa-

22 Siehe Granovetter (1985).23 Man vergleiche beispielsweise den Unterschied zwischen dem US-amerikani-

schen und dem skandinavischen Gesellschaftsbild.

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

len) Wahl oder auf der „genialen“ Idee von Managern, sondern resultierenaus (zufälligen) Selektionsprozessen der (marktlichen und gesellschaft-lichen) Umwelt. Welche Strategie sich als erfolgreich erweist, kann daherimmer erst im Nachhinein beantwortet werden.

SchlussfolgerungAus evolutionstheoretischer Perspektive lautet daraus die Schlussfolge-rung, dass es gefährlich sein kann, Pläne zu entwickeln und sich strikt andiese halten zu wollen. Da man nie wissen kann, was von der Umweltgewählt bzw. nicht gewählt wird (Selektion), erscheint es aus dieser Pers-pektive erfolgversprechender, Experimente und Vielfalt – zum Beispielhinsichtlich Handlungsoptionen, Produkten und Experimenten – sowieFlexibilität zu fördern.

Diskursanalytische Ansätze

Critical Management Studies

Die neue Bewegung der Critical Management Studies24 greift die herr-schaftskritischen Überlegungen des französischen Philosophen MichelFoucault und die Tradition der „Kritischen Theorie“25 auf. Die Vertreter derCritical Management Studies setzen sich kritisch mit den historischen Wur-zeln und gesellschaftlichen Konsequenzen von Managementdiskursen und-konzepten auseinander.

Untersuchungs-rahmen beinhaltet auch die Gesellschaft

Diskursanalytische Ansätze betrachten strategisches Management dahernicht ausschließlich als isolierten Prozess der Unternehmenspolitik, son-dern stellen diesen Prozess in den größeren Rahmen der gegenwärtigenkapitalistischen Gesellschaft.

Im Mittelpunkt des Interesses stehen zwei Aspekte:

Ideologiekritik:

Vertreter dieser Richtung analysieren zentrale Grundannahmen des domi-nanten Strategiediskurses (z. B. „Strategisches Management ist Aufgabedes Top-Managements“; „Ziel strategischen Managements ist es, die Inter-essen der Unternehmenseigner zu maximieren“) und zentrale begrifflicheKonzepte (z. B. „Wettbewerb“, „Führung“). Die Ideologiekritik zielt dar-auf ab, aufzuzeigen, dass die scheinbare „Wahrheit“, „Natürlichkeit“ und„Selbstverständlichkeit“ dieser Konzepte und Annahmen in Wirklichkeithistorisch gewachsen ist und nur ganz spezifischen Interessen und Akteu-ren dient.

Herrschafts- und Machtkritik:

Wer seine Sichtweise als allgemeine „Wahrheit“ durchsetzen kann, be-einflusst, was als richtig bzw. falsch betrachtet wird, was als möglichbzw. als unmöglich betrachtet wird. Vertreter der Critical ManagementStudies analysieren daher auch die Machtstrukturen und -prozesse, wel-che durch den dominanten Managementdiskurs zu gesellschaftlicherRealität werden.

24 Siehe Alvesson und Willmott (1996).25 An dieser Stelle sei auf Theodor Adorno und Max Horkheimer verwiesen.

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Diskursanalytisch inspirierte Ansätze teilen die Kritik der prozess- und sys-temorientierten Ansätze am klassischen Paradigma.26 Darüber hinaus kriti-sieren diese, dass in prozess- und systemorientierten Ansätzen immer nochdavon ausgegangen wird, dass die Wahrnehmung der „Welt da draußen“unabhängig und unbeeinflusst davon ist, mit welchen Theorien an diese„Realität“ herangegangen wird. Prozess- und systemorientierte Ansätzewollen herausfinden, wie eine Organisation wirklich funktioniert und über-sehen dabei (aus Sicht der kritischen Ansätze), dass das, was sie sehen,nicht unabhängig davon ist, mit welcher theoretischen Brille und mit wel-chen begrifflichen Konzepten sie hinsehen.

Wirklichkeit und„Strategie“ werden

durch den Diskurshervorgebracht

Anders hingegen verhält es sich bei der Diskursanalyse: Sie wendet sichvon einer dualistischen Konzeption des Zusammenhangs zwischen Spracheund Wirklichkeit ab. Sprache ist nicht nur eine Ansammlung von Zeichen,die Objekte der Realität bezeichnen27, sondern stellt eine Praxis dar, welchedie Objekte der „Realität“, von denen sie spricht, formt. „Strategie“ wirdnicht als Überschrift für reale Objekte28 in der Welt „da draußen“ betrach-tet, sondern als Diskurs, der gerade das hervorbringt, was man sieht und fürwahr halten (will).

Die Diskursanalyseuntersucht

Machtpositionen,Interessen und

Perspektivenspezifischer

Strategiediskurse

Die Diskursanalyse interessiert sich also dafür, wie ein spezifischer Strate-giediskurs eine ganz bestimmte „Realität“ bzw. „Wahrheit“, und damit eineganz bestimmte „Ordnung der Dinge“ hervorbringt und welche Machtef-fekte mit dieser verbunden sind. Diskursanalytische Ansätze stellen dieFrage: Welche und wessen Interessen und Perspektiven werden von dieserspezifischen „Ordnung“ ausgeschlossen?

Bezieht man dies zum Beispiel konkret auf den Diskurs des „Controlling“,so lassen sich folgende Fragen formulieren: Was wird erfasst und was aus-geblendet? Wem nützt eine solche Konstruktion von „Controlling“? WessenMachtpositionen werden damit unterstützt?

Bezieht man dies beispielsweise auf die dominante Sichtweise des Manage-ments von Unternehmenskultur29, so stellt sich die Frage: Welches Verständ-nis von Unternehmenskultur liegt hier zugrunde? Wer definiert die zentralenWerte? Welche Interessen werden berücksichtigt und welche Interessen wer-den unterdrückt?

26 Beispielsweise die Vernachlässigung der Bedeutung institutioneller Rahmenbe-dingungen oder die Vernachlässigung der Bedeutung von Interessen und Interes-senspolitik.

27 Beispielsweise das „Unternehmen“, der „Wettbewerb“, der „Markt“, die „Motiva-tion“, die „Organisation“, die „Strategie“ oder auch das „Controlling“.

28 Beispielsweise Stärken, Schwächen, Kompetenzen oder auch das Konkurrenzver-halten.

29 Siehe dazu Kapitel 6.

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

3.2.2 Merkmale und Prämissen des verständnisorientierten Paradigmas

Prozess-, system-, evolutions- oder diskursorientierte Ansätze betrachten„Strategie“ von unterschiedlichen theoretischen Standpunkten aus. Trotzaller Unterschiedlichkeit verbindet all diese Ansätze die Infragestellung derPrämissen des klassischen Paradigmas.

Funktionale, empirische und normative Infragestellung des klassischen Paradigmas

Die Infragestellung des klassisch-rationalistischen Paradigmas ist auf dreiEbenen angesiedelt: Sie kann funktional, empirisch oder normativ begründetsein. Die Infragestellung auf funktionaler Ebene behauptet, dass die rationa-len „Rezepte“ des klassischen Paradigmas nicht geeignet sind, die Organisa-tionsziele zu erreichen. Die empirische Infragestellung betont, dass in derorganisationalen Realität Strategien auf ganz andere Art und Weise zustandekommen und implementiert werden, als dies von einer klassisch-rationalisti-schen Position aus behauptet wird. Die normative Kritik betont die kritischeFrage nach den gesellschaftlichen Auswirkungen des klassischen Strategie-diskurses.

Infragestellungen auf funktionaler Ebene: Was wirkt?

Die zentrale Frage an unterschiedliche Ansätze und Instrumente strategi-schen Managements ist, ob sie wirksam im Sinne des Erreichens einesexplizit formulierten Organisationsziels sind.

Nach Johnson und Scholes (2005) müssen theoretische Ansätze strategi-schen Managements Antworten auf folgende vier Fragen geben können:

1. Inwieweit ist ein theoretischer Ansatz in der Lage, (Umwelt-)Verände-rungen analytisch wahrzunehmen und sichere Prognosen abzugeben?

2. Inwieweit ist ein theoretischer Ansatz in der Lage, die Entstehung vonStrategien zu erklären und zu fördern?

3. Inwieweit ist ein theoretischer Ansatz in der Lage, Implementierungs-probleme zu verstehen und einen Beitrag zu deren Vermeidung zu leisten?

4. Inwieweit ist ein theoretischer Ansatz in der Lage, die Entstehung vonInnovationen zu erklären und zu fördern?

Das klassisch-rationalistische Paradigma strategischen Managements weisthier spezifische Schwächen auf, die den Ausgangspunkt für die funktionaleInfragestellung klassischer Prämissen bilden.

Die Wahrnehmung, Analyse und Prognose von (Umwelt-) Veränderungen

Analyse, Plan und Kontrolle schließen flexiblere Betrach-tungsweisen aus

Eine wichtige Funktion strategischen Managements ist aus klassischer Sichtdie Analyse der Umwelt und die Prognose von Umweltveränderungen. Diesystematische Erhebung und die rationale Interpretation der Umweltdatenwerden als Fundament aller folgenden Schritte strategischen Managements

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3

betrachtet.30 Die Kritik an dem klassisch-rationalistischen Konzept betont,dass die Veränderung der Organisationsumwelt31 flexiblere Betrachtungs-weisen als den klassischen Planungsansatz notwendig machen. Analyse,Plan und Kontrolle – die Leitbegriffe der klassischen Perspektive – wärenzu starr, als dass man ihnen zutrauen könnte, Umweltveränderungen raschwahrzunehmen bzw. adäquat auf diese zu reagieren. Grundgedanke desklassisch-rationalistischen Ansatzes ist ja gerade, dass sowohl rationale alsauch objektive Analyse möglich ist und mittels dieser aktuelle Veränderun-gen und zukünftige Entwicklungen vorhergesagt werden können.

Folgende Aussagen lassen gewisse Zweifel an der Verlässlichkeit „rationa-ler“ Vorhersagen plausibel erscheinen:

Thomas Watson, Gründer und Vorsitzender von IBM 1943

Daryl Zanuck, Vorsitzender von 20th Century Fox, gegenüber der TV-Technologie 1948

Decca Recording Company lehnen die Beatles 1962 ab

Internes Papier von Western Union 1896

Leiter der US-Patentbehörde 1899

Ken Olsen, Präsident und Gründer von Digital Equipment 1977

Erfolg ist nicht dasErgebnis rationalerzukunftsorientier-

ter Planung undEntscheidung

Evolutionstheoretische, systemtheoretische und prozessorientierte Ansätzehalten die rationalistische Position des klassischen Ansatzes für problema-tisch. Sie begründen ihre Zweifel mit der Komplexität der Organisationsum-welt und den beschränkten Fähigkeiten von Organisationen und deren Ent-scheidungsträgern, die Informationen objektiv und rational zu verarbeiten. DieOrganisationsumwelt wird als zu wenig beeinflussbar und zu wenig vorher-sehbar eingeschätzt.32 Die klassische Vorstellung von Strategie als rationaler,zukunftsorientierter Planung ist aus dieser Sicht eine gefährliche Wunschvor-stellung. Eine gelungene Anpassung an die Umwelt wird eher als Ergebnis

30 Hierzu Strategieentwicklung, Strategieauswahl, Strategieimplementierung undKontrolle.

31 Beispielsweise eine zunehmende Vernetzung von Unternehmen, die beschleunigteProdukt- und Prozessinnovationen, neue Technologien, Deregulation und Liberali-sierung, die Globalisierung von Produkt- und Finanzmärkten, höhere und ausdif-ferenziertere Konsumentenansprüche oder auch der intensivierte Wettbewerb.

I think there is a world market for maybe five computers.

Nobody wants to watch a box night after night.

We don´t like their sound, and guitar music is on the way out.

This „telephone“ has too many shortcomings to be seriously considered as a means of communication.

Whatever could possibly be invented, has now been invented.

There is no reason anyone would want a computer in their home.

32 Siehe Aldrich (1979), Hannan und Freeman (1988) sowie Williamson (1991).

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

von Glück als das einer bewussten strategischen Analyse und Entscheidungbetrachtet. Erfolg bedeutet, zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Begrenzter Nutzen von Planungs- und Analyse-Instrumenten

Während die Vertreter der klassischen Perspektive von der Rationalität derpropagierten Analyse-Instrumente überzeugt sind33, ist für die Vertreter derverständnisorientierten Ansätze der Nutzen von Planungs- und Analyse-techniken begrenzt: Die zur Verfügung stehenden Informationen bleibenstets beschränkt und entsprechen einer eher willkürlichen Selektion auseiner unüberschaubaren Datenvielfalt. Selektionsleistungen und Urteils-fähigkeiten sind geprägt von persönlichen Erfahrungen und Interessensowie von kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen. Die Bedeutungrationaler Analyse wird somit stark relativiert.

Macht- und Konfliktlösungs-potenzial

Prozessorientierte, systemorientierte und diskursanalytische Ansätze erhellenjedoch das Verständnis für ganz andere Funktionen „rationaler“ Analyse-Inst-rumente. Solche Instrumente bieten einen „Nutzen“ jenseits der reinen Infor-mationsbeschaffung:

Sie signalisieren der organisationalen Umwelt, dass „rational“ gearbeitetwird.

Entscheidungen können im Nachhinein mit „objektiven“ Instrumentenlegitimiert werden.

Sie können wirksame Machtinstrumente (Akzeptanz) sein, indem siedie Unterordnung spezifischer Interessen (z. B. der Beschäftigten) untereinen „rationalen“ Plan legitimieren, da es niemand wagt, „rationale“Ergebnisse in Frage zu stellen.

Hohe Flexibilität statt aufwendiger Planung

Verständnisorientierte Ansätze kommen daher zu ganz anderen Empfehlun-gen: Investitionen in aufwändige Umweltanalysen und langfristige Strate-gien können sich aus Sicht evolutionstheoretischer Ansätze als kontrapro-duktiv erweisen, da die Überlebenschancen in einem sich permanentwandelnden und wettbewerbsintensiven Umfeld nur durch ein hohes Maßan Flexibilität erhöht werden. Die Lösung für Evolutionisten besteht darin,möglichst viele unterschiedliche Initiativen zu setzen, aus denen dieUmwelt die besten auswählt.

Strategischer Erfolg wird durch die Umwelt bestimmt

Erfolgreiche Strategien sind daher nicht das Produkt einer rationalen Entschei-dung oder eines „genialen“ Einfalls des Top-Managements, sondern resultierenaus Selektionsprozessen der (marktlichen) Umwelt. Ob es sich um eine erfolg-reiche Strategie handelt, kann daher immer erst im Nachhinein beantwortetwerden. Der Fokus liegt stärker darauf, Möglichkeiten offen zu lassen und Fle-xibilität nicht durch rationale Analyse und Planung zu beschränken.

Alchian (1950) bringt diese Position wie folgt auf den Punkt:

Alchian (1950), S. 213f.

33 Beispielsweise die SWOT-Analyse als bekannteste; siehe Abschnitt 5.2.2.

Among all competitors, those whose particular conditions happe-ned to be most appropriate for testing and adoption will be „selec-ted“ as survivors ... The survivors may appear to be those havingadapted themselves to the environment, whereas the truth maywell be that the environment has adopted them.

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Sensibilität stattPlanung und

Kontrolle

Vertreter eines verständnisorientierten Paradigmas betonen stärker dieBeziehungen und das Austauschverhältnis zwischen der Organisation undeiner sich ständig wandelnden Umwelt. Veränderungen in der Organisa-tionsumwelt können zwar nicht vorausgeplant, doch durch Austausch mitanderen Akteuren frühzeitig wahrgenommen werden: An die Stelle desKonzepts der Planung bzw. der Kontrolle tritt somit das Konzept der Sensi-bilität. Hier geht es darum, bereits schwache Signale von Umweltverände-rungen (und die damit verbundenen Chancen und Risiken) wahrzunehmen.Voraussetzung dafür ist die von Forschern wie Kirsch (1991) betonte Öff-nung gegenüber der Organisationsumwelt, das „Aufweichen“ von Organisa-tionsgrenzen, die Konfrontation mit möglichst unterschiedlichen Perspek-tiven (innerhalb und außerhalb der Organisation) sowie der Dialog mitdieser Umwelt.34 Umweltveränderungen werden diskursiv erschlossen undnicht rational analysiert und prognostiziert.

Erklärung und Förderung der Entstehung von Strategien

Illusion derrational geplanten

Strategie-entwicklung

Das klassisch-rationalistische Paradigma erkennt als einzig legitime Art derHerausbildung von Strategien deren rationale Entwicklung durch dieGruppe der Strategen an. Der klassische Ansatz schreibt damit zwar vor, aufwelche Weise Strategien entwickelt werden sollen, kann jedoch nicht erklä-ren, auf welche Weise konkrete Strategien in konkreten Organisationen tat-sächlich zustande kommen. Die am „Reißbrett“ entworfene Strategie ent-spricht selten der realisierten Strategie. Herbert Simon (1947) und CharlesLindblom (1959) haben bereits früh darauf hingewiesen, dass eine derartige– auf rationale Planung konzentrierte – Sichtweise unrealistisch ist, da nie-mals all diejenigen Informationen gesammelt und verarbeitet werden kön-nen, die nötig wären, um eine stets unsichere Zukunft vorherzusagen. Diesist nicht nur informationstechnisch unmöglich, es gibt auch Begrenzungenhinsichtlich der Kosten und der Zeit. Die Frage, wie eine Organisation zuerfolgreichen Strategien gelangt, ist mit einer zweiten, sehr weit reichendenFrage verbunden: Können Organisationen überhaupt rational gesteuert wer-den? Hierzu gibt es drei Positionen.35

Idee vollständigerPlan- und

Steuerbarkeit vonOrganisationen

Die erste, klassisch-rationalistische Position geht davon aus, dass Unterneh-men – auf Basis richtiger Informationen, eines rationalen Planungsprozes-ses und eines perfekten Kontrollsystems – gänzlich gesteuert werden kön-nen. Auf Basis richtiger Informationen, eines rationalen Planungsprozessesund eines perfekten Kontrollsystems sollen Organisationen rational steuer-bar sein. Diese Perspektive wird vor allem von denjenigen vertreten, die ander Aufrechterhaltung einer derartigen Fiktion interessiert sind: Manager,die ihre Position als Entscheidungsmonopolisten verteidigen; Unterneh-mensberater, die ihre Dienstleistungen verkaufen wollen; und „Wissen-schaftler“, die ihren Machbarkeitsphantasien erliegen. Eine solche Meinungist jedoch angesichts der Komplexität von mikropolitischen Prozessen undUmweltunsicherheiten naiv.

34 Beispielsweise Kunden, Anspruchsgruppen oder Experten.35 Siehe Müller-Stewens und Lechner (2001).

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

Organisationen sind komplex und nicht steuerbar

Die zweite, von der Chaos- und Komplexitätstheorie beeinflusste Positionbehauptet das Gegenteil: Unternehmen sind nicht steuerbar. Angesichts derKomplexität sozialer Systeme und der menschlichen Psyche hat dasManagement lediglich die Möglichkeit, sich irgendwie „durchzuwursteln“(engl. muddling through), sprich von Situation zu Situation das Beste ausden gegebenen Möglichkeiten und Umweltbedingungen zu machen.

Evolutionäre Entwicklung durch Offenheit, Planung und Erfahrung

Eine dritte, entwicklungstheoretische Perspektive nimmt eine Zwischenpo-sition ein: Die Idee der geplanten Evolution.36 Strategisches Managementwird als evolutionärer Prozess betrachtet. Ausgangspunkt ist ein groberRahmen, in welcher Weise und in welche Richtung sich die Organisationentwickeln soll. Jeder Schritt hat jedoch eine Modifikation des Rahmensselbst zur Folge: Diese entwicklungstheoretische Position befindet sich imSpannungsfeld zwischen Plan und Erfahrung. Hierbei geht es nicht um All-machtsvorstellungen der Planbarkeit, sondern um den Versuch einer Gestal-tung der Entwicklung. Dabei bleibt angesichts realer Komplexität immeroffen, wohin diese Entwicklung letztendlich führt.

„Basteln“ anstatt Planen: Strategie als kontinuierlicher Prozess ohne Endzustand

Obwohl die Vorstellung, dass soziale Systeme (wie Unternehmen) völligrational gesteuert werden können, naiv ist, weisen klassische Ansätze eineeindeutige Präferenz in diese Richtung auf. Quinn (1980) forderte die domi-nante klassische Vorstellung von Strategie als rationalen Kreislauf (von derAnalyse zur Strategieformulierung bis hin zur Implementierung) heraus,indem er das strategische Management als rekursive und inkrementelleAktivität darstellte. Am strategischen Management wird aus dieser Perspek-tive eher „gebastelt“, als geplant. Versuch- und Irrtumsprozesse und dieBereitschaft, die ursprüngliche Strategie zu verändern, erscheinen aus die-ser Perspektive weitaus bedeutsamer zu sein, als eine widerspruchsfreieund detailliert ausformulierte Strategie. Mintzbergs Formulierung, dassStrategien „wie Unkraut im Garten und nicht wie Tomaten in Gewächshäu-sern“37 entstehen, bringt die prozessorientierte Perspektive auf den Punkt.

Lernen über Organisation und Umwelt

Welche Konsequenzen sind damit verbunden? Zum einen ist die Metapher des„Bastelns“ offen für neue Informationen und Lernprozesse. Die intuitive Seitestrategischen Managements, die Bedeutung von Erfahrungen, Einschätzungenund Werten wird damit nicht mehr – wie in der klassisch-rationalistischenPerspektive – verdrängt. Managern wird zugetraut, dass sie etwas über ihreOrganisation und Umwelt lernen (können). Ebenso betont das verständnis-orientierte Paradigma weniger den idealtypischen Plan als die politischenAspekte der Entstehung von strategischen Entscheidungen. Damit geht einegänzlich andere Vorstellung von strategischem Management einher als jene,die das klassische Paradigma konstruiert: Strategisches Management ist hier(auch) Ergebnis eines Kräftespiels verschiedener Akteure, ihrer Mikropoliti-ken, ihrer persönlichen Einschätzungen, Ideologien und Emotionen.

Widerspruch, Verhandlung und Kompromiss

Ein Unternehmen ist aus dieser verständnisorientierten Perspektive keineindimensionaler und widerspruchsfreier Akteur, der auf ein einziges Ziel(Profitmaximierung) ausgerichtet ist. Die verständnisorientierten Ansätze

36 Siehe Kirsch (1991).37 Mintzberg et al. (2007), S. 226.

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betrachten Unternehmen als Koalitionen von Individuen mit unterschiedli-chen Interessen, Zielen und Einstellungen. Während der klassische Ansatzdie Planung von Strategien vorschreibt, betonen verständnisorientierteAnsätze den Aspekt des Aushandelns von Strategien. Strategie ist damiteher Produkt eines politischen Kompromisses innerhalb einer Organisationals eine auf Profitmaximierung ausgerichtete Planung.

Aus verständnisorientierter Sicht sind reflektierte Handlungen und nichteine dem Handeln vorangehende rationale Planung der wirkliche Aus-gangspunkt für die Entstehung brauchbarer Strategien. Strategieentwick-lung ist für die Vertreter eines verständnisorientierten Paradigmas ein kon-tinuierlicher und anpassungs- bzw. lernorientierter Prozess von Menschen,die ihre Alltagssituation und alltägliches Handeln reflektieren.

Strategie als„Muster“

Mintzberg und Waters (1985) stellen darüber hinaus die Frage, ob Strategiennicht immer erst im Nachhinein als solche erkennbar werden. Strategienwerden somit als ein „Muster“ betrachtet, das aus einer Vielzahl von Hand-lungen und Einstellungen „emergiert“.

Nachgedacht!„Waldviertler“

Die Werbebroschüren der Firma GEA/Waldviertler bestehen zu zweiDritteln aus philosophischen und gesellschaftskritischen Aussagen.Externe Beobachter könnten die Gestaltung der Werbebroschüren, dassozialpolitische Engagement, die Unterstützung von globalisierungskri-tischen Organisationen wie ATTAC als kohärente Strategie betrachten,

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

Implementierung von Strategien

Probleme einer Implementierung durch Zwang und Kontrolle

Die größten Schwächen des klassisch-rationalistischen Ansatzes äußernsich auf der Stufe der Implementierung. Hier treten die meisten und vorallem tiefgreifendsten Probleme auf. Die erkenntnistheoretischen Prämis-sen, die der klassisch-rationalistische Ansatz mit sich führt, scheinen erstauf dieser Ebene als Probleme an die Oberfläche zu drängen und müssenspätestens hier vom Management real gelöst werden. Während der klas-sisch-rationalistische Ansatz eine Vielfalt von Analyse-Instrumentarien ent-wickelt hat, war dieser Ansatz relativ unfruchtbar hinsichtlich der Entwick-lung von Modellen zur Implementierung von Strategie. Der klassisch-rationalistische Ansatz weist eine starke Affinität zu Zwang und Kontrolleauf: Da alles angeblich „rational“ analysiert und entschieden wurde, darfund muss es notfalls auch mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden.

Hierarchische Trennung zwischen Strategiefindung und Implementie-rung

Hatch (1997) weist darauf hin, dass das klassisch-rationalistische Modelldie Trennung zwischen Strategiefindung und Implementierung ermutigt.Diese Trennung äußert sich in einer hierarchischen Arbeitsteilung: DieEinen (Top-Management) planen und entwerfen Strategien, und die Mehr-heit der Anderen soll diese exakt implementieren. ProzessorientierteAnsätze betonen daher die Kommunikationsprobleme, welche durch diesehierarchische Arbeitsteilung hervorgerufen werden: Die Implementiererwissen nicht, welche Intention die Strategen verfolgen und die Strategenwissen zunächst nicht, was die Implementierer umsetzen können bzw.umsetzen wollen.

Motivation durch Einbindun g und Mitwirkung

Eine Vielzahl von psychologischen Studien und die Alltagserfahrung zeigen,dass die Motivation, eine Strategie umzusetzen, mit der Möglichkeit, bei derFormulierung der Strategie mitzuwirken, steigt. Ist die Einbindung in denFormulierungsprozess nicht gegeben, besteht die Gefahr, dass Strategiennicht umgesetzt, falsch verstanden, ignoriert oder unterminiert werden.

Stärkere Kontroll-maßnahmen rufen zunehmend Wider-stand hervor

Neben dem Konzept der Planung ist die klassisch-rationalistische Denktra-dition stark von dem Begriff der Kontrolle geprägt. Systemtheoretische undprozessorientierte Ansätze argumentieren, dass eine umfassende Kontrolleder Organisationsumwelt, der Prozesse innerhalb der Organisation und derArbeitskräfte nicht möglich ist, selbst wenn klassische Management-Instru-mente gerade dies beabsichtigen. Vieles spricht dafür, dass stärkere Kont-

welche auf eine spezifische (gebildete, gesellschaftskritische) Käufer-schicht abzielt. Für die Unternehmensleitung ist dies hingegen ledig-lich der Versuch, eigene (nicht-ökonomische) Interessen und Weltan-schauungen authentisch zu leben und zu kommunizieren. Die„Strategie“ ist erst im Nachhinein als Muster sichtbar.

Aufgabe

Analysieren Sie die Werbematerialien und den Internetauftritt desUnternehmens auf www.GEA.at und versuchen Sie die zentralenMerkmale der „Strategie“ zu identifizieren.

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rollmaßnahmen mehr Widerstand hervorrufen. Schreyögg (1998) sprichthier von einem „Circulus vitiosus“ (Teufelskreis): Ein Managementansatz,der grundsätzlich von Misstrauen geprägt ist, wird zu einer Entwicklungvon Kontrollinstrumenten neigen. Der Widerstand der Beschäftigten gegenKontrollmechanismen wirkt im Sinne einer „Self-fulfilling Prophecy“: DasManagement sieht sein Misstrauen bestätigt und verschärft die Kontrollenund ebendiese Maßnahme führt wiederum zu verstärktem Widerstandgegen die Kontrollmechanismen. Lösungsversuche innerhalb des klassisch-rationalistischen Paradigmas verschärfen also die Probleme, die durch die-ses Paradigma hervorgerufen werden. Die Kritik an der klassisch-rationalis-tischen Position hinsichtlich der Implementierung von Strategien betontdarüber hinaus, dass klassische Ansätze dazu neigen, Komplexität zu negie-ren bzw. diese rationalistisch mit analytischen Instrumenten und Kontroll-mechanismen beherrschbar machen zu wollen.

Partizipation alsAntwort auf

Implementierungs-probleme

Verständnisorientierte Ansätze basieren auf anderen theoretischen Prämis-sen und können damit Vieles in Organisationen und Strategieentwicklungs-prozessen erklären, wozu der klassisch-rationalistische Ansatz kaum in derLage ist. Das organisationale „Leben“ wird miteinbezogen: Komplexitätwird wahrgenommen und akzeptiert und es wird nach Wegen gesucht, mitrealer Komplexität umzugehen. Vor allem diese (kollektiven) Suchprozessestellen eine Herausforderung für das klassisch-rationalistische Modell dar:Dieses basiert auf der Vorstellung eines linearen Prozesses, in welchemIdeen von oben nach unten fließen. Es beruht damit auf einer hierarchi-schen Arbeitsteilung, in der Partizipation ein Fremdwort bleiben muss. Par-tizipation wird hingegen von verständnisorientierten Ansätzen als geeig-nete Antwort auf Implementierungsprobleme betrachtet.

Trennung undVerbindung von

Strategie-entwicklung undImplementierung

Damit ist der wohl bedeutendste Unterschied zwischen klassisch-rationalisti-scher Konzeption von strategischem Management und verständnisorientier-ter Konzeption angesprochen: Motivations- und Kommunikationsproblemesind nur die sichtbare Konsequenz einer klassisch-rationalistischen Vorstel-lung von Strategieentwicklung. Das Problem ist bereits in den Prämissen die-ser Konzeption angelegt, nämlich in der Vorstellung, dass Strategieentwick-lung und -implementierung zeitlich und hierarchisch voneinander getrenntsein müssen. In der verständnisorientierten Perspektive strategischenManagements wird die klassische Trennung zwischen Strategieentwicklungund -implementierung aufgeweicht. Sie wird nicht nur empirisch als abstrak-tes und unrealistisches „Ideal“ der klassischen Sichtweise zurückgewiesen,auch ihre Nützlichkeit wird bezweifelt. Aspekte des verständnisorientiertenParadigmas wie Inkrementalismus, Versuch und Irrtum, die Bedeutung vonErfahrungen und Lernprozessen, Strategieentwicklung als „Basteln“ und dieBetonung des politischen Aspekts von Strategieprozessen verweisen darauf,dass die Entwicklung und Implementierung von Strategien nicht voneinan-der getrennt gedacht werden können. Weick (1985) betont, dass erst Handlun-gen eine Strategie hervorbringen, dass reflektierte Ausführung immerzugleich strategische Analyse und dass Implementierung zugleich strategi-sche Entscheidungsfindung ist. Anders als im klassisch-rationalistischen

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

Paradigma werden Analyse, Strategieentwicklung und Implementierungdamit nicht sequenziell gedacht, sondern sollen aufeinander Einfluss neh-men können.

Abbildung 3.2: Analyse, Entwicklung und Implementierung

Die Entstehung von Neuerungen

Erklärungs-probleme klassischer Ansätze

Der klassisch-rationalistische Ansatz weist darüber hinaus ein Erklärungs-problem auf: Warum sind manche Organisationen innovativer und anpas-sungsfähiger als andere bzw. wie können Innovationen gefördert werden?Wenn sich alle Organisationen an die Prämissen der klassisch-rationalisti-schen Perspektive halten würden, gäbe es diesbezüglich keine großenUnterschiede. Offensichtlich gibt es aber Faktoren, welche höchst relevantsind für die Entstehung von Neuerungen. Verständnisorientierte Ansätzekritisieren, dass diese Faktoren durch die klassisch-rationalistische Pers-pektive nicht erfasst werden können.

Geeignete Rahmen-bedingungen ermöglichen Viel-falt und Innovation

Verständnisorientierte Ansätze betrachten Innovationen weniger als Pro-dukt rationaler Planung, sondern betonen besonders die Rahmenbedingun-gen, welche Innovationen in Organisationen möglich machen. Auf Basisvon Evolutions- und Komplexitätstheorien wird die Rolle von Diversitätund Vielfalt in Organisationen und in deren Umfeld hervorgehoben. Strate-gien und Innovationen werden hier nicht als das Ergebnis einer rationalenPlanung betrachtet, sondern als Ergebnis eines Anpassungsprozesses anunsichere und sich stets ändernde Umwelten. Je größer die Vielfalt ist,desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von Innovationen. Damit verbundenist die Sichtweise, dass Innovation nicht von „oben“, sondern sogar häufi-ger von „unten“ initiiert wird. Der „Top-Down-Ansatz“ des klassisch-ratio-nalistischen Verständnisses wird als kontraproduktiv zurückgewiesen. Ver-ständnisorientierte Ansätze gehen davon aus, dass es kaum möglich ist,detailliert das richtige Ausmaß an Vielfalt zu planen – möglich wäre ledig-lich, geeignete Rahmenbedingungen herzustellen:

AnalyseUmwelt

RessourcenZiele, Mission

Strategie-Entwicklung

OptionenSelektion

Implementierung

Analyse Strategie-

EntwicklungImplementierung

Logik: Analyse – Kontrolle

Logik: Innovation – Anpassung – Lernen

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3

Indem die Grenzen zwischen Organisation und Umwelt durchlässigergemacht werden.

Je mehr Verknüpfungen zwischen einer Organisation und deren Umweltstattfinden, desto vielfältiger gestalten sich die Beziehungen und Aus-tauschprozesse.

Indem innerhalb der Organisationen Interaktion und Kooperationbesonders auf informeller Ebene gefördert werden.

Es geht hierbei um die Schaffung von so genannten „weak ties“-losen,doch jederzeit aktualisierbaren Beziehungen.

Indem das Stellen kritischer Fragen ermöglicht wird.

In komplexen Umwelten ist Kritik wichtiger als Konsens. Kritische Fra-gen richten sich an Routinen und sind unbequem, da sie das beleuchten,was man „immer schon so gemacht hat“.

Indem Experimente und Fehler begrüßt werden.

Neue Ideen treten nie völlig ausgearbeitet auf. Wollen Manager Innova-tionen erhalten, so müssen sie – aus dieser Perspektive betrachtet – ler-nen, Unvollständiges zu begrüßen.

Indem auch intuitive Fähigkeiten von Entscheidungsträgern geschätztund gefördert werden.

Indem das Management Spielräume offen lässt.

Vorgaben und Regeln müssen zweideutig sein und Auslegungsspiel-räume zulassen. Pläne sollen Implementierungsspielräume gewähren.

Innovation undKernkompetenz

durch die Entwick-lung organisations-interner Ressourcen

Verständnisorientierte Ansätze erklären (und fördern) Innovationen überdie Existenz von geeigneten Milieus. Widerspruchsfreie Strategien undlückenlose Kontrollsysteme werden dagegen als kontraproduktiv erachtet.Verständnisorientierte Ansätze betonen somit stärker die Bedeutung vonRessourcen, die am Markt nicht erworben, sondern nur organisationsinternentwickelt werden können.38 Gegenüber dem klassischen Ansatz werdensomit die entscheidenden Quellen für eine überlegene Leistung intern ver-ortet. Es ist also nicht die Positionierung des Unternehmens in einem(externen) Markt oder die Entdeckung externer Marktchancen, sondern dieEntwicklung spezifischer Kernkompetenzen, die für den Erfolg einer Orga-nisation verantwortlich sind.

Strategie alsein nach innen

gerichteter Prozess

Prozessorientierte Autoren wie Garry Hamel (1991) kritisieren an dem klas-sischen Ansatz, dass sich dieser nur auf die letzten Meter eines „skill-buil-ding marathon“39 konzentrieren würde. Strategie ist aus verständnisorien-tierter Perspektive ein geduldiger, nach innen gerichteter Prozess.

Prozessualisten warnen, dass Innovation jedoch auch zu stark gemanagedwerden kann. Für sie ist Innovation ein unkontrollierbarer Prozess, für dengegebenenfalls die Abwesenheit von Management produktiver ist als des-

38 Damit sind Fertigkeiten, kooperative Beziehungen, „Klima“, Einstellungen sowieWissen gemeint.

39 Garry Hamel (1991), S. 83.

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

sen Anwesenheit. „Chaos within guidelines“40 sorge am ehesten für Inno-vation. Innovation und Wandel geschehen nicht per Dekret, sondern sindein ständiger, Geduld erfordernder, inkrementeller Prozess.

Infragestellungen auf der empirischen Ebene: Wie ist es „tatsächlich“?

Das idealisierte und idealisierende Modell des klassischen Ansatzes wurdevon Strategieforschern – unter anderem von Mintzberg (1978) und Quinn(1980) – in Frage gestellt. Diese untersuchten, wie Strategien in der Organisa-tionspraxis realisiert und organisiert werden. Diese empirische Strategiefor-schung zeigte bereits ab den 1950er Jahren, dass offensichtlich eine weiteKluft zwischen den idealisierten Prämissen und Forderungen der klassischenPosition und der organisationalen Realität besteht. Die rationale Konzeptiondes klassischen Paradigmas wird damit auf vielen Ebenen herausgefordert.Insbesondere betrifft die empirische Infragestellung des klassischen Paradig-mas folgende Aspekte:

1. Die Kritik an der rationalen Entwicklung von Strategien

2. Die Kritik am Postulat rationaler Entscheidungsträger und neutraler In-strumente

3. Den Verweis auf die historische und kulturelle Kontingenz der klassi-schen Rationalität

4. Die Infragestellung der Rationalität von „Entscheidungen“

Die Kritik an der rationalen Entwicklung von Strategien

Empirische Untersuchungen der Praxis von strategischem Managementstellen die Postulate des klassischen Ansatzes hinsichtlich der rationalenEntwicklung von Strategien fundamental in Frage. Sie sehen die tatsäch-liche Entstehung von Strategien nicht als Resultat eines Plans, sondern alsein Muster von Entscheidungen und Handlungen innerhalb der Organisa-tion. Diesbezüglich kann strategische Planung nur ein Aspekt unter vielensein. Damit einhergehend verändert sich die Vorstellung, wodurch Strate-gien beeinflusst werden und wie sie hervorgebracht werden:

Das Konzept der „emergenten“ Strategie

Entgegen der klassischen Vorstellung von Strategieentwicklung als ein ratio-nales und geplantes Vorgehen konnte man zeigen und erklären, dass Strate-gien stärker durch bestehende Strukturen, Kultur und politische Prozessebeeinflusst werden als durch rationale strategische Planung. Das Konzeptder „emergenten Strategie“ stellt das Verhältnis zwischen Strategie undStruktur in Frage: Das Diktum „Structure follows strategy“ wird nun umge-dreht in „Strategy follows structure“ oder in „Strategy follows culture“.

40 Quinn (1985), S. 83.

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Strategie entstehtaus Erfahrung,Kultur und aus

bestehendenStrukturen

Strategien werden somit weniger als (strukturverändernde) rationale Denk-gebilde, sondern eher als emergente Phänomene betrachtet, die durch viel-fältige – beispielsweise ökonomische, politische, soziale, oder auch psycho-logische – Einflussfaktoren und bestehende Strukturen hervorgebrachtwerden. Dieses neue Bild von Strategie als Resultat aus existierenden Struk-turen und Prozessen stellt die Forderung einer rationalen und primär aufdie Zukunft gerichteten Strategieentwicklung in Frage. Verständnisorien-tierte Ansätze gehen davon aus, dass Strategien stets auf vergangenen Stra-tegien und Erfahrungen aufbauen. Strategien resultieren aus individuellenund kollektiven Erfahrungen.

Das verständnisorientierte Paradigma strategischer Unternehmensführung öff-net also den Blick für emergierende Strategien, die nicht ausdrücklich geplantsind, sondern sich als Muster aus einem Strom von (auch gelegentlich wider-sprüchlichen) Entscheidungen und Handlungen ergeben. Was im Nachhineinals erfolgreiche Diversifizierungsstrategie erkannt wird, muss nicht unbedingtals solche im Vornherein geplant gewesen sein. Die erfolgreiche Diversifie-rungsstrategie kann genauso gut Ergebnis dessen sein, dass man nicht sicherwusste, was von den Kunden geschätzt wird. Anstelle einer ausformuliertenStrategie testete man, was erfolgreich sein könnte. Die empirische Forschungdeutet darauf hin, dass sich Strategien eher inkrementell herausbilden.

Abbildung 3.3: Bewusste und sich herausbildende Strategien

Die Kritik am Postulat rationaler Entscheidungsträger und neutraler Instrumente

Die empirische Kritik an dem klassisch-rationalistischen Paradigma beziehtsich zudem auf den Glauben an die Rationalität der Entscheidungsträger.Prozessualisten wie Cyert und March (1963) betonen, dass Menschen unter-

BeabsichtigteStrategie

Bewußte Strategie

RealisierteStrategie

Sich herausbildende Str

ategie

UnrealisierteStrategie

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

schiedliche Interessen verfolgen, begrenzte Informationsverarbeitungskapa-zitäten besitzen und sich nie strikt an vorgegebene Pläne halten. Strategienentstehen ihrer Ansicht nach über vielfältige pragmatische Prozesse desLernens, des Schließens von Kompromissen und des Aushandelns unter-schiedlicher Interessen.

Die empirische Strategieforschung nimmt die Strategieentwicklung damitstärker als einen kontinuierlichen, anpassungs- und lernorientierten Prozessvon Menschen wahr, welche angesichts von Unsicherheit Entscheidungentreffen und ihre Alltagssituation reflektieren, und weniger als einen zeitlichfestgelegten Planungsprozess von Experten. Quinn (1980) nennt dies einen„logischen Inkrementalismus“41: Schritt für Schritt, sprich inkrementell,wird die Strategie durch Ausprobieren, Anpassen und Lernen entwickelt.

Empirische Untersuchungen haben zudem ergeben, dass unterschiedlicheGruppen innerhalb des Managements unterschiedlichen strategischen Logi-ken folgen: Forschungen von Miles und Snow (1978) zeigen, dass je nachdem, aus welchen funktionalen Bereichen sich das Top-Management rekru-tiert – Controlling, Produktion, Marketing oder F&E (Forschung und Ent-wicklung) – unterschiedliche Strategien verfolgt werden. Dies zeigt sichbeispielsweise hinsichtlich der Risikobereitschaft und hinsichtlich derInnen- und Außenorientierung.

Die Organisation als politisches soziales System

Empirische Untersuchungen ergaben des Weiteren, dass Strategen jene Stra-tegien bevorzugen, die nicht an den Machtverhältnissen innerhalb desUnternehmens rütteln. Strategieentwicklung (und -implementierung) wirdauch von organisationalen Routinen, Machtverhältnissen und Organisa-tionskulturen42 beeinflusst. Die konkreten strategischen „Lösungen“ wer-den nicht ausgewählt, weil sie objektiv „besser“ wären, sondern weil siedenjenigen, die die Entscheidungen beeinflussen, oder denjenigen, diediese implementieren, akzeptabler erscheinen. Eine verständnisorientiertePerspektive verdeutlicht, dass die Akteure und Prozesse in Organisationenstets von „Politik“ geprägt sind, doch auch von unterschiedlichen Interes-sen und Werten und von der Art, wie diese durchgesetzt werden.

Rationale Information und Entscheidung ermöglichen Konsens und Legitimität

Die Instrumente strategischer Unternehmensführung bleiben davon nichtunberührt. Während der klassische Ansatz davon ausgeht, dass die entwi-ckelten Instrumentarien der objektiven und rationalen Analyse der Gege-benheiten bzw. der Durchsetzung der gewählten Ziele dienen, verweisenempirische Untersuchungen auf gänzlich andere Funktionen dieser Instru-mente jenseits des rationalistischen Paradigmas: Auf Macht, Kontrolle,Konsensproduktion oder auch auf Legitimitätsproduktion. So soll zumBeispiel der Gebrauch von Planungstechnologien andere beeindrucken.„Planung“ dient mitunter dazu, Untergeordnete und Außenstehende davonzu überzeugen, dass bestimmte Maßnahmen auf Basis von „objektiven“Informationen und rationaler Entscheidung legitim und notwendig sind.Während die klassisch-rationalistische Konzeption davon ausgeht, dassquantifizierende Instrumente (wie Finanztechniken) strategische Entschei-

41 Quinn (1980), S. 89. 42 Beispielsweise eine demokratische versus eine „autoritäre“ Kultur.

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dungsprozesse anleiten sollen, zeigen empirische Untersuchungen, dass dieRealität organisationalen Lebens viel komplexer ist:

Marsh et al. (1988) zeigen, dass derartige Instrumente häufig ignoriert oderdie Ergebnisse manipuliert und instrumentalisiert werden, um eine bereitsgetroffene Entscheidung zu legitimieren. Norburn und Grinyer (1973) unter-suchten 21 große britische Unternehmen. Profit war dabei das wichtigsteZiel der strategischen Unternehmensführung. Innerhalb des Unternehmensbestand allerdings kein Konsens darüber, wie Profitabilität eigentlichgemessen wird.43 Stevenson (1976) untersuchte 191 Manager in sechs US-Unternehmen, welche die Stärken und Schwächen ihrer Organisationbenennen sollten. Das Ergebnis war, dass je nach hierarchischer Positionunterschiedliche Wahrnehmungen artikuliert wurden. Das Top-Manage-ment nahm im Vergleich zu dem mittleren Management mehr Stärken wahrund betonte die finanziellen Aspekte. Weitere Studien zeigen, dass unter-schiedliche nationale Kulturen ebenfalls unterschiedliche Anwendungender SWOT-Analyse hervorbringen. Die Einschätzung von Risiken durchsüdeuropäische Manager unterscheidet sich beispielsweise von der, diedurch nordeuropäische Manager getätigt wird.44

Der Verweis auf die historische und kulturelle Kontingenz der klassischen Rationalität

SpezifischeRationalität

Empirische Untersuchungen – insbesondere solche, die systemtheoretischinspiriert sind – weisen darauf hin, dass die „Rationalität“ des klassischenAnsatzes nichts anderes ist als ein historisch und kulturell spezifischesPhänomen, das nicht ohne den soziokulturellen Kontext seines Entstehensverstanden werden kann. Darüber hinaus könne diese geographisch undhistorisch spezifische Rationalität nicht in allen Kontexten erfolgreichangewendet werden.

VerschiedeneKontexte verlangenviele Rationalitäten

Unternehmen und Organisationsstrategien unterscheiden sich entspre-chend den sozialen und ökonomischen Systemen, in welche sie eingebettetsind. Ein „one best way“ bzw. die Rationalität konnte empirisch nichtgefunden werden. In unterschiedlichen Kontexten sind unterschiedlicheArten von Unternehmensstrukturen und -strategien erfolgreich.45 Statteiner „reinen“ Rationalität nimmt die systemisch orientierte Strategiefor-schung viele „angepasste“ Rationalitäten wahr.

Die klassischeKonzeption beruht

auf einerspezifischen

institutionellenUmwelt

Boyacigiller und Adler (1991) verweisen darauf, dass das klassische Ver-ständnis von Strategie auf der amerikanischen Kultur des „Alles ist mög-lich“, einem Klima starken ökonomischen Wachstums, der Stabilität der1950er und 1960er Jahre und einer Ideologie des individualistischen,„freien“, profitmaximierenden Unternehmertums beruht. Innerhalb dersoziokulturellen Rahmenbedingungen in den USA mag die klassische

43 Beispielsweise „Profit margin“, „Return on capital“ oder auch „Aktienwert“.44 Siehe hierzu Schneider und De Meyer (1991); zur SWOT-Analyse siehe Abschnitt

5.2.2.45 Beispielsweise chinesische Familienunternehmen, koreanische Chae-bols oder

auch japanische Keiretesus.

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

Sichtweise von Strategie rational sein, zumindest insofern, als dass ein der-artiges Verhalten von der institutionellen Umwelt – beispielsweise vonInvestoren, Konsumenten, Banken, der Regierung oder von den Medien –erwartet wird.46 Inwieweit diese historisch und kulturell spezifische Kon-zeption auf andere Kontexte anwendbar ist, ist jedoch fragwürdig.

FinanzkennzahlenSo betont Whittington (1993), dass Finanzkennzahlen als Kriterien für stra-tegische Entscheidungen eine typisch amerikanische Erscheinung sind,während in anderen Regionen die Bedeutung von Finanzkennzahlen fürstrategische Entscheidungen eher relativiert wird. Nach Whittington dienenFinanzkennzahlen japanischen Managern dazu, ihre Strategie zu unterstrei-chen, und nicht dazu, diese zu kontrollieren.47 Whittington führt Hitachials Beispiel an:

Whittington (1993), S. 70.

„Leadership“ als kulturspezifische Idee

Einige Wissenschaftler verweisen darauf, dass ein anderes wichtiges Ele-ment des klassisch-rationalistischen Paradigmas – die herausragende Rolle,welche einzelnen Top-Managern zugeschrieben wird – ebenfalls kulturspe-zifisch und nicht allgemeingültig ist. Das Konzept des „Leadership“ wurzelttief im US-amerikanischen Individualismus. Andere Kulturen, wie die asia-tische oder skandinavische, sind kollektivistisch ausgerichtet und spielendie Bedeutung von Einzelpersonen für die Strategie bewusst herunter. Darü-ber hinaus ist die Leadership-Idee männlich geprägt, weswegen in der ein-schlägigen Literatur nur sehr wenige Frauen als Führungspersönlichkeitenbesprochen werden.

Die Infragestellung der Rationalität von „Entscheidungen“

Heroische Entscheider

Das klassisch-rationalistische Paradigma betont die Funktion des Managersals Entscheider. Klassische Lehrbücher strategischen Managements unddie tägliche Wirtschaftsberichterstattung sind deshalb voll von Beispielen„heroischer“ Führer wie Bill Gates, Steve Jobs oder Lee Iacoca, welche die„richtigen“ Entscheidungen treffen. Dabei wird implizit vorausgesetzt, dassden Entscheidungen tatsächlich Handlungen folgen.

Entscheidungen als Zufall?

Vieles deutet jedoch darauf hin, dass in Organisationen Entscheidungeneher „geschehen“, als dass sie getroffen werden. Cohen et al. (1972) beto-nen, dass Organisationen wie „Mülleimer“ sind, in denen vier unabhängige„Ströme“ vorhanden sind:

46 Siehe DiMaggio und Powell (1983).47 Whittington (1993), S. 69.

At one video cassette recorder plant, overheads continue to beallocated between departments according to direct labour costs:Top management knows that this is inaccurate, but this form ofallocation drives behaviour consistent with Hitachi`s strategicobjective of increased automation. At Hitachi`s refrigerationplant, on the other hand, overheads are allocated according to thenumber of parts in product models: This time, the point is to rein-force trends toward modularization and standardization of parts.

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„Probleme“, die Aufmerksamkeit erregen;

„Lösungen“, die auf der Suche nach Problemen sind, um verwirklicht zuwerden;

„Teilnehmer“ mit unterschiedlichen Interessen, Problemen und Lösungen;

„Entscheidungssituationen“, in denen erwartet wird, dass eine Ent-scheidung getroffen wird;

Eine tatsächliche Entscheidung ist nach Cohen et al. (1972) ein zufälligesErgebnis dessen, in welcher Relation die Elemente dieser vier Ströme aufei-nandertreffen.

Handlungen ohneEntscheidung?

Mintzberg und Waters (1990) betonen, dass Entscheidungen häufig keineHandlungen hervorrufen oder andere als ursprünglich beabsichtigt. Zudemsind Handlungen nicht immer das Ergebnis einer identifizierbaren Ent-scheidung. Ein großer Teil menschlichen Verhaltens kommt offensichtlichnicht über Entscheidungen zustande: Es stellt sich dann die Frage, warumin Entscheidungsprozesse so viel Aufwand investiert wird.

„It is easier to talkthan to act“

Nach Brunsson (1989) sollen Entscheidungen Legitimität und Unterstüt-zung schaffen. Entscheidungen zielen mitunter gar nicht darauf ab, dassbestimmte Handlungen gesetzt werden. Schon eine Entscheidung vermitteltden Anschein von Rationalität und suggeriert, dass alles „unter Kontrolle“sei. Brunsson äußert sogar die Vermutung, dass Entscheidungen häufig dar-auf abzielen, Handlungen zu vermeiden.48

Schlussfolgerung Die empirische Strategieforschung hat weitreichende Konsequenzen für dasdominante Strategieverständnis des klassisch-rationalistischen Ansatzes: Dieauf Instrumente und Techniken fixierte klassische Sichtweise erscheint ver-gleichsweise naiv. Klare und unproblematische Organisationsziele werdenverdächtig und diskutierbar. Die Trennung zwischen Strategieentwicklungund -implementierung erscheint als Mythos, der von denjenigen aufrechter-halten wird, die davon profitieren. Langfristige Strategiepläne setzen sich demVerdacht aus, mehr der Legitimation und weniger der Steuerung zu dienen.Die Ergebnisse der empirischen Strategieforschung führen dazu, dass das klas-sisch-rationalistische Paradigma und darauf aufbauende Instrumente nichtmehr kritiklos als die einzig legitimen und brauchbaren betrachtet werden.

Infragestellungen auf der normativen Ebene: Was ist gesellschaftlich wünschbar?

Können Antwortenauf gesellschaft-

liche Problemegegeben werden?

Wie bereits dargelegt, müssen strategische Ansätze nach Johnson undScholes (2005) Antworten auf folgende vier Fragen geben können:

Wie verändern sich Umweltbedingungen?

Wie entstehen Strategien?

Wie kann auf Implementierungsprobleme reagiert werden?

Wie entstehen Neuerungen?

48 Brunsson (1989), S. 329: „ ... talk seems to make action less needed.“

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

Aus normativer Perspektive könnten weitere Fragen hinzufügt werden:

Inwieweit können Antworten auf drängende gesellschaftliche Problemegegeben werden?

Inwieweit werden derartige Probleme noch verschärft?

Strategie als institutionalisierter Herrschafts-mechanismus

Whittington (1993) verweist darauf, dass Strategien von den Interessen derdominanten Gruppe (der Manager) geprägt werden. Für diskursanalytischinspirierte Wissenschaftler wie Ezzamel und Willmott (2004) ist Strategiedeshalb zunächst ein institutionalisierter Herrschaftsmechanismus.

Die normative Kritik an dem klassischen Ansatz bezieht sich auf dreiHauptaspekte:

1. Die unreflektierte Akzeptanz etablierter Machtstrukturen

2. Die Rolle des Top-Managements

3. Das Kontrollparadigma

Die unreflektierte Akzeptanz etablierter Machtstrukturen

Anhänger des klassisch-rationalistischen Ansatzes nehmen die Machtver-hältnisse als gegeben an. Besitzverhältnisse und Entscheidungsmonopoldes Top-Managements werden nicht hinterfragt. Strategisches Managementwird vorrangig, und damit weitgehend unreflektiert als Instrument zur Ver-wirklichung der ökonomischen Ziele der Eigentümer betrachtet. Hier wirddie Position des „Organisationsherrn“ eingenommen.

Strategie und Macht

Die Strategieforschung, welche in der Tradition des „Critical Management“steht, vertritt die normative Position, dass sich Strategieforschung ebenfallsmit der Frage beschäftigen muss, auf welche Weise über „Strategie“ Machtausgeübt wird. Die normative Infragestellung des klassischen Ansatzes kri-tisiert, dass etablierte Machtstrukturen von Vertretern des klassisch-rationa-listischen Paradigmas nicht thematisiert werden.

So legitimiere beispielsweise die Vorstellung, dass Unternehmen strategie-geleitet sind, die Machtposition der „Strategen“ und die Einführung vonneuen Kontrolltechniken. Die Einführung neuer Instrumente der Manage-mentkontrolle, beispielsweise das Total-Quality-Management, erfolgt weit-gehend ohne Diskussionen, da diese Instrumente „strategisch“ sind.

Die gesellschaft-lichen Konsequen-zen einer Strategie

Die normative Infragestellung des klassisch-rationalistischen Paradigmasfordert darüber hinaus, die gesellschaftlichen Konsequenzen von Manage-mentstrategien49 zu untersuchen und zu bedenken und nicht einseitig Pro-fitinteressen und Macht in den Mittelpunkt zu stellen.

Shrivastava dehnt diese Kritik aus und propagiert die Perspektive eines„Ecocentric Strategic Management“ (1995), in welchem das Unternehmenals Teil einer lebendigen, natürlichen Umwelt betrachtet wird. Anstatt die„Natur“ als getrennt von Unternehmen und als Möglichkeit der Externali-

49 Beispielsweise Auswirkungen auf politische Strukturen, auf Konkurrenten, Märk-te oder auch Lieferanten.

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sierung von Kosten zu betrachten, schlägt Shrivastava vor, die Konsequen-zen von Unternehmenszielen, Produktionssystemen und Produkten für dienatürliche Umwelt zu analysieren und in die strategische Entscheidung ein-fließen zu lassen.

Die Rolle des Top-Managements

Kritische Ansätze der Strategieforschung heben hervor, dass die Betonungder Rolle des Top-Managements im klassisch-rationalistischen Paradigmaim Interesse der Manager selbst ist. Dies bedeutet, dass Top-Manager selbstein Interesse an derjenigen Konzeption strategischen Managements haben,welche davon ausgeht, dass die Manager eine Monopolstellung hinsichtlichder Verantwortung für strategische Entscheidungen besitzen.50

Strategie alsinteressens-

geleiteteIdeologie?

Shrivastava (1986) geht sogar so weit zu behaupten, dass die dominante klas-sisch-rationalistische Vorstellung von Strategie nichts anderes als eine inter-essengeleitete politische Ideologie ist. Diese Ideologie bevorzuge die Gruppedes Top-Managements und das Ziel der Profitmaximierung und verleugnetiefgreifende Interessenkonflikte innerhalb kapitalistischer Unternehmenund der kapitalistisch organisierten Ökonomie. Die Interessen würden hinterscheinbar neutralen Analyse-Techniken verborgen und die Konzentration aufmarktliche Faktoren negiere die Bedeutung der sozialen, kulturellen, ökologi-schen Verantwortung von Unternehmen. Für Shrivastava ist der Strategiedis-kurs keineswegs ein neutraler, objektiver wissenschaftlicher Diskurs, sonderneine Ideologie, die bestehende Herrschaftsstrukturen legitimiert und auf-rechterhält.

„Expertenwissen“als zentrale ideolo-gische Legitimation

Ähnlich argumentieren Knights und Morgan (1990, 1991). Auch sie betrach-ten den „Strategie-Diskurs“ als ideologisches Instrument der Managerklasse.Wie bereits die bürgerlichen Militärexperten der preußischen Armee des frü-hen 19. Jahrhunderts ihre besondere Stellung nicht durch ihre aristokratischeHerkunft, sondern durch ihr Expertenwissen im Bereich der militärischenStrategie legitimierten, nahmen in den 1950er Jahren Management-Expertendie Position von Mitgliedern der Besitzerfamilien großer Unternehmen ein.Nach Knights und Morgan war Expertenwissen bzw. die Behauptung einerBefähigung zur „wissenschaftlichen“ und „rationalen“ Unternehmensfüh-rung hierbei die zentrale ideologische Legitimation. Aus dieser Perspektivewird aus dem Anspruch, Vermittler einer überlegenen Rationalität zu sein,nichts anderes als ein ideologisches Instrument zur Stärkung der Machtposi-tion einer spezifischen Gruppe innerhalb des Sozialsystems „Unternehmen“.

Das Kontrollparadigma

Instrumente stattWillensbildung,

Verhandlung undKompromiss

Die normative Kritik an dem klassisch-rationalistischen Ansatz streicht denhohen Stellenwert der Kontrolle hervor. Das Kontrollparadigma zeigt sichin dem Versuch, interne und externe Gegebenheiten beherrschen zu wollen.Deutlich wird dies im Anspruch an die Manager und im Anspruch derManager selbst, eine technokratische Rationalität zu perfektionieren. Die

50 Siehe Willmott und Alvesson (1996).

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3.2 Das verständnisorientierte Paradigma strategischen Managements

normative Kritik am klassischen Ansatz argumentiert, dass Technokratenden „irrationalen“ Entscheidungsprozess – wie er durch demokratischeWillensbildung, durch Kompromiss oder auch durch Verhandlungen –zustande kommt, durch „rationale“, „wissenschaftliche“ Entscheidungsins-trumente ersetzen wollen. Inkrementelle Entscheidungsprozesse sind demklassischen Paradigma eher ein Gräuel, da dieses Paradigma von einem tiefsitzenden Misstrauen gegenüber den Beschäftigten und der als feindlichwahrgenommenen Umwelt durchdrungen ist.

3.2.3 Das Zielsystem des verständnisorientierten Paradigmas

Profitmaximierung ist kein „natürliches Ziel“

Auch hinsichtlich des Zielsystems stellen verständnisorientierte Ansätzedie Position des klassischen Paradigmas in Frage. Im klassischen Paradigmawerden die Organisationsziele als weitgehend gegeben und unproblema-tisch betrachtet. Profitmaximierung wird als „natürliches“ und oberstesZiel und als Ergebnis strategischer Unternehmensführung vorausgesetzt.51

Unternehmen werden primär als ökonomische Institutionen bzw. als Profit-maximierungsmaschinen betrachtet. Verständnisorientierte Ansätze nennenzumindest noch andere Ziele, zum Beispiel die Befriedigung von Stakehol-der-Interessen, die Reputation und gesellschaftliche Anerkennung, dasErbringen exzellenter Dienstleistungen, Innovativität oder auch die Steige-rung des Gemeinwohls.

Kultur und soziale Herkunft beeinflussen Ziele

Systemtheoretisch inspirierte Ansätze verweisen darauf, dass die Ziele unddie darauf ausgerichteten strategischen Handlungen von dem spezifischensozioökonomischen System beeinflusst sind. Die Wahl, die nationale Kul-tur, die Organisationskultur, der soziale Background der Manager – all dieseAspekte beeinflussen sowohl Wahl der Ziele52 als auch die Weise, auf wel-che diese erreicht werden sollen. Das Abweichen vom klassischen („ratio-nalen“) Paradigma kann somit in unterschiedlichen Kontexten höchst ratio-nal sein.

Die interessens-pluralistische Zieldefinition

Verständnisorientierte Ansätze und Ansätze in der Tradition der CriticalManagement Studies vertreten darüber hinaus eine breitere, interessensplu-ralistische Zieldefinition: Es geht verstärkt um die Erhöhung des Nutzensfür das gesamte System, um die Entwicklung und Pflege von Ressourcenund Beziehungen sowie um gesellschaftlichen Mehrwert statt um die aus-schließliche Konzentration auf einen rein monetären Mehrwert. Unterneh-men werden nicht ausschließlich als privatwirtschaftliche, sondern auchals gesellschaftliche Institutionen betrachtet.

51 Siehe Whittington (1993).52 Beispielsweise das Ansehen, national-patriotische Ziele, die Macht oder das Ge-

meinwohl.

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3.2.4 Ein Zwischenresümee

Zusammenfassend können folgende Merkmale des verständnisorientiertenParadigmas festgehalten werden:

Das verständnisorientierte Paradigma speist sich aus vielfältigen Infrage-stellungen klassischer „Wahrheiten“.

Die Bedeutung historischer und kultureller Rahmenbedingungen für dasstrategische Management wird betont.

Organisationen werden nicht als rational konstruierte „Maschinen“, son-dern als soziale bzw. politische Systeme oder Kulturen wahrgenommen.

Die Rolle des (Top-)Managements wird differenzierter und kritischerbetrachtet als im klassischen Paradigma.

Ein viel weiter gefasster Kreis von Akteuren wird hinsichtlich des strate-gischen Managements als relevant erachtet. Im Mittelpunkt steht nichtmehr nur der „Stratege“, sondern auch den Stakeholdern53 wird alswichtigen strategischen Einflussfaktoren Bedeutung zugemessen.

Neben der rationalen Strategieentwicklung werden intuitive Verständ-nisprozesse – beispielsweise das Lernen und Experimentieren oder auchpolitische Aushandlungsprozesse – als wichtige Faktoren betrachtet.

Strategien werden eher als emergente Phänomene und weniger alsErgebnisse rationaler Planungsprozesse verstanden.

Analyse, Strategieformulierung und Implementierung können und sol-len sich gegenseitig beeinflussen.

Die erkenntnisleitenden Begriffe des verständnisorientierten Paradig-mas sind „Prozess“, „Anpassung“, „Innovation“ und „Lernen“.

Das Zielsystem des verständnisorientierten Paradigmas ist weiter gefasstals im klassischen Paradigma und beinhaltet die Interessen eines weite-ren Kreises von Akteuren als nur die (finanziellen) Interessen der Eigen-tümer.

3.3 Klassisch-rationalistisches Paradigma versus verständnisorientiertes Paradigma: Eine Zusammenschau

Beide Paradigmen ziehen Konsequenzen nach sich: Sie stellen unterschied-liche Perspektiven dar, von denen aus das menschliche Verhalten, die Orga-nisationsumwelten oder auch die Organisationsprozesse auf höchst unter-schiedliche Weise wahrgenommen werden. Für das Verhalten vonManagern besitzen diese unterschiedlichen Paradigmen weitreichendeImplikationen.

53 Beispielsweise Kunden, Lieferanten, die Öffentlichkeit oder auch die Mitarbeiter.

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3.3 Klassisch-rationalistisches Paradigma versus verständnisorientiertes Paradigma: Eine Zusam-

Unterschiedlicher Umgang mit Komplexität und Unsicherheit

In den zwei Paradigmen spiegeln sich zwei prinzipiell unterschiedlicheVorstellungen von (strategischer) Unternehmensführung bzw. vom „strate-gischen“ Umgang mit Komplexität und Unsicherheit:

Das klassisch-rationalistische Paradigma geht von dem Versuch aus, Kom-plexität und Unsicherheit zu reduzieren, indem Einflussfaktoren beherrsch-bar gemacht werden. Die Realität soll einem Plan untergeordnet werden,der die Kontrolle und die Reduktion von Komplexität und Unsicherheitverspricht. Das zweite Paradigma geht von der Unmöglichkeit einerBeherrschbarmachung der komplexen Umwelt aus und richtet den Blickauf die Suche nach brauchbaren Wegen, (günstigen) Faktoren und hilfrei-chen Grundhaltungen54, um mit Komplexität umgehen zu können:

Das klassische Vertrauen in Analyse, Ordnung und Kontrolle wird von ver-ständnisorientierten Ansätzen untergraben, indem diese auf die Beschränkt-heit menschlicher Rationalität hinweisen. Der klassische Ansatz ist in einemrationalistischen Weltbild verankert. Die Hochphase des klassischenManagement-Ansatzes fällt in eine Zeit, die vom Glauben an eine strategi-sche Langfristplanung gekennzeichnet ist. Der klassische Ansatz ist ein idea-lisiertes Modell strategischen Managements, das die Realität strategischenManagements nicht wirklich abbilden kann.

Angesichts dieser inhärenten Schwächen und der fundamentalen Infragestel-lung des klassischen Paradigmas drängt sich die Frage auf, warum diese Pers-pektive nach wie vor sowohl in der Lehre wie in der Beratung eine dominanteStellung einnimmt. Hierfür können mehrere Gründe angeführt werden:

Erstens ist „Rationalität“ als Wert tief in unseren gesellschaftlichen Institu-tionen (Bildungssystem) verankert. Als legitim und richtig wird seit derAufklärung angesehen, was dem Argumentationsmuster naturwissenschaft-licher Rationalität entspricht. Eine Strategie wird in unserer Kultur vorallem dann als legitim betrachtet, wenn sie auf dieser rationalistischenDenkform aufbaut.

Zweitens gibt diese Perspektive Sicherheit: Eine rationale Vorgehensweiseverspricht, komplexe Probleme strukturiert bearbeiten zu können und ver-leiht damit das Gefühl, trotz unüberschaubarer realer Komplexität dennochdie Kontrolle zu haben. Diese Sicherheit, auch wenn es sich bei dieser invielen Fällen nur um eine Scheinsicherheit handelt, wird von wichtigenStakeholdern geschätzt.

Drittens – und dieser Aspekt darf nicht übersehen werden – wurden ausdem klassisch-rationalistischen Paradigma heraus hilfreiche Analyse-Instrumente entwickelt, die einen Beitrag zur strategischen Orientierunggeben können. Um diese angemessen anwenden zu können, ist es allerdingsnotwendig, deren Grenzen zu erkennen.55

54 Beispielsweise Kritikfähigkeit, Wahrnehmungsfähigkeit oder auch Kommunika-tionsfähigkeit.

55 Siehe hierzu Kapitel 5, Kapitel 6, Kapitel 7 und Kapitel 8.

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Viertens wirken besonders die in der US-amerikanisch geprägten Manage-ment-Literatur weit verbreiteten Macher- und Machbarkeitsideologien sowiedie Versprechungen der Beratungsindustrie als Verstärker des klassischenParadigmas und seiner Prämissen.

Die Antwort auf die Frage, welches Paradigma angemessener ist, hängtdavon ab, ob die klassische Perspektive als objektiv und rational betrachtetwird bzw. ob sie als eine historisch spezifische und kontingente Denkformbetrachten wird: Eine Denkform, die auf dem rationalistisch-positivistischenWeltbild des 18. Jahrhunderts aufbaut, von militärischen Metaphern durch-zogen ist und für US-amerikanische Großunternehmen entwickelt wurde.

Auch wenn die Frage nach der „Richtigkeit“ der unterschiedlichen Ansätzenicht ohne weiteres beantwortet werden kann, so ist die Thematisierungder Unterschiede geeignet, zentrale Trennlinien des Strategie-Diskurses unddamit die Vielfalt der Möglichkeiten strategischer Unternehmensführungaufzuzeigen. Derartige Trennlinien sind beispielsweise:

rationaler Plan versus emergenter Prozess

top-down versus bottom up

Zentralisierung versus Dezentralisierung

Wettbewerbsorientierung versus Kooperationsorientierung

Abgrenzung versus Öffnung gegenüber des gesellschaftlichen Umfelds

Komplexitätsreduktion versus Komplexitätserhöhung

Kontrollorientierung versus Verständnisorientierung

Interessensmonismus und -partikularismus versus Interessenspluralis-mus und Interessenausgleich

Es ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt, eine Perspektive zu Gunsten deranderen aufzugeben oder zu denunzieren. Das klassisch-rationalistischeund das verständnisorientierte Paradigma sind grundsätzlich unterschied-liche Denkansätze – mit unterschiedlichen Prämissen und Konsequenzen.Beide Strategiekonzepte weisen sowohl Nutzen als auch Beschränkungenauf. Die „Rationalität“ der analytischen Instrumente, der Modelle und Pla-nungsansätze kann wichtige Informationen liefern. Sie kann helfen, auf sys-tematische Weise Problemfelder zu analysieren und somit Entscheidungs-prozesse zu unterstützen oder auch bereits getroffene Entscheidungen vordem Hintergrund einer analytischen Betrachtung von Einflussfaktoren inFrage zu stellen. Um die Instrumente des klassisch-rationalistischen Para-digmas nützen zu können, sollte man jedoch auch deren Grenzen kennen:Sie sagen relativ wenig über das „Leben“ einer Organisation aus, also wiezum Beispiel Organisationskultur und individuelle Erfahrungen die Ent-wicklung von Strategien beeinflussen, wie Strategien zum Leben erwecktwerden oder wie Strategien verändert werden können, warum Widerstandauftritt und wie produktiv mit Widerstand umgegangen werden könnteoder wie Innovationen ermöglicht werden.

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3.3 Klassisch-rationalistisches Paradigma versus verständnisorientiertes Paradigma: Eine Zusam-

Verständnisorientierte Ansätze sind für das organisationale „Leben“ sensib-ler und können adäquatere Antworten auf die Fragen geben, wie Strategienentstehen und wie sie verändern werden können; warum Widerstand inOrganisationen auftritt und wie Innovationen entstehen. Es wäre eine Illu-sion zu glauben, dass soziale Prozesse in Organisationen oder auch Innova-tionen völlig geplant werden können. Andererseits benötigen selbst die ver-ständnisorientierten Ansätze eine Informationsbasis, die auf der Analyseinterner wie externer Gegebenheiten und Veränderungen aufbaut.

Die Antwort auf die Frage, welches Paradigma das „richtige“ ist, lässt sichnicht geben. Eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung ist immernormativ und wird davon abhängen, welches Menschenbild und welchesOrganisationsbild zu Grunde liegen. Die Antwort wird zudem von den Rah-menbedingungen (und ihrer Interpretation) bestimmt: Besteht ein ausrei-chender Zugang zu Informationen? Besteht ein ausreichender Zugang zuInformationen, bestehen hohe Analysekapazitäten und Kontrollmechanis-men, um dem klassischen Modell der Unternehmensführung zu folgen?Oder gehen wir davon aus, dass sich die Umwelt zu schnell ändert, um sievorherzusagen, und deshalb langfristige Analyse und Planung kontrapro-duktiv sind? Gehen wir davon aus, dass die wirklich wichtigen Wett-bewerbsvorteile nur organisationsintern entwickelt werden können (Kom-petenzen), dass sie in langwierigen Prozessen kultiviert werden müssen,dass Menschen und Organisationen nicht nach Plan funktionieren? Oder istder Ausgangspunkt, dass es in erster Linie rationale Analyse-Instrumenta-rien sind, die einen Erfolg der Organisation garantieren? Oder bevorzugenwir Umsetzungsprozesse, in die alle Unternehmensebenen tief involviertsind und in denen Lernen möglich ist?

Es handelt sich nicht um eine Entweder-Oder-Frage, sondern vielmehr umdie Frage, auf welche Weise eine Spannung zwischen strategischer Analysebzw. strategischem Plan und Strategieprozessen aufrechterhalten werdenkann, damit sich beide, Plan und Prozess, ergänzen können. Das Ziel lägewohl in einer „Rationalität“, die um ihre Beschränktheit weiß und gleich-zeitig einen klaren Blick für die widersprüchliche Vielfalt organisationalerProzesse bewahrt.

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KONTROLL- UND REFLEXIONSFRAGEN

1. Welche Positionen gibt es bezüglich der Frage, ob Organisationenvöllig rational geführt werden können?

Diskutieren Sie diese Frage vor der Unterscheidung zwischeneiner klassischen und einer verständnisorientierten Konzeptionvon strategischem Management.

2. Argumentieren Sie aus klassischer bzw. aus verständnisorientierterPerspektive, weshalb strategisches Management (nicht) die allei-nige Aufgabe des Top-Managements ist.

3. Argumentieren Sie aus einer klassischen bzw. aus einer verständ-nisorientierten Perspektive, ob man bei einer Strategie bereits vor-her wissen sollte, welches Endresultat sich daraus ergeben soll.

4. Argumentieren Sie, welche Ziele eine strategische Unternehmens-führung verfolgen kann. Berücksichtigen Sie dabei eine klassischebzw. verständnisorientierte Konzeption.

5. Argumentieren Sie, warum strategisches Management eine spezi-fische Denkform ist und wodurch sich diese auszeichnet.

6. Argumentieren Sie vor dem Hintergrund einer klassischen bzw.einer verständnisorientierten Perspektive, ob es sich bei strategi-schem Management um einen rationalen oder um einen politischenProzess handelt.

7. Welche Argumente sprechen für das Konzept der emergentenStrategie?

a. aus empirischer Sicht.

b. aus praktischer Sicht.

8. Wie unterscheidet sich die Beurteilung von emergenten Strate-gien, folgt man dem klassischen oder dem verständnisorientiertenParadigma?

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3.3 Klassisch-rationalistisches Paradigma versus verständnisorientiertes Paradigma: Eine Zusam-

Nachgedacht!Strategische Entscheidungen aus unterschiedlichen Perspektiven: Konflikte um die Aufstellung von Mobilfunk-Antennen Ende der 1990er Jahre

Im folgenden rückblickenden Fallbeispiel zeigt sich, dass strategischeEntscheidungsprobleme aus höchst unterschiedlichen Perspektivenbetrachtet werden können. Es zeigt sich ebenfalls, dass – je nachdemwelche Perspektive bzw. theoretische Schule der strategischen Ana-lyse und Entscheidung zugrunde liegt – damit auch unterschiedlicheNebenwirkungen verbunden sein können.

Quelle: http://de.fotolia.com © Kara

Die Mobilfunk-Branche wurde in den 1990er Jahren durch ihre beson-dere Wettbewerbsintensität charakterisiert. Auf diesem schnell wach-senden Markt war der Wettbewerb vor allem auch ein Zeitwettbewerb.Ein besonderes Merkmal der Mobilfunkindustrie lag darin, dass jederAnbieter verpflichtet war, ein eigenes Infrastrukturnetz aufzubauen.Der weitere Ausbau der Infrastruktur durch die Mobilkom-Betreiber,sprich die Erschließung neuer Antennenstandorte, stieß bei Bevölke-rung, Behörden und Politikern zunehmend auf Widerstand. Die Betrei-ber der privaten Mobilfunknetze – und hier wiederum besonders jene,die das dritte und vierte Netz in einem Land aufbauen mussten – warendavon besonders betroffen. Die neue Technologie erforderte eine stei-gende Anzahl zusätzlicher Sendestationen, doch waren potenzielleStandorte häufig schon von Konkurrenten besetzt bzw. scheiterte deren

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Errichtung an dem Widerstand von Grundbesitzern, der Wohnbevölke-rung im näheren Umfeld der projektierten Sendemasten oder an demWiderstand der Politik (Stadtbild und Landschaftsbild). Dieser Wider-stand erhielt zusätzlich Nahrung durch eine öffentliche Diskussionüber die gesundheitliche (Un-) Bedenklichkeit der Technologie.

Am 1. August 1997 erhielt Connect Austria – ein internationales Kon-sortium bestehend aus Radex-Heraklith AG, Constantia Privatbank,VIAG AG, Telenor, Orange und Tele Danmark – den Zuschlag für dieLizenz zur Errichtung und zum Betrieb des dritten ÖsterreichischenMobilfunknetzes. Der Preis dafür lag mit 2,3 Mrd. Schilling (umge-rechnet 167 Mio. Euro) deutlich niedriger als bei der ersten privatenMobilfunklizenz, die im Herbst 1996 um 4 Mrd. Schiling (290 Mio.Euro) an max.mobil vergeben wurde. Diese Differenz wurde mit demWettbewerbsnachteil eines späteren Markteintritts und der durch die1800-MHz-Technologie bedingten höheren Infrastrukturausgaben(mehr Antennenstandorte) begründet. Connect Austria, der Betreiberdes dritten Österreichischen Mobilfunknetzes (nach Mobilkom undmax.mobil), war seit 26.10. 1998 unter dem Namen ONE am Markt.Der Aufbau eines Mobilfunknetzes, der so genannte Roll-Out, lief insechs Schritten ab.

Abbildung 3.4: Phasen des „Roll-Out“

Funknetzplanung Funktechnische Fixierung & Optimierung der Senderpositionen und Marketing-anforderungen entsprechend den geographischen Gegebenheiten

Akquisition Vereinbarung von Bestandsverträgen für Antennenstandorte (auf bestehenden Gebäuden – „building sites“, oder auf neu zu errichtenden Masten – „greenfield sites“)

Planung Standortprojektierung, Einreichung, Behördenabklärung und Genehmigung

Ausführung Bauliche Herstellung und Montage des Antennenträgers bzw. Mastes

Implementation Bestückung mit Antennen, Richtfunkantennen, Schaltungen etc.

Integration Senderintegration in das Netz und Freischaltung

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Üblich war hierbei die Auslagerung des gesamten Roll-Outs in Formeines so genannten „Turn-Key-Projektes“ an eines der weltweit tätigenTelekommunikationsunternehmen, welches sich auf die Beistellungund Installation des telekommunikationstechnischen Equipments56

beschränkte und die restliche Ausführung an einen großen Generalun-ternehmer auslagerte. Dieser war für das Projektmanagement verant-wortlich und beauftragte selbst ein Bauunternehmen sowie ein Akqui-sitionsunternehmen. Da das Akquisitionsunternehmen jedoch einenvollständig genehmigten Standort liefern musste, benötigte es einenPlaner, der die Einreichunterlagen erstellte. Die Baufirma wiederumließ die Ausführungsplanung von einem anderen Planer erstellen undvergab die Ausführung partiell an Handwerker.

Die einzelnen Schritte des Roll-Out wurden sequentiell durchgeführt,sprich die Verhandlungen mit den Liegenschaftsbesitzern wurdennach bereits erfolgter funktechnischer Planung und Fixierung der Sen-derpositionen geführt. Danach wurde um behördliche Genehmigungersucht. Bei dieser schrittweisen Umsetzung des Roll-Out waren dietechnischen Abteilungen maßgeblich: Ihre Vorgaben bildeten den Aus-gangspunkt für alle weiteren Aktivitäten und die dafür verantwort-lichen Stellen. Die Aufgabe der Akquisitionsfirma bestand darin,innerhalb eines von den technischen Abteilungen vorgegebenen geo-graphischen Suchkreises drei bestandsvertraglich ausverhandelte undgenehmigungsfähige Standorte zu liefern, aus denen sich die Funk-netzplanung den aus technischen Gesichtspunkten am besten geeigne-ten Standort aussuchte.

Die sequentielle Durchführung des Roll-Out führte dazu, dass dietechnischen Parameter bzw. die technischen Abteilungen einen sehrengen Gestaltungsspielraum für alle folgenden Schritte festlegten. DasProblem lag darin, dass die technischen Abteilungen die „technisch-optimalen“ Standorte aufgrund der geographischen Gegebenheitenauswählten, dass jedoch in den folgenden Roll-Out-Schritten einegroße Zahl dieser „optimalen“ Standorte ausfiel, da es zu politischemund sozialem Widerstand kam. Je weiter eine Roll-Out-Phase von derFunknetzplanung entfernt und damit der praktischen Umsetzungnäher war, umso höher war die Wahrscheinlichkeit für Proteste. Dar-aus ergab sich die Bedrohung, dass eine neuerliche Funknetzplanungnotwendig werden konnte, da bei der Suche nach einzelnen Alterna-tivstandorten die Auswirkungen auf das gesamte Netz überprüft wer-den mussten. Die Kosten, die sich aus dieser Zeitverzögerung ergaben,waren gerade in dieser wettbewerbsintensiven Branche enorm hoch,da neue Kunden relativ leicht und kostengünstig geworben werdenkonnten. Kunden jedoch, die bereits bei einem anderen Betreiber unter

56 Beispielsweise GSM-Antennen oder auch Verteilerschränke.

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Vertrag waren, konnten nur erschwert abgeworben werden. Das Ergeb-nis dieser sequentiellen Vorgehensweise des Roll-Out war ein Trichter-effekt: Je weiter eine Prozessphase von der Planungsphase entferntwar, desto häufiger erwiesen sich ursprünglich angedachte Standorteals unrealisierbar und desto langsamer gestaltete sich der Abschlussder einzelnen Prozessschritte. Die sich aus der rein funktechnischenFixierung von Senderpositionen ergebenden Konfliktpotenziale wur-den in die nachfolgenden Phasen hineingetragen und eskalierten dort.

Abbildung 3.5: Der Trichtereffekt

Eine der zentralen Problemursachen war, dass die Branchenkultureine von Technikern geprägte Kultur war, in deren Zentrum stärker dietechnischen Effizienzkriterien und weniger die Öffnung und der Dia-log mit dem gesellschaftlichen Umfeld verankert waren. Die zentralenAkteure innerhalb der Unternehmen verstanden sich als Experten undberiefen sich auf die naturwissenschaftlich gestützte „beste Lösung“eines Problems. Ein sehr geringes Problembewusstsein dieser Akteurefür die Probleme der Umsetzung war darüber hinaus charakteristisch.Die Auswirkungen dieser technikzentrierten Branchenkultur wurdendurch die für die junge Branche charakteristische „Goldgräber-Menta-lität“ verstärkt. Die Mobilfunkunternehmen bestanden aus Zusammen-schlüssen von Investoren und Know-How-Exporteuren.

Anzahl der geplanten Standorte

Technische Funknetzplanung

Aquisition

Bauplanung

Bauausführung

Betrieb

Anzahl der realisierbarenStandorte

Medien

Politik

Bürgerinitiativen

Behörden

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Die Anfälligkeit für Konflikte mit dem gesellschaftlichen Umfeld wurdedurch folgende Tatsachen erhöht: Die Projekte wiesen eine extremeKurzfristigkeit auf. Ein Roll-Out benötigt von der Planung bis zur voll-ständigen Realisierung nur ein bis eineinhalb Jahre. Zudem fehlte densehr jungen, zumeist ausländischen Projektverantwortlichen derKnow-How-Firmen meist die Sensibilität für die regionalen Besonder-heiten bzw. das Gefühl dafür, welche Standorte in einem Land bzw. ineiner Kultur als akzeptabel gelten und welche nicht. Durch den kurz-fristigen Aufenthalt der Projektverantwortlichen in dem jeweiligenLand, in diesem Fall Österreich, und durch die Kommunikationspro-bleme und Differenzen zwischen ihnen und den lokalen Mitarbeiternwurde das Risiko des Konflikts mit Betroffenen erhöht.

Um den beschriebenen Trichtereffekt, sprich den Ausfall geplanterStandorte, möglichst gering zu halten, wurde in diesem konkreten Falleine Abteilung für External Affairs (EA) eingerichtet. Die ursprünglicheIdee war, einen engen Kontakt mit den zuständigen Behörden herzu-stellen, die Beamten frühzeitig zu informieren und diesen Hilfestellunganzubieten57, um die Bewilligungsverfahren zu beschleunigen. Nebendieser externen Funktion sollte die Abteilung eine weitere, interneerfüllen: Die Verbesserung der Kommunikationsflüsse zwischen denAbteilungen im Hinblick auf die Vermeidung von Konflikten mitbetroffenen Bürgern. Häufig wurden nämlich die technischen Abtei-lungen von Managern geleitet, welche erst kurze Zeit im Land waren.

Der Rolle der EA-Abteilung wurde innerhalb des Unternehmens, ent-sprechend einer technisch-naturwissenschaftlichen „Tough Guy“-Kul-tur, geringe Bedeutung und Existenzberechtigung beigemessen. EA-Mitarbeiter sahen sich intern oftmals mit dem Vorwurf des „Verhin-derns“ technisch optimaler Lösungen konfrontiert. Diese Geringschät-zung der Funktion der EA-Abteilung änderte sich schlagartig mit demAuftreten der Salzburg-Krise.

Im April 1998 kam es in einer der sechs Roll-Out-Regionen, in Salzburg,zu einer Häufung massiver Bürgerproteste. Diese Krise nahm ein Ausmaßan, das nicht nur die Errichtung einzelner Standorte in Frage stellte, son-dern auch die Versorgung großer Teile der Stadt Salzburg gefährdete. DerKonflikt hatte sowohl interne wie externe Gründe: Der Leiter des Salzbur-ger Regionalbüros, ein Singapur-Brite, hatte kaum Erfahrungen mit dereuropäischen Kultur erworben, was sich in einer kulturell äußerst unsen-siblen Funknetzplanung äußerte. Zudem waren Teile des für den Roll-Out zuständigen internationalen Techniker-Teams vorher in Malaysiatätig, wo auf gesellschaftliche Widerstände gegen Mastenstandorte keineRücksicht genommen werden musste. Eine von dem Leiter der Abteilungfür External Affairs entwickelte „integrierte Projektorganisation“, welchesensibler gegenüber gesellschaftlichen Widerständen gewesen wäre,wurde von dem Leiter des Salzburger Regionalbüros verhindert. Diesführte zu einem persönlichen Konflikt zwischen beiden Managern.

57 Beispielsweise die vollständige Information oder auch die Vorabklärung der Be-willigungssituation hinsichtlich des Denkmalschutzes.

Konfliktsituation und Konflikt-ursachen

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Insgesamt waren in Salzburg und Umgebung 18 Mastenstandorte vor-gesehen. Ein weiteres Element, welches eine verstärkende Auswir-kung auf die Auseinandersetzungen hatte, war, dass die Gemeinderats-wahlen bevorstanden: Über die ersten Proteste, unter anderem zweiBaustellenbesetzungen durch Anrainer der geplanten Antennenstand-orte, wurde in Presse, Lokalfernsehen und Radio ausführlich berichtet.Politiker aller Parteien stellten sich hinter die 18 Bürgerinitiativen.Gefordert wurde neben der Einhaltung eines von der Landessanitätsdi-rektion Salzburg empfohlenen Grenzwertes – ein Zehntausendstel desgültigen Grenzwertes nach Weltgesundheitsorganisation – auch einMitspracherecht betroffener Bürger bei der Standortgenehmigung. Bür-gerproteste und Baustellenbesetzungen an mehreren Standorten führ-ten zur Bildung der Protest-Plattform „Bürgerinitiativen gegen GSM-Sendemasten in Wohngebieten“, welche in der Folge auch die Politikauf den Plan rief. Dies führte zu einer rückwirkend geltenden Ände-rung des Ortsbildschutz- und Naturschutzgesetzes58. Dadurch wurdenSendeanlagen im Bauland, für die bislang keine Bewilligungspflichtbestand, einer Einzelbewilligungspflicht unterworfen. Die Politikerder Stadt Salzburg erklärten, die notwendigen Einzelbewilligungennur bei Zustimmung aller sich betroffen fühlenden Bürger zu erteilen,und stellen unter der gleichen Bedingung stadteigene Liegenschaftenfür Alternativstandorte in Aussicht. Am 6. Mai kam es zu einem Bau-stopp für die 18 geplanten Masten durch Connect Austria.

Neben der in Hinsicht auf zu erwartende Proteste sehr unsensiblenFunknetzplanung und den Kommunikationsproblemen zwischen denAbteilungen sowie den beschriebenen Nachteile einer Turn-Key-Orga-nisation lag eine Hauptursache für die Eskalation des Konflikts in derUnternehmens- bzw. Branchenkultur. Da die technischen Vorgaben alsunabänderlich betrachtet wurden, war keinerlei Bereitschaft von Sei-ten des Unternehmens vorhanden, über eine sensiblere Funknetzpla-nung und über alternative Standortvarianten nachzudenken. Dazukamen eine gewisse Überheblichkeit und die Weigerung, ernsthaft mitPolitik und Bürgervertretern zu kommunizieren. In weiten Teilen desUnternehmens herrschte die Meinung vor, dass die Politik die aufge-regten Bürger „ruhig zu stellen“ habe, nachdem das Unternehmen 2-3Mrd. Schilling (145-218 Mio. Euro) für Lizenzen entrichtet hatte undalle bestehenden baurechtlichen Vorschriften eingehalten wurden. DieErwartung des Unternehmens war, dass durch politisches Lobbyingund durch Intervention für Ruhe gesorgt werden könnte.

58 Siehe „Salzburger Nachrichten“ am 8.6.1998, S. 9.

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3.3 Klassisch-rationalistisches Paradigma versus verständnisorientiertes Paradigma: Eine Zusam-

Aufgrund der Konfliktintensivierung kam es zu einem Treffen vonBürgerinitiativen und Unternehmensvertretern unter dem Vorsitz derSalzburger Stadtregierung. Diese Zusammenkunft war von lautstarkenAuseinandersetzungen geprägt. Die Unternehmensvertreter lehntenden Vorschlag einer gemeinsamen Suche nach Alternativlösungen mitder Begründung ab, sie wären dazu rechtlich nicht verpflichtet.

In der folgenden Phase kam es zu einer zunehmenden Konfliktintensi-vierung und zu einer defensiven Strategie des Unternehmens. Manversuchte, die Bürgerinitiativen bzw. die Öffentlichkeit mit unvoll-ständigen und aus Sicht der Bürgerinitiativen falschen Informationenzu beruhigen, doch gelang dies nicht.

Mit der von Seiten der Bürgerinitiativen strategisch eingesetztenmedienwirksamen Eskalation des Konflikts (Schlägereien auf Baustel-len, Baustellenbesetzungen) wurde der Unternehmenszentrale in Wienbewusst, dass sie ein Problem hatte, welches nicht nur den Roll-Out inSalzburg, sondern auch in anderen Regionen betreffen könnte.

Das Unternehmen stand vor einem Entscheidungsproblem: Sollte esdie Kosten der Verzögerung des Roll-Outs infolge eines möglicher-weise langen Verhandlungsprozesses tragen oder eine Intensivierungdes Konflikts riskieren?

Reflexionsfragen zur Fallstudie

Worin liegt das strategische Entscheidungsproblem?

Welche Aspekte würde eine klassische Perspektive und welcheAspekte würde eine verständnisorientierte Perspektive strategi-schen Managements in den Vordergrund rücken?

Welche unterschiedlichen Perspektiven würden die unterschied-lichen Schulen des strategischen Managements einnehmen?

Welche Vorgehensweise würden Sie der Unternehmensleitung vor-schlagen?

Welche strategischen Vorteile bzw. Erfolgspotenziale könnten indieser Konfliktsituation enthalten sein?

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