Sturzprophylaxe Vorsicht, Stufe! · Programm soll gewährleisten, dass alle Heimbewohner, also...

6
Vorsicht, Stufe! Sturzprophylaxe

Transcript of Sturzprophylaxe Vorsicht, Stufe! · Programm soll gewährleisten, dass alle Heimbewohner, also...

Page 1: Sturzprophylaxe Vorsicht, Stufe! · Programm soll gewährleisten, dass alle Heimbewohner, also nicht nur diejenigen, die am Training teilnehmen, in irgend-einer Weise profitieren.

Vorsicht, Stufe!Sturzprophylaxe

Page 2: Sturzprophylaxe Vorsicht, Stufe! · Programm soll gewährleisten, dass alle Heimbewohner, also nicht nur diejenigen, die am Training teilnehmen, in irgend-einer Weise profitieren.

Ausgabe 6/09, 12. Jahrgang 25

tolpern, Stürzen, Knochenbruch: Fast jeder hat einenälteren Verwandten oder Bekannten, dem diesesSchicksal schon einmal widerfahren ist. Viele Senio-

ren brauchen nach solch einem Unfall im Alltag langfristigHilfe. Denn nach einem Klinikaufenthalt und dem Einsatzeines künstlichen Gelenks kommt manch ein Hochbetagternicht mehr richtig auf die Beine. Etwa ein Drittel der über65-Jährigen stürzt mindestens einmal pro Jahr. In Risiko-gruppen wie den Bewohnern von Alten- und Pflegeheimenliegt die jährliche Sturzrate sogar bei mehr als 50 Prozent.Dennoch sind die Gefahren und Probleme, die mit Stürzenverbunden sind, in ihrem Ausmaß nur wenigen bewusst.

Zum einen sind davon überwiegend alte und sehr alteMenschen betroffen, die nicht gewohnt oder nicht mehr inder Lage sind, ihre Interessen zum Ausdruck zu bringen. Zumanderen sprechen die Betroffenen nicht gern über Stürze undihre Angst, erneut zu stürzen. Der damit verbundene Kontroll-verlust wird als ein tiefgreifender Einschnitt in die Autonomieerlebt. Hinzu kommt, dass noch immer zu wenige Ärzte ihreälteren Patienten auf mögliche Stürze ansprechen.

Folgekosten in Milliardenhöhe. Besonders problematisch und fürdie Kranken- und Pflegeversicherung relevant sind die weit-reichenden Folgen von Stürzen: Jeder zehnte führt zu behand-lungsbedürftigen Verletzungen. Die Hälfte davon sind Knochen-brüche, typischerweise an Oberarm, Unterarm und Becken.Die von der Häufigkeit und ihren Folgen her wichtigsten Ver-letzungen sind Hüftfrakturen (hüftnahe Knochenbrüche desOberschenkels). Ein Beispiel hierfür ist der Bruch des Ober-schenkelhalses. Hüftfrakturen treten jährlich bei mehr als100.000 Bundesbürgern auf und sind häufig mit dem Verlustder Selbstständigkeit verbunden.

Die Kosten, die in Deutschland allein für die medizinischeBehandlung von Verletzungen der Hüfte anfallen, betragen

nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bis zu zwei Mil-liarden Euro pro Jahr. Da sturzbedingte Verletzungen vor allembei sehr alten Menschen auftreten und die Zahl der Hoch-betagten deutlich zunehmen wird, könnten die Kosten alleinfür Hüftfrakturen bis ins Jahr 2050 auf sieben MilliardenEuro ansteigen – so eine Hochrechnung von Leipziger Gesund-heitsökonomen aus dem Jahr 2007 (siehe Kasten Lesetipps).

Vielfalt der Ursachen berücksichtigen. Das Risiko, zu fallenund dabei eine Hüftfraktur zu erleiden, steigt mit dem Alter.Zudem ist bei Bewohnerinnen von Pflegeheimen das Sturz-und Bruchrisiko deutlich höher, als in der weiblichen Gesamt-bevölkerung der gleichen Altersgruppe. Das zeigt eine aktuelleAuswertung von Daten der AOK Baden-Württemberg (sieheAbbildung „Hüftfrakturen: Häufiger im Heim“). Bei Männernist der beobachtete Unterschied sogar noch größer. Folglichsind sowohl weibliche als auch männliche Bewohner von Pflege-heimen als die Hochrisikopopulation schlechthin für Stürzeund sturzbedingte Verletzungen anzusehen.

Wenn Senioren Kraft und Balance trainieren,

sinkt die Gefahr, dass sie stürzen und sich

dabei schwerwiegende Verletzungen zuziehen.

Ulmer Wissenschaftler entwickelten deshalb

ein Sturzprophylaxe-Programm, das

inzwischen zahlreiche Pflegeheime umsetzen.

Von Kilian Rapp und Clemens Becker*

S

Hüftfrakturen: Häufiger im Heim

0

10

20

30

40

50

60

65-69 70-74 75-79 80-84 85-89 90-94 95+Alter

Hüftfrakturen pro 1.000 Personenjahre

Personenjahre: Wert

aus Zahl der beobach-

teten Personen und

dem Beobachtungs-

zeitraum (Bsp.: Wenn

2.000 Personen jeweils

über ein halbes Jahr

beobachtet werden,

entspricht dies 1.000

Personenjahren)

Bewohnerinnen von Pflegeheimen tragen ein deutlich höheres Risiko, sichdie Hüfte zu brechen (gelbe Balken) als Frauen der selben Altersgruppe inder Gesamtbevölkerung (blaue Balken).

Quelle: Rapp, Daten der AOK Baden-Württemberg

deutsche Bevölkerung (Frauen)

in Baden-Württemberg neu ins Pflegeheim

aufgenommene Bewohnerinnen

Foto

: Wer

ner

Krüp

er/B

lickw

eise

* Co-Autoren: Luzia Erhardt-Beer (AOK Baden-Württemberg), Regina Merk-Bäuml,

Ralf Brum, Johannes Laws-Hofmann und Otto Gieseke (alle AOK Bayern)

Page 3: Sturzprophylaxe Vorsicht, Stufe! · Programm soll gewährleisten, dass alle Heimbewohner, also nicht nur diejenigen, die am Training teilnehmen, in irgend-einer Weise profitieren.

Ausgabe 6/09, 12. Jahrgang

In einer Vielzahl von Studien konnten individuelle Faktorenidentifiziert werden, die zu Stürzen beitragen. Zu den wich-tigsten gehören die Muskelschwäche, Schwierigkeiten bei derKörperbalance, kognitive Einschränkungen, Harninkontinenzoder eine eingeschränkte Sehfähigkeit. Die überwiegende Zahlvon Pflegeheimbewohnern ist mit mindestens einem dieserRisikofaktoren belastet. Umgebungsbedingungen wie beispiels-weise Hindernisse oder ein nasser Fußboden können ebenfallseinen Sturz auslösen. Stürze haben aber in der Regel mehrereUrsachen. Deshalb führen Interventionen in Pflegeheimennur dann zu einer Senkung der Sturzhäufigkeit, wenn siemehrere Risikofaktoren in den Fokus nehmen.

Neue Strategien für die Intervention. Einen bisher noch nichtbekannten Risikofaktor konnten wir anhand von Pflegeheim-daten der AOK Baden-Württemberg beschreiben. So zeigtesich, dass das Risiko, eine Hüftfraktur zu erleiden, in den ers-ten Wochen nach Aufnahme ins Heim am höchsten war unddann auf etwa die Hälfte des Ausgangsrisikos abfiel. DiesesMuster wurde inzwischen durch Daten der AOK Bayern be-stätigt (siehe Abbildung „Neue Umgebung – mehr Stürze“). DieAnpassung an die neue Umgebung scheint also mit einem er-höhten Sturz- und Frakturrisiko einherzugehen – eine Erkennt-nis, die neue Interventionsstrategien ermöglicht.

Eine Studie mit Bewohnern von Ulmer Heimen zeigte be-reits im Jahr 2003 eindrucksvoll, dass durch entsprechendeMaßnahmen auch im Pflegeheim eine Verminderung vonStürzen möglich ist (siehe Kasten Lesetipps). In dieser Studiekonnte die Zahl der Stürze um 44 Prozent und die Zahl der

gestürzten Bewohner um 30 Prozent reduziert werden. Ver-schiedene AOKs haben das in der Studie eingesetzte Sturz-präventionsprogramm in modifizierter Form übernommen(siehe Kasten AOK-Beispiele). Allein in Baden-Württembergund Bayern wurde das Programm seit 2003 beziehungsweise2007 in rund 1.400 Pflegeheimen umgesetzt.

Schulung durch heimeigene Kräfte. Das Sturzprophylaxe-Pro-gramm schließt das gesamte Umfeld von Heimbewohnern ein.Im Zentrum steht ein Kraft- und Balancetraining (siehe Re-portage auf Seite 28/29), das zweimal pro Woche stattfindet(jeweils eine Stunde). Daran teilnehmen können grundsätz-lich alle im Pflegeheim lebenden Frauen und Männer, die mitUnterstützung stehen können. Die Übungen sind auch fürkognitiv eingeschränkte Bewohner geeignet.

Nach einem halben Jahr geht die Leitung der Gruppen vonexternen Trainern auf heimeigene Mitarbeiter über. Um eineTrainingsgruppe leiten zu können, ist eine eintägige Fortbil-dung erforderlich. Außerdem lässt jedes Heim ein oder zweiMentoren schulen, die in der Einrichtung die Aufgabe vonMultiplikatoren wahrnehmen.

Weitere Elemente des Programms sind eine Anpassung derUmgebung wie zum Beispiel eine Optimierung der Lichtver-hältnisse, die Installation von Bewegungssensoren oder dasAnbringen von Haltegriffen. Bestimmte Medikamente wiebeispielsweise Schlafmittel erhöhen die Sturzgefahr. Das Pro-gramm sieht deshalb vor, dass Pflegekräfte die Gabe dieserMedikamente hinterfragen und gegebenenfalls mit den be-handelnden Hausärzten über die Medikation sprechen. Beibesonders sturzgefährdeten Personen wird außerdem das Tragenvon Hüftprotektoren empfohlen. Diese Spezial-Hosen ent-halten Schalen oder Polster, die bei einem Sturz den großenRollhügel des Oberschenkelhalses schützen. Jedes Heim erhältim Rahmen des Programms ein Test-Kit mit Hüftprotektoren.Eine Kostenübernahme für die Protektoren ist bis jetzt aller-dings nicht möglich.

Alle am Projekt beteiligten Heime sind verpflichtet, jedenSturz zu dokumentieren und der AOK zu melden. Dadurchwerden die Mitarbeiter der Heime angehalten, jeden Sturz-hergang zu reflektieren, um gegebenenfalls Konsequenzen darausziehen zu können.

Präventionsprogramm wirkt. Eine Auswertung der Daten ausbayerischen Pflegeheimen zeigt, dass die Sturzpräventionwirkt. So verzeichneten die Mitarbeiter der insgesamt rund250 beteiligten Einrichtungen vor Beginn der Interventionim ersten Quartal 2007 fast 9.500 Stürze der Bewohner. Imdritten Quartal, nachdem das Präventionsprogramm umge-setzt worden war, sank die Zahl der gemeldeten Stürze aufrund 8.800. Sturzbedingte Arzt- und Krankenhauskontaktewurden im dritten Quartal seltener gemeldet als vor Beginndes Programms. Vergleichbare Ergebnisse fanden sich in Ba-den-Württemberg. Auch die Juroren des Bayerischen Ge-sundheitsförderungs- und Präventionspreis 2007 überzeugtedas Konzept: Die AOK Bayern belegte mit dem Projekt„Sturzprävention in vollstationären Pflegeeinrichtungen“ den2. Platz des Wettbewerbs. Die AOK Baden-Württemberg er-

26

Neue Umgebung – mehr Stürze

0

20

40

60

80

100Hüftfrakturen pro 1.000 Personenjahre

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12Monate nach Aufnahme ins Heim

Kurz nach dem Umzug ins Heim ist das Risiko, zu stürzen und sich die Hüftezu brechen, am höchsten. Die Auswertung von Daten der AOK Bayern zeigt,dass die Hüftfrakturrate bei zwischen 2001 und 2006 neu ins Pflegeheimaufgenommenen Frauen im ersten Monat nahezu doppelt so hoch war, wiegegen Ende des ersten Jahres. Quelle: Rapp, Daten der AOK Bayern

Frauen (zwischen 2000 und 2006 ins Heim eingezogen)

Männer (zwischen 2000 und 2006 ins Heim eingezogen)

n = 93.424

Page 4: Sturzprophylaxe Vorsicht, Stufe! · Programm soll gewährleisten, dass alle Heimbewohner, also nicht nur diejenigen, die am Training teilnehmen, in irgend-einer Weise profitieren.

Ausgabe 6/09, 12. Jahrgang

hielt im Jahr 2005 den „Qualitätsförderpreis GesundheitBaden-Württemberg“.

Seit 2008 wird ein „Newsletter Sturzprävention“ an die ambayerischen Programm beteiligten Heime versandt. Damithaben die Heime zeitnah Zugang zu aktuellem Wissen undneuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Sturzprävention.Die bisher erschienenen Ausgaben des „Newsletters Sturz-prävention“ sind über die Homepage der AOK Bayern auchder Öffentlichkeit zugänglich (siehe Kasten AOK-Beispiele).

Lebensqualität steigt. Das auf verschiedenen Ebenen ansetzendeProgramm soll gewährleisten, dass alle Heimbewohner, alsonicht nur diejenigen, die am Training teilnehmen, in irgend-einer Weise profitieren. Das Programm hat zwar primär eineSenkung der Zahl der Stürze zum Ziel – es erschöpft sich inseiner Wirkung aber nicht darin. Senioren, die am Trainingteilnehmen, erleben eine Zunahme ihrer körperlichen Fertig-keiten, ihrer Mobilität und damit auch ihrer Selbstständig-keit. Außerdem macht das Üben in der Gruppe Spaß. Auchviele Mitarbeiter berichten, dass sie ihre Rolle als Mentorinoder Trainerin als eine Bereicherung ihrer Arbeit empfinden.Das Sturzprophylaxe-Programm der AOK trägt damit zueiner Steigerung der Lebensqualität im Pflegeheim bei.

Programm umfassend analysieren. Das Bundesministeriumfür Bildung und Forschung ermöglicht es uns, die landesweiteVerbreitung des Programms in Bayern genauer zu analysieren.Dabei wollen wir wissen, ob das Programm in der Lage ist,nicht nur Stürze, sondern auch die Rate an Hüftfrakturen zusenken. Außerdem untersuchen wir derzeit die Teilnahme amTraining und die Kosten des Programms.

Es ist zu erwarten, dass das Thema Sturzprävention im sta-tionären Pflegealltag in Zukunft einen festen Platz einnehmenwird. Anders sieht es derzeit noch im ambulanten Bereichaus. Hier sind große Anstrengungen notwendig, um sturzge-fährdeten älteren Menschen ein ähnlich gutes Netz an Präven-tionsleistungen bieten zu können, wie das im stationären Bereichschon jetzt der Fall ist. √

PD Dr. med. Clemens Becker leitet die Klinik für geriatrische Rehabilitation

am Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart. Dr. med. Kilian Rapp, MPH, ist

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart und

am Institut für Epidemiologie der Universität Ulm.

Kontakt: [email protected]

Lese- und Webtipps

• www.dnqp.de/ExpertenstandardSturzprophylaxe.pdf Auszug aus demNationalen Expertenstandard Sturzprophylaxe, Osnabrück 2005.• C. Becker, U. Lindemann, U. Rissmann, A. Warnke: Sturzprophylaxe – Sturz-gefährdung und Sturzverhütung in Pflegeheimen. Vincentz Verlag, 2006.• A. Konnopka, N. Jerusel, HH. König: The Health and Economic Consequencesof Osteopenia and Osteoporosis Attributable Hip Fractures in Germany –Estimation for 2002 and Projection until 2050. Epub, Dezember 2008.• C. Becker, M. Kron, U. Lindemann, E. Sturm, B. Eichner, B. Walter-Jung, T.Nikolaus: Effectiveness of a multifaceted intervention on falls in nursinghome residents. J Am Geriatr Soc. 2003 Mar;51(3):306-13.

Seit 2007 setzt die AOK Niedersachsen das Projekt „Aktiv bleiben im Pflegeheim“um. Neun Präventionsfachkräfte der AOK schulen geeignete Mitarbeiter der am Pro-jekt beteiligten Pflegeheime. In Eigenverantwortung der Heime leiten diese Mitar-beiter die Heimbewohner regelmäßig im Balance- und Krafttraining zur Sturzpräven-tion an. Insgesamt sollen Pflegefachkräfte aus rund 1.200 Heime geschult werden.www.aok-gesundheitspartner.de –> Niedersachsen –> Pflege –> Sturzprävention

Bei der AOK Berlin besteht das Angebot „Aktiv bleiben im Pflegeheim“ seit Juli2006. Es nehmen 55 Pflegeeinrichtungen mit insgesamt rund 7.000 Plätzen undacht Seniorenwohnhäuser teil. Bisher fanden 13 Schulungen für Trainer mit insge-samt rund 250 Teilnehmern statt, sowie zehn Schulungen für Pflegekräfte zur Um-setzung des Expertenstandards „Sturzprophylaxe in der Pflege“ und zu Inhalten desProjekts. Die Zahl der hüftnahen Frakturen reduzierte sich über alle Einrichtungenum 50 Prozent. Die Klinikeinweisungen reduzierten sich um 30 Prozent.

Bei der AOK Mecklenburg-Vorpommern startete das Projekt „Sturzprävention in sta-tionären Pflegeeinrichtungen“ im April 2008. Derzeit nehmen 54 Heime mit über5.000 Bewohnern teil. Ab August 2009 wollen weitere 40 Heime einsteigen. Pro Heimgibt es einen Mentor, einen Trainer und mindestens einen Co-Trainer. Innerhalb vonneun Monaten sank die Zahl der Stürze um durchschnittlich ca. fünf je 100 Bewohner.Kooperationspartner: Bildungsinstitut für Gesundheits- und Sozialberufe in Stralsund.

Die AOK Hessen betreibt „Aktiv bleiben im Pflegeheim“ von Anfang April 2008 bisEnde März 2011 als Modellprojekt im Werra-Meißner-Kreis. Beteiligt sind fünf Pflege-einrichtungen mit insgesamt 475 Plätzen. Im Juni 2008 fanden die Mentoren- undTrainerschulungen statt. Bis Dezember 2008 wurde das Kraft- und Balancetrainingin den Heimen implementiert, die es seit Anfang 2009 in Eigenregie umsetzen.

Den Piloten startete die AOK Baden-Württemberg 2002 in 15 Pflegeheimen so erfolg-reich, dass das Projekt „Sturzprävention – aktiv bleiben im Pflegeheim“ noch immerausgeweitet wird – bis einschließlich 2010 läuft die Planung. Bisher nahmen 716Heime mit mehr als 58.000 Plätzen an Mentoren- und Trainerschulungen teil. Nebendem Geriatrischen Zentrum Ulm und der Ger. Rehaklinik am RBK Stuttgart sind die Ge-riatrischen Schwerpunkte in Freiburg, Heidelberg und Karlsruhe Kooperationspartner.

Die AOK Bayern beteiligt in den Jahren 2007, 2008 und 2009 insgesamt mehr als750 Pflegeeinrichtungen an „Sturzprävention im Setting vollstationäre Pflegeeinrich-tungen“, schulte über 850 Mentoren, qualifizierte rund 700 Kursleiter und etwa1.000 Co-Trainer. 2010 sollen weitere 250 Einrichtungen in das Projekt aufgenommenwerden. www.aok-gesundheitspartner.de –> Bayern –> Pflege –> Sturzprävention

Die AOK Brandenburg hat im November 2007 mit ersten Schulungen zum „Bran-denburger Konzept zur Sturzprävention in stationären Pflegeeinrichtungen“ begon-nen. Bisher haben aus 61 Einrichtungen jeweils ein Mentor und zwei Trainingsgrup-penleiter Schulungen und Supervision erhalten. Davon profitieren insgesamt etwa7.100 Bewohner. www.aok-brandenburg.de –> Pflege –> Pflegeinitiative Branden-burg –> Sicher bewegen im Pflegeheim

Die AOK Sachsen-Anhalt setzt im Rahmen der Qualitätssicherung der Pflegeversi-cherung seit Anfang 2006 in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Präventionim Alter (PiA, angesiedelt an der Hochschule Magdeburg-Stendal) das Projekt„Sturzprophylaxe in stationären Pflegeeinrichtungen in Sachsen-Anhalt“ um. PiAvermittelt den Einrichtungen ein praxisnahes Programm zur Verringerung von Stür-zen und schult Mitarbeiter für die Anleitung zu einem Balance- und Krafttraining derBewohner. Insgesamt haben bisher über 60 Pflegeeinrichtungen teilgenommen.

Die AOK Westfalen-Lippe und die AOK Rheinland/Hamburg beteiligen sich an der vonallen gesetzlichen Krankenkassen mitgetragenen Landesinitiative „Sturzprophylaxe“in Nordrhein-Westfalen. Darin werden Pflegeheime mit einem Zertifikat ausgezeichnet,die in Eigeninitiative etwas zur Sturzprophylaxe ihrer Bewohner tun.

Die AOK Rheinland/Hamburg wird im Jahr 2009 ein spezielles Setting-Angebot zurSturzprophylaxe in Pflegeeinrichtungen umsetzen. Hauptbestandteil des Projektesist eine Multiplikatorenschulung für ein Kraft-Balance-Training, die von Fachkräftendes AOK-Instituts für Betriebliche Gesundheitsförderung geleitet wird.

Mehrere AOKs bieten ihren Versicherten zudem ambulante Sturzprophylaxe an.

AOK-Beispiele

Page 5: Sturzprophylaxe Vorsicht, Stufe! · Programm soll gewährleisten, dass alle Heimbewohner, also nicht nur diejenigen, die am Training teilnehmen, in irgend-einer Weise profitieren.

Ausgabe 6/09, 12. Jahrgang

chrittstellung. Hände auf die Oberschenkel. Und jetzthoch mit viel Schwung“, ruft Ute Conrad in die Runde.Als alle stehen, lächelt die Trainerin und beginnt mit

der ersten Übung: Gewichtsverlagerung vom rechten auf daslinke Bein. Zuerst stützen die Teilnehmer beide Hände aufeine Stuhllehne, dann nur noch eine Hand und am Schlussstehen sie freihändig. „Und nun mit geschlossenen Augen“,lautet Ute Conrads Anweisung.

Sturzprophylaxe-Training im „Haus der Senioren“ desDeutschen Roten Kreuzes in Oberstdorf. Die Teilnehmer –heute sieben Frauen und ein Mann im Alter zwischen über 70bis knapp 90 Jahren – treffen sich zweimal pro Woche. EineStunde lang trainieren die Senioren Kraft und Gleichgewicht.Das soll den Bewohnern des Seniorenheims helfen, Stürze zuvermeiden.

Mit zunehmendem Alter steigt das Sturzrisiko. In Alten-und Pflegeheimen ist die Gefahr besonders hoch. Viele Stürzeziehen Frakturen an Arm, Bein und Becken nach sich. Oft istmit einem Sturz der Verlust der Selbstständigkeit verbunden.

Verantwortung für chronisch Kranke. Dr. Clemens Becker vonder Klinik für geriatrische Rehabilitation des Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart konnte in einer Studie nachwei-sen, dass ein Präventionsprogramm die Zahl der Stürze um 44 Prozent verringert. Mehrere AOKs haben daher das Sturz-präventionsprogramm von Clemens Becker in modifizierterForm übernommen (siehe Kasten „AOK-Beispiele“ auf Seite27). Das Haus der Senioren in Oberstdorf ist eines der über700 Pflegeheime in Bayern, die sich seit Januar 2007 an demProjekt beteiligen. „Wir wollen mit diesem Programm dieZahl der Stürze und die Sturzfolgen reduzieren und damit dieGesundheit und Lebensqualität der Heimbewohner verbes-sern“, sagt Regina Merk-Bäuml, die bei der AOK Bayern fürdas Projekt zuständig ist. Zudem könne man mit dem Pro-gramm die rechtlichen Anforderungen des Pflegeweiterent-wicklungsgesetzes unterstützen. „Wir helfen den Einrichtun-gen und zeigen damit unsere Verantwortung für chronischkranke, multimorbide und pflegebedürftige Menschen“, sodie AOK-Expertin.

28

Mit einem speziellen Kraft- und Balancetraining beugen Bewohner einer Pflegeeinrichtung in Oberstdorf Knochenbrüchen vor. Die Übungen sind Teil des Sturzprophylaxe-Programms derGesundheitskasse. Oliver Häußler hat zugeschaut, wie die Senioren ihre Muskeln stärken.

Hanteltraining im SeniorenheimReportage

S

Page 6: Sturzprophylaxe Vorsicht, Stufe! · Programm soll gewährleisten, dass alle Heimbewohner, also nicht nur diejenigen, die am Training teilnehmen, in irgend-einer Weise profitieren.

Ausgabe 6/09, 12. Jahrgang

Mobilität erhalten. Inzwischen werfen sich die Senioren kleineStoffsäckchen zu. Sie müssen dabei den Namen des Partnersnennen, der das Säckchen fängt. Diese Übung schult Koordi-nation, Konzentration und Gedächtnis. Sie fördert auch dieKommunikation unter den Bewohnern.

Langsam kommen die Senioren ins Schwitzen. Bei derÜbung „Treppensteigen“ wird die Oberschenkelmuskulaturtrainiert. Ute Conrad befestigt individuell angepasste Ge-wichtsmanschetten an den Unterschenkeln der Teilnehmer.Die Manschetten dürfen nicht zu leicht sein, damit ein Trai-ningseffekt eintritt, aber auch nicht zu schwer, damit die Teil-nehmer die drei Einheiten mit je 20 Stufen pro Bein schaffenkönnen. „Wir bieten zwar auch Gymnastikstunden an. Aberdas Kraft- und Balancetraining stärkt gezielt die Muskulatur,die für die Mobilität wichtig ist. Dazu gehört die Muskulaturvon Schulter, Arm, Gesäß, Unterschenkel, Oberschenkel undWaden“, sagt Ute Conrad. Die 47-jährige Motopädin undEntspannungspädagogin ließ sich von der AOK als Trainerin fürSturzprophylaxe ausbilden. Im Haus gibt es noch eine weitereTrainerin und mehrere Co-Trainer.

„Wir sorgen in unserer Einrichtung schon seit neun Jahrenfür Sturzprophylaxe, seit zwei Jahren nach dem Modell derAOK“, sagt Gunnar Dabelstein, der die Pflegedienstleitungim Haus der Senioren inne hat. „Die Zahl der Stürze ist beiuns merklich zurückgegangen“, so Dabelstein. Das ist nichtnur auf das Krafttraining zurückzuführen, sondern auch aufweitere Ansätze des Programms. So werden die Senioren nachEinzug ins Haus im Rahmen der Sturzprävention gezielt andie neue Umgebung gewöhnt. Der Toilettengang wird ebensogeübt wie das Aufstehen vom höheren Bett und das Betätigender Lichtschalter und Klingelknöpfe.

Vom Rollstuhl zum Rollator. „Welche Übung wollt Ihr jetztmachen?“, fragt Ute Conrad. „Fensteröffnen“, wünscht sichVeronika Strohbel. Beim „Fensteröffnen“ nehmen die Senioreneine Hantel in die Hand und strecken sie mit angewinkeltemEllenbogen von der Körpermitte her nach außen. Das stärktdie Oberarm- und Schultermuskulatur. Veronika Strohbel istvon Anfang an beim Training dabei. Die 88-Jährige hat sichdadurch vom Bett über den Rollstuhl bis hin zum Rollatorvorgearbeitet. Mit dem Gehwagen konnte sie sich relativ selbst-ständig im Haus bewegen. Vor ein paar Tagen musste sie aller-dings einen Rückschritt verbuchen. Beim Zuziehen der Vor-hänge schaute sie nach oben. Ihr wurde schwindelig und siefiel nach hinten. „Ohne das Training hätte sie sich sicher etwasgebrochen“, vermutet Ute Conrad.

Zurzeit muss Veronika Strohbel zwar wieder im Rollstuhlsitzen, aber da will die Seniorin so schnell wie möglich wiederraus. Für die Oberstdorferin sind die zwei Trainingseinheitennicht mehr aus ihrem Alltag wegzudenken. „Ich fühle michgut. Ich bin dadurch immer noch gelenkig. Ich fühle mich sicher.Im Laufen. Im Stehen. Überall“, sagt Veronika Strohbel.

In der Gruppe Spaß haben. „Auslockern. Tasten, ob der Stuhlnoch da ist. Dann könnt Ihr Euch hinsetzen.“ Mit der Übung„Schauen in Nachbars Garten“, bei der sich die Teilnehmer sohoch wie möglich auf ihre Zehenspitzen stellen, ist das Trai-

ning vorbei. Bei der abschließenden Reflexionsrunde soll je-der sagen, wie er die Übungen empfunden hat und ob es Pro-bleme gab. Ute Conrad protokolliert die Angaben und ihreeigenen Beobachtungen, um diese gegebenenfalls an die Pflege-kräfte weiterzugeben und um die individuellen Trainings-pläne anzupassen.

Bei der Abschlussrunde ist die Stimmung ausgelassen. FürUte Conrad ist das typisch. Das Trainieren von Kraft, Beweg-lichkeit und Gleichgewicht ist für sie zwar zentrales Ziel derÜbungen. Ebenso wichtig ist ihr aber die psychische Kompo-nente. „Die Leute werden aus ihrem Alltagstrott herausgeholtund haben hier in der Gruppe Spaß“, sagt Ute Conrad. Zudemerleben die Teilnehmer, wie sie durch das Training in ihremAlltag mobiler und selbstständiger werden. „Das ist einfach einStück mehr Lebensqualität.“ √

Oliver Häußler ist freier Journalist. Kontakt: [email protected]

29

Die Hantelübung heißt „Fensteröffnen“ (Foto linke Seite), mit denFußmanschetten (Foto oben) bauen die Heimbewohner in Oberst-dorf ihre Beinmuskulatur auf. Das Kraft- und Balancetraining steigertnicht nur die Standfestigkeit, sondern auch die Lebensfreude.

Foto

s: O

liver

Häu

ßler