Strukturen organischer Moleküle (RADEMACHER:STRUKTUREN O-BK) || Stereoisomerie und...

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5 Stereoisomerie und Konformationsanalyse In diesem Kapitel wird die aus der dreidimensionalen Atomanordnung resultie- rende Stereoisomerie behandelt. Die Kenntnis der Konfiguration und Konformation von Molekülen ist unerläßlich unter anderem für die Erklärung der physikalischen Eigenschaften und chemischen Reaktionsweisen von Verbindungen sowie der Funk- tion von Enzymen, schließlich auch für die Steuerung der enantioselektiven Synthese. Die Konformationseigenschaften offenkettiger und cyclischer Moleküle werden in den Kapiteln 6 und 7 dargestellt. 5.1 Isomerie, Konfiguration und Konformation Abb. 5-1 gibt eine Übersicht über die verschiedenen Isomerieformen und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen. Isomere haben stets die gleiche Element- zusammensetzung (Bruttoformel). Bei unterschiedlicher Atomverknüpfung besitzen sie verschiedene Konstitutionen, und es handelt sich um Konstitutionsisomere. Mole- küle mit gleicher Konstitution können sich als Stereoisomere in ihrer räumlichen Gestalt unterscheiden. Dabei kommen als Unterscheidungsmerkmale die Konfigu- ration und die Konformation in Frage. Während sich Konfigurationsisomere in der relativen Anordnung einzelner Molekülteile unterscheiden, deren gegenseitige Umwandlung wie z.B. das Lösen und Neuknüpfen von Bindungen einen relativ Isomere l l Konstitutionsisomere Stereoisomere (Strukturisomere) | Konfigurationsisomere Konformationsisomere (Konformere) r^ i Rotationsisomere Inversionsisomere (Rotamere) (Invertomere) Abb. 5-1. Isomerieformen. Strukturen organischer Moleküle. Paul Rademacher Copyright © 1987 VCH Verlagsgesellschaft mbH, Weinheim ISBN: 3-527-26545-7

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5 Stereoisomerie undKonformationsanalyse

In diesem Kapitel wird die aus der dreidimensionalen Atomanordnung resultie-rende Stereoisomerie behandelt. Die Kenntnis der Konfiguration und Konformationvon Molekülen ist unerläßlich unter anderem für die Erklärung der physikalischenEigenschaften und chemischen Reaktionsweisen von Verbindungen sowie der Funk-tion von Enzymen, schließlich auch für die Steuerung der enantioselektiven Synthese.Die Konformationseigenschaften offenkettiger und cyclischer Moleküle werden inden Kapiteln 6 und 7 dargestellt.

5.1 Isomerie, Konfiguration und Konformation

Abb. 5-1 gibt eine Übersicht über die verschiedenen Isomerieformen und diezwischen ihnen bestehenden Beziehungen. Isomere haben stets die gleiche Element-zusammensetzung (Bruttoformel). Bei unterschiedlicher Atomverknüpfung besitzensie verschiedene Konstitutionen, und es handelt sich um Konstitutionsisomere. Mole-küle mit gleicher Konstitution können sich als Stereoisomere in ihrer räumlichenGestalt unterscheiden. Dabei kommen als Unterscheidungsmerkmale die Konfigu-ration und die Konformation in Frage. Während sich Konfigurationsisomere inder relativen Anordnung einzelner Molekülteile unterscheiden, deren gegenseitigeUmwandlung wie z.B. das Lösen und Neuknüpfen von Bindungen einen relativ

Isomere

l lKonstitutionsisomere Stereoisomere

(Strukturisomere) |

Konfigurationsisomere Konformationsisomere(Konformere)

r^ iRotationsisomere Inversionsisomere

(Rotamere) (Invertomere)

Abb. 5-1. Isomerieformen.

Strukturen organischer Moleküle. Paul RademacherCopyright © 1987 VCH Verlagsgesellschaft mbH, WeinheimISBN: 3-527-26545-7

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hohen Energieaufwand erfordert, lassen sich Konformere durch Torsion von Bindun-gen oder Aufweitung von Bindungswinkeln, also weitaus leichter, ineinander über-führen. So handelt es sich z.B. bei eis- und /nms-l^-Dichlorethen (l und 2) sowiebei eis- und /ra^-l,2-Dichlorcyclopentan (3 und 4) um Konfigurationsisomere,antiperiplanares und synclinales l ,2-Dichlorethan (5 a und 5b) sind jedoch Kon-formere.

2 et

Cl H

5b

Die Begriffe Konfigurations- und Konformationsisomerie lassen sich also imPrinzip durch die Höhe der Energiebarriere, die zwei Stereoisomere trennt, gegenein-ander abgrenzen. Konfigurationsisomere werden durch eine hohe, Konformations-isomere durch eine niedrige Barriere getrennt. Leider hat sich hier wie auch bei derBezeichnung der Stereoisomeren (Abschn. 6.1) noch keine einheitliche Nomenklaturdurchgesetzt. So spricht man z. B. bei Aminen (6 a und 6b), die durch Inversion amStickstoff-Atom mit einer Barriere von 15 bis 40 kJ/mol ineinander übergehen, vonentgegengesetzter Konfiguration, während man E- und Z-Form von Amiden (7 a und7b), die wegen des partiellen Doppelbindungscharakters der C—N-Bindung durcheine Barriere von 60-90 kJ/mol getrennt sind, als Konformere unterscheidet. Ande-rerseits werden jedoch die Stereoisomere mit pyramidaler Konfiguration gemäßAbb. 5-1 auch als Invertomere bezeichnet und demnach als Konformationsisomerebetrachtet.

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5.1 Isomerie, Konfiguration und Konformation 107

R2 »<»"' , N N "HUI R2

6a 6l)

U

\C N

\C N

7a

R1 R2

7b

Aus praktischen Gesichtspunkten sollte man die Verwendung der Begriffe Konfor-mation und Konfiguration von der Stabilität der Stereoisomere abhängig machen.Von Konfiguration wird man sprechen, wenn die Isomere isolierbar und bei Normal-bedingungen stabil sind. Damit man Isomere bei Raumtemperatur trennen kann,müssen sie eine mittlere Lebensdauer von einigen Stunden haben. Das bedingt eineGeschwindigkeitskonstante für die gegenseitige Umwandlung von k < 10~4s~1 undentspricht einer freien Aktivierungsenthalpie AG * > 96 kJ/mol.

Sowohl Konformere als auch Konfigurationsisomere können enantiomer sein.Die beiden synclinalen Formen des n-Butans (8 a und 8b) stellen ein Beispiel fürKonformationsenantiomere dar.

CH,

8a( + sc)

CH3

H

8b(-sc)

Stereoisomere, die keine Spiegelbildisomerie aufweisen, sind Diastereomere. DieBegriffe enantiomer und diastereomer sind also im Gegensatz zu Konfiguration undKonformation scharf voneinander abgegrenzt.

Enantiomere werden nach einem Vorschlag von K. Mislow auch als isometrischbezeichnet, da sie identische intramolekulare Atomabstände besitzen. Diastereomeresind anisometrisch (Mislow, 1977).

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108 5 Stereoisomerie und Konformationsanalyse

5.2 Konfiguration und Spiegelbildisomerie

Spiegelbildisomerie setzt eine chirale Struktur voraus. Wie im Falle des synclinalenoder gauche-Eutans kann es sich um einen insgesamt chiralen Molekülbau oder umein Molekül mit einem asymmetrisch substituierten Zentrum handeln. Letzteres liegtz.B. bei einem asymmetrischen Kohlenstoff-Atom (9) vor.

( K

y.,/ \

Chirale Moleküle müssen nicht symmetrielos sein. Außer einer C2~Achse wie beimsynclinalen Butan (8) kommen auch Symmetrieachsen Cn mit höherer Zähligkeit inFrage. Sie dürfen jedoch keine Symmetrieebene besitzen, also keine Spiegelsymme-trie aufweisen. Solche Moleküle nennt man auch dissymmetrisch und achirale ent-sprechend undissymmetrisch. Moleküle mit Cn- und D„-Symmetrie sind demnachchiral; dabei besitzt lediglich die Punktgruppe C{ kein Symmetrieelement und cha-rakterisiert folglich symmetrielose oder asymmetrische Moleküle.

Nachfolgend sind einige symmetrische chirale Moleküle aufgeführt: Spirono-nadion (10), trans-Cycloocten (11) und Biphenyle mit gleicher Substitution beiderRinge (12) weisen jeweils eine C2-Achse auf. Moleküle mit einer Propellergeometriehaben eine C„-Achse, wobei n mit der Flügelzahl des Propellers übereinstimmt.Ein Beispiel für ein solches Molekül ist das Perchlortriphenylamin (13), das derPunktgruppe D3 angehört.

0\\

\\10 11

12 13

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5.2 Konfiguration und Spiegelbildisomerie 109

Bei chiralen Molekülen kann man sogenannte Chiralitätselemente angeben. Da-von wurde das wichtigste, nämlich das Chiralitätszentrum, bereits für den Fall des„asymmetrischen" Kohlenstoff-Atoms erwähnt. Außer einem vierbindigen Kohlen-stoff-Atom kommen auch andere Atome wie Silicium, Germanium, Stickstoff, Phos-phor und Arsen als Chiralitätszentrum in Frage.

Die Rolle eines Substituenten kann auch ein einsames Elektronenpaar über-nehmen:

0

14 6 15 16 17 18

Während vierfach koordinierte Chiralitätszentren Konfigurations-beständig sind,findet man bei den dreifach koordinierten beträchtliche Unterschiede für die Race-misierungsenergie. In Tab. 5-1 sind einige Beispiele für pyramidale Inversionsbarrierenaufgeführt (Rauk et al., 1970; Lambert, 1971; Lehn, 1971). Während die Invertomerebei den Phosphanen (15) sowie den Sulfoniumsalzen (17) und den Sulfoxiden (18)stabil sind, besitzen die Carbanionen (14), Amine (6) und Oxoniumsalze (16) in derRegel so niedrige Inversionsbarrieren, daß stets racemische Gemische vorliegen.

Tab. 5-1. Inversionsbarrieren (in kJ/mol).

Verbindung

CH<f)H2N— X

X = HCH3

C6H5

FClCNNO2

(CH3)2NH(CH3)3N(CH2)„N-CH3

n = 23456

AG*

22.9

24.320.1

6.784.948

5.611.418.434.4

85.742.733.025.028.5

Verbindung AG *

SMf) 166.0PH3 156.0OH<5+) 7.1SH<5+> 126.0

Wenn bei einem Amin zwei Substituenten Teil eines kleinen Ringes sind, kann dieInversionsbarriere beträchtlich ansteigen. So lassen sich entsprechend substituierteAziridine, wie z.B. das 1,2,2-Trimethylaziridin (19), dessen Inversionsbarriere bei

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110 5 Stereoisomerie und Konformationsanalyse

80 kJ/mol liegt, in die Enantiomere spalten. Analoges gilt für dissymmetrische poly-cyclische Amine.

CH3 CH, 19

Eine chirale Achse findet man in Verbindungen wie den Allenen (20), den Spiranen(21), den unsymmetrischen Biphenylderivaten (22) und substituierten Anilinen (23).

c=c =

2021

23

Moleküle wie die Ansaverbindung 4-Bromgentisinsäuredecamethylenether (24)und unsymmetrisch substituierte Paracyclophane (25) besitzen eine Chiralitätsebene.Hier erfordert die Racemisierung eine Rotation des substituierten Benzolringes. Beiden Paracyclophanen ist eine Trennung der Enantiomere bis zu m = 4 und n = 3möglich.

(CH2)m

C07H

24

Zu den Verbindungen mit axialer Chiralität rechnet man auch Moleküle mitHelix-Struktur, bei denen eine Spiegelung der Umwandlung einer Schraube mitRechtsgewinde in eine solche mit Linksgewinde entspricht.

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5.4 Methoden der Konformationsanalyse 111

5.3 Konfigurationsanalyse chiraler Moleküle

Die Bestimmung der absoluten Konfiguration, worunter die tatsächliche Ligan-denanordnung im Raum zu verstehen ist, erwies sich als sehr schwieriges Problemund wurde erstmals 1951 mit Hilfe der anomalen Röntgenstreuung (s. Abschn. 1.4.6)gelöst. Auf chemischem Wege lassen sich durch Stoffumwandlungen unter bekann-ten, definierten sterischen Bedingungen verschiedene Verbindungen hinsichtlich ih-rer Konfiguration vergleichen. Auf diesem Wege ist allerdings nur die Bestimmungrelativer Konfigurationen möglich.

Die Bestimmung der absoluten Konfiguration erfordert chirale physikalischeMethoden. Röntgen- und Elektronenstrahlen sind nicht zirkulär polarisiert. En-antiomere zeigen demnach in der Regel identische Röntgen- und Elektronenstreuung(s. jedoch Abschn. 1.4.6). Auch die üblichen spektroskopischen Verfahren sindals achirale Methoden nicht zur Bestimmung absoluter Konfigurationen geeignet.Typische chirale Methoden sind dagegen die chiroptischen Verfahren (ORD, CD,Cotton-Effekt) (s. z.B. Snatzke, 1981/82). Jedoch sind unter bestimmten Bedingun-gen auch mit Hilfe anderer spektroskopischer Methoden absolute Konfigurationsbe-stimmungen möglich. Auf Einzelheiten der Konfigurationsanalyse kann hier nichteingegangen werden (s. dazu die am Ende des Kapitels angegebene Literatur).

5.4 Methoden der Konformationsanalyse

5.4.1 Einleitung

Unter Konformationsanalyse versteht man die Bestimmung sämtlicher Eigenschaf-ten einer Verbindung, die mit ihrem Konformationsverhalten zusammenhängen.Nach den Ausführungen der vorhergehenden Abschnitte gehören dazu einerseitsdie Strukturdaten der Konformere und andererseits die zur vollständigen Beschrei-bung der Konformationsumwandlungen (innere Rotation, Inversion) erforderlichenEnergieparameter (Näheres s. Kapitel 6 und 7).

Bei der Konformationsanalyse lassen sich statische und dynamische Methodenunterscheiden. Während durch die ersteren die Strukturen der stabilen Konformerebestimmt werden, dienen die letzteren dem Studium von Konformationsverände-rungen.

Konformationsvorgänge sind außer bei den einfachsten Molekülen ziemlich kom-plex und deshalb zumeist mit experimentellen Methoden nicht in allen Einzelheitenaufzuklären. Aus diesem Grunde kommt theoretischen Methoden eine erheblicheBedeutung zu. Diese besitzen zudem den Vorteil, daß man Konformationsumwand-lungen in allen Details einschließlich der Struktur von Übergangszuständen unter-suchen kann.

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112 5 Stereoisomerie und Konformationsanalyse

Wenn es um die Ermittlung der Feinstruktur eines Konformers geht, könnenselbstverständlich die in Kapitel l aufgeführten Methoden verwendet werden. Aller-dings ist bei der Röntgenstrukturanalyse und anderen Untersuchungen, die ankristallinen Substanzen durchgeführt werden, zu berücksichtigen, daß hier die Kon-formation eine ganz andere sein kann als in Lösung oder in der Gasphase. Wennman sich für die Eigenschaften freier Moleküle interessiert, führt eine Kristallstruk-turanalyse an versteinerten Molekülen häufig nicht zum Ziel. Demgegenüber ähnelndie Konformationseigenschaften im flüssigen Zustand noch weitgehend denjenigender Gasphase, so daß die ermittelten Daten als für die isolierten Moleküle gültigangesehen werden können.

Wegen des mit der Bestimmung der Gesamtstruktur verbundenen Arbeitsauf-wandes begnügt man sich bei der Konformationsanalyse häufig mit Teilaspektenwie der axialen oder äquatorialen Stellung eines Substituenten an einem Ring, dersynclinalen oder antiperiplanaren Form einer viergliedrigen Kette oder der planarenoder gefalteten Form eines Ringes.

Ist eine solche Frage mit der Symmetrie der Konformere verbunden, so genügtzur Konformationsanalyse die Ermittlung der molekularen Symmetrie. Dazu eignensich spektroskopische Methoden wie IR- und Raman-Spektroskopie (vgl. Tab. 1-1),aber auch die Bestimmung des Dipolmomentes (s. Abschn. 4.3).

Ob sich eine Methode für dynamische, also zeitabhängige Phänomene eignet,hängt von der Schnelligkeit der Messung im Vergleich mit der Geschwindigkeit desVorganges ab. Dieser Zusammenhang läßt sich gut mit einer photographischenAufnahme von einem bewegten Objekt vergleichen. Eine lange Belichtung führt zueinem verschwommenen Bild der Gesamtbewegung, während eine Momentauf-nahme ein scharfes Bild ergibt, in dem das Objekt sogar ruhig erscheinen kann, alsodie Dynamik des Vorganges nicht ersichtlich ist.

Jede physikalische Messung erfordert eine endliche Zeit. Diese Zeit wird auch alsZeitkonstante bezeichnet. Wenn eine Methode z.B. eine Zeitkonstante von 0.1 sbesitzt, dann können mit dieser Technik keine Vorgänge erfaßt werden, die sich ineiner kürzeren Zeit als 0.1 s abspielen. Für ein Konformerengleichgewicht bedeutetdies, daß entweder die Konformere einzeln für sich erscheinen oder eine „mittlere"

Tab. 5-2. Wellenlänge der verwendeten Strahlung und Zeitkonstante einiger physikali-scher Methoden der Konformationsanalyse.

Methode

RöntgenbeugungNeutronenbeugungElektronenbeugungElektronenspektroskopie(UV/sichtbar)Schwingungsspektroskopie(IR/Raman)Rotationsspektroskopie (MW)NMR-Spektroskopie

Wellenlänge der Strahlungcm

io-8

10~8

10~9

10-MO-5

10-2-10-4

10-10-1

102 a)

Zeitkonstantes

10~15

io-15

10~15

io-13

io-12

io-1

io-8-ibei einem Magnetfeld von ca. 2 T.

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5.4 Methoden der Konformationsanalyse 113

Konformation beobachtet wird, je nachdem ob die Zeitkonstante kleiner oder größerist als die mittlere Lebensdauer der Konformere.

Die Zeitkonstante der spektroskopischen Methoden hängt mit der Frequenz derelektromagnetischen Strahlung zusammen. Hohe Frequenzen ermöglichen schnelleMessungen. Die schnellste Messung erfolgt mit Röntgenstrahlen, die Frequenzenum 1018 Hz besitzen. Demgegenüber liegen Molekülschwingungen bei Frequenzenum l O12 Hz. In Tab. 5-2 wird für einige übliche physikalische Methoden eine Über-sicht über die Wellenlänge der verwendeten Strahlung und die Zeitkonstantegegeben.

In der Tabelle sind sowohl Beugungs- als auch spektroskopische Methoden aufge-führt. Die Zeitkonstante reicht von 10~15 bis l s. Noch langsamere Vorgänge unter-sucht man mit kinetischen Messungen. Dazu mißt man bei einer bestimmten Tempe-ratur mit einer geeigneten Methode die zeitliche Änderung der Konzentration einerbestimmten Spezies, z. B. eines Konformers.

5.4.2 Thermodynamische und chemische Methoden

Daß die innere Rotation des Ethans (s. Abschn. 6.1.1) nicht frei erfolgen kann,ergibt sich auch aus thermodynamischen Untersuchungen an dieser Substanz. Expe-rimentelle und berechnete Bildungsentropie stimmen nur dann überein, wenn manein Torsionspotential von etwa 12.0 ± 0.5 kJ/mol annimmt. Die kalorimetrischeBestimmung der Enthalpie und der Entropie einer Verbindung kann also unmittelbarInformationen über das dynamische Konformationsverhalten des Moleküls liefern.So konnte eine Reihe grundsätzlich wichtiger Konformationsdaten durch einenVergleich mit den spektroskopisch ermittelten thermodynamischen Größen erhaltenwerden, z. B. die nichtebene Struktur des Cyclopentans und die Sessel-Konformationdes Cyclohexans.

Verbrennungswärmen sind für die Konformationsanalyse nur von geringem Nut-zen. Grundsätzlich kann man zwar den Stabilitätsunterschied von Isomeren ausihren Verbrennungswärmen ermitteln, doch lassen sich Konformere nur selten isolie-ren. Auch ist die Genauigkeit der Messung wegen der geringen Energiedifferenzen,die nur in der Größenordnung von einigen kJ/mol liegen, unbefriedigend.

Statt an jedem einzelnen Konformer einer Verbindung aufwendige kalorimetrischeMessungen vorzunehmen, ist es viel bequemer, Energiedifferenzen durch Messungdes Gleichgewichts zu bestimmen. Der Unterschied der freien Enthalpie ergibtsich unmittelbar aus der Gleichgewichtskonstante K [Gl. (5-1)]. Eine Messung derGleichgewichtskonstante bei verschiedenen Temperaturen ermöglicht dann eine Be-stimmung der Differenzen von Enthalpie und Entropie, indem man gemäß Gl.(5-2) In Ä' gegen l/T aufträgt.

&G°=-RTlnK (5-1)

lnK= - (&H°/R) ( l / T ) + AS°/R (5-2)

Wenn es gelingt, ein Konformer in reiner oder angereicherter Form zu gewinnen,kann man durch Äquilibrierung die freie Enthalpie der Aktivierung für die Konfor-

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114 5 Stereoisomerie und Konformationsanalyse

mationsumwandlung bestimmen. Dazu untersucht man wie üblich die Temperatur-abhängigkeit der Isomerisierungsgeschwindigkeit.

Auch die Äquilibrierung von Epimeren wird häufig bei Konformationsstudienuntersucht. So kann man z.B. aus dem Säure-katalysierten Gleichgewicht einesdisubstituierten 1,3-Dioxans mit äquatorialer (26e) bzw. axialer Methylgruppe (26 a)den Energieunterschied der Methylgruppe in den beiden Stellungen ermitteln. Indiesem Beispiel fungiert die t-Butylgruppe als Konformationsanker für die gezeich-nete Sesselform des Sechsringes, da eine Ringinversion eine äußerst ungünstigeaxiale Lage der t-Butylgruppe erfordern würde (s. Abschn. 7.5). Unter der für dieAuswertung von Äquilibrierungsversuchen notwendigen Annahme, daß die sperriget-Butylgruppe den Ring weder in sterischer noch in elektronischer Hinsicht beein-flußt, stellt das chemische Gleichgewicht zwischen Diastereomeren wie 26 e und 26 aein gutes Modell für das entsprechende Konformerengleichgewicht dar.

A#=3.60kJ/mol

Die Tatsache, daß viele Konformerengleichgewichte temperaturabhängig sind,kann man zum Nachweis von instabilen Konformeren ausnutzen. Diese Methodeläßt sich sehr schön an einem Beispiel aus dem Bereich der Alicyclen erläutern,nämlich an der Technik von Anet, auf 800 °C erhitztes Cyclohexan am Fenster einerauf 20 K gekühlten IR-Küvette zu kondensieren (Squillacote et al., 1975). DasSpektrum des Kondensates gestattet es, den Anteil der /vra/-Form in Cyclohexanabzuschätzen (s. auch Abschn. 7.5).

5.4.3 Dipolmomente

Die Anwesenheit polarer Bindungen in einem Molekül macht die Bestimmung desmolekularen Dipolmomentes zu einer auch für die Konformationsanalyse nützlichenMethode. Die Ausführungen in Abschn. 4.3 gelten auch für die verschiedenenKonformationen eines Moleküls. Demnach müssen Konformere ohne jede Symme-trie oder solche der Punktgruppen C„, Cnv und Cs ein permanentes Dipolmomentbesitzen. Das an einem Konformerengemisch beobachtete Dipolmoment stellt dannden Mittelwert oder das mittlere Dipolmoment des Moleküls dar. Wenn sich dieDipolmomente für die einzelnen Konformere sicher abschätzen lassen, kann auchdie Zusammensetzung des Gemisches ermittelt werden. Als ein Beispiel sei hier das2-Bromacetophenon aufgeführt, das ein Gemisch aus den Konformeren 27 a (sp)und 27b (ap) bildet, von denen das letztere mit 75 ± 10% überwiegt (Mirarchi undRitchie, 1984).

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5.4 Methoden der Konformationsanalyse 115

27 a 27 b

5.4.4 Schwingungsspektroskopie

Die spektroskopischen Methoden leisteten in den vergangenen 20-30 Jahren dengrößten Beitrag zur Entwicklung der Konformationsanalyse. Deshalb sollen indiesem und in den folgenden Abschnitten die für die Konformationsanalyse wichtig-sten spektroskopischen Methoden etwas eingehender behandelt werden.

Infrarotspektren können in verschiedener Weise genutzt werden. Man kann z.B.mit ihrer Hilfe entscheiden, ob Wasserstoff-Brückenbindungen vorliegen (s. Abschn.3.5.1). Zweitens kann man bestimmte Konformationen erkennen, z. B. am Auftretensogenannter Bohlmann-Banden (s. u.). Drittens lassen sich die relativen Anteile be-stimmter Konformere ermitteln, wenn diese im Spektrum separate Banden besitzen.Schließlich gestattet die Ferninfrarotspektroskopie die Abschätzung der Barrierenvon bestimmten Konformationsprozessen.

Diastereomere Konformere besitzen unterschiedliche IR- und Raman-Spektren.Eine genauere Analyse der Spektren gestattet häufig eine Aussage bezüglich derSymmetrie der beteiligten Spezies. Insbesondere Zentrosymmetrie gibt sich durcheinen Vergleich von IR- und Raman-Spektrum leicht zu erkennen. Aufgrund desAlternativ-Verbotes ist keine Molekülschwingung sowohl IR- als auch Raman-aktiv.

IR

Ra

CD

In,.irr)' " i

1

II 1"n ||i l 1

1 1

1 i 1 1 l3500 3000 2500 1500 1000

rm-1

1 'II

500

-

i i

_

100

50

0

50

100

0

Abb. 5-2. IR- und Raman-Banden von l,6-Diazabicyclo[4AO]decan (28) (nach Koopmann undRademacher, 1976). Die IR- und Raman-Banden unterscheiden sich in ihrer Lage. Nur wenigeRaman-Banden stimmen mit IR-Banden überein. Aus der Gültigkeit des Alternativ-Verbotes folgt,daß das Molekül zentrosymmetrisch ist. Die wenigen Bandenkoinzidenzen sind zufällig.

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116 5 Stereoisomerie und Konformationsanalyse

Beispiel 5-1 l,6-Diazabicyclo[4.4.0]decan (28):In Abb. 5-2 sind die IR- und Raman-Banden des l ,6-Diazabicyclo[4.4.0]decans (28), für das

sich in Analogie zum Decalin eine eis- und eine trans-Form formulieren lassen, gegeneinanderaufgetragen. Während es sich bei dem bicyclischen Kohlenwasserstoff um Konfigurationsisomerehandelt, ist für die isoelektronische heterocyclische Verbindung eine gegenseitige Umwandlung derIsomere durch Ring- und Stickstoffinversion möglich. In Abb. 5-2 erkennt man, daß nur sehr wenigeIR- und Raman-Banden zusammenfallen. Diese Koinzidenzen sind zufällig. Damit ist das Alternativ-Verbot erfüllt, und die Verbindung besitzt die zentrosymmetrische 0/?-Konformation. In der zugehö-rigen Punktgruppe C2h ist nur die Hälfte der Molekülschwingungen mit einer Änderung des Dipol-momentes verbunden, also IR-aktiv. Bei der anderen Hälfte bewirkt die Schwingung eine Änderungder Polarisierbarkeit, was die Voraussetzung zum Auftreten im Raman-Spektrum ist.

Quantitative Aussagen über die Zusammensetzung eines Konformerengemischessind schwierig, da dazu die Extinktionskoeffizienten von IR-Absorptionsbandenoder die Streukoeffizienten von Raman-Banden der einzelnen Konformere bekanntsein müßten.

Der Vergleich des Spektrums einer reinen Verbindung im kristallinen Zustand mitdem einer Schmelze oder Lösung sowie der gasförmigen Substanz kann wertvolleAufschlüsse über das Konformationsverhalten geben, da im Kristall häufig nurMoleküle mit einer einzigen Konformation vorhanden sind. Erscheinen in denanderen Aggregatzuständen keine neuen Banden, so besitzen auch in diesen Phasenalle Moleküle dieselbe Konformation. Diese muß daher energetisch stark bevorzugtsein. Treten jedoch beim Wechsel des Aggregatzustandes neue Banden auf, so istdies ein Indiz für ein Konformerengleichgewicht.

Auch die Frequenzen funktioneller Gruppen können Konformations-abhängigsein. Dies trifft insbesondere auf cyclische Verbindungen zu, bei denen Substituentenin äquatorialer Lage fast immer höhere Frequenzen zeigen als in axialer. So liegt dievco-Schwingung einer axialen OH-Gruppe am Cyclohexanring zwischen 1000 und1035 cm"1, diejenige einer äquatorialen OH-Gruppe jedoch bei 1035-1045 cm"1.

Bohlmann-Banden (Bohlmann, 1958) liegen im Bereich 2700-2800 cm-1 des IR-Spektrums. Sie treten auf, wenn axiale Wasserstoff-Atome antiperiplanar zu einemeinsamen Elektronenpaar an einem Stickstoff-Atom stehen. Ein solches Strukturele-ment (l) findet man häufig in Stickstoff-Heterocyclen wie z. B. 28. Ein am Stickstoffvorhandener Substituent muß äquatorial liegen. Die Frequenzerniedrigung gegen-über normalen vCH-Schwingungen ist auf die in dieser Anordnung wirksamste n/a*-Wechselwirkung zurückzuführen (s. Abschn. 2.3).

(1)

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5.4 Methoden der Konformationsanalyse 117

Da die Schwingungsübergänge im Vergleich mit der Lebensdauer eines Konfor-mers momentan erfolgen, erscheinen im IR-Spektrum die Absorptionsbanden derverschiedenen Konformere, die sich manchmal auch separat zuordnen lassen. Diewohl eleganteste Anwendung dieser Methode findet man in einer Arbeit von Baidockund Katritzky (1968) zur Temperaturabhängigkeit des IR-Spektrums von Piperidin(29). Das Spektrum der gasförmigen Substanz zeigt zwei aufgelöste Banden imBereich des ersten Obertones der vNH-Schwingung. Diese Banden wurden durcheinen Vergleich ihrer Rotationskonturen mit theoretischen Vorhersagen den Konfor-meren mit axialer (29 a) bzw. äquatorialer N—H-Bindung (29 e) zugeordnet. DieVariation des Intensitätsverhältnisses mit der Temperatur gestattete es dann, dieTemperaturabhängigkeit der Gleichgewichtskonstante zu ermitteln und damit denWert A7/ abzuschätzen. Die äquatoriale Konformation ist um 2.1 ±0.4kJ/molstabiler als die axiale.

Die Energiebarriere einer inneren Rotation kann man aus der Frequenz derentsprechenden Torsionsschwingung und ihrer Obertöne berechnen, da die Abwei-chungen von der Harmonizität mit fallender Barrierenhöhe zunehmen. Bei einerunendlich hohen Barriere ist die Torsionsschwingung harmonisch, d. h. die Schwin-gungsniveaus sind äquidistant. Experimentell sind diese Frequenzen schwer zugäng-lich, da sie im fernen Infrarot liegen und im Raman-Spektrum geringe Intensitätbesitzen. Als Beispiel sei hier die Ringinversion des 1,4-Dioxins (30) genannt, fürdie die Feminfrarotspektroskopie ebenso wie die NMR-Spektroskopie eine Barrierevon 31.9 ± 0.6 kJ/mol lieferte (Larkin und Lord, 1973).

30

Eine wesentliche Verbesserung der Meßtechnik brachte auf diesem Gebiet dieEntwicklung der Fourier-Transform-Interferometer, mit denen man Frequenzen aufetwa ± 0.05 cm~l bestimmen kann. So fanden Durig et al. (1985) beim Benzaldehyd(31) vier Frequenzen für die Torsion der CHO-Gruppe, nämlich 110.85, 109.51,106.52 und 104.17 cm"1. Davon gehört die erste zum Grundzustand und die anderenzu angeregten Zuständen. Die Torsionsbarriere ergibt sich aus diesen Meßwerten zu19.27 kJ/mol.

,H

31

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118 5 Stereoisomerie und Konformationsanalyse

5.4.5 NMR-Spektroskopie

5.4.5.1 Einleitung

Die NMR-Spektroskopie (s. z. B. Günther, 1983) ist zweifellos die für die Konfor-mationsanalyse wichtigste spektroskopische Methode. In der organischen Chemiewird die bei weitem überwiegende Anzahl der Messungen an den Kernen *H und13C durchgeführt. Jedoch bereiten auch andere Kerne wie z. B. 15N den heutigenSpektrometern keine besonderen Schwierigkeiten mehr. Die Interpretation von 1H-NMR-Spektren beruht auf den chemischen Verschiebungen und den Kopplungskon-stanten.

Wegen unterschiedlicher räumlicher Beziehungen zwischen den Atomen und we-gen der magnetisch anisotropen Abschirmung vieler funktioneller Gruppen sindProtonen in diastereomerer Umgebung nichtäquivalenten elektromagnetischen Ein-flüssen ausgesetzt, die zu unterschiedlichen chemischen Verschiebungen führen.Diastereomere Konformere kann man aber häufig bei Raumtemperatur nicht anhandder chemischen Verschiebung unterscheiden, denn ihre gegenseitige Umwandlungerfolgt relativ zur NMR-Zeitskala (vgl. Tab. 5-2) zu schnell. Infolgedessen beobach-tet man beim Vorliegen von zwei Konformeren nicht getrennte Signale, sondernMittelwerte. Bei Temperaturerniedrigung wird die Umwandlungsgeschwindigkeitkleiner, und es ist möglich, die Spektren der einzelnen Konformere zu registrieren.Aus den Signalflächen ergibt sich direkt das Konformerenverhältnis, und darauskann man die Differenz der freien Enthalpie der beiden Konformere berechnen (s.Abschn. 5.4.2).

5.4.5.2 Dynamische NMR-Spektroskopie

Die Temperaturabhängigkeit der NMR-Spektren bildet die Grundlage der dyna-mischen NMR-Spektroskopie (s. z.B. Binsch u. Kessler, 1980). Bei schrittweiserTemperaturerhöhung verbreitern sich die zunächst scharfen Signale der einzelnenKonformere, überlappen sich dann und bilden bei der Koaleszenztemperatur TK einebreite Bande, die bei noch höherer Temperatur zu einem scharfen Signal wird. DieserVorgang spielt sich innerhalb eines ziemlich schmalen Temperaturbereiches ab. Jenach Höhe von TK kann die Messung bei tieferer oder höherer Temperatur alsRaumtemperatur erforderlich sein. Durch eine Analyse der Spektren in der Näheder Koaleszenztemperatur läßt sich die Geschwindigkeitskonstante k der Konforme-renumwandlung bestimmen. Mit Hilfe der Eyring-Gleichung (5-3) ergibt sich danndie zugehörige freie Enthalpie (Aktivierungsenergie).

(5-3)

h und &B bedeuten die Plancksche und die Boltzmann-Konstante; der Durchlässig-keitsfaktor x wird gewöhnlich als l angenommen. Aus apparativen und praktischen

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5.4 Methoden der Konformationsanalyse 119

T1.7

T1.2 ppm

Abb. 5-3. ^-NMR-Spektrum von Cyclohexan-dn bei verschiedenen Temperaturen, Deuteriumentkoppelt (nach Bovey, 1969). Bei niedriger Temperatur findet man für das axiale und das äquatori-ale Proton verschiedene Signale. Bei Temperaturerhöhung werden die Signale breiter und fallen beider Koaleszenztemperatur 7K = — 60 °C zusammen. Oberhalb dieser Temperatur mißt man einmittleres Signal für beide Protonen.

Gründen sind solche Messungen auf den Temperaturbereich —150 bis +200°Cbeschränkt. Dem entsprechen Aktivierungsenergien von etwa 23 bis 110 kJ/mol.

Beispiel 5-2 Cyclohexan:

Abb. 5-3 zeigt das ^-NMR-Spektrum von Cyclohexan-dn zwischen -89 und -49°C, beidem zur Vereinfachung die Spin-Spin-Wechselwirkungen zwischen Proton und Deuteron durchDoppelresonanz beseitigt sind.

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1 20 5 Stereoisomer ie und Konformationsanalyse

Das bei — 89 °C im Bereich des langsamen Austausches aufgenommene Spektrum zeigt je einSignal für das Proton in axialer und äquatorialer Stellung. Allmähliche Temperaturerhöhung führtzu einer Verbreiterung der zunächst noch getrennten Signale. Bei der Koaleszenztemperatur( — 60 °C) ist nur noch ein Peak vorhanden. Eine Auswertung der Spektren liefert folgende Energie-parameter für die Ringinversion des Cyclohexans: A//* = 45.1 + 0.4 kJ/mol und AS* = 12 ± 2 J/Kmol.

Die rasche Ringinversion des Cyclohexans bei Raumtemperatur führt dazu, daßman im ^-NMR-Spektrum nur eine Singulett- Absorption bei ö = 1.44 ppm beob-achtet, obwohl axiale und äquatoriale Protonen weder chemisch noch magnetischäquivalent sind (vgl. Beispiel 5-3).

Außer bei Ringinversion kann man mit Hilfe der dynamischen NMR-Spektrosko-pie Konformationsänderungen bei der pyramidalen Inversion (Amine) und bei derbehinderten Rotation um Bindungen beobachten. Sehr eingehend wurden Rotationenum Bindungen mit partiellem Doppelbindungscharakter untersucht. Typisch dafürsind Moleküle wie Amide (7), Nitrosamine (32), Alkylnitrite (33), Diazoketone (34)und Aminoborane (35), von denen nachstehend jeweils die Methylverbindungenaufgeführt sind:

CH3

CH3 M CH3

32

N=N CH3 ^CH3 34

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CH3

5.4 Methoden der Konformationsanalyse 121

,N'CH3>2 CH3 ,N(CH3)2

N» (-)/-B' ^ > XN===ß

CH3 CH, C<H,•6n5 35

Die Torsionsbarrieren dieser Verbindungen liegen zwischen 40 und 100 kJ/mol.Bei mehreren sind die Methylgruppen bereits bei Raumtemperatur chemisch nichtäquivalent. So findet man z. B. für das stark krebserregende Dimethylnitrosamin(32) im ^-Spektrum die Signale 6 = 3.0 und 3.8 ppm und im 13C-Spektrum ö =32.6 und 40.5 ppm. Dabei besitzt die m-ständige Methylgruppe jeweils den kleineren5-Wert.

5.4.5.3 Kopplungskonstanten

Kopplungskonstanten sind strukturabhängig. Für die Konformationsanalyse eig-net sich insbesondere die vicinale H—H-Kopplung, da die zugehörige Konstante,V, sich stark mit dem Torsionswinkel <p ändert. Aufgrund der Resultate von Valence-Bond-Rechnungen schlug Karplus (1959) die Gleichung (5-4) vor. Da 3/außer vomDiederwinkel cp auch von der CC-Bindungslänge und den CCH-Bindungswinkelnsowie von Substituenten abhängt, stellt Gl. (5-4) eine Näherung dar mit unterschied-lichen Werten von A und C für das jeweilige Verbindungssystem. Abb. 5-4 zeigt denBereich der beobachteten Kopplungskonstanten als Funktion des Torsionswinkels.Während die additive Konstante C zumeist vernachlässigt werden kann, da sie selten

(p 180°

Abb. 5-4. Karplus-Kurve zur Abhängigkeit der vicinalen H—H-Kopplung vom Torsionswinkel (p.Der gestrichelte Bereich gibt die Größe der Kopplungskonstante 3J beim jeweiligen Wert von (p an.

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122 5 Stereoisomerie und Konformationsanalyse

größer als 0.3 Hz ist, variiert A zwischen 8 und 14 Hz. Dabei ist es üblich, für dieWinkelbereiche 0 bis 90° und 90 bis 180° etwas verschiedene Werte zu verwenden.

3/=,4cos> + C (5-4)

Eine Reihe wichtiger Befunde wird durch die Karplus-Gleichung bzw. Abb. 5-4erklärt:

- In Alkenen ist die trans-Kopplung immer größer als die ds-Kopplung. Dadurchist eine sichere Unterscheidung von cis-trans-Isomeren möglich.

- Für 1,2-disubstituierte Ethane gilt 3Jsynclinai < ^ Janüpenpianar •- Bei Cyclopropanderivaten wird stets 3Jcis >

3Jtrans gefunden. Die zugehörigen Die-derwinkel betragen 0 und 120°. Isomere können sicher unterschieden werden.

- In der Sessel-Konformation des Cyclohexans ist die Kopplung zwischen zweiaxialen Protonen größer als diejenige zwischen zwei äquatorialen Protonen oderzwischen einem äquatorialen und einem axialen Proton (Jaa > Jae « Jee).

Der letztgenannte Punkt ist für die Konformationsanalyse von Cyclohexanderiva-ten und Sechsringheterocyclen wie z. B. Zuckern ein wichtiges Kriterium. So besitztin der ß-Form (37) der D-Glucose das anomere Proton eine größere vicinale Kopp-lungskonstante als in der oc-Form (36):

36: oc-D-Glucose3JM = 3.0 Hz

Beispiel 5-3 2,3,5,6-Tetraacetoxy-l,4-dinitrocyclohexan (38):

Für die drei verschiedenen vicinalen Kopplungen in der Sessel-Konformation des Cyclohexansfindet man folgende Werte:

V^ 8-12 Hz («p« 180°)

*jee = 0- 4 Hz ((p ^ 60°)

ijae =\- 5 Hz (cp « 60°)

Explizit seien die !H-NMR-Daten des 2,3,5,6-Tetraacetoxy-l,4-dinitrocyclohexans (38) angegeben(Lambert et al, 1976):

OAcOAc

°Ac OAc 38

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5.4 Methoden der Konformationsanalyse 123

ö = 2.02 (6H, s), 2.12 (6H, s), 5.03 (2H, d vom d, / = 11.0, 3.5),5.89 (2 H, d vom d, /= 11.0, 3.5), 6.22 (2H, t, /= 3.5)

Eine solche Kurzschreibweise ist im experimentellen Teil von Veröffentlichungen üblich. Hinterdem (3-Wert (in ppm) einer Protonengruppe folgen in Klammern die aus dem Integral des Signalsermittelte Anzahl an Wasserstoff-Atomen und die Signalmultiplizität. Dabei bedeutet s Singulett,d Dublett, t Triplett, m Multiplen. Durch „d vom d" wird ein Dublett charakterisiert, dessen Linienihrerseits ebenfalls in Dubletts aufgespalten sind. Die zugehörigen Kopplungskonstanten / werdenin Hz angegeben.

Die beiden ersten Signale lassen sich unschwer den Methylprotonen zuordnen. Die Acetoxygrup-pen sind folglich je zur Hälfte axial und äquatorial angeordnet. Ein Dublett vom Dublett mit denKopplungskonstanten 3.5 und 11.0 Hz kann nur von einem axialen Proton stammen, das je einaxiales und ein äquatoriales Proton als Nachbarn hat (vicinale Kopplungen 3Jae und 3/aa). Da eszwei solche Signale gibt (ö = 5.03 und 5.89 ppm), müssen zwei verschiedene derartige axiale Protonenin vicinaler Stellung vorkommen. Das Triplett mit der Kopplungskonstante 3.5 Hz muß einemäquatorialen Proton entstammen. Von jeder dieser drei Protonensorten gibt es im Molekül zwei.Nur die gezeichnete Konformation von 38 stimmt mit diesen Beobachtungen überein.

Liegt ein Konformer engemisch im schnellen Gleichgewicht vor, so werden Mittel-werte für die Kopplungskonstanten gefunden, aus denen man in geeigneten Fällendas Isomerenverhältnis bestimmen kann.

Beispiel 5-4 2-Bromcyclohexanon (39):2-Bromcyclohexanon bildet bei Raumtemperatur ein Gleichgewicht aus äquatorialer (39e) und

axialer (39 a) Form.

Br

39 e 39 a

In den beiden Konformeren koppelt das Proton H1 mit den benachbarten Protonen H2 und H3

in unterschiedlicher Weise. Wegen der schnellen Umwandlung der beiden Konformere ineinanderbeobachtet man für die vicinalen Kopplungen Mittelwerte, die sich aus dem relativen Anteil derIsomere (eq und ax) ergeben (Lambert et al., 1976):

V (H1, H3) = eq^Jaa + ax3Jee

Aus dem Spektrum kann man nur 3J(Hl,H2) + 3J(Hl,H3)= 11.5 Hz entnehmen. Durch einet-Butylgruppe an C4 kann man die beiden Konformere in Form des eis- und des trans-dCyclohexanons (40 und 41) stabilisieren.

Br

frBu Br""^r^\

40 41

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124 5 Stereoisomerie und Konformationsanalyse

Aus 40 erhält man 3Jae + Vflfl = 18 Hz und aus 41 3Jee + 3Jea = 5.7 Hz. Der für das Konforme-

rengleichgewicht in 39 gefundene Wert von 11.5 Hz paßt dann zu einem 39 e/39 a-Verhältnis von40: 52. In CCl4-Lösung verschiebt es sich auf 9:91. Die Bevorzugung der Konformation mit demaxialen Brom-Atom läßt sich mit einer stabilisierenden 7r(C=O)/a*(Br—C)-Orbitalwechselwirkungerklären.

Erörtert werden soll noch die Frage, wie man dem Umstand begegnen kann, daßdie Kopplungskonstante 3J nicht nur vom Torsionswinkel abhängig ist. Es wurdegefunden, daß V abnimmt, wenn die C—C-Bindungslänge kleiner wird. SolchenEffekten versucht man mit einem anderen ^-Faktor in Gl. (5-4) Rechnung zutragen, wenn man zu einem neuen Verbindungssystem übergeht. V nimmt mit größerwerdendem C—C—H-Winkelab. Diesen Effekt erkennt man am deutlichsten in derReihe der cyclischen Alkene, für die 3/ sich ändert, obwohl (p unverändert bei 0°bleibt: Cyclohepten (10.8 Hz), Cyclohexen (8.8 Hz), Cyclopenten (5.1 Hz), Cyclobu-ten (3.0 Hz) und Cyclopropen (1.3 Hz).

Am schwierigsten läßt sich der Einfluß von Substituenten behandeln. Ersetzt manein Wasserstoff-Atom des Ethans durch einen elektronegativen Substituenten, sowird die Kopplungskonstante kleiner. Das Umgekehrte gilt für elektropositive Reste:

CH3CH3 CH3CH2C1 CH3CH2LiV-8.0 7.2 8.9 Hz

Daß die Einflüsse mehrerer Substituenten näherungsweise additiv sind, kann manin der folgenden Gleichung erfassen:

3y_ 3yo^j _ m^Axj) (5-5)/

Dabei bedeutet 3/° die Kopplungskonstante in einem System ohne Substituenten(Ethan, —CH2—CH2-Fragment in einem Carbocyclus oder n-Alkan) und A.X, denUnterschied in der Elektronegativität des Substituenten R1 gegenüber Wasserstoff;m ist ein Proportionalitätsfaktor.

Bei der Konformationsanalyse aliphatischer Heterocylen hat sich ein anderesVerfahren bewährt, die sog. R-Wert-Methode (Lambert, 1971 a). Für ein rasch inver-tierendes Ringsystem wie 42 werden nur zwei Kopplungskonstanten beobachtet:

J Irans = ^ \^aa ' ^ee)

T — -( J + T \ — Tu eis ^ \^ae ~ J ea) J ae

Das Verhältnis R = Jtransl^cis dieser beiden Kopplungskonstanten ist unabhängigvom Einfluß elektronegativer Substituenten (X und Y) und deshalb ein direktesMaß für die Konformation der Moleküle. Mit dem Torsionswinkel cp derX—C—C—Y-Kette steht R in folgender Beziehung:

/2

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5.4 Methoden der Konformationsanalyse 125

Bei einer ungestörten Anordnung in einem Sechsring liegt R im Bereich 1.9-2.2((p = 56-58°). Abflachung (q> ^ 55°) erniedrigt R auf < 1.8, und starke Ringfaltung(<p > 59°) gibt sich an einem vergrößerten 7?-Wert (> 2.3) zu erkennen.

R-Werte nahe 2.2 zeigen für Cyclohexan, Piperazin und 1,4-Dioxan (42 mitX= Y=CH2, NH bzw. O) normal gefaltete Sechsringe an. Für das abgeflachte 2.3-Fragment des Cyclohexanons (Y = CO) wird hingegen R =1.1 und für das stärkergefaltete Thian (X = S) ein Wert von 2.6 gefunden.

Für Fragmente H—C—X—H, in denen X ein Heteroatom darstellt, zeigt dievicinale HH-Kopplung ähnliche Abhängigkeiten vom Diederwinkel wie die Karplus-Gleichung. Entsprechende Untersuchungen wurden für X = O, N, S, Se, Te und Sidurchgeführt. Als Beispiel sei das Tetrahydro-l,3-oxazin (43) erwähnt, dessen Protonam Stickstoff-Atom axial steht, wie die zwei H—C—N—H-Kopplungskonstantenvon 13.1 und 2.9 Hz zeigen (Booth und Lemieux, 1971). Die VHCNH-Kopplung istauch bei der Konformationsanalyse von Peptiden von Nutzen (Kessler, 1982).

43

Durch moderne homo- und heteronucleare zweidimensionale NMR-Techniken(Benn u. Günther, 1983) wird die Analyse komplizierter NMR-Spektren enormerleichtert. Mit diesen Methoden ist auch die Konformationsanalyse von biologi-schen Molekülen wie z. B. Oligopeptiden möglich geworden (Näheres s. Abschn.6.3).

5.4.6 Photoelektronenspektroskopie

Wenn ein Lichtquant mit hinreichender Energie auf ein Molekül M trifft, kannein Elektron abgetrennt und ein Radikalkation M t erzeugt werden:

M^^Mt+e- (5-7)

Ein Teil der Strahlungsenergie h v wird für den lonisationsprozeß benötigt, und derRest wird in kinetische Energie des Photoelektrons umgewandelt:

/*v = /P + £kin(e-) (5-8)

Da die Masse des Elektrons und die relativistische Masse des Lichtquants sehr kleingegenüber der Masse von M sind, kann man den Unterschied in der Translationsenergievon M und M t vernachlässigen. Bei der Ionisation können sich jedoch Schwingungs-und Rotationszustand von M ändern. Strahlt man mit monochromatischem Licht be-kannter Wellenlänge ein und analysiert die kinetische Energie der Elektronen, so kannman mit Gl. (5-8) die Energiezustände des Radikalkations ermitteln. Nach dem Franck-

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126 5 Stereoisomerie und Konformationsanalyse

Condon-Prinzip wird M t bevorzugt in einem Schwingungszustand gebildet, der diegleiche Geometrie der Atomlagen besitzt wie M. Die lonisationsbande des Photoelektro-nenspektrums besitzen an dieser Stelle ein Maximum, und der zugehörige Wert vonIP wird als das vertikale lonisationspotential, 7PV, bezeichnet. Übergänge in andereSchwingungszustände von M t sind weniger wahrscheinlich und die entsprechendenPeaks im Spektrum von geringerer Intensität. Der Übergang in den Schwingungsgrund-zustand von M t erfordert die geringste Energie, das zugehörige lonisationspotential istdas adiabatische, 7Pa. Einzelheiten der Methode werden z.B. von Bock und Ramsay(1973) beschrieben.

Nach dem Koopmans-Theorem (Band l, Abschn. 6.4.1) ist die vertikale lonisierungs-energie gleich der negativen Orbitalenergie:

/Pv(0 = -ß(0 (5-9)

Mit der PE-Spektroskopie können also die Energien der besetzten Molekülorbitale aufexperimentellem Weg bestimmt werden. Zur Konformationsanalyse kann diese Methode

Abb. 5-5. Aufspaltung der rc-MOs von Biphenyl in Abhängigkeit vom Torsionswinkel (p. Die Energievon 7r4 und n5 ändert sich nicht mit der Konformation. n{ und n2 zeigen eine mäßige, 7i3 und n6 einestarke Abhängigkeit von (p.

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5.4 Methoden der Konformationsanalyse 127

dort genutzt werden, wo eine eindeutige Beziehung zwischen Orbitalenergie und Konfor-mation besteht (Kiessinger u. Rademacher, 1979; Brown u. Jörgensen, 1984). Als einBeispiel sei hier die Bestimmung des Torsionswinkels substituierter Biphenyle aus demPE-Spektrum behandelt.

Beispiel 5-5 Biphenyle:

Die 7i-MOs des Biphenyls lassen sich aus denen des Benzols herleiten. In Abb. 5-5 sind die sechsbesetzten rc-MOs gezeichnet, deren Beziehung zu denen des Benzols unschwer zu erkennen ist. DieEnergiedifferenz von symmetrischer und antisymmetrischer Linearkombination hängt von derGröße der Koeffizienten an der Verknüpfungsstelle und vom Interplanarwinkel der beiden Ringeab. Die größten Effekte zeigen demnach 7i3 und n6. Für die Aufspaltung Ae gilt:

Ae = e(7T3) - e(TC6) = 2Bcoscp (5-10)

2 B entspricht dem Maximalwert bei koplanarer Anordnung der beiden Molekülhälften. Aus denPE-Spektren von Biphenyl-Derivaten mit bekannter Struktur bestimmt man für B den Wert 0.8 eV.Mit Hilfe von Gl. (5-10) konnten die Torsionswinkel (p zahlreicher anderer Biphenyle aus ihren PE-Spektren ermittelt werden (Maier und Turner, 1972).

5.4.7 Theoretische Methoden

5.4.7.1 Allgemeines

Wegen der bereits erwähnten Vielfalt der inneren Bewegungsmöglichkeiten größe-rer Moleküle, die sich in der Praxis zumeist einer vollständigen experimentellenAufklärung entziehen, kommt der theoretischen Analyse von Konformationsproble-men eine wichtige Rolle zu.

Das Prinzip solcher Untersuchungen beruht auf Berechnungen der potentiellenEnergie für die einzelnen Konformationen. So kann man z. B. den Torsionswinkeleines Moleküls für eine bestimmte Bindung als unabhängigen Parameter schrittweiseändern und die zugehörige Energie berechnen. Dabei sollten die übrigen Struktur-parameter nicht starr bleiben, sondern sich im Hinblick auf eine Geometrie mini-maler Energie anpassen (relaxieren) können. So bleiben z. B. die CCC-Bindungswin-kel des n-Butans bei der Rotation um die C2C3-Bindung nicht konstant. Das Ergeb-nis wird dann in Gestalt einer Torsionspotentialkurve dargestellt (vgl. Abb. 6-1 und6-3).

Der erforderliche Rechenaufwand erhöht sich mit der Anzahl der unabhängigenParameter. Die gleichzeitige Variation von zwei Torsionswinkeln macht bei einem10°-Raster die Berechnung von 362 = 1296 Punkten erforderlich. Bei zwei innerenRotationen läßt sich das Ergebnis graphisch in Form eines perspektivisch gezeichne-ten dreidimensionalen Diagramms (vgl. Abb. 6-2) oder als eine sog. Konformations-karte darstellen. Im letzteren Fall wird die Energie als Höhenlinie in Abhängigkeitvon den beiden Torsionswinkeln gezeichnet.

Bei größeren Molekülen verbietet sich die gleichzeitige Variation aller Torsions-winkel wegen des erforderlichen Rechenaufwandes. Außerdem können die Ergeb-

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128 5 Stereoisomerie und Konformationsanalyse

nisse graphisch nicht dargestellt werden. In solchen Fällen variiert man nur diewichtigsten Torsionswinkel und hält die anderen in Konformationen fest, die nachvorläufigen Berechnungen bevorzugt zu sein scheinen. Bei manchen Methoden istes möglich, die flexiblen Teile eines Moleküls bei einer vorgegebenen Konformations-änderung stets in der energetisch günstigsten Anordnung zu halten.

Die Berechnung der Energie kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Als Metho-den kommen einerseits sämtliche quantenmechanischen Verfahren in Frage. Die Wahlorientiert sich an der Größe des zu untersuchenden Moleküls und an der verfügbarenRechnerkapazität. Üblich sind ab-initio-Verfahren für kleinere Moleküle und semi-empirische wie EHT, CNDO, MNDO usw. für größere Moleküle (Einzelheitenzu den Methoden s. Band 1). Eine große Anzahl von Untersuchungen, die denKenntnisstand über das Konformationsverhalten zahlreicher Moleküle erheblicherweiterten, wurde mit Hilfe sog. Molekül-mechanischer Methoden durchgeführt.Diese sollen im folgenden Abschnitt etwas eingehender behandelt werden.

5.4.7.2 Molekül-mechanische Methoden

Nicht zuletzt wegen des enormen Rechenaufwandes anspruchsvollerer quanten-mechanischer Methoden haben klassische, sogenannte Molekül-mechanische Metho-den (Burkert u. Allinger, 1982; Ermer, 1981; Osawa u. Musso, 1983) bei Konforma-tionsstudien verbreitete Anwendung gefunden, da sie weitaus schneller sind. AndereBezeichnungen sind Kraftfeld- oder Westheimer-Hendrickson-Rechnungen. Wir wol-len das Prinzip dieser Methoden hier vorstellen, weil auf diesem Wege auch einanschauliches Modell von molekularer Spannung vermittelt werden kann.

Die Molekül-mechanischen Methoden beruhen auf der Annahme, daß sich dieEnergie eines Moleküls in empirischer Weise nach den Gesetzen der klassischenMechanik berechnen läßt. Bezüglich des Nullpunktes der Energieskala nimmt maneine hypothetische, völlig spannungsfreie Anordnung der Atome im Molekül an. DieSpannungsenergie Es des realen Moleküls läßt sich dann als Summe verschiedenerBeiträge ausdrücken:

Es = Er(r) + EM + E,(<p) + Enb(d) + Ee(l) (5-11)

Dabei bedeuten ET die Bindungsspannung, d.h. die Spannungsenergie aufgrundungewöhnlich langer und kurzer Bindungen, E^ die Winkelspannung ( Baeyer-Span-nung), E9 die Torsionsspannung (Pitzer-Spannung) und Enb die nichtgebundenenWechselwirkungen. Alle diese Beiträge sind ihrerseits über sämtliche Bindungslängenund -winkel, Diederwinkel und nichtgebundene Abstände zu summieren. EQ stehtfür die Summe der elektrostatischen Wechselwirkungen.

Die Güte eines Molekül-mechanischen Verfahrens steht und fällt mit den für dieeinzelnen Energiearten verwendeten Funktionen. Hierbei können z.T. bekanntephysikalische Daten wie z. B. die Kraftkonstanten der Schwingungsspektroskopieherangezogen werden. In der Praxis ist man jedoch so verfahren, daß man eineReihe von Parametern in den verwendeten Potentialfunktionen auf empirischemWege bestimmt hat, indem man z. B. für eine Reihe von Molekülen die berechneten

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5.4 Methoden der Konformationsanalyse 129

an die experimentellen Werte der Bildungswärme und der Strukturparameter ange-paßt hat.

Für die Änderung von Bindungslängen r und -winkel a verwendet man dasHookesche Gesetz:

r-rrf (5-12)

.(«- «o)2 (5-13)

kr und k« stehen für die jeweilige Kraftkonstante; r0 und oc0 bedeuten die Normal-werte der Bindungslängen und -winkel. Für die Torsionsspannung können Potential-funktionen in der Art von Gl. (5-14) verwendet werden:

E9=^En(\+w*nq>) (5-14)

(p ist der Torsionswinkel, En bedeutet die Höhe der Barriere, und n gibt die Periodi-zität der Potentialfunktion an (vgl. Abschn. 6.1). Auch hier ist über sämtlicheTorsionswinkel zu summieren.

Die nichtbindende van der Waals-Energie wird in Enb nur für Atompaare berech-net, die mindestens über drei Bindungen voneinander entfernt sind, da die 1-2-Wechselwirkung in Er und die 1-3-Wechselwirkung in Ea berücksichtigt ist. Für Enb

und EQ verwendet man Potentialfunktionen, wie sie in Abschn. 3.5.2 [Gl. (3-22) bis(3-28)] angegeben wurden.

Die ersten Kraftfeldrechnungen wurden von F. H. Westheimer und C.K. Ingoldvon Hand ausgeführt. J.B. Hendrickson benutzte als erster einen Computer. Wesent-liche Verbesserungen bezüglich des Kraftfeldes und der Rechenverfahren brachtendie Arbeiten von P. v. Rague Schleyer und N. L. Allinger. Z. B. wurden in Gl. (5-12)und (5-13) weitere Terme aufgenommen, über die u.a. eine gegenseitige Beeinflus-sung von Abstands- und Winkeländerungen berücksichtigt werden konnte (Einzel-heiten s. z.B. bei Burkert und Allinger, 1982).

Alle derzeitig gebräuchlichen Rechenprogramme werden mit einer Atomanord-nung gestartet, die von Standard-Bindungslängen und -winkeln ausgeht. Das ersteZiel besteht dann darin, die Strukturparameter so zu verfeinern, daß die Spannungs-energie E einen Minimalwert besitzt. Dazu kann man sich verschiedener Verfahrenbedienen. Zunächst kann man nach der Gradientenmethode (steepest descent) überpartielle Ableitungen QE/d (r, a, cp) der Gesamtenergie nach den zur Beschreibung desMoleküls erforderlichen unabhängigen Atomkoordinaten oder Strukturparametern(vgl. Abschn. 1.1) Korrekturparameter Ar, Aa und A<p berechnen. Die so korrigiertenParameter gehören dann zu einer Struktur mit niedrigerer Energie als die Ausgangs-geometrie. Die Rechnung wird so lange fortgesetzt, bis das Energieminimum erreichtist. Eine verbesserte Methode, die insbesondere im flachen Bereich der Energiehyper-fläche schneller zum Ziel führt als die Gradientenmethode, ist das Newton-Raphson-Verfahren, das auch zweite Ableitungen verwendet.

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130 5 Stereoisomerie und Konformationsanalyse

Bei den Minimalisierungsverfahren tritt stets das Problem auf, daß man, ausge-hend von der Startgeometrie, zwar sicher zum nächstgelegenen Minimum kommt,doch muß dieses nicht das absolute Minimum mit der energetisch günstigsten Geo-metrie des Moleküls sein. Wegen der mit Sicherheit zahlreichen lokalen Minima aufder Energiehyperfläche muß man prüfen, ob nicht mit einer anderen Startgeometrieein günstigeres Ergebnis erzielt wird.

Mit Hilfe des von Schleyer eingeführten pattern search- Verfahrens kann man durcheine systematische Variation der entscheidenden Strukturparameter (hauptsächlichTorsionswinkel) die potentielle Energie auf ihre Minima absuchen.

Durch Festlegung einer geeigneten Reaktionskoordinate ist es möglich, die miteiner Konformationsumwandlung verbundenen Struktur- und Energieänderungenzu berechnen.

Das größte Anwendungsgebiet der Kraftfeldrechnungen lag bislang in der Berech-nung von Strukturen und physikalischen Eigenschaften von Alkanen. Die Ringspan-nung der Cycloalkane und die Spannungsenergie von Polycyclen lassen sich mit hoherGenauigkeit berechnen. Auch für Alkene werden gute Ergebnisse erzielt, wennman Konjugationseffekte in geeigneter Weise berücksichtigt. Bei Heteroatomen wieStickstoff und Sauerstoff bereiten die Abstoßungspotentiale der freien Elektronen-paare für direkt gebundene Atome beträchtliche Schwierigkeiten, die insbesonderedann der Methode eine Grenze setzen, wenn das untersuchte Molekül mehreresolcher Atome enthält.

Liegt jedoch für das jeweilige Problem zuverlässiges experimentelles Datenmate-rial vor, so kann Gl. (5-11) über entsprechende Modifikationen und Zusatzpotentialeangepaßt werden. Schwierig wird es, wenn Moleküle behandelt werden sollen, fürdie geeignete experimentelle Daten fehlen. Hierzu gehören z. B. die meisten Systememit Bindungen zwischen zwei Heteroatomen.

Wegen der letztlich doch fragwürdigen theoretischen Basis der molecular mecha-nics - für Moleküle ist nicht die klassische, sondern die Quantenphysik zuständig -sollte man stets überprüfen, ob die untersuchten Moleküle sich innerhalb des für dieParameterisierung der Potentialfunktionen verwendeten Datenmaterials befinden.Extrapolationen können allenfalls qualitativen Wert besitzen. Hier sollte man quan-tenmechanische Berechnungen vorziehen.

Neuere Anwendungen der Molekül-mechanischen Berechnungen erstrecken sichauf die Stereochemie von Reaktionen und auf die Einflüsse zwischenmolekularerEffekte z. B. im kristallinen Zustand.

Beispiel 5-6 1-Methyl-l-phenylcyclohexan:

Eine Phenylgruppe bevorzugt an einem Cyclohexanring normalerweise die äquatoriale Stellung(s. Abschn. 7.5). Und zwar ist der Energieunterschied gegenüber der axialen Lage mit 12.6 kJ/molwesentlich größer als derjenige einer Methylgruppe (6.7 kJ/mol). Im 1-Methyl-l-phenylcyclohexansteht jedoch nicht die Methyl-, sondern die Phenylgruppe axial. Dieser überraschende Befundkonnte durch Molekül-mechanische Rechnungen aufgeklärt werden. Dabei zeigte sich, daß fürdie Phenylgruppe in beiden Stellungen zwei verschiedene Orientierungen zu berücksichtigen sind.Entweder liegt der Benzolring mit der geminalen C1—Me-Bindung in einer Ebene (parallel), oderer steht senkrecht zu ihr. Die in Frage kommenden vier Konformationen sind nachstehend zusammenmit den berechneten Energiewerten aufgeführt (Allinger und Tribble, 1971).

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5.4 Methoden der Konformationsanalyse 131

CH3

äquatorial-senkrecht3.8 kJ/mol

äquatorial-parallel8.6 kJ/mol

axial-senkrecht0.0 kJ/mol

axial-parallel26.9 kJ/mol

Man erkennt, daß die axial-senkrechte Anordnung der Phenylgruppe am günstigsten ist.

Weiterführende und ergänzende Literatur zu Kapitel 5

Dale J. (1978): Stereochemie und Konformationsanalyse. Verlag Chemie, Weinheim.Eliel E. L., Allinger N. L., Angyal S. J. und Morrison G. A. (1965): Conformational Analysis. Wiley-Interscience, New York.Eliel E. L. (1966): Stereochemie der Kohlenstoffverbindungen. Verlag Chemie, Weinheim.Eliel E. L. (1977): Grundlagen der Stereochemie. 2. Aufl., Birkhäuser Verlag, Basel.Hanack M. (1965): Conformation Theory. Academic Press, New York.Kagan H.B. (1977): Organische Stereochemie. Georg Thieme Verlag, Stuttgart.Kagan H.B. (1977): Stereochemistry - Fundamentals and Methods. 3 Bde, Georg Thieme Verlag,Stuttgart.Lister D. G., Macdonald J.N und Owen N. L. (1978): Infernal Rotation and Inversion. AcademicPress, London.Mislow K. (1967): Einführung in die Stereochemie. Verlag Chemie, Weinheim.Natta G. und Farina M. (1976): Struktur und Verhalten von Molekülen im Raum. Eine Einführungin die Stereochemie. Verlag Chemie, Weinheim.Nogradi M. (1981): Stereochemistry, Basic Concepts and Applications. Pergamon Press, Oxford.Orville-Thomas W.J. (Hrsg.) (1974): Infernal Rotation in Molecules. Wiley, London.Pullman B. (Hrsg.) (1976): Quantum Mechanics of Molecular Conformations. Wiley-Interscience,London.Ramsay O. B. (1981): Stereochemistry. Heyden, London (Geschichte der organischen Stereochemie).Testa B. (1983): Grundlagen der Organischen Stereochemie. Verlag Chemie, Weinheim.

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