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www.stv-online.de StV STRAFVERTEIDIGER REDAKTION RA Prof. Dr. Bj�rn Gercke Prof. Dr. Matthias Jahn RA Dr. habil. Helmut Poll�hne Heft 3 M�rz 2017 Seiten 141 – 212 37. Jahrgang Art.-Nr. 07764703 PVSt 20232 3 AUS DEM INHALT Bundesverfassungsgericht Anwaltliche Schm�hkritik Bundesgerichtshof Befangenheit bei Verteidigerbestellung trotz konkreter Interessenkonflikte zu Verteidigern von Mitangeklagten Sachaufkl�rungspflicht bei Aktenein- sichtsgew�hrung an Verletzten Akteneinsicht durch die Nebenklage und Beweisw�rdigung Deiters Oberlandesgerichte Hamburg Notwendige Verteidigung bei anwaltli- chem Beistand auf Kosten des Verletzten Beulke/Sander Akteneinsichtsgesuch und Parteiverrat KG R�cknahme der Pflichtverteidiger- bestellung Koblenz Verlesung von Erkl�rungen des Ange- klagten gegen�ber seinem Verteidiger Naumburg Einvernehmlicher Wechsel des Pflicht- verteidigers Landgerichte Bochum Beschlagnahmeschutz und Ombudsmann Dresden Unt�tigkeitsbeschwerde gegen Nicht- bescheidung eines Beiordnungsantrags Hanau Ausschließung des Zeugenbeistands Ahlbrecht Kiel Parteiverrat K�ln Notwendige Verteidigung bei in Betracht kommendem Beweisverwertungsverbot Amtsgerichte Frankfurt/M. Befangenheit wegen verweigerter Akten- einsicht K�ln Befangenheit wegen Verletzung recht- lichen Geh�rs Aufs�tze Stefan K�nig Konfliktverteidigung? Konfliktverteidi- gung! Sven Schoeller Von der Istbeschaffenheit der Pflichtver- teidigerbeiordnung – Aus einer akten- analytischen Studie zur Beiordnung von Pflichtverteidigern Rainer Buchert/Christoph Buchert Privilegien anwaltlicher Ombuds- personen im Strafverfahren Dokumentation »Stuttgarter Fr�chte« Zeitschriften Strafverteidigung Akteneinsicht Befangenheit Probeabo-Angebot hier klicken und bestellen! Hefte 5 und 6/2017 kostenlos.

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www.stv-online.de

StVSTRAFVERTEIDIGER

REDAKTION

RA Prof. Dr. Bj�rn GerckeProf. Dr. Matthias JahnRA Dr. habil. Helmut Poll�hne

Heft 3M�rz 2017Seiten 141 – 21237. JahrgangArt.-Nr. 07764703

PVSt 20232 3

AUS DEM INHALT

BundesverfassungsgerichtAnwaltliche Schm�hkritik

BundesgerichtshofBefangenheit bei Verteidigerbestellungtrotz konkreter Interessenkonflikte zuVerteidigern von Mitangeklagten

Sachaufkl�rungspflicht bei Aktenein-sichtsgew�hrung an Verletzten

Akteneinsicht durch die Nebenklageund Beweisw�rdigung Deiters

OberlandesgerichteHamburgNotwendige Verteidigung bei anwaltli-chem Beistand auf Kosten des VerletztenBeulke/Sander

Akteneinsichtsgesuch und Parteiverrat

KGR�cknahme der Pflichtverteidiger-bestellung

KoblenzVerlesung von Erkl�rungen des Ange-klagten gegen�ber seinem Verteidiger

NaumburgEinvernehmlicher Wechsel des Pflicht-verteidigers

LandgerichteBochumBeschlagnahmeschutz und Ombudsmann

DresdenUnt�tigkeitsbeschwerde gegen Nicht-bescheidung eines Beiordnungsantrags

HanauAusschließung des ZeugenbeistandsAhlbrecht

KielParteiverrat

K�lnNotwendige Verteidigung bei in Betrachtkommendem Beweisverwertungsverbot

AmtsgerichteFrankfurt/M.Befangenheit wegen verweigerter Akten-einsicht

K�lnBefangenheit wegen Verletzung recht-lichen Geh�rs

Aufs�tzeStefan K�nigKonfliktverteidigung? Konfliktverteidi-gung!

Sven SchoellerVon der Istbeschaffenheit der Pflichtver-teidigerbeiordnung – Aus einer akten-analytischen Studie zur Beiordnung vonPflichtverteidigern

Rainer Buchert/Christoph BuchertPrivilegien anwaltlicher Ombuds-personen im Strafverfahren

Dokumentation»Stuttgarter Fr�chte«

Zeitschriften

StrafverteidigungAkteneinsichtBefangenheit

WKD/StV, Ausgabe 03/2017 #8790 03.02.2017, 10:38 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Umschlag.3d [S. 1/4] 3

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WKD/StV, 03/2017 #8790 03.02.2017, 10:22 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Roemer.3d [S. 1/14] 4

StV 3 . 2017 I

Effektivit�t bestimmt das Handeln

»Bundeskabinett beschließt Effektivierung des Strafverfahrens« (Pressemitteilung desBMJV vom 14.12.2016): Effektivit�t meint hier in erster Linie die Schonung knapper justi-zieller Ressourcen. Dieser Gedanke blitzt bereits gelegentlich im Strafverfahren auf, etwa inder Revision: Verwerfung von Revisionen beim BGH (regelm�ßig) nicht »mit zehn«, sondern»nur mit vier Augen« als unbegr�ndet ohne Begr�ndung (§ 349 Abs. 2 StPO). Man verl�sstsich blind auf den anderen. In der Instanz: »Verst�ndigung« �ber Rechtsfolgen, nur nicht»die Wahrheit« (§ 257c StPO). Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung »zur effektiverenund praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens« (BR-Drs. 796/16) beinhaltetfreilich und zum Gl�ck weitgehend Stagnation bei der Effektivit�tssteigerung sowie leiderkein tragf�higes Konzept zu einer strukturellen Reform des Strafprozesses.

Wissenschaftliche Experimente: Eine in 2014 eingesetzte Expertenkommission hat dieStPO in nur 15 Monaten durchforstet und effizient qua »Konzept Mehrheitsentscheid«Empfehlungen vorgelegt. Doch was n�tzen die am Ende? Sie bewirken im Wesentlichengeringf�gige Modifikationen isolierter Vorschriften ohne �bergreifendes dogmatischesKonzept, etwa: im Befangenheitsrecht, der DNA-Analyse (»Beinahe-Treffer«), der Pflicht-verteidigerbestellung, von § 153a StPO (Anwendbarkeit in der Revision), der polizeilichenZeugenvernehmung (Aussage- und Erscheinenspflicht bei Ladung im Auftrag der Staats-anwaltschaft). Das Bild des Strafprozesses wird dies kaum beeinflussen. Auch das (nur inUmfangverfahren vorgesehene) »opening-statement« der Verteidigung entspricht demschon bisher gelebten Prozessrecht.

Anderes gilt f�r das geplante Fristenmodell (§ 244 Abs. 6 S. 2 und 3 StPO-E), das die »Ef-fektivit�tsbremse« Beweisantragsrecht »l�sen« soll: Entscheidung �ber unentschuldigt ver-sp�tete Beweisantr�ge erst im Urteil. Offen bleibt, ob diese Regelung neben die Fristenl�-sung des BGH oder an deren Stelle treten soll. Eine Kombination beider »Modelle« w�reverheerend. Sie erm�glicht die Ablehnung unbedingter Beweisantr�ge wegen Verschlep-pungsabsicht erst im Urteil, wobei die Versp�tung zugleich den Ablehnungsgrund begr�n-det. Faktisch Pr�klusion.

Das Highlight der Reform wird deutlich relativiert. Die zun�chst weithin vorgesehenePflicht zu audiovisueller Aufzeichnung von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen imErmittlungsverfahren wird im Wesentlichen auf vors�tzliche T�tungsdelikte begrenzt. Die�berf�llige Verbesserung der Dokumentation des Inbegriffs der Hauptverhandlung warohnehin nicht vorgesehen. Dieser Anachronismus zementiert die Feststellungshoheit der»Tatrichter« und vereitelt weiterhin deren effektive Kontrolle.

Richtig verstanden beschreibt »Effektivit�t« den Grad der Zielerreichung, im Strafverfahrenalso der rechtsstaatlichen Erforschung des Sachverhalts und der Verwirklichung des mate-riellen Schuldprinzips. Hoheitlicher Strafanspruch und Verteidigungsrechte sind die beidenSeiten dieser Medaille. »Effektivierung« heißt daher nicht »Relativierung«. Geschw�chteVerfahrensrechte verst�rken die aus der andauernden �berlastung der Strafjustiz resultie-renden Gefahren noch und mindern die Effektivit�t des Strafverfahrens. »Effektivierung«erfordert die Erweiterung justizieller Ressourcen, etwa weitere Richterstellen, um Bundes-richtern auch in Strafsachen zu erm�glichen, diejenigen Urteile zu lesen, �ber deren Be-stand sie entscheiden, und ihre Entscheidungen zu begr�nden. Ein Gedanke, offenbar v�l-lig losgel�st von der (dieser) Erde.

Rechtsanwalt und Fachanwalt f�r Strafrecht Dr. J�rg Habetha, Freiburg i.Br.

Editorial

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StVSTRAFVERTEIDIGERINHALT 3 . 2017

Editorial I

Impressum V

Entscheidungen

Verfahrensrecht

BGH 2 StR 489/13 v. 11.06.2014

Befangenheit bei Verteidigerbestellung trotzkonkreter Interessenkonflikte zu Verteidigernvon Mitangeklagten 141

BGH 5 StR 48/16 v. 08.06.2016

Rechtzeitiges Anbringen eines Befangenheits-gesuchs 144

BGH 2 StR 475/15 v. 04.12.2015

Beiordnung eines Zeugenbeistands 144

BGH 3 StR 481/15 v. 23.02.2016

Befangenheit eines Sachverst�ndigen 144

BGH-ER 1 BGs 107/16 v. 27.10.2016

Auskunftsverlangen an Postunternehmen 145

BGH 5 StR 4/16 v. 05.04.2016

Sachaufkl�rungspflicht bei Akteneinsichtsgew�h-rung an Verletzten 146

BGH 5 StR 52/16 v. 15.03.2016

Akteneinsicht durch die Nebenklage und Beweis-w�rdigung m. Anm. Deiters 146

OLG Hamburg 1 Ws 160/15 v. 19.11.2015

Notwendige Verteidigung bei anwaltlichem Beistandauf Kosten des Verletzten m. Anm. Beulke/Sander 149

KG 2 Ws 122/16 v. 21.04.2016

Dauer der Pflichtverteidigerbeiordnung; R�cknahmeaus wichtigem Grund 153

KG 2 Ws 176/16 v. 06.07.2016

Beschwerde gegen die Bestellung eines weiterenPflichtverteidigers 155

KG 3 Ws 309, 310/16 v. 30.06.2016

R�cknahme der Pflichtverteidigerbestellung 156

OLG Naumburg 2 Ws (s) 2/16 v. 19.01.2016

Notwendigkeit der Verteidigung nach Strafmaßbe-rufung der StA 157

OLG K�ln 2 Ws 294-295/16 v. 09.05.2016

Pflichtverteidigung in der Strafvollstreckung, hier:Bew�hrungswiderruf 157

OLG Naumburg 1 Ws (s) 318/16 v. 29.09.2016

Einvernehmlicher Wechsel des Pflichtverteidigers 157

OLG K�ln 1 RBs 7/16 v. 20.01.2016

Zustellung an Rechtsanwalt 157

OLG Celle 1 Ws 415/16 v. 26.08.2016

Beschwerde der StA gegen richterliche Aktenein-sichtsentscheidungen 158

OLG Celle 2 Ws 114/16 v. 05.07.2016

Herausgabe von TK�-Aufzeichnungen; Beschwer-derecht der StA 160

OLG Hamburg 2 Ws 88/16 v. 27.05.2016

Beschwerde gegen Akteneinsichtsentscheidung desVorsitzenden 160

OLG Koblenz 2 OLG 4 Ss 54/16 v. 12.05.2016

Verlesung von Erkl�rungen des Angeklagten gegen-�ber seinem Verteidiger 166

OLG Naumburg 1 Rv 9/16 v. 07.06.2016

Verlesung von Vernehmungsprotokollen infolgekrankheitsbedingter Reiseunf�higkeit des Zeugen 167

KG 4 Ws 83/15 v. 02.10.2015

Anfechtbarkeit der Akteneinsicht an Verletzten 167

OLG Naumburg 1 VAs 2/16 v. 27.06.2016

�berlassung von Urteilen an Privatpersonen 168

OLG M�nchen 2 Ws 79/16 v. 27.01.2016

�berlassung eines Strafurteils an einen verfahrens-fremden Dritten 169

LG Koblenz 12 KLs 2090 Js 29752/10 v. 28.09.2015

Besorgnis der Befangenheit bei Besch�ftigung miteinem Mobiltelefon 169

LG Hanau 5 KLs 4424 Js 11790/12 v. 12.08.2015

Ausschließung des Zeugenbeistandsm. Anm. Ahlbrecht 169

LG Bochum 6 Qs 1/16 v. 16.03.2016

Beschlagnahmeschutz und Ombudsmann 171

LG K�ln 108 Qs 31/16 v. 19.07.2016

Notwendige Verteidigung bei in Betracht kommen-dem Beweisverwertungsverbot 173

LG Magdeburg 23 Qs 18/16 v. 11.10.2016

R�ckwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers 174

LG Zwickau 1 Qs 139/16; 140/16 v. 03.08.2016

Anh�rung vor Entpflichtung und Beiordnung einesanderen Pflichtverteidigers 174

LG Dresden 3 Qs 118/15 v. 07.12.2015

Unt�tigkeitsbeschwerde gegen Nichtbescheidungeines Beiordnungsantrags 174

LG D�sseldorf 022 Ns-70 Js 7769/14-153/15 v. 17.11.2015

Versagung der Akteneinsicht an Nebenklageberech-tigte 175

LG Cottbus 22 KLs 8/15 v. 19.01.2016

Akteneinsicht f�r »Verletzte« 175

LG Duisburg 7 S 61/15 v. 29.04.2016

Verg�tungsr�ckzahlungsanspruch des Mandanteneines Strafverteidigers 175

AG Frankfurt/M. 970 OWi 862 Js 65796/15 v. 07.03.2015

Befangenheit wegen verweigerter Akteneinsicht 178

WKD/StV, 03/2017 #8790 07.02.2017, 11:31 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Roemer.3d [S. 3/12] 5

StV 3 . 2017 III

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Inhalt

AG K�ln 612 AR 19/16 v. 02.03.2016 und 612 AR 33/16

v. 13.05.2016

Befangenheit wegen Verletzung rechtlichen Geh�rs 178

AG K�ln 612 AR 40/16 v. 17.05.2016

Befangenheit 178

AG M�nchen 821 Ls 257 Js 21598/12 v. 13.01.2014

Akteneinsicht des Verletzten 178

Strafrecht

BVerfG 1 BvR 2646/15 v. 29.06.2015

Anwaltliche Schm�hkritik 178

BVerfG 1 BvR 2150/14 v. 17.05.2016

Kollektivbeleidigung (A.C.A.B.) 180

BVerfG 1 BvR 2732/15 v. 29.06.2016

�ble Nachrede eines Polizisten betreffend 182

OLG M�nchen 5 OLG 13 Ss 244/16 v. 11.07.2016

Anwaltliche Schm�hkritik 183

OLG Hamburg 1 Rev 49/14 v. 16.12.2015

Akteneinsichtsgesuch und Parteiverrat 184

LG Kiel 1 Qs 41/16 v. 02.06.2016

Parteiverrat 187

Aufs�tze

Konfliktverteidigung? Konfliktverteidigung!Stefan K�nig 188

Von der Istbeschaffenheit der Pflichtverteidiger-beiordnung – Aus einer aktenanalytischen Studiezur Beiordnung von PflichtverteidigernSven Schoeller 194

Privilegien anwaltlicher Ombudspersonen imStrafverfahrenRainer Buchert/Christoph Buchert 204

Dokumentation

»Stuttgarter Fr�chte« 210

Zeitschriften

Auslese wichtiger Fachzeitschriftenbeitr�ge 210

Vorschau

Aus dem Inhalt der n�chsten Hefte:

Heiko Artk�mper DNA – Wissenschaft und Praxis eines (angeblich)objektiven Beweismittels – zugleich Anmerkung zu BGH, Urt. v.24.03.2016 – 2 StR 112/14; Aziz Epik Die Ber�cksichtigungaufenthaltsrechtlicher Folgen bei der Strafzumessung; RobertEsser/Felix Lubrich Anspruch des Verletzten auf StrafverfolgungDritter: Der Kunduz-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts;Andreas Gietl Der Zustellungsbevollm�chtigte im Strafbefehlsver-fahren gegen EU-Ausl�nder: Eine Betrachtung der Probleme nacheurop�ischem und nationalem Recht; Nils Godendorff Wider dieBeliebigkeit! F�r die Abschaffung des § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GVG –zugleich Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 06.10.2016 – 2 StR 330/16;Mayeul Hi�ramente/Andreas Pfister Datenerhebung beim Her-steller von Mobiltelefonen – Zum Erfordernis des Strukturwandelsbei der strafprozessualen Datenerhebung; Harald Hans K�rnerWo ein Wille ist, ist auch ein Weg: Ausnahmegenehmigungen nach§ 3 Abs. 2 BtMG – Chancen oder Risiken der Rechtspolitik? –; FrankMeyer Die selbstst�ndige Einziehung nach § 76a StGB-E, oder:Don’t bring a knife to a gunfight; Axel Nagler Entkriminalisierungf�r Fluchthelfer – ein Pl�doyer; Anna Oehmichen Verfassungs- undeuroparechtliche Grenzen der Auslieferung; Fabian Stam Die Da-tenhehlerei nach § 202d StGB – Anmerkungen zu einem sinnlosenStraftatbestand;

Stephan Beukelmann BGH, Beschl. v. 20.05.2015 – 4 StR 555/14(Ermittlung eines DNA-Identifizierungsmusters); Dominik Bro-dowski BGH, Beschl. v. 09.08.2016 – GSSt 2/15 u. 2 StR 495/12(Unzul�ssigkeit ungleichartiger Wahlfeststellung, hier: R�cknahme

einer Vorlage an den Großen Senat f�r Strafsachen); Robert EsserBVerfG, Beschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16 (Schweigerecht undVerfassungsbeschwerde); Jochen Goerdeler OLG Hamm, Beschl. v.04.06.2014 – III-1 Vollz Ws 378/14 (Haschischkonsum im Vollzugder Sicherungsverwahrung); Michael K�hne BVerfG, Beschl. v.20.05.2016 – 1 BvR 3359/14 (Menschenw�rdige Unterbringung);Julius Lantermann BGH, Beschl. v. 09.06.2016 – 2 StR 70/16(M�glichkeit der Verh�ngung einer Geldstrafe); Ole M�ckenber-ger/Christoph Buchert VerfGH Rhl.-Pf., Beschl. v. 30.06.2015 –VGH B 15/15 (Rechtsbeugung); Christian Rathgeber BGH, Beschl.v. 04.05.2016 – 3 StR 392/15 (Presserechtliche Verj�hrung); LeoTeuter BGH, Beschl. v. 25.02.2016 – 2 StR 39/16 (Untergrenze dernicht geringen Menge von Btm); Kilian Wegner BGH, Urt. v.28.07.2016 – 3 StR 25/16 (Transnationales ne bis in idem).

David Herrmann Reinhold Schlothauer/Hans-Joachim Wei-der/Frank Nobis, Untersuchungshaft – mit Erl�uterungen zu denUVollzG der L�nder; Ulrich Sommer Oliver Harry Gerson, Das Rechtauf Beschuldigung. Strafprozessuale Verfahrensbalance durchkommunikative Autonomie.

Rechtsanwalt Prof. Dr. Reinhold Schlothauer, Redakteur der ers-ten Stunde, hat nach 36-j�hriger T�tigkeit f�r den Strafverteidi-ger die Redaktion am 31.01.2017 verlassen. Er bleibt dieser Zeit-schrift in ihrem Beirat weiterhin eng verbunden.

Die Homepage des Strafverteidiger erreichen Sie unter folgender Adresse: stv-online.de.Die Online-Version des StV finden Sie auf JURION.de.

WKD/StV, 03/2017 #8790 07.02.2017, 11:31 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Roemer.3d [S. 4/12] 5

IV StV 3 . 2017

Probeabo-Angebot hier klicken und bestellen! Hefte 5 und 6/2017 kostenlos.

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StVSTRAFVERTEIDIGER

Heft 3/2017 · 37. Jahrgang

Seiten 141–212

Redaktion:

Rechtsanwalt Prof. Dr. Bj�rn Gercke, K�ln

Prof. Dr. Matthias Jahn, Frankfurt/M.

Rechtsanwalt Dr. habil. Helmut Poll�hne, Bremen

Redaktionsanschrift:

Wolters Kluwer Deutschland GmbHLuxemburger Str. 44950939 K�ln

Angela B�hsTel.: 02 21/9 43 73-71 26Fax: 02 21 / 9 43 73-1 71 26E-Mail: [email protected]

Entscheidungen

Verfahrensrecht

Befangenheit bei Verteidigerbestellungtrotz konkreter Interessenkonflikte zuVerteidigern von MitangeklagtenStPO §§ 24, 141, 143, 146; BORA § 3; StGB § 356; EMRKArt. 6 Abs. 1 u. Abs. 3 lit. d

1. Es begr�ndet die Besorgnis der Befangenheit, wennein Mitangeklagter nach einem ihn in anfechtbarer Weisebeg�nstigenden Urteil ohne weitere Sachaufkl�rung mitder absehbaren Folge aus der Hauptverhandlung entlas-sen wird, dass das Konfrontationsrecht des Beschwerde-f�hrers in der weiteren Verhandlung nicht mehr wahrge-nommen werden kann.

2. Liegen konkrete Hinweise auf einen Interessenkonfliktzwischen aus derselben Kanzlei anwaltlich vertretenenMitbeschuldigten vor, hat eine Verteidigerbestellungvon Sozien oder Mitgliedern der B�rogemeinschaft ausGr�nden der Fairness des Verfahrens zu unterbleiben;eine bereits erfolgte Bestellung ist in diesem Fall aufzuhe-ben.

BGH, Urt. v. 11.06.2014 – 2 StR 489/13 (LG Frankfurt/M.)

Aus den Gr�nden: [1] Das LG hat den Angekl. wegen Einfuhrvon Btm in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreibenmit Btm in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 3 J.verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachr�ge und eine Ver-fahrensbeschwerde gest�tzte Revision des Angekl. Das Rechtsmittelhat mit der Verfahrensr�ge Erfolg.

[2] I. Nach den Feststellungen der StrK reiste der Angekl. am19.01.2013 zusammen mit dem gesondert verfolgten S. auf demLuftweg aus Indien in die Bundesrepublik Deutschland ein. In demf�r S. aufgegebenen Gep�ck f�hrten beide aufgrund eines gemein-samen Tatplans insgesamt 25.152 Kapseln des als Btm geltendenSchmerzmittels Dextropropoxyphen mit. Hintergrund der Gep�ck-aufgabe unter dem Namen des gesondert verfolgten S. war die Tat-sache, dass der Angekl. bereits am 19.11.2011 im Besitz von Kap-seln des Schmerzmittels Proxyphen mit dem Wirkstoff Dextro-propoxyphen angetroffen worden war.

[3] II. Die Verfahrensr�ge, das LG habe zu Unrecht ein Ableh-nungsgesuch gegen den Vors. der StrK wegen Besorgnis der Befan-genheit verworfen, ist begr�ndet.

[4] 1. Dem liegt Folgendes zu Grunde:

[5] a) Der Angekl. hatte bei seiner ersten Vernehmung als Besch.und bei der Ermittlungsrichterin im Vorverfahren seine Tatbeteili-gung bestritten; der Einfuhr des Schmerzmittels im Gep�ck des

gesondert verfolgten S. habe kein gemeinsamer Tatplan zu Grundegelegen. Der gesondert verfolgte S. hatte dagegen schon im Vorver-fahren den Angekl. als T�ter bezeichnet; dieser habe das Gep�ckmit den Btm f�r ihn aufgegeben und gesagt, »es sei legal«.

[6] b) Am 22.03.2013 fand eine Hauptverhandlung gegen den An-gekl. und den damals Mitangekl. S. statt. Dort gaben die im Vor-verfahren gerichtlich bestellten Verteidiger, die in einer B�roge-meinschaft verbunden sind, Erkl�rungen zur Sache f�r ihre Man-danten ab, zu denen diese sich �ußerten. Nach Einf�hrung auch derfr�heren Einlassungen zur Sache in die Hauptverhandlung undweiteren Beweiserhebungen wurde diese unterbrochen. Nach er-neutem Aufruf der Sache gab der Vors. der StrK bekannt, »dasseine Einigung dar�ber erzielt wurde, dass zum Tatvorwurf v.19.11.2011 nach § 154 StPO verfahren werden soll. Im �brigenwurde keine Vereinbarung getroffen.« Es folgten die Schlussvortr�-ge, wobei die Sitzungsvertreterin der StA und der Verteidiger desMitangekl. S. f�r diesen jeweils die Verurteilung zu einer Freiheits-strafe von 2 J. bei Strafaussetzung zur Bew�hrung beantragten. F�rden Angekl. erstrebte die StA eine Freiheitsstrafe von 3 J. Sein Ver-teidiger beantragte die Verh�ngung einer Freiheitsstrafe von 2 J. mitStrafaussetzung zur Bew�hrung; hilfsweise beantragte er f�r denFall, dass das Gericht eine h�here Strafe erw�ge, die Einholung einesSachverst�ndigengutachtens zur Bestimmung des Grenzwerts dernicht geringen Menge von Dextropropoxyphen. Den gleichenHilfsantrag hatte auch die Sitzungsvertreterin der StA gestellt, f�rden Fall, »dass die Kammer zu einer Entscheidung �ber eine Frei-heitsstrafe unter 3 J. kommen sollte«.

[7] c) Das LG verurteilte den Mitangekl. S. wegen Beihilfe zumHandeltreiben mit Btm in nicht geringer Menge in Tateinheit mitEinfuhr zu einer Freiheitsstrafe von 1 J. 10 M. bei Strafaussetzungzur Bew�hrung. S. verzichtete sogleich auf Rechtsmittel gegen die-ses Urt., wurde aus der U-Haft entlassen, kehrte in seine Heimatzur�ck und stand f�r das weitere Verfahren nicht mehr zur Verf�-gung.

[8] In den Gr�nden des Urt. gegen S. f�hrte das LG aus, dessenAufgabe sei es gewesen, vorzut�uschen, dass er der eigentlicheTransporteur der Btm sei, weil der Angekl. bereits im Jahr 2011bei einer Einfuhr von Proxyphen aufgefallen sei. Dies ergebe sichaus dem glaubhaften Gest�ndnis des Mitangekl. S. Die Annahme,bei dem Btm habe es sich um eine nicht geringe Menge gehandelt,beschwere S. nicht. Zwar sei der Maßstab der nicht geringen Mengenoch nicht bestimmt, jedoch sei auch bei �ußerst großz�giger Be-messung der Zahl von Konsumeinheiten, die eine Risikodosis dar-stellten, von einem �berschreiten des Grenzwerts auszugehen. Die-se Bewertung k�nne zwar »anfechtbar« erscheinen und beg�nstigeden Mitangekl. »sehr weitgehend«. Jedoch habe die StrK Bedenkenhiergegen zur�ckgestellt, weil ohnehin mit einer Strafe f�r S. zurechnen sei, »die absehbar mit einer Haftentlassung verbundensein musste«. Bei der Strafbemessung ber�cksichtigte das Gericht,dass der Mitangekl. »wahrscheinlich von dem Mitangekl. K. ausge-

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Entscheidungen Verfahrensrecht

nutzt wurde«. »Der �blicherweise erschwerend zu ber�cksichtigen-de Gesichtspunkt, inwieweit die sog. nicht geringe Menge �ber-schritten war, musste – wie ausgef�hrt – unber�cksichtigt bleiben.«

[9] Das Verfahren gegen den Bf. wurde abgetrennt und die Haupt-verhandlung ausgesetzt, um ein Sachverst�ndigengutachten zu derbisher nicht gekl�rten Frage des Grenzwerts der nicht geringenMenge von Dextropropoxyphen und des Grades seiner �berschrei-tung im konkreten Fall einzuholen.

[10] d) Unter dem 14.05.2013 meldete sich ein Wahlverteidiger f�rden Angekl. bei Gericht, beantragte die Entpflichtung des bestelltenVerteidigers und teilte mit, der Angekl. w�nsche, k�nftig nur nochvon ihm vertreten zu werden. Der Vors. der StrK, der auch die ersteHauptverhandlung geleitet hatte, lehnte am 15.05.2013 die Ent-pflichtung ab, da zu bef�rchten sei, dass der Wahlverteidiger beieiner Entscheidung nach § 143 StPO das Wahlmandat alsbald we-gen Mittellosigkeit des Angekl. niederlegen werde.

[11] Am 24.05.2013 beantragte der Wahlverteidiger erneut dieEntpflichtung des bestellten Verteidigers, und begr�ndete dies da-mit, es sei nicht ersichtlich, dass der Angekl. mittellos sei; das Ge-genteil sei der Fall. Er, der Wahlverteidiger, �bernehme kein Man-dat, um es alsbald zur Unzeit wieder niederzulegen. Die Entpflich-tung des bestellten Verteidigers sei auch geboten, weil dieBestellung unter Verstoß gegen § 146 StPO erfolgt sei. Zudem liegeein Interessenkonflikt mit der Verteidigung des Mitangekl. vor. DieAufrechterhaltung der Pflichtverteidigerbestellung f�r den Angekl.wirke sich als Behinderung der gew�hlten Verteidigung aus. EineBestellung zur Verfahrenssicherung sei nicht erforderlich.

[12] Der Vors. der StrK lehnte die Entpflichtung erneut ab und halfauch einer dagegen gerichteten Beschwerde nicht ab; das OLGFrankfurt/M. verwarf die Beschwerde gegen den Ablehnungsbeschl.Es f�hrte aus, zwar sei eine Verteidigerbestellung gem. § 143 StPOgrunds�tzlich zur�ckzunehmen, wenn ein anderer Verteidiger be-auftragt wurde. Dies gelte aber dann nicht, wenn ein unabweisbaresBed�rfnis f�r die Aufrechterhaltung der Verteidigerbestellung be-stehe, etwa wenn zu bef�rchten sei, dass der Wahlverteidiger dasMandat wegen Mittellosigkeit des Mandanten niederlegen werde.Dies habe der Vors. ohne Ermessensfehler angenommen. Die mit-geteilten Eink�nfte des Angekl. seien so gering, dass er auf Dauernicht in der Lage sein werde, das Verteidigerhonorar zu bezahlen.Dieser Einsch�tzung stehe nicht entgegen, dass der Wahlverteidigermitgeteilt habe, sein Honorar sei bereits beglichen. Es sei n�mlichnicht mitgeteilt worden, welche Geb�hren im Einzelnen erfasst sei-en; auch sei nicht ersichtlich, dass f�r den Fall, dass weitere Ver-handlungstage erforderlich werden sollten, deren Kosten vom An-gekl. �bernommen werden k�nnten. Auch die Auswahl des bestell-ten Verteidigers sei nicht zu beanstanden. § 146 StPO stehe nichtentgegen, weil es allg. als zul�ssig angesehen werde, wenn anwaltli-che Sozien auch Mitbesch. verteidigten. Anhaltspunkte f�r einenInteressenkonflikt seien nicht ersichtlich, weil das Verfahren gegenden fr�heren Mitangekl. S. rechtskr�ftig abgeschlossen und dieserzur neuen Hauptverhandlung gegen den Bf. auch nicht als Zeugegeladen sei.

[13] e) Hierauf lehnte der Angekl. mit Schreiben seines Wahlver-teidigers den Vors. der StrK wegen Besorgnis der Befangenheit ab.Diese ergebe sich aus dem Gang der Hauptverhandlung v.22.03.2013 sowie aus dem gegen den Mitangekl. ergangenen Urt.Der Angekl. bestreite die Beteiligung an der Tat. Dies sei bereits ausseiner Einlassung beim Zoll und bei der Ermittlungsrichterin er-sichtlich geworden. In der ersten Hauptverhandlung habe nicht erselbst, sondern sein bestellter Verteidiger eine Erkl�rung zur Sacheabgegeben. Diese sei zwar nicht dokumentiert, Einzelheiten »m�ss-ten aber, da der Angekl. den Tatvorwurf weiterhin bestreitet, imWesentlichen inhaltsidentisch gewesen sein.« Gleichwohl habe derbestellte Verteidiger seine Verurteilung zu einer Bew�hrungsstrafe

beantragt. In den Gr�nden des sodann nur gegen S. ergangenenUrt. sei die geringere Tatbeteiligung des Mitangekl. S. und seineeigene Hauptt�terschaft festgestellt worden. S. stehe zudem nachseiner gesonderten Aburteilung f�r eine neue Hauptverhandlungnicht mehr als Zeuge zur Verf�gung, was zurzeit des Urt. absehbargewesen sei. Vor diesem Hintergrund bef�rchte er, dass er ungeach-tet seines Bestreitens aus der Sicht des abgelehnten Richters bereitsals schuldig angesehen werde. Nach den Gesamtumst�nden seischließlich anzunehmen, dass eine informelle Absprache zwischenseinem bestellten Verteidiger, dem Gericht und der StA vorgelegenhabe, wonach nur noch �ber die Strafe verhandelt werden m�sse.

[14] Ferner werde die Besorgnis der Befangenheit daraus hergelei-tet, dass die Entpflichtung des bestellten Verteidigers abgelehntworden sei, obwohl kein Grund f�r eine Abweichung von § 143StPO vorliege und die Entpflichtung wegen einer Interessenkollisi-on angezeigt gewesen sei. Der abgelehnte Vors. unternehme alles,um die gew�hlte Verteidigung zu behindern und um der zu erwar-tenden Verurteilung des Angekl. durch Aufrechterhaltung der Be-stellung eines dem Gericht genehmen Verteidigers eine scheinbareLegitimation zu verschaffen.

[15] f ) Der abgelehnte Vors. best�tigte in seiner dienstlichen Erkl�-rung, dass der �ußere Ablauf zutreffend bezeichnet worden sei; je-doch sei die daran ankn�pfende Folgerung nicht zutreffend.

[16] g) Das LG wies das Ablehnungsgesuch als unbegr�ndet zu-r�ck. Die Behauptung einer informellen Absprache beruhe auf ei-ner unbelegten Mutmaßung; aus dem Protokoll der Hauptverhand-lung folge, dass es keine Vereinbarungen gegeben habe. Das Urt.gegen den Mitangekl. sei nur auf dessen Gest�ndnis gest�tzt, demaber die Angaben des Angekl. nicht gegen�bergestellt worden seien.Eine weitere Inhaftierung des Mitangekl. S., nur um seine Verf�g-barkeit f�r die Hauptverhandlung gegen den Angekl. zu sichern, seiausgeschlossen gewesen; die Verfahrensabtrennung sei erfolgt, weilein Sachverst�ndigengutachten einzuholen gewesen sei. Die Zu-r�ckweisung der Antr�ge auf Entpflichtung des gerichtlich bestell-ten Verteidigers sei ohne Ermessensfehler erfolgt. Es liege auch kei-ne unzul�ssige Behinderung der Verteidigung vor.

[17] h) Mit der Revision r�gt der Bf. unter Bezugnahme auf seineAblehnungsbegr�ndung, die Zur�ckweisung des Ablehnungsge-suchs sei zu Unrecht erfolgt. Aus dem Protokollvermerk v.22.03.2013 folge, dass jedenfalls eine »Einigung« �ber die Teilein-stellung des Verfahrens gegen ihn gem. § 154 Abs. 2 StPO nachEr�rterungen außerhalb der Hauptverhandlung erfolgt sei. Diese»Einigung« mit dem bestellten Verteidiger sei nur damit zu erkl�-ren, dass das Gericht und der bestellte Verteidiger nicht von derM�glichkeit eines Freispruchs ausgegangen seien. Die Festlegungdes abgelehnten Vors. ergebe sich aber auch aus der einseitigen Be-g�nstigung des Mitangekl., der zu einer Freiheitsstrafe mit Strafaus-setzung zur Bew�hrung verurteilt und aus der U-Haft entlassenworden sei, so dass er in absehbarer Weise als Zeuge f�r die n�chsteHauptverhandlung nicht mehr erreichbar gewesen sei. Hinzu kom-me die Zur�ckweisung der Antr�ge auf Entpflichtung des bestelltenVerteidigers trotz Vorliegens einer Interessenkollision.

[18] 2. Der Angekl. macht zutreffend geltend, die Richterableh-nung sei mit Unrecht verworfen worden (§§ 24 Abs. 2, 338 Nr. 3StPO). [...]

[24] b) Die R�ge ist begr�ndet. Das Ablehnungsgesuch istmit Unrecht verworfen worden.

[25] aa) Die Besorgnis der Befangenheit ist aufgrund der Artund Weise der Vorbefassung des abgelehnten Vors. mit derSache gerechtfertigt. Eine solche Besorgnis ist zwar nicht ge-nerell begr�ndet, wenn ein Richter im Rahmen einer fr�he-ren Entscheidung mit der Sache befasst war. Das Gesetz h�tteandernfalls eine Ausschließung eines solchen Richters von

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142 StV 3 · 2017

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Verfahrensrecht Entscheidungen

der weiteren Mitwirkung am Verfahren anordnen k�nnen(vgl. BGH, Urt. v. 10.11.1967 – 4 StR 512/66, BGHSt 21,334 [342 f.]). Die Ablehnung eines mit der Sache schon fr�-her befassten Richters ist jedoch gerechtfertigt, wenn konkre-te Umst�nde vorliegen, die der Vermutung seiner Unvorein-genommenheit widersprechen (vgl. BGH, a.a.O., BGHSt 21,334 [343]; Urt. v. 30.06.2010 – 2 StR 455/09, NStZ 2011,44 [46] [= StV 2011, 69]; Beschl. v. 10.01.2012 – 3 StR400/11, NStZ 2012, 519 [520] [= StV 2012, 390]). Das isthier der Fall.

[26] Die Frage des Grenzwerts der nicht geringen Menge desSchmerzmittels und des Grades seiner �berschreitung betrafbeide Angekl. gleichermaßen. Die Abtrennung des Verfah-rens gegen den Bf., um nur ihm gegen�ber eine Kl�rung die-ser Frage mit Hilfe eines Sachverst�ndigen herbeizuf�hren,erscheint kaum verst�ndlich. Die gleichzeitige Entlassungdes Mitangekl. S. aus dem Verfahren in einer Weise, dieihn – vorhersehbar – als Auskunftsperson im fortgesetztenVerfahren gegen den Bf. ausschloss, durfte nicht ohne weite-res zum Nachteil des Angekl. erfolgen. Die Doppelwirkungeiner solchen Maßnahme im Verfahren gegen Mitangekl. mitgegenl�ufigen Verteidigungszielen (vgl. Dehne-NiemannHRRS 2010, 189 [191 f.]), die sich im Ergebnis zum pro-zessualen Nachteil des Bf. ausgewirkt hat, wurde nicht er-kennbar ber�cksichtigt. Die StrK unter Vorsitz des abgelehn-ten Richters hat das Unterlassen der Beweiserhebung im Ver-fahren gegen den Mitangekl. S. nur damit begr�ndet, diesbeschwere S. nicht. Dabei war aber die Kl�rung der Tatsa-chenfrage, die f�r die Strafzumessung auch nach den Urteils-gr�nden »�blicherweise« relevant ist, bei der Sachaufkl�rungf�r und gegen beide Mitangekl. von Bedeutung. Das einsei-tige Unterlassung der Sachaufkl�rung gegen�ber dem Mitan-gekl. S. beeintr�chtigte umgekehrt die prozessuale Rechtspo-sition des Bf.

[27] Wenn absehbar ist, dass eine Auskunftsperson im wei-teren Verfahren als Zeuge ben�tigt wird, hat das Gericht imAllgemeinen daf�r Sorge zu tragen, dass eine Vernehmungdieser Person in der Hauptverhandlung m�glich bleibt (vgl.EGMR, Urt. v. 19.07.2012 – Nr. 26171/07, NJW 2013,3225 [3226]; Urt. v. 17.04.2014 – Nr. 9154/10 Rn. 68).Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK erfasst auch Aussagen von Mitan-gekl. (vgl. BGH, Beschl. v. 09.06.2009 – 4 StR 461/08, StV2010, 57; Beschl. v. 15.06.2010 – 3 StR 157/10, StV 2010,673), so dass es auf die Prozessrolle der Auskunftspersoni.S.d. StPO nicht ankommt. Daher waren bei der Verfahrens-abtrennung auch Maßnahmen zu erw�gen, die eine konfron-tative Befragung des vormaligen Mitangekl. und jetzigenZeugen S. durch den Bf. oder seinen Verteidiger in der neuenHauptverhandlung erm�glichen konnten. �berlegungen desGerichts in diese Richtung sind nicht ersichtlich.

[28] Im Sinne eines Besorgnisgrundes gem. § 24 Abs. 2StPO erscheint es problematisch, dass der Mitangekl. S.nach einem ihn in – selbst nach Meinung des LG – anfecht-barer Weise beg�nstigenden Urt. ohne weitere Sachaufkl�-rung mit der absehbaren Folge entlassen wurde, dass dasKonfrontationsrecht des Bf. in der neuen Hauptverhandlungnicht mehr wahrgenommen werden konnte.

[29] All dies sind besondere Umst�nde, welche die Vorbefas-sung des abgelehnten Vors. mit der Sache hier zu einem be-

rechtigten Grund f�r die Besorgnis der Befangenheit erstar-ken lassen.

[30] bb) Auch die wiederholte Zur�ckweisung des vomWahlverteidiger gestellten Antrags auf Entpflichtung des ge-richtlich bestellten Verteidigers l�sst besorgen, dass der abge-lehnte Richter dem Bf. nicht unvoreingenommen gegen�ber-gestanden hat.

[31] (1) F�r die Aufrechterhaltung der gerichtlichen Vertei-digerbestellung nach Anzeige eines Wahlmandats entgegen§ 143 StPO war kein Raum. Nach dieser Vorschrift ist dieBestellung zur�ckzunehmen, wenn ein anderer Verteidigergew�hlt wird und dieser die Wahl annimmt. Eine Verteidi-gerbestellung kann – als ungeschriebene Ausnahme von dergesetzlichen Regel – nur aufrecht erhalten werden, wennkonkrete Gr�nde f�r die Annahme vorhanden sind, andern-falls sei die ordnungsgem�ße Durchf�hrung der Hauptver-handlung gef�hrdet (vgl. LR-StPO/L�derssen/Jahn, 26. Aufl.,§ 141 Rn. 39 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 57. Aufl.,§ 143 Rn. 2; SK-StPO/Wohlers, 4. Aufl., § 143 Rn. 6). MitBlick auf die Erkl�rung des gew�hlten Verteidigers, er werdean der Hauptverhandlung teilnehmen, bestand kein Grundzu der Annahme, er werde f�r die nach der Terminplanungnur eint�gige Hauptverhandlung nicht zur Verf�gung stehen(vgl. OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 24.01.2000 – 3 Ws31/00, StV 2001, 610 f.).

[32] (2) Zudem begegnet die Aufrechterhaltung der Bestel-lung eines Verteidigers aus derselben B�rogemeinschaft wieder Verteidiger des Mitangekl. jedenfalls nach den Hinweisenauf einen Interessenkonflikt durchgreifenden Bedenken.

[33] Ein konkret manifestierter Interessenkonflikt ist – unab-h�ngig vom Fall des § 143 StPO – ein Grund, von der Ver-teidigerbestellung abzusehen oder eine bereits bestehendeBestellung aufzuheben, weil dadurch die mindere Effektivit�tdes Einsatzes dieses Verteidigers f�r seinen Mandanten zubef�rchten ist (vgl. BGH, Beschl. v. 15.01.2003 – 5 StR251/02, BGHSt 48, 170 [173] [= StV 2003, 210]; OLGFrankfurt/M., Beschl. v. 28.01.1999 – 3 Ws 53, 54/99, StV1999, 199 [200]; OLG Hamm, Beschl. v. 01.06.2004 – 2 Ws156/04, StV 2004, 641 f.; KK-StPO/Laufh�tte/Willnow,7. Aufl., § 142 Rn. 7). Das Verbot, widerstreitende Interes-sen zu vertreten, ist geeignet und erforderlich, im Interessevon Mandanten und Rechtspflege die mit dem Gesetz be-zweckten Ziele zu erreichen (vgl. BVerfG, Beschl. v.03.07.2003 – 1 BvR 238/01, BVerfGE 108, 150 [167]).

[34] Zwar ist eine Verteidigerbestellung von Anw�lten ausderselben Kanzlei f�r Mitbesch. nicht generell unzul�ssig(vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.10.1976 – 2 BvR 23/76, BVerfGE43, 79 [93 f.]; OLG Rostock, Beschl. v. 17.03.2003 – 1 Ws64/03, StV 2003, 373 [374]). Eine gemeinschaftliche Vertei-digung kann bei gleichartigem Verteidigungsziel auch sach-dienlich sein (vgl. OLG D�sseldorf, Beschl. v. 20.08.2002 –1 Ws 318/02, JR 2003, 346 ff. mit Anm. Beulke [= StV2002, 533]). Liegen aber konkrete Hinweise auf einen Inter-essenkonflikt vor, hat eine Verteidigerbestellung von Sozienoder Mitgliedern einer B�rogemeinschaft f�r die Besch. ausGr�nden der Fairness des Verfahrens zu unterbleiben; einebereits erfolgte Bestellung ist in diesem Fall aufzuheben (vgl.OLG Stuttgart, Beschl. v. 05.09.2000 – 5 Ws 31/00, StV2000, 656 [658]).

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StV 3 · 2017 143

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Entscheidungen Verfahrensrecht

[35] Ob ein solcher Interessenkonflikt vorliegt, ist unter Be-r�cksichtigung der Umst�nde des Einzelfalls zu pr�fen undobjektiv zu bestimmen (vgl. BGH, Urt. v. 23.04.2012 –AnwZ [Brfg] 35/11, NJW 2012, 3039 [3040]). Das Vertei-digungsziel der Mitangekl., die sich im Vorverfahren der Al-lein- oder Hauptt�terschaft des jeweils anderen bezichtigten,war aus deren Einlassungen gegen�ber der Zollbeh�rde undder Ermittlungsrichterin zu erkennen. Diese lagen auch derAnklageschrift v. 23.01.2013 zu Grunde, wonach der Bf. dieTat v. 19.11.2011 einger�umt, diejenige v. 19.01.2013 aberbestritten und auf den Mitangekl. S. als Alleint�ter verwiesenhatte, w�hrend S. den Bf. als Hauptt�ter bezeichnet hatte.Aus dieser Beweislage ergab sich schon zurzeit der Verteidi-gerbestellung ein konkreter Interessenwiderstreit (vgl. BGH,Urt. v. 25.06.2008 – 5 StR 109/07, BGHSt 52, 307 [311] [=StV 2008, 642]), der im Verlauf des Verfahrens nicht entfal-len ist.

[36] Die Folge eines derartigen Interessenwiderstreits sindberufsrechtliche Hindernisse f�r die Wahrnehmung der Ver-teidigermandate durch Mitglieder einer Soziet�t oder B�ro-gemeinschaft i.S.v. § 43a Abs. 4 BRAO, § 3 Abs. 1 undAbs. 2 S. 1 BORA n.F. Das berufsrechtliche Vertretungsver-bot ist zwar nicht mit der strafprozessrechtlichen Bewertungaufgrund von § 143 und § 146 StPO identisch; jedochkommt der – mit Wirkung v. 01.06.2006 neugefassten undverfassungskonformen (BVerfG, Beschl. v. 20.06.2006 – 1BvR 594/06, NJW 2006, 2469) – Regelung des § 3 Abs. 2S. 1 BORA eine Orientierungswirkung zu (so zur fr�herenFassung BVerfG, Beschl. v. 14.10.1997 – 2 BvQ 32/97, StV1998, 356 [357]). Danach ist auch f�r das Gericht bei derVerteidigerbestellung ein Mandat f�r RAe aus einer B�roge-meinschaft zu vermeiden, wenn ein konkreter Interessenkon-flikt besteht oder abzusehen ist. Gew�hlte Verteidiger habenin diesem Fall nach der zwingenden Regel des § 3 Abs. 4BORA das Mandat niederzulegen. Dieselbe Interessenlagegebietet, gerichtliche Beiordnungs- oder Bestellungsakte zuunterlassen oder aufzuheben. Hinsichtlich der Interessenlagebesteht kein Unterschied zwischen bestellten und gew�hltenVerteidigern (vgl. OLG Stuttgart a.a.O.). Es w�re wider-spr�chlich und �berdies grob unbillig anzunehmen, dieRegelungen der StPO zw�ngen Strafverteidiger dazu, Pflicht-mandate zu �bernehmen oder aufrechtzuerhalten, deren »un-verz�gliche« Niederlegung aus Gr�nden des Mandanten-schutzes ihnen das Berufsrecht im Fall der Wahlverteidigunggebietet.

[37] Bedenken gegen die Aufrechterhaltung der Verteidiger-bestellung wegen des Interessenkonflikts, die der Wahlvertei-diger gegen�ber dem abgelehnten Vors. ausdr�cklich ange-sprochen hatte, w�ren bei der Entscheidung �ber die Auf-rechterhaltung der Verteidigerbestellung zu ber�cksichtigengewesen. Der Vors. ist in seinen ablehnenden Entscheidun-gen hierauf aber nicht eingegangen, obwohl es sich aufdr�n-gen musste. Auch hieraus konnte die Besorgnis seiner Befan-genheit hergeleitet werden. Denn das – mit �berdies schwernachvollziehbaren Gr�nden – fortgesetzte Beharren des Vors.auf der Beiordnung des Pflichtverteidigers trotz nicht nurerkennbaren, sondern auch tats�chlich erkannten Interessen-konflikts mit der Verteidigung des fr�heren Mitangekl. S.konnte bei dem Angekl. den Eindruck nahelegen, der abge-lehnte Richter stehe seinen berechtigten Interessen nicht oder

jedenfalls nicht mehr mit der gebotenen Neutralit�t gegen-�ber, sondern wolle ein bereits feststehendes »Programm« derGesamterledigung beider Verfahren zu seinem Nachteil ver-wirklichen.

[38] (3) Die Annahme des LG, der Interessenkonflikt seidurch rechtskr�ftige Aburteilung des Mitangekl. und dessenAusscheiden als Mitangekl. aus dem Verfahren beendet, istunzutreffend. Nach der Rspr. des BGH zu § 356 StGBkommt es f�r die Frage eines Interessenkonflikts nicht aufdie Mandatsbeendigung an (vgl. BGH, Urt. v. 07.10.1986– 1 StR 519/86, BGHSt 34, 190 [191] [= StV 1987, 197];Beschl. v. 15.01.2003 – 5 StR 251/02, BGHSt 48, 170 [172][= StV 2003, 210]). Auch berufsrechtlich folgt aus § 3 Abs. 1BORA, dass ein Vertretungsverbot bei widerstreitendenMandaten anzunehmen ist, wenn der RA einen anderenMandanten beraten oder vertreten hat; § 3 Abs. 2 S. 1BORA erstreckt dieses Verbot auf Sozien und Mitglieder ei-ner B�rogemeinschaft. Auch die faktische Interessenlage, diebei der Entscheidung nach § 143 StPO im Vordergrundsteht, wird durch Beendigung eines Mandats nicht grundle-gend ver�ndert. Die kollegiale Verbundenheit der RAe undihre M�glichkeit zur Nutzung gemeinsamer Mittel bleibenbestehen. Auch insoweit gilt es, einem Anschein mangelnderNeutralit�t entgegenzuwirken (vgl. BVerfG, Beschl. v.20.06.2006 – 1 BvR 594/06, NJW 2006, 2469 [2470]).

Rechtzeitiges Anbringen einesBefangenheitsgesuchs

StPO § 25 Abs. 2

Das Unverz�glichkeitsgebot des § 25 Abs. 2 S. 1 Nr. 2StPO ist auch dann gewahrt, wenn zwar das Befangen-heitsgesuch w�hrend einer Unterbrechung der Hauptver-handlung drei Tage nach Kenntniserlangung von demgeltend gemachten zentralen Befangenheitsgrund ange-bracht wurde, aber dem inhaftierten Angeklagten eine�berlegungsfrist einschließlich einer Beratung mit seinenVerteidigerinnen zuzubilligen ist.

BGH, Beschl. v. 08.06.2016 – 5 StR 48/16 (LG Berlin)

Beiordnung eines Zeugenbeistands

StPO § 68b Abs. 2

Die Beiordnung eines Beistands f�r einen Zeugen unterder Bedingung, dass er sein Recht auf Auskunftsverwei-gerung nicht wahrnehme, ist fehlerhaft. Der gem. § 68bAbs. 2 S. 2 StPO beigeordnete Beistand soll den Zeugengerade auch dar�ber beraten, ob eine Auskunftsverwei-gerung zul�ssig und angezeigt ist.

BGH, Beschl. v. 04.12.2015 – 2 StR 475/15 (LG Aachen)

Befangenheit eines Sachverst�ndigen

StPO § 74

Bei der Erstattung eines psychiatrischen Gutachtens hatder Sachverst�ndige selbst zu entscheiden, welche Unter-suchungsmethoden er anwendet; seine diesbzgl. Vorge-hensweise kann seine Befangenheit nicht begr�nden. Da

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:18 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 144/212] 4

144 StV 3 · 2017

Page 9: StV - Wolters Kluwer Shop€¦ · AG M nchen 821 Ls 257 Js 21598/12 v. 13.01.2014 Akteneinsicht des Verletzten 178 Strafrecht BVerfG 1 BvR 2646/15 v. 29.06.2015 Anwaltliche Schm hkritik

Verfahrensrecht Entscheidungen

mangelnde Sachkunde keinen Befangenheitsgrund er-gibt, gilt dies auch dann, wenn sich die Methodenaus-wahl tats�chlich als fehlerhaft erwiese.

BGH, Beschl. v. 23.02.2016 – 3 StR 481/15 (LG Osnabr�ck)

Auskunftsverlangen an PostunternehmenStPO §§ 99, 94; GG Art. 10; PostG § 39

Postunternehmen k�nnen betreffend sich nicht mehr inderen Gewahrsam befindlicher Postsendungen wedergem. § 99 StPO, noch gem. § 94 StPO zur Auskunft ver-pflichtet werden. (amtl. Leitsatz)

BGH-ER, Beschl. v. 27.10.2016 – 1 BGs 107/16

Aus den Gr�nden: [1] I. Der GBA beim BGH f�hrt gegen denBesch. ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfezur Vorbereitung einer schweren staatsgef�hrdenden Gewalttatgem. §§ 89a, 27 StGB. [...]

[2] Mit Schreiben [...] hat der GBA beim BGH beantragt, gem.§§ 99, 100 Abs. 1, 162 Abs. 1 S. 1, 169 Abs. 1 S. 2 StPO dem Pa-ketzustelldienst (...) aufzugeben, f�r die Zeit ab (...) Auskunft zuerteilen �ber s�mtliche Lieferungen, die an (...) gerichtet waren. DieAuskunft solle sich insbes. auf die Namen und Anschriften der Ab-sender, Hinweise auf den Inhalt der Lieferung(en), den Sendungs-verlauf sowie alle Unterlagen, die Aufschluss �ber die Person(en)geben, die die Lieferung(en) in Empfang genommen hat/haben be-ziehen. Die Auskunftserteilung solle ferner die Herausgabe von Un-terlagen, insbes. unterschriebenen Quittungen – auch in elektroni-scher Form –, die eine Identifizierung des tats�chlichen Empf�ngerserm�glichen, umfassen.

[3] II. Der Antrag des GBA beim BGH war abzulehnen, dadie StPO f�r die Anordnung der begehrten Auskunftsertei-lung keine Eingriffsnorm vorsieht.

[4] 1. Im Hinblick auf das Postgeheimnis aus Art. 10 Abs. 1GG, § 39 PostG kommt als einzig denkbare Rechtsgrundla-ge § 99 StPO in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist die Be-schlagnahme der an den Besch. gerichteten Postsendungenund Telegramme, die sich im Gewahrsam des Postunterneh-mens befinden, zul�ssig. Zwar enth�lt die Vorschrift des § 99StPO nach allg. Ansicht in der Rspr. und Lit. als wenigereinschneidende Maßnahme zur Beschlagnahme einen Aus-kunftsanspruch gegen das Postunternehmen (BGH [ER], Be-schl. v. 11.07.2012 – 3 BGs 211/12; LG Hamburg BeckRS2009, 19797; LG Landshut BeckRS 2013, 10378; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 59. Aufl., § 99, Rn. 14; KK-StPO/Greven, 7. Aufl., § 99 Rn. 11; LR-StPO/Menges, 26. Aufl.,§ 99 Rn. 29; M�Ko-StPO/G�nther, § 99 Rn. 42/43;BeckOK-StPO/Graf, Stand: 01.07.2016, § 99 Rn. 16). Lie-gen die Voraussetzungen der Postbeschlagnahme vor, so kann– unter den Voraussetzungen des § 100 StPO – statt dieserAuskunft �ber Sendungen verlangt werden, die an den Besch.gerichtet sind oder bei denen Tatsachen vorliegen, aus denenzu schließen ist, dass sie von ihm herr�hren oder f�r ihn be-stimmt sind.

[5] Das Auskunftsverlangen ist jedoch nur dann von § 99StPO gedeckt, wenn zum Zeitpunkt des Auskunftsersuchensdie Voraussetzungen des § 99 StPO erf�llt sind, sich mithindie Postsendung noch im Gewahrsam des Postunternehmensbefindet. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

[6] Zwar wird in dem Beschl. des Ermittlungsrichters desBGH v. 11.07.2012 – 3 BGs 211/12 – und tlw. in der Lit.(KK-StPO/Greven, a.a.O.; BeckOK-StPO/Graf, a.a.O.) ver-treten, dass in entspr. Anwendung § 99 StPO auch auf solchePostsendungen bezogen werden kann, die sich nicht mehr imGewahrsam der Stelle befinden. Begr�ndet wird dies zumeinen mit einem Verweis auf Nr. 84 RiStBV. Nach S. 2 dieserVorschrift soll die Auskunft auch �ber solche Postsendungenerteilt werden, die sich bei Eingang des Ersuchens nicht mehrim Machtbereich des Postunternehmens befinden. Fernerwird argumentiert, dass es mit den Grundgedanken des§ 99 StPO in Widerspruch st�nde, wenn nach Beendigungdes Gewahrsams der Post an der Sendung dem Postgeheim-nis in einem Umfang Schutz gew�hrt w�rde, der �ber denhinaus gehe, der w�hrend des Postgewahrsams bestanden ha-be.

[7] Diese Meinung �berzeugt nach Ansicht des erkennendenErmittlungsrichters des BGH nicht. Mit der �berwiegend inder Lit. und untergerichtlichen Rspr. (vgl. Meyer-Goß-ner/Schmitt-StPO, a.a.O.; LR-StPO/Menges, a.a.O.; M�Ko-StPO/G�nther, a.a.O.; LG Hamburg, a.a.O.; LG Landshut,a.a.O.) vertretenen Meinung stellt § 99 StPO vielmehr f�rdie Verpflichtung zur Auskunftserteilung keine tauglicheEingriffsgrundlage dar, wenn sich die Postsendung nichtmehr im Gewahrsam des Postunternehmens befindet.

[8] Die Zul�ssigkeit der Auskunftserteilung �ber Umst�nde,die dem verfassungs- und einfachrechtlich gesch�tzten Post-geheimnis unterliegen, ist gesetzlich nicht explizit geregelt.Im Gesetzgebungsverfahren zu § 39 PostG wurde diese Pro-blematik gesehen und ausf�hrlich diskutiert. Der Bundesrathatte insoweit angeregt, mit Blick auf § 39 PostG ein Aus-kunftsrecht ausdr�cklich gesetzlich zu regeln. Dem war dieBundesregierung mit dem Hinweis entgegengetreten, nachh.M. sei in der Beschlagnahmebefugnis das geringere Rechtenthalten, von einem Postunternehmen Auskunft zu verlan-gen, so dass weiterer Gesetzgebungsbedarf nicht bestehe (vgl.BT-Drs. 13/8453, S. 4, 12; LR-StPO/Menges, a.a.O.). DerGesetzgeber hat sich damit bewusst daf�r entschieden, einen�ber § 99 StPO hinausgehenden Auskunftsanspruch nichtzu regeln. Bereits aus diesem Grund verbietet sich eine �berden origin�ren Anwendungsbereich des § 99 StPO hinausge-hende analoge Anwendung der Norm auf Ausk�nfte betref-fend Postsendungen, die sich nicht mehr im Gewahrsam desPostunternehmens befinden. Eine analoge eingriffserwei-ternde Anwendung ist ferner aus verfassungsrechtlichenGr�nden nicht zul�ssig, denn der Schutz des Grundrechtsaus Art. 10 Abs. 1 GG erstreckt sich auch [auf ] die Aspekte,ob, wann und warum zwischen mehreren Beteiligten unterwelchen Umst�nden eine Korrespondenz stattgefunden hat(BVerfG, Beschl. v. 20.06.1984 – 1 BvR 1494/78, BVerfGE67, 154 juris Rn. 45). Diesem Inhalt des verfassungsrechtlichgesch�tzten Rechts entspricht auch der klare Wortlaut des§ 39 PostG. Gesetzliche Regelungen, die zu Eingriffen indas Grundrecht aus Art 10 GG erm�chtigen, m�ssen demrechtsstaatlichen Gebot der Normenbestimmtheit und Nor-menklarheit gen�gen, d.h. Anlass, Zweck und Grenzen desEingriffs m�ssen in der Erm�chtigung bereichsspezifisch,pr�zise und normenklar festgelegt werden (BVerfG, Beschl.v. 03.03.2004 – 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33, jurisRn. 102). Die analoge Anwendung einer Eingriffsnorm

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StV 3 · 2017 145

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Entscheidungen Verfahrensrecht

�ber ihren Wortlaut hinaus w�rde diese Grunds�tze leerlau-fen lassen. Eine Berufung auf Nr. 84 S. 2 RiStBV verbietetsich insoweit, denn Richtlinien f�r das Strafverfahren unddas Bußgeldverfahren stellen ihrer Rechtsnatur nach dienst-liche Anweisungen nach § 146 StPO dar. Sie sind keine Ein-griffsnormen, auf die ein Grundrechtseingriff gest�tzt wer-den k�nnte (vgl. LG Hamburg, a.a.O.; LG Landshut, a.a.O.).

[9] Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, nicht der Rspr., dieseL�cke zu schließen. �hnlich gelagert d�rfte die Problematikbetreffend Postsendungen, die sich noch nicht im Gewahr-sam des Postunternehmens befinden, sein.

[10] 2. Ein R�ckgriff auf die allg. Vorschriften zur Beschlag-nahme gem. §§ 94 ff. StPO verbietet sich aus den unterZiff. 1 ausgef�hrten verfassungsrechtlichen Gr�nden unddes Vorranges des § 99 StPO (anders aber LG Landshut,a.a.O.).

Sachaufkl�rungspflicht beiAkteneinsichtsgew�hrung an Verletzten

StPO §§ 244 Abs. 2, 406e

Grunds�tzlich besteht keine Er�rterungspflicht in Bezugauf die etwaige Kenntnis eines Nebenkl�gers vom Inhaltder Verfahrensakten, auch nicht in Aussage-gegen-Aus-sage-Konstellationen. Etwas anderes gilt, wenn Hinweiseauf eine konkrete Falschaussagemotivation des Zeugenoder Besonderheiten in seinen Aussagen hierzu Anlassgeben.

BGH, Beschl. v. 05.04.2016 – 5 StR 4/16 (LG Berlin)

Aus den Gr�nden: Erg�nzend zum Antrag des GBA bemerkt derSenat:

Die Verfahrensbeanstandung, das LG w�re im Rahmen seinerAufkl�rungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) gehalten gewesen,den Umstand in die Beweisaufnahme einzuf�hren, dass derNebenklagevertreterin im Vorfeld der Hauptverhandlungvollst�ndige Akteneinsicht gew�hrt worden war, und die dar-an ankn�pfende sachlich-rechtliche Beanstandung der Be-weisw�rdigung haben keinen Erfolg.

Der Senat hat bereits entschieden, dass grds. keine Er�rte-rungspflicht in Bezug auf eine etwaige Kenntnis eines Ne-benkl. vom Inhalt der Verfahrensakten besteht (BGH, Be-schl. v. 15.03.2016 – 5 StR 52/16). Regelm�ßig dr�ngtauch in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen die Aufkl�-rungspflicht das Gericht nicht dazu, Feststellungen zurWahrnehmung des sich aus § 406e Abs. 1 StPO ergebendenAkteneinsichtsrechts zu treffen. Auch in solchen F�llen be-darf es i.R.d. Beweisw�rdigung i.d.R. keiner ausdr�cklichenW�rdigung des Umstands, dass ein Verletzter vermitteltdurch einen RA Zugang zum Inhalt der Ermittlungsakten –insbes. auch zu Niederschriften seiner fr�heren Vernehmun-gen – hatte. Denn mit der Wahrnehmung dieses gesetzlicheinger�umten Verletztenrechts geht nicht typischerweise eineEntwertung des Realit�tskriteriums der Aussagekonstanz ein-her (a.A. wohl OLG Hamburg, Beschl. v. 24.10.2014 – 1 Ws110/14, NStZ 2015, 105 [107] [= StV 2015, 484]; Bec-kOK-StPO/Eschelbach, § 261 Rn. 55.3). Durch die genera-lisierende Annahme, dass mit Akteneinsicht durch den Ne-benkl�gervertreter die Glaubhaftigkeit der Angaben eines Be-

lastungszeugen stets in besonderer Weise in Zweifel zu ziehensei, w�rde zudem seine freie Entscheidung, Akteneinsicht zubeantragen, beeintr�chtigt werden (vgl. zu § 52 StPO:LR-StPO/Ignor/Bertheau, 26. Aufl., § 52 Rn. 40).

Maßgeblich sind stets die Umst�nde des Einzelfalls. Diesek�nnen etwa dann zu einer ausdr�cklichen Bewertung m�g-licher Aktenkenntnis des (einzigen) Belastungszeugen imRahmen der Beweisw�rdigung dr�ngen, wenn Hinweise aufeine konkrete Falschaussagemotivation des Zeugen oder Be-sonderheiten in seinen Aussagen hierzu Anlass geben. Daranfehlt es hier. In der Person der Nebenkl. oder in ihren Aus-sagen liegen keine Umst�nde vor, durch die das LG sich zueiner Erstreckung der Beweisaufnahme auch auf den genann-ten Gesichtspunkt h�tte gedr�ngt sehen m�ssen und die eineausdr�ckliche W�rdigung auch dieses Aspekts im Rahmender durch das LG eingehend und sorgf�ltig vorgenommenenAnalyse der Angaben der Nebenkl. erforderlich gemacht h�t-ten.

Akteneinsicht durch die Nebenklage undBeweisw�rdigung

StPO §§ 261, 406e

Kommt es im Rahmen einer Konstellation Aussage gegenAussage in besonderem Maße auf eine Konstanzanalysean, kann es erforderlich sein, dass das Tatgericht sich mitdem Umstand auseinandersetzt, dass dem Nebenkl�gerals einzigem Tatzeugen Akteneinsicht gew�hrt wurde.

BGH, Beschl. v. 15.03.2016 – 5 StR 52/16 (LG Berlin)

Aus den Gr�nden: [2] Die Revision des Angekl. bleibt aus denGr�nden der Antragsschrift des GBA erfolglos. Soweit der Bf.(wohl) beanstandet, das LG habe in seine Beweisw�rdigung nichtausdr�cklich den Umstand einbezogen, dass dem Nebenkl. undeinzigen Tatzeugen Akteneinsicht erteilt wurde, ist Folgendes zubemerken:

[3] Es existiert kein Rechtssatz des Inhalts, dass eine – auchbei Gew�hrung der Akteneinsicht nach § 406e StPO ohne-hin nicht stets gegebene und vorliegend durch den Neben-kl�gervertreter in Abrede gestellte – Kenntnis der Verfahrens-akten zur Annahme der Unrichtigkeit der in der Hauptver-handlung erfolgten Aussage des Zeugen dr�ngt (vgl. BGH,Beschl. v. 11.01.2005 – 1 StR 498/04, NJW 2005, 1519[1520]). Auch im Blick auf das in der Rspr. anerkannte Vor-bereitungsrecht eines Zeugen (vgl. schon BGH, Urt. v.28.11.1950 – 2 StR 50/50, BGHSt 1, 4 [8]) l�sst sich fernerkein Grundsatz aufstellen, wonach das Tatgericht stets gehal-ten ist, sich im Rahmen der Beweisw�rdigung mit der Ertei-lung der Akteneinsicht an den Nebenkl. auseinanderzuset-zen. Das gilt namentlich dann, wenn – wie hier – zahlreicheBeweisanzeichen außerhalb der Aussage des Zeugen f�r derenRichtigkeit sprechen. Anders kann es liegen, wenn es etwa imRahmen einer Konstellation Aussage gegen Aussage in be-sonderem Maße auf eine Konstanzanalyse ankommt (vgl.auch BGH, Beschl. v. 11.01.2005 a.a.O.). [...]

Anm. d. Red.: Vgl. dazu auch den Beschl. desselben Senats v.05.04.2016 (5 StR 40/16), mitgeteilt von RA Klaus Ulrich Ventzke,Hamburg.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 146/212] 4

146 StV 3 · 2017

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Anmerkung Deiters Verfahrensrecht Entscheidungen

Anmerkung: I. Einf�hrung. Dass die Tatgerichte gem.§ 261 StPO nicht nur zu ersch�pfender Beweisw�rdigung,sondern auch zu deren Darstellung in den Urteilsgr�ndenverpflichtet sind, ist – �ber den historisch bedingt engerenWortlaut des § 267 Abs. 1 StPO hinaus1 – grunds�tzlich an-erkannt.2 Anderenfalls w�re es den Revisionsgerichten nichtm�glich, den Vorgang der Beweisw�rdigung auf m�glicheRechtsfehler hin zu �berpr�fen. Die Pflicht zu deren Darstel-lung ist damit die notwendige Folge einer Entwicklung, inderen Konsequenz die Revisionsgerichte (mit Recht) auchdie rechtliche �berpr�fung der Beweisw�rdigung f�r sichbeanspruchen.3 Selbstverst�ndlich kann daraus nicht folgen,dass die Tatgerichte die Beweisw�rdigung in allen Einzelhei-ten dokumentieren m�ssen. Hinsichtlich ihres intuitiven An-teils ist das schon theoretisch ausgeschlossen. Aber auch derintersubjektiv vermittelbare Anteil richterlicher Beweisw�r-digung kann nicht vollst�ndig in den Urteilsgr�nden erl�u-tert werden, ohne die Strafgerichte praktisch zu �berfordern.Es muss deshalb gen�gen, den rationalisierbaren Anteil derW�rdigung im Wesentlichen zu dokumentieren.4 Dabeimuss sich aus dem Urteil allerdings auch ergeben, dass dasGericht die Erfahrungss�tze beachtet hat, die f�r die W�rdi-gung eines Beweismittels im konkreten Fall von zentraler Be-deutung waren5 und deren Nichtbeachtung einen mit derSachr�ge anfechtbaren Rechtsfehler darstellt.6

II. Aktenkenntnis des Zeugen. Angesichts dieser Maßst�begeht der 5. Strafsenat in seiner erg�nzenden Bemerkungzum vorstehenden Verwerfungsbeschluss offenbar davonaus, dass der aussagepsychologisch gesicherte Erfahrungssatz,wonach die Aktenkenntnis eines Zeugen den (subjektiven)Wahrheitsgehalt seiner Aussage tr�ben kann,7 f�r die W�r-digung seiner Aussage in der Regel keinen zentralen Erfah-rungssatz darstellt. Soweit die Begr�ndung der Entscheidungauf den ersten Blick nahelegt, dass in reinen Aussage-ge-gen-Aussage-Konstellationen anderes gilt, erweist sich dieseEinsch�tzung bei n�herer Betrachtung als wenig belastbar.Daf�r spricht bereits die zur�ckhaltende Diktion: Bei Aussa-ge gegen Aussage kann nach der Begr�ndung der vorstehen-den Entscheidung anderes gelten, und das auch nur, wenn esin besonderem Maße auf eine Konstanz-Analyse ankommt.Dar�ber hinaus hat der 5. Strafsenat in einem nur kurzeZeit sp�ter ver�ffentlichten Beschluss vom 05.04.20168 ein-deutig klargestellt: Auch in dieser besonderen Beweissituati-on bestehe in der Regel nicht die Notwendigkeit der Er�rte-rung in den Urteilsgr�nden. Die Aktenkenntnis sei nur dannvon zentraler Bedeutung f�r die Beweisw�rdigung, wennkonkrete Anhaltspunkte f�r eine Falschaussagemotivationvorl�gen.

Damit h�lt der 5. Strafsenat die Aktenkenntnis des Zeugenpraktisch nur dann f�r einen im Rahmen der Beweisw�rdi-gung relevanten Umstand, wenn der Verdacht besteht, dassder Zeuge seine Aussage bewusst an die ihm aus den Aktenbekannten Ermittlungsergebnisse anpasst, um auf diese Wei-se die Konstanz einer bewusst falschen Aussage vorzut�u-schen. Das �berzeugt nicht. Richtig ist zwar, dass die Akten-kenntnis im Fall einer bewusst falschen Aussage die Konstanzals Kriterium f�r die Glaubhaftigkeit der Aussage entwertet.Deshalb ist dem 5. Strafsenat uneingeschr�nkt darin beizu-pflichten, dass bei Anhaltspunkten f�r eine Falschbelastungder Umstand der Aktenkenntnis bei der Beweisw�rdigung in

Rechnung zu stellen ist. Entgegen der – explizit erst in derEntscheidung vom 05.04.2016 enthaltenen – Einsch�tzungdes 5. Strafsenats9 ist die Aktenkenntnis aber nicht nur pro-blematisch, wenn ein Falschbelastungsmotiv erkennbar ist.Aussagepsychologisch gilt es als gesicherte Erkenntnis, dassdas Langzeitged�chtnis nicht zuverl�ssig zwischen eigenenWahrnehmungen und anderweitig erlangten Informationenunterscheiden kann.10 Im Fall der Aktenkenntnis muss des-halb auch die Gefahr unbewusst falscher Angaben ber�ck-sichtigt werden.11 Diese Gefahr wird sich zwar – anders alsim Fall der bewussten Falschbelastung – in der Regel nichtauf die gesamte Aussage, sondern nur auf einzelne Angabenerstrecken, mit denen die eigene Erinnerung angereichertwurde. Diese k�nnen bei der Beweisw�rdigung aber ent-scheidendes Gewicht erlangen, weshalb sich das Gericht je-denfalls unter diesem Gesichtspunkt mit der Aktenkenntnisdes Zeugen auseinandersetzen muss. Spielt die Aussage einemaßgebliche Rolle bei der Beweisw�rdigung, folgt daraus zu-gleich die Pflicht zur Er�rterung im Urteil, denn es ist nichtersichtlich, warum die Gefahr unbewusst falscher Angabenweniger gewichtig sein soll als die Gefahr einer bewusst wahr-heitswidrigen Aussage. Dies gilt umso mehr, als der in Rech-nung zu stellende Erfahrungssatz nach allgemeiner subjekti-ver Wahrnehmung kontraintuitiv ist.

Vor diesem Hintergrund tragen die vom 5. Strafsenat ins Feldgef�hrten Argumente die von ihm f�r richtig gehalteneRechtsauffassung nicht. Dies gilt zun�chst f�r den Hinweis,dass die Aktenkenntnis des Angeklagten nicht zu der Annah-me dr�nge, dass dessen Aussage unrichtig sei.12 Dieses Argu-ment �berzeugt allenfalls, soweit es um die Gefahr der be-wussten Falschbelastung geht. Die Kenntnis der Ermittlungs-ergebnisse indiziert eine solche selbstverst�ndlich nicht,weshalb unter diesem Gesichtspunkt ohne ein erkennbaresFalschbelastungsmotiv kein Anlass besteht, die Akteneinsichtals problematisch zu erachten.13 Das Argument geht aber

1 Siehe dazu SK-StPO/Velten, 5. Aufl. 2016, § 267 Rn. 33.2 Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 59. Aufl. 2016, § 267 Rn. 12; KK-StPO/Ott,

7. Aufl. 2013, § 261 Rn. 81; SK-StPO/Velten (Fn. 1), § 261 Rn. 34 und § 267Rn. 33.

3 Siehe etwa BGHSt 16, 204 (205 f.); BGH NStZ-RR 2010, 182 (183); KK-StPO/Ott (Fn. 2), § 261 Rn. 81, 83.

4 Meyer-Goßner/Schmitt-StPO (Fn. 2), § 267 Rn. 12.5 SK-StPO/Velten (Fn. 1), § 261 Rn. 45.6 Vgl. BGHSt 16, 204 (205 f.) f�r den Fall des zweifelhaften Beweiswerts des

wiederholten Wiederkennens; allgemein zur Revisibilit�t bei der Nichtbeach-tung von Erfahrungss�tzen SK-StPO/Velten (Fn. 1), § 261 Rn. 45 und SK-StPO/Frisch, 4. Aufl. 2014, § 337 Rn. 139, wobei Velten mit Recht zwischenden als Mittel und als Gegenstand der Beweisw�rdigung in Betracht kommen-den Erfahrungss�tzen differenziert (SK-StPO/Velten [Fn. 1], § 261 Rn. 44 f.).

7 Vgl. OLG Hamburg NStZ 2015, 105 (107); M�Ko-StPO/Miebach, 2016,§ 261 Rn. 232, 239; BeckOK-StPO/Eschelbach, 26. Ed. 2016, § 261 Rn. 55;Baumh�fener NStZ 2014, 135 (136 f.).

8 BGH, Beschl. v. 05.04.2016 – 5 StR 40/16 = JR 2016, 391 m. abl. Anm.Eisenberg = NStZ 2016, 367 m. abl. Anm. Gubitz.

9 BGH, Beschl. v. 05.04.2016 – 5 StR 40/16, S. 3 letzter Absatz = NStZ 2016,367 = JR 2016, 391.

10 Daber, in: Deckers/K�hnken (Hrsg.), Zur Bewertung und Erhebung von Zeu-genaussagen im Strafprozess, 2. Aufl., 2007, S. 170 ff.; zu dieser Problematikim Kontext von Gespr�chen mit anderen Beweispersonen oder der Berichter-stattung in den Medien Bender StV 1984, 127 (128).

11 OLG Hamburg NStZ 2015, 105 (107 Rn. 18); SK-StPO/Velten (Fn. 1),§ 406e Rn. 19; Eisenberg JR 2016, 392.

12 Baumh�fener NStZ 2014, 135 (136).13 Dies gilt auch deshalb, weil das Gericht dann in die Urteilsgr�nde lediglich

aufnehmen k�nnte, dass seines Erachtens keine Anhaltspunkte f�r eine (be-wusste) Falschbelastung best�nden. Dass eine Falschbelastungstendenz durchdie Aktenkenntnis verschleiert werden kann (Eisenberg JR 2016, 392), ist in

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StV 3 · 2017 147

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Entscheidungen Verfahrensrecht Anmerkung Deiters

fehl, sobald man die nicht minder bedeutsame Gefahr unbe-wusst falscher Angaben in Rechnung stellt. Insoweit birgt dieAktenkenntnis selbst die Gefahr der Verf�lschung der Aussa-ge. Und dieser Umstand legt es nahe, dass die Aussage inentscheidenden Details unbewusst falsch sein k�nnte.

Schließlich rechtfertigt auch der Hinweis darauf, dass derZeuge berechtigt sei, sich auf seine Aussage vorzubereiten,keine andere Sichtweise. Das Argument ist schon methodischzweifelhaft. Die f�r die Beweisw�rdigung maßgeblichen Re-geln sind nicht normativen Ursprungs. �ber sie wird nichtnach rechtlichen, sondern allein nach erfahrungswissen-schaftlichen Maßst�ben entschieden.14 Die Anerkennungdes Vorbereitungsrechts eines Zeugen ist hingegen eine aus-schließlich normative Entscheidung. Dieses Recht ver�ndertdie Risiken, die von der Aktenkenntnis f�r den Wahrheitsge-halt der Aussage ausgehen, infolgedessen nicht. Dass dieseGefahren ungeachtet etwaiger Rechte des Zeugen bei derW�rdigung seiner Aussage ber�cksichtigt werden m�ssen,folgt nun aber zwingend aus dem Ziel der materiellen Wahr-heitserforschung als verfassungsfestem15 Grundsatz des Straf-verfahrens. Pointiert: Das Vorbereitungsrecht des Zeugen istkein geeignetes Argument daf�r, ein erh�htes Fehlverurtei-lungsrisiko in Kauf zu nehmen. Deshalb k�nnen weder die-ses noch das des Zeugen unter den Kautelen des § 406e StPOzustehende Akteneinsichtsrecht ein Argument daf�r sein,dass sich ein Tatgericht bei der W�rdigung der Aussage desZeugen nicht mit dessen Kenntnis der Ermittlungsergebnisseauseinandersetzen muss.

Interessanterweise besagt die vom 5. Strafsenat in Bezug ge-nommene Entscheidung des BGH vom 28.11.195016 dennauch nicht, dass der Zeuge das Recht habe, sich durch dasStudium der vollst�ndigen Ermittlungsakte auf seine Aussagevorzubereiten. Zu entscheiden hatte der BGH seinerzeit le-diglich, ob es problematisch ist, einem Polizeibeamten dasProtokoll der selbst gef�hrten Vernehmung zur Auffrischungdes Ged�chtnisses vorzulesen. Diese Praxis hielt der BGH f�runbedenklich, weil ein Zeuge »nicht nur das Recht, sondernunter Umst�nden sogar die Pflicht [hat], sich fr�herer Auf-zeichnungen als Ged�chtnisst�tzen zu bedienen, um sein Er-innerungsbild aufzufrischen und gegebenenfalls zu berichti-gen.«17 Das ist nun freilich ein v�llig anders gelagerter Fall.Die Vorbereitung durch Lekt�re des selbst erstellten Proto-kolls oder anderweitiger selbst erstellter Aufzeichnungen gehtzwar auch mit der Gefahr einher, dass bei der Aussage etwasbekundet wird, an das sich der Zeuge aufgrund der Vorbe-reitung nur zu erinnern glaubt.18 Indes: Die im Protokolldokumentierte Aussage hat er – vom Fall der bewussten Ma-nipulation des Protokolls einmal abgesehen – im Zeitpunktder Aufzeichnungen immerhin mit hoher Wahrscheinlich-keit tats�chlich wahrgenommen.19 Das schließt selbstver-st�ndlich nicht aus, dass der Beamte Aussagen bei der Proto-kollierung falsch versteht oder missdeutet und das Protokolldeshalb fehlerhaft ist. Im Fall der Kenntnisnahme des gesam-ten Inhalts der Ermittlungsakte ist aber zus�tzlich zu besor-gen, dass eigene Wahrnehmungen unbewusst durch best�ti-gende anderweitige Ermittlungsergebnisse erg�nzt werden.Deshalb h�tte der 1. Strafsenat in seiner Entscheidung ausdem Jahr 1950 wohl auch kaum entschieden, dass der Poli-zeibeamte, dem die vollst�ndigen Ermittlungsakten zur Ver-f�gung stehen, das Recht und unter Umst�nden sogar die

Pflicht habe, sich dieser zur Vorbereitung auf seine Aussagezu bedienen.

III. Fazit. Das Vorbereitungsrecht des Zeugen legitimiertdemzufolge nicht die Rechtsansicht des 5. Strafsenats. Viel-mehr legt dieses Recht nahe, bei der Gew�hrung von Akten-einsicht Zur�ckhaltung walten zu lassen. Eine Gef�hrdungdes Untersuchungserfolges nach § 406e Abs. 2 S. 2 StPOd�rfte deshalb – entgegen der nicht einheitlichen, aber h�u-fig zu weitgehenden Rechtsprechung20 – schon immer dannanzunehmen sein, wenn der Aussage des Verletzten sp�terentscheidende Bedeutung im Rahmen der Beweisw�rdigungzukommen k�nnte.21

Ist gleichwohl vor der Aussage in der Hauptverhandlung Ak-teneinsicht gew�hrt worden und l�sst sich nicht ausschließen,dass der Zeuge sie zur Kenntnis genommen hat,22 m�ssen diedamit einhergehenden Gefahren f�r den Wahrheitsgehalt derAussage bei der Beweisw�rdigung ber�cksichtigt werden.Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Entscheidung f�rdie Gew�hrung der Akteneinsicht seinerzeit richtig oderfalsch war.23 Diese Frage kann allenfalls f�r ein gelegentlichin Betracht gezogenes Verwertungsverbot bei rechtswidrigerGew�hrung der Einsicht Bedeutung erlangen.24 Entschei-dend ist allein, dass die Kenntnis der Ermittlungsergebnissedie Gefahr bewusster oder unbewusster Anpassung der Aus-sage an den Akteninhalt in sich birgt. Aus dem Gebot derBeachtung einschl�giger Erfahrungsregeln folgt deshalb,dass die Tatgerichte sich mit diesen Risiken f�r die Tatsa-chenfeststellung im Rahmen der ihnen obliegenden Beweis-w�rdigung auseinandersetzen und dazu in der Regel auch inden Gr�nden Stellung beziehen m�ssen. Etwas anderes kannnur gelten, wenn die �brigen Beweise die Feststellungen oh-nehin tragen.25

Der Rechtsansicht des 5. Strafsenats ist folglich zu widerspre-chen. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Linie in der Recht-sprechung nicht fortsetzt. F�r die Verteidigung wird die Ent-

diesem Zusammenhang zwar richtig – �ndert aber nichts daran, dass das Ge-richt bei fehlenden Anhaltspunkten f�r ein solches Motiv sich in seiner Beweis-w�rdigung mit dieser Gefahr nicht substanziell auseinandersetzen kann.

14 Dass diese Regeln im Kontext der Revision ihrerseits als Rechtsregeln aner-kannt sind, �ndert daran nichts.

15 BVerfGE 133, 168 = StV 2013, 35316 BGHSt 1, 4.17 BGHSt 1, 4 (8).18 Ausf. dazu Eisenberg JR 2016, 392.19 Zur Problematik der Vorbereitung anhand von Aufzeichnungen und Protokol-

len Bender StV 1984, 127 (131).20 Sehr weitgehend etwa BGH NJW 2005, 1519 (1529) und OLG Braunschweig

NStZ 2016, 629 m. zust. Anm. Sch�ch; zur�ckhaltender OLG HamburgNStZ 2015, 105 (106 f.) m. zust. Anm. Radtke: Jedenfalls eine Beschr�nkungder Akteneinsicht sei zwingend, wenn Aussage gegen Aussage steht.

21 OLG D�sseldorf, Beschl. v. 26.05.2014 – 1 Ws 196/14, JurionRS 2014,38159; dazu Eisenberg JR 2016, 394; Gubitz NStZ 2016, 368 (369); Schlot-hauer StV 1987, 356 (357); SK-StPO/Velten (Fn. 1), § 406e Rn. 19. ImGrundsatz ebenso, aber f�r eine Beschr�nkung der Akteneinsicht auf die Be-standteile, die keine »Kontaminierung« der Zeugenaussage bef�rchten lassen:Hilgert NJW 2016, 985 (988).

22 Bei der Beurteilung dieser Frage kann es ein gewichtiges Indiz sein, ob derNebenklagevertreter zugesichert hat, die Akten dem Nebenkl�ger selbst nichtzur Verf�gung zu stellen, vgl. OLG Braunschweig NStZ 2016, 629 (631).Selbstverst�ndlich muss zugleich sichergestellt sein, dass der Nebenkl�ger nichtanderweitig durch seinen Anwalt �ber den Akteninhalt informiert wurde.

23 So auch der 1. Strafsenat in BGH NJW 2005, 1519 (1529).24 SK-StPO/Velten (Fn. 1), § 406e Rn. 19.25 Dies d�rfte trotz der zahlreichen weiteren außerhalb der Aussage liegenden

Beweisanzeichen im zugrundeliegenden Verfahren nicht der Fall gewesen sein.Die Nebenkl�gerin war, wie die Entscheidung mitteilt, die einzige Tatzeugin.

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148 StV 3 · 2017

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Anmerkung Deiters Verfahrensrecht Entscheidungen

scheidung es zun�chst schwieriger machen, das Problem derAktenkenntnis eines verletzten Zeugen zu problematisieren.An der sachlich begr�ndeten Notwendigkeit, dies zu tun, �n-dert sich aber nichts.

Prof. Dr. Mark Deiters, M�nster (Westf.).

Notwendige Verteidigung beianwaltlichem Beistand auf Kosten desVerletztenStPO § 140 Abs. 1 Nr. 9, Abs. 2 S. 1

1. Hat sich der Verletzte auf eigene Kosten oder im Wegevon Prozesskostenhilfe eines anwaltlichen Beistands ver-sichert, folgt aus diesem m�glichen strukturellen Vertei-digungsdefizit noch keine zwingende Beiordnungsnot-wendigkeit.

2. Notwendig aber auch hinreichend ist eine an den Um-st�nden des Einzelfalls orientierte gerichtliche Pr�fungder F�higkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung,in die namentlich die rechtlichen Befugnisse des Verletz-ten einerseits und das Verteidigungsverhalten des Ange-klagten sowie die Komplexit�t von Anklagevorwurf undBeweislage andererseits einzustellen sind.

3. Hierbei kommt insbes. einer differenzierenden Be-trachtung der dem Verletzten im Einzelfall konkret zuste-henden rechtlichen Befugnisse besondere Bedeutung zu;Bedacht ist etwa darauf zu nehmen, dass der nebenkla-gende Verletzte eine mit der Stellung der Anklagebeh�r-de korrespondierende – die Beiordnung regelm�ßig be-gr�ndende – Verfahrensrolle innehat. (amtl. Leits�tze)

OLG Hamburg, Beschl. v. 19.11.2015 – 1 Ws 160/15

Aus den Gr�nden: I. Das AG Hamburg hat den Angekl. am26.02.2015 wegen vors�tzlicher K�rperverletzung zu einer Geld-strafe von 60 Ts. sowie zur Zahlung von 3.000 E an den Adh�si-onskl. verurteilt. [...] Die hiergegen vom Angekl. fristgerecht einge-legte Berufung hat das LG verworfen. Mit seiner vor Beginn derBerufungshauptverhandlung eingegangenen Beschwerde wendetsich der Angekl. gegen die Ablehnung seines Antrags auf Bestellungeines Verteidigers.

II. Die Beschwerde des Angekl. gegen die Versagung der Verteidi-gerbestellung ist zul�ssig (§ 304 StPO); in der Sache bleibt ihr indesder Erfolg versagt.

1. Die Anordnungsvoraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPOliegen nicht vor.

a) Nach dem hier allein in Betracht kommenden § 140Abs. 1 Nr. 9 StPO ist ein Fall notwendiger Verteidigungnur dann gegeben, wenn dem Verletzten nach § 397a oder§ 406g Abs. 3 und 4 StPO ein RA gerichtlich beigeordnetworden ist. Daran fehlt es hier.

b) Auch eine entsprechende Anwendung dieser Regelungkommt nicht in Betracht. Es fehlt bereits an einer planwid-rigen Regelungsl�cke. Vor dem Hintergrund des aus den Ge-setzesmaterialien klar erkennbaren gesetzgeberischen Willensbesteht kein Raum f�r ein weitergehendes Normverst�ndnis(vgl. BT-Drs. 17/6261, S. 11; ferner KG, Urt. v. 14.03.2012– (4) 161 Ss 508/11 (41/12), StV 2012, 714; so auch vgl.LR-StPO/L�derssen/Jahn, 26. Aufl., Nachtrag § 140 Rn. 36).

2. Auch nach den Voraussetzungen der Generalklausel des § 140Abs. 2 StPO war eine Verteidigerbeiordnung hier nicht geboten.Hierzu hat die GStA ausgef�hrt:

»aa) Die Mitwirkung eines Verteidigers ist nicht wegen der Schwereder dem Bf. zur Last gelegten Tat geboten [...].

bb) Auch wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage er-scheint die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht erforderlich.[...]

Hier geht es allein um gekl�rte Fragen des K�rperverletzungsbe-stands, die eine Mitwirkung eines Verteidigers nicht erforderlichmachen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist die Rechtslage eben-falls einfach.

Es ist nach dem Gest�ndnis des Angekl. weder ein l�nger andau-erndes Verfahren mit zahlreichen Zeugenvernehmungen, noch dieErhebung schwieriger (Indizien-)Beweise zu erwarten. Es handeltsich um ein ausschließlich gegen den Angekl. gef�hrtes Verfahrenohne Mitangekl. [...]

cc) Schließlich sind keine Anhaltspunkte daf�r ersichtlich, dass derAngekl. sich nicht selbst verteidigen k�nnte. [...] Der Angekl. kannsich unschwer bei der hier vorliegenden Fallgestaltung selbst vertei-digen. Dass er hierzu in der Lage ist, hat er im vorliegenden Ver-fahren schon mehrfach – zuletzt in der Hauptverhandlung vor demAG und durch Einlegung des Rechtsmittels – unter Beweis gestellt.«

Dem schließt sich der Senat an.

3. Der Senat bemerkt erg�nzend:

Eine Beiordnung war hier auch nicht aus Gr�nden der –ebenfalls in der Generalklausel des § 140 Abs. 2 S. 1 StPOangelegten – Verfahrensfairness und Waffengleichheit veran-lasst.

a) Die durch das Gericht herzustellende Waffengleichheit f�rden Angekl. kann eine Verteidigerbeiordnung gebieten,wenn der Verletzte durch einen von ihm gew�hlten RA ver-treten wird (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl.,§ 140 Rn. 31 m.w.N.; L�derssen/Jahn a.a.O., Rn. 36;KMR-StPO/Haizmann, Stand M�rz 2012, § 140 Rn. 38).

aa) Dies folgt bereits aus den Wertungen des Gesetzes zurSt�rkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs(BGBl. 2013 I, S. 1805 – StORMG). Hiermit wurde§ 140 Abs. 1 StPO um solche Konstellationen erweitert, indenen dem Verletzten nach § 397a oder § 406g Abs. 3 und 4StPO ein RA gerichtlich beigeordnet worden ist (vgl. § 140Abs. 1 Nr. 9 StPO). Damit sollte aus Gr�nden des fairenVerfahrens solchen problematischen Verfahrenssituation vor-gebeugt werden, in denen ein unverteidigter Angekl. einemanwaltlichen vertretenen Verletzten »alleine gegen�bertretenmuss« (vgl. BT-Drs. 17/6261, S. 11). Diese – schon durchden »fachkundigen Rechtsrat« f�r den Verletzten begr�ndete(vgl. BT-Drs. 10/6124, S. 13 – OpferschutzG) – unterlegenePosition eines unverteidigten Angekl. kann indes in gleicherWeise auch dann bestehen, wenn sich der Verletzte auf eigeneKosten oder im Wege von Prozesskostenhilfe (§ 397a Abs. 2StPO) eines anwaltlichen Beistands versichert. Diesem ste-hen – abgeleitet aus dem Recht des Verletzten in seiner kon-kreten Verfahrensrolle (vgl. LR-StPO/Wenske, 26. Aufl.,Nachtrag zu § 397 Rn. 15 und zu § 406 f. Rn. 7) – dieselbenrechtlichen Befugnisse wie dem durch einen gerichtlich be-stellten Beistand vertretenen Verletzten zu. Dem auch hier-durch begr�ndeten strukturellen Verteidigungsdefizit kann

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 149/212] 4

StV 3 · 2017 149

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Entscheidungen Verfahrensrecht Anmerkung Beulke/Sander

durch die Maßgaben des § 147 Abs. 7 StPO oder durch ge-richtliche F�rsorge f�r den in der Hauptverhandlung unver-teidigten Angekl. nicht in jedem Fall in geeigneter Weise be-gegnet werden (zur Reichweite gerichtlicher F�rsorge etwaMaiwald, in: FS Lange, 1976, S. 745 m.w.N.), zumal dabei vielfachen gerichtlichen Hinweisen an den Angekl. erheb-liche Verfahrensverz�gerungen auch wegen hierdurch veran-lasster Ablehnungsgesuche des anwaltlich vertretenen Ver-letzten zu besorgen stehen.

bb) Mit Blick auf die eindeutige gesetzgeberische Wertent-scheidung in § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO folgt aus diesem m�g-lichen strukturellen Verteidigungsdefizit f�r § 140 Abs. 2S. 1 StPO indes keine zwingende Beiordnungsnotwendig-keit. Notwendig aber auch hinreichend ist eine an den Um-st�nden des Einzelfalls orientierte gerichtliche Pr�fung derF�higkeit des Angekl. zur Selbstverteidigung trotz einer be-stehenden anwaltlichen Vertretung des Verletzten (BT-Drs.17/6261, S. 11; BR-Drs. 213/11, S. 13; Meyer-Goß-ner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 140 Rn. 31; KK-StPO/Lauf-h�tte/Willnow, 7. Aufl., § 140 Rn. 19; a.A. SSW-StPO/Beul-ke, § 140 Rn. 33; L�derssen/Jahn a.a.O., Rn. 36).

cc) In diese nach pflichtgem�ßem vorzunehmende W�rdi-gung der Umst�nde des Einzelfalls sind namentlich die recht-lichen Befugnisse des Verletzten und ihr tats�chlicher, auchabsehbarer Gebrauch durch diesen einerseits und das Vertei-digungsverhalten des Angekl. – etwa sein Einlassungsverhal-ten – sowie die Komplexit�t von Anklagevorwurf und Be-weislage andererseits einzustellen. Hierbei kommt nament-lich einer differenzierenden Betrachtung der dem Verletztenim Einzelfall konkret zustehenden rechtlichen Befugnisse be-sondere Bedeutung zu. Bedacht ist insbes. darauf zu nehmen,dass der nebenklagende Verletzte (§ 395 StPO) mit den in§ 397 StPO geregelten prozessualen Gestaltungsrechten so-wie mit seinen weitreichenden Informationsrechten (vgl.etwa § 406e Abs. 1 S. 2 StPO) eine mit der Stellung der An-klagebeh�rde korrespondierende Verfahrensrolle innehat.Diese Verfahrensmacht wird regelm�ßig bereits f�r sich dieAnnahme eines die Beiordnung erfordernden strukturellenVerteidigungsdefizits begr�nden, es sei denn die Sachlageist ausnahmsweise rechtlich wie tats�chlich ganz besonderseinfach gelagert. Dies gilt f�r den Verletzten nach §§ 406d,406 f., 406h StPO sowie den nebenklagebefugten Verletzten– schon mangels Anwendbarkeit des § 397 StPO – nicht ingleicher Weise. In jedem Fall aber ist weiter zu bedenken,dass ein anwaltlich vertretener Verletzter von seinen Gestal-tungsrechten regelm�ßig in einer �ber den Verfahrensgegen-stand durch die Akteneinsicht umfassend informierten WeiseGebrauch macht (zu im Einzelfall etwa bestehenden Versa-gungsgr�nden vgl. Senatsbeschl. v. 24.10.2014 – 1 Ws110/14, NStZ 2015, 105 m. Anm. Radtke [= StV 2015,484]). Auch hierdurch kann sich ein Verteidigungsdefizitvertiefen.

b) Gemessen an hieran gebieten weder die Waffengleichheitnoch die Verfahrensfairness eine Verteidigerbestellung durchdie BerufungsStrK. In diese Bewertung hat der Senat zun�chstdie vom Verletzten eingenommene Verfahrensrolle einge-stellt. Nachdem er seinen Antrag auf Zulassung der Neben-klage zur�ckgenommen und in der Hauptverhandlung ledig-lich noch seinen Adh�sionsantrag gestellt hat (§ 404 StPO),behandelte ihn das AG fortan erkennbar als nebenklagebe-

fugten Verletzten (§ 406g StPO); anders ist die durchgehen-de Anwesenheit seines anwaltlichen Beistands in der Haupt-verhandlung nicht erkl�rlich (vgl. §§ 406 f., 406g Abs. 2StPO). Dass diesem – die Befugnisse aus § 406g StPO gar�berschießend – das Recht auf einen Schlussvortrag nach§ 258 Abs. 1 StPO gew�hrt wurde (vgl. allein f�r den Ne-benkl. § 397 Abs. 1 S. 2 StPO), ist f�r die Bewertung seinerVerfahrensrolle freilich ohne Aussagekraft. Daher verf�gt derVerletzte und Adh�sionskl�ger hier �ber die weitreichendenrechtlichen Befugnisse aus § 406g StPO sowie �ber die in§§ 406d ff. StPO begr�ndeten umfassenden Informations-rechte. Letztere bet�tigte der Verletztenbeistand. Ihm wurdeim Ermittlungs- bzw. Zwischenverfahren jeweils Aktenein-sicht bewilligt (vgl. § 406e StPO).

Dem steht ein �ber den Inhalt der Verfahrensakten infor-mierter Angekl. gegen�ber. Zwar war dem Angekl. vor Be-willigung der Akteneinsicht an den Verletzten und damit vordem Eingriff in seine Pers�nlichkeitsrechte – was gesetzlichgeboten gewesen w�re (vgl. nur in LR-StPO/Wenske,26. Aufl., Nachtrag zu § 406e Rn. 4) – weder durch die An-klagebeh�rde noch durch das AG rechtliches Geh�r gew�hrtworden. Auch waren dem Angekl. keine Aktenausk�nftenach § 147 Abs. 7 StPO erteilt worden. Ein Vertreter der�ffentlichen Rechtsauskunfts- und Vergleichsstelle Ham-burg hatte aber den gesamten Akteninhalt mit dem Angekl.besprochen und sodann in dessen Namen eine gest�ndigeEinlassung zur Akte gebracht. Vor diesem Hintergrund undmit Blick auf den besonders einfach gelagerten Sachverhalt,das bereits im Ermittlungsverfahren durch den Angekl. ge-gen�ber der Polizei abgelegte und zumindest in Teilen in derHauptverhandlung vor dem AG wiederholte Gest�ndnis so-wie die erleichterten Beweisf�hrungsm�glichkeiten der§§ 325, 254 StPO im Berufungsrechtszug lag im hier maß-geblichen Zeitpunkt f�r das LG kein strukturelles Ungleich-gewicht vor. Daran �ndert es schließlich auch nichts, dasskeine Belehrung des Angekl. �ber sein Recht erfolgt ist, alsAdh�sionsbeklagter Prozesskostenhilfe beantragten zu k�n-nen (§ 404 Abs. 5 StPO).

c) Dass die vom AG verh�ngte Geldstrafe ihren Zweck, ge-rechter Schuldausgleich zu sein, schon angesichts der Schwe-re der durch den Gesch�digten erlittenen Gesichtsverletzun-gen auch bei dem gest�ndigen und bisher unbestraften An-gekl. verfehlt, �ndert mit Blick auf § 331 StPO an dieserrechtlichen Bewertung durch den Senat f�r den Berufungs-rechtszug nichts.

Mitgeteilt vom 1. Strafsenat des OLG Hamburg.

Anmerkung: I. Einf�hrung. Der Grundsatz des »fair trial«und das aus ihm ableitbare Gebot der Waffengleichheit zwi-schen Anklage und Verteidigung gewinnt im deutschenStrafprozess immer mehr an Bedeutung, was sich sowohl inder Rechtsprechung1 als auch in der Lehre2 widerspiegelt. Esgeht hierbei im Allgemeinen darum, die Balance zwischenden verschiedenen Verfahrensbeteiligten zu halten und eineungerechtfertigte Bevorteilung einer Seite zu verhindern.Zwar ist vor einer zu ausufernden Ber�cksichtigung desFair-trial-Grundsatzes zu warnen, wenn damit eine Relativie-

1 Vgl. beispielhaft BVerfG NJW 2014, 2563.2 Vgl. Beulke, Strafprozessrecht, 13. Aufl. 2016, Rn. 28.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 150/212] 4

150 StV 3 · 2017

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Anmerkung Beulke/Sander Verfahrensrecht Entscheidungen

rung der Verfahrensvorschriften der StPO einhergeht,3 je-doch kann nicht mehr geleugnet werden, dass es sich hierbeium einen prozessualen Mindestgrundsatz handelt, der alssolcher im Rahmen der tradierten methodischen Auslegungder Verfahrensvorschriften der StPO unbedingt ber�cksich-tigt werden muss.4 Dabei spielt es im Ergebnis keine Rolle,welcher Rechtss�tze man sich zur Herleitung dieses Grund-satzes bedient, n�mlich entweder des Rechtsstaatsprinzips desArt. 20 Abs. 3 GG i.V.m. dem Freiheitsrecht des Art. 2Abs. 1 GG5 oder einer Gesamtschau der Art. 1 Abs. 2 S. 2,20 Abs. 3, 101 Abs. 1 S. 2, 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 S. 1EMRK,6 denn stets bedarf es sowohl der verfassungskonfor-men7 als auch der konventionskonformen8 Auslegung desdeutschen Strafprozessrechts – unter Beachtung der Interpre-tation der EMRK durch den EGMR.9

II. Instanzenzug. Diese Auslegungsgrunds�tze gelten selbst-verst�ndlich auch f�r die Vorschrift des § 140 Abs. 2 StPO,welche das rechtliche Fundament des Beschlusses des Han-seatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 19.11.2015 bil-det. Nun kann dem 1. Strafsenat nicht vorgeworfen werden,die Grunds�tze des »fair trial« und der Waffengleichheit indem hier zur Rede stehenden Beschluss nicht ausreichendber�cksichtigt zu haben. Anders als einige fr�here Entschei-dungen,10 geht das OLG Hamburg relativ ausf�hrlich auf diegenannten Prozessgrunds�tze ein. Gleichwohl hinterl�sst derBeschluss einen h�chst zwiesp�ltigen Eindruck, denn aus denhehren Grunds�tzen werden leider letztendlich die eigentlichauf der Hand liegenden Konsequenzen doch nicht gezogen.Trotz vollmundiger rechtsstaatlicher Erw�gungen dominiertder Eindruck einer harschen Absage an den �berdurch-schnittlich gebildeten Antragsteller, bei einem einfach gela-gerten Sachverhalt auch noch anwaltliche Hilfe (auf Staats-kosten) in Anspruch nehmen zu wollen.

Zur Aburteilung standen die Folgen einer Grillparty, bei dereine verbale Auseinandersetzung offensichtlich »entgleiste«und der sp�tere Angeklagte seinem »Bekannten«, dem sp�te-ren nebenklageberechtigten Verletzten und Adh�sionskl�ger,mittels Faust und Ellenbogen das Gesicht maltr�tierte. DerSchl�ger wurde vom AG zu einer Geldstrafe von 60 Tagess�t-zen sowie zur Zahlung von 3.000 Euro an den Adh�sionskl�-ger verurteilt. Das LG verwarf die hiergegen eingelegte Beru-fung. In beiden Instanzen blieb der Angeklagte unverteidigt.Einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers stellteder Angeklagte anscheinend erst in der Berufungsinstanz.Das LG verneinte jedoch das Vorliegen einer notwendigenVerteidigung und das OLG hat im hiesigen Beschluss die da-gegen eingelegte Beschwerde zur�ckgewiesen.

III. Notwendige Verteidigung. Das strafprozessuale Problem,um das es geht, liegt auf der Hand: Zwar sieht § 140 Abs. 1Nr. 9 StPO vor, dass ein Fall notwendiger Verteidigung vor-liegt, wenn dem Verletzten nach § 397a StPO als Nebenkl�-ger oder nach § 406g Abs. 3 und 4 StPO als nebenklagebe-rechtigter Verletzter ein Rechtsanwalt »beigeordnet« wordenist. Das war hier aber nicht der Fall, vielmehr hatte der Ver-letzte seinen Rechtsanwalt privat beauftragt. Da – wie dervorliegende Beschluss zutreffend hervorhebt – auch eine ana-loge Anwendung des § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO ausscheidet,weil der Gesetzgeber des StORMG bei der Neuregelung des§ 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO die notwendige Verteidigung inso-weit ausdr�cklich auf den Fall richterlicher »Beiordnung« des

Verletztenanwalts begrenzt hat,11 sodass es an der Planwid-rigkeit der Regelungsl�cke fehlt, ist hier allein entscheidend,ob im Falle »privater« Beauftragung des Anwalts durch denVerletzten auf die allgemeine Regel des § 140 Abs. 2 StPOzur�ckgegriffen werden kann.

Dass dies im Prinzip m�glich ist, wird – soweit ersichtlich –von niemandem bestritten. § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO hat alsokeinen abschließenden Charakter. Andererseits muss aus derbesonderen Behandlung der »Beiordnungskonstellation« in§ 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO der Schluss gezogen werden, dasseine uneingeschr�nkte (zwingende) Verteidigerbestellung beiprivater Auftragserteilung nach dem Muster des § 140 Abs. 1Nr. 9 StPO ausscheidet. Auch dar�ber scheint Einigkeit zubestehen. Gestritten wird hingegen �ber den konkreten Ab-w�gungsmodus im Rahmen der geforderten Auslegung des§ 140 Abs. 2 StPO. Dabei spricht sich eine verbreitete Auf-fassung in der Rechtsprechung12 und die wohl �berwiegendeAnsicht im Schrifttum13 daf�r aus, dass dieselben Gr�nde,die im Falle des § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO maßgebend sind,regelm�ßig f�r eine notwendige Verteidigung nach Maßgabedes § 140 Abs. 2 StPO sprechen, sofern der Verletzte denBeistand selbst gew�hlt hat (Regel-Ausnahme-L�sung).

Die Gesetzesbegr�ndung zur Neufassung des § 140 Abs. 1Nr. 9 StPO vertritt aber die umgekehrte Sichtweise und ak-zeptiert die Notwendigkeit der Verteidigung nur nach kon-kreter Pr�fung des Einzelfalles (Einzelfalll�sung). Diese An-sicht scheint sich inzwischen bei den Gerichten verst�rktdurchzusetzen,14 und auch im Schrifttum hat sie durchausihre Bef�rworter gefunden. Der vorliegende Beschluss ten-diert ebenfalls in diese Richtung – wenn auch mit zwiesp�l-tiger Begr�ndung, worauf sogleich noch zur�ckzukommensein wird – und d�rfte deshalb der Einzelfalll�sung zus�tzli-che Schwungkraft verleihen. Das mag dem Zeitgeist entspre-chen, wie auch ein Blick in den in der Gerichtspraxis ge-br�uchlichsten Kommentar von Meyer-Goßner/Schmitt zeigt,der noch in der 58. Aufl. aus dem Jahr 2015 »regelm�ßig«

3 Hierzu ausf. SSW-StPO/Beulke, 2. Aufl. 2016, Einl. Rn. 76.4 Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 59. Aufl. 2016, Einl. Rn. 191 ff.5 BVerfGE 26, 66 (71); 66, 313 (318); BVerfG NJW 2007, 499 (500).6 BVerfG NJW 2001, 2245; Hartmann/Apfel Jura 2008, 495; vert. zu der Her-

leitung aus Art. 6 EMRK, SSW-StPO/Satzger (Fn. 3), Art. 6 EMRK Rn. 35.7 Vgl. hierzu SSW-StPO/Beulke (Fn. 3), Rn. 27; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO

(Fn. 4), Einl. Rn. 193.8 Vgl. hierzu BVerfGE 74, 358; BVerfG NJW 2007, 204; BGHSt 46, 93 (97) =

StV 2000, 593; SSW-StPO/Beulke (Fn. 3), Einl. Rn. 28.9 Vgl. auch Satzger Jura 2009, 759; Payandeh D�V 2011, 382.10 OLG K�ln StRR 2011, 82; OLG Stuttgart StV 2009, 12; OLG M�nchen

NJW 2006, 789; OLG Zweibr�cken StV 2005, 491; StraFo 2005, 28; OLGHamm StraFo 2004, 242; OLG Koblenz BeckRS 2003, 30336020; OLGZweibr�cken StV 2002, 237. Dagegen ist das OLG Saarbr�cken in dem Beschl.v. 20.03.2006, NStZ 2006, 718 mit kurzen aber pr�gnanten und zutreffendenAusf�hrungen auf die Grunds�tze der Waffengleichheit und des fairen Verfah-rens eingegangen; ausf�hrlicher auch KG NStZ-RR 2016, 53; StV 2012, 718.

11 Vgl. BT-Drs. 17/6261, S. 11; BR-Drs. 213/11, S. 13; in diesem Sinne auchLR-StPO/L�derssen/Jahn, 26. Aufl. 2014, Nachtrag § 140 Rn. 36.

12 Noch zu Abs. 2 S. 1 a.F.: LG Verden BeckRS 2012, 10807; OLG Stuttgart StV2009, 12; OLG Saarbr�cken NStZ 2006, 718; OLG M�nchen NJW 2006,789 = StV 2006, 180 (Ls); OLG Zweibr�cken StV 2005, 491; OLG BremenStV 2004, 585; OLG Hamm StraFo 2004, 242.

13 Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 58. Aufl., § 140 Rn. 31; LR-StPO/L�derssen/Jahn (Fn. 11), Nachtrag § 140 Rn. 36; SSW-StPO/Beulke (Fn. 3), § 140Rn. 33; KMR/Haizmann, 62. EL, § 140 Rn. 38; Graf/Wessing, 2. Aufl., § 140Rn. 22; SK-StPO/Wohlers, 4. Aufl., § 140 Rn. 52 (Beiordnung sei sogar »er-forderlich«); restriktiver: Radtke/Hohmann-StPO/Reinhart, § 140 Rn. 31.

14 KG NStZ-RR 2016, 53; StV 2012, 714; vgl. aber auch schon OLG KoblenzBeckRS 2003, 30336020; OLG K�ln StV 1989, 469.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 151/212] 4

StV 3 · 2017 151

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Entscheidungen Verfahrensrecht Anmerkung Beulke/Sander

eine Beiordnung empfahl,15 w�hrend es in der derzeit aktu-ellen 59. Auflage aus dem Jahr 2016 in h�chster Zur�ckhal-tung nur noch heißt: Ob dem Beschuldigten »regelm�ßig einPflichtverteidiger beizuordnen ist« oder ob »eine Pr�fung derUmst�nde des konkreten Falles erhebliche Zweifel an der F�-higkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung begr�ndenmuss«, »wird in der Rspr der OLGe nicht einheitlich beur-teilt«.16 Ist mit dem vorliegenden Beschluss diese Trendwen-de besiegelt? Eine solche Sogwirkung w�re ein Missverst�nd-nis, denn bei Lichte betrachtet finden sich in der Begr�n-dung des Beschlusses ein Pl�doyer sowohl zugunsten dereinen als auch zugunsten der anderen Ansicht. Um das zuerkennen, bedarf es einer kurzen Skizzierung des Gedanken-ganges des OLG Hamburg:

IV. Zur Argumentation im Beschluss des OLG. Zun�chst wirddargelegt, dass weder die Schwere der dem Beschwerdef�hrerzur Last gelegten Tat noch die Schwierigkeit der Sach- undRechtslage noch die Unf�higkeit, sich selbst zu verteidigen,einschl�gig seien, dass hier aber unter Umst�nden die »eben-falls in der Generalklausel des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO ange-legten« Grunds�tze der Verfahrensfairness und der Waffen-gleichheit eine Beiordnung veranlassen k�nnten. In wirklichmusterg�ltiger Weise werden die »strukturellen« Verteidi-gungsdefizite seitens des Angeklagten gew�rdigt:

j Die defizit�re Verteidigungskonstellation des § 140 Abs. 1Nr. 9 StPO kann

»in gleicher Weise auch dann bestehen, wenn sich der Verletzteauf eigene Kosten oder im Wege der Prozesskostenhilfe (§ 397aAbs. 2 StPO) eines anwaltlichen Beistandes versichert. Diesemstehen [...] dieselben rechtlichen Befugnisse wie dem durch einengerichtlich bestellten Beistand vertretenen Verletzten zu«.

j Dem Beschuldigten wurde in Einklang mit § 147 Abs. 1StPO keine Akteneinsicht gew�hrt, aber es erfolgte auchkein (zumindest partieller) Ausgleich dieses Defizits, wiedas gem. § 147 Abs. 7 StPO m�glich gewesen w�re.

j Auch die gerichtliche F�rsorge vermag nicht alle Defizitedes Beschuldigten auszugleichen, nicht zuletzt weil ge-richtliche Hinweise erfahrungsgem�ß Ablehnungsgesucheseitens des professionell beratenen Verletzten nach sich zie-hen, was auch die Gefahr einer Verfahrensverz�gerung her-aufbeschw�rt.

j Dem Adh�sionsanwalt wurde »�berschießend« das Rechtauf einen Schlussvortrag gew�hrt, was nur dem Nebenkl�-ger zugestanden h�tte (§ 397 Abs. 1 S. 2 StPO).

j Dem Angeklagten war vor Bewilligung der Akteneinsichtan den Verletzten und somit auch vor einem Eingriff inseine Pers�nlichkeitsrechte weder durch die StA nochdurch das AG rechtliches Geh�r gew�hrt worden.

Gleichwohl hat sich das OLG Hamburg gegen eine Bejahungder notwendigen Verteidigung und zugunsten einer »an denUmst�nden des Einzelfalles orientierten gerichtlichen Pr�-fung der F�higkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigungtrotz einer bestehenden anwaltlichen Vertretung des Verletz-ten« ausgesprochen. Zur Begr�ndung wird auf folgendeAspekte verwiesen:

j Der Angeklagte wurde beraten durch einen Vertreter der�ffentlichen Rechtsauskunfts- und Vergleichsstelle Ham-burg, der mit dem Angeklagten den gesamten Akteninhalt

besprochen und sodann in dessen Namen eine gest�ndigeEinlassung zur Akte gebracht hat.

j Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung vor dem AGein Teilgest�ndnis abgegeben.

j Im Berufungsverfahren existieren erleichterte Beweisf�h-rungsm�glichkeiten (§§ 325, 354 StPO).

j Schließlich handelt es sich um einen besonders einfach ge-lagerten Sachverhalt.

Da Gesamtabw�gungen bekanntlich Ansichtssache sind,wird man dem OLG Hamburg bez�glich des Votums gegendie Notwendigkeit der Verteidigung keinen »Fehler« ankrei-den k�nnen. Verwunderlich ist das Ergebnis gleichwohl,denn die vom Gericht selbst herausgearbeiteten Verteidi-gungsdefizite sind eigentlich so gravierend, dass eine gegen-teilige Entscheidung vorprogrammiert schien. Vor allem�berrascht aber die grunds�tzliche Positionsbestimmung,denn zwar wird in einem ersten Schritt grunds�tzlich derEinzelfalll�sung zugestimmt (unter ausdr�cklicher Ableh-nung der entgegenstehenden Auffassung von Beulke und L�-derssen/Jahn17), andererseits outet sich das Gericht wenigeS�tze sp�ter als Bef�rworter der Gegenansicht, indem es aus-dr�cklich hervorhebt, dass die starke Stellung des anwaltlichvertretenen und hier nebenklageberechtigten Verletzten(§ 406g StPO) angesichts seiner weitreichenden Gestaltungs-und Informationsrechte (§§ 397, 406e Abs. 1 S. 2 StPO)diesem eine »mit der Stellung der Anklagebeh�rde korre-spondierende Verfahrensrolle« erm�glicht habe. Nach An-sicht des OLG Hamburg wird die einger�umte

»Verfahrensmacht regelm�ßig [Hervorhebung durch die Verfasser]bereits f�r sich die Ausnahme eines die Beiordnung erforderndenstrukturellen Verteidigungsdefizits begr�nden, es sei denn die Sach-lage ist ausnahmsweise rechtlich wie tats�chlich ganz besonders ein-fach gelagert.«

Verwundert reibt man sich die Augen: Hier wird doch zu-gunsten der Regel-Ausnahme-L�sung pl�diert – wenn auch inverschleierter Form. Nicht die Regel-Ausnahme-Wirkungentf�llt bei einfach gelagerten Sachverhalten, sondern dannwird schlicht und einfach die Regelwirkung widerlegt. Dasist der hinl�nglich bekannte Mechanismus des Prinzips derRegelbeispiele, wie wir sie aus dem materiellen Recht ken-nen. Wer genau hinschaut, kann also nicht �bersehen, dassauch nach Ansicht des OLG Hamburg f�r den Fall, dass derVerletzte durch einen selbst gesuchten Anwalt unterst�tztwird, regelm�ßig ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist. DasOLG hat sich also auf dem richtigen Weg befunden, dannaber das Ruder herumgerissen und die Einzelfallpr�fung vor-gezogen, die auch dem Gesetzgeber des StORMG vor-schwebte.

V. Stellungnahme. 1. Nat�rlich muss die Gesetzesbegr�ndungdes StORMG18 so hingenommen werden wie sie ist und imRahmen der historischen Auslegung der Generalklausel des§ 140 Abs. 2 StPO Ber�cksichtigung finden. Sie ist jedochnicht mit dem objektivierten Willen des Gesetzgebers zu ver-wechseln.19 Dieser ist eben auch mit der teleologischen sowie

15 Meyer-Goßner/Schmitt-StPO (Fn. 13), § 140 Rn. 31.16 Meyer-Goßner/Schmitt-StPO (Fn. 4), § 140 Rn. 31.17 LR-StPO/L�derssen/Jahn (Fn. 11), Nachtrag § 140 Rn. 36; SSW-StPO/Beulke

(Fn. 3), § 140 Rn. 33.18 Vgl. BT-Drs. 17/6261, S. 11; BR-Drs. 213/11, S. 13.19 Vgl. hierzu SSW-StPO/Beulke (Fn. 3), Einl. Rn. 23.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 152/212] 4

152 StV 3 · 2017

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Anmerkung Beulke/Sander Verfahrensrecht Entscheidungen

der verfassungs- und konventionskonformen Auslegungsme-thode zu ermitteln.20 Hierbei ist im Rahmen des § 140Abs. 2 StPO vor allem auf den Fair-trial-Grundsatz und aufdas Gebot der Waffengleichheit abzustellen. Denn wie L�-derssen/Jahn bereits �berzeugend dargelegt haben,21 spielt esf�r den Beschuldigten aus seiner Perspektive nat�rlich keineRolle, ob der Rechtsanwalt dem Verletzten vom Gericht bei-geordnet oder vom Verletzten selbst beauftragt wurde.22 Derrechtsanwaltliche Beistand des Nebenkl�gers kann die vielf�l-tigen Verfahrensrechte gem�ß § 397 StPO im Prozess geltendmachen. Durch seine Fachkenntnis weiß er, welche rechtli-chen Schritte m�glich und klug w�ren. Diese Kenntnisse hatder unverteidigte Beschuldigte nicht. Das Fehlen kann auchnicht durch richterliche Hinweise kompensiert werden. Esentsteht somit ein Ungleichgewicht zu Gunsten des Neben-kl�gers und zu Lasten des Beschuldigten. Selbst wenn derrechtsanwaltliche Beistand des Verletzten nicht aktiv eingreift– wie z.B. der Beistand des lediglich nebenklageberechtigten(aber nicht als Nebenkl�ger zugelassenen) Verletzten gem�ߧ 406g StPO in der Hauptverhandlung23 – sieht sich der Be-schuldigte einem zus�tzlichen Akteur in schwarzer Robe ge-gen�ber, der nicht auf seiner Seite steht. Psychologisch ist dasf�r den in der Regel rechts- und gerichtsunerfahrenen Be-schuldigten ein erheblicher Nachteil.24 Aus diesem Grundmuss man hier – insoweit in �bereinstimmung mit demOLG Hamburg – von einem »strukturellen Verteidigungsde-fizit« sprechen.

Eben weil es »strukturell« ist, ist auch dem Beschuldigten, dersich einem Verletzten mit selbst beauftragten und bezahltenrechtsanwaltlichen Beistand gegen�ber sieht, regelm�ßig einVerteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO beizuordnen. Das Ver-s�umnis des Gesetzgebers, den vom Verletzten selbst beauf-tragten Beistand bei der notwendigen Verteidigung im Wort-laut des § 140 StPO ausdr�cklich zu ber�cksichtigen, kannso durch eine verfassungsrechtlich und konventionsrechtlichgebotene Auslegung der dritten Variante der Generalklauseldes § 140 Abs. 2 StPO (F�higkeit des Beschuldigten zurSelbstverteidigung) partiell korrigiert werden.

Bei der hier vertretenden Regel-Ausnahme-L�sung reicht alsoin den diskutierten Konstellationen der Hinweis auf dasstrukturelle Ungleichgewicht und das daraus im Regelfall re-sultierende strukturelle Verteidigungsdefizit, um die notwen-dige Verteidigung i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO zu bejahen. Nurwenn dem Beschuldigten trotz dieses Defizits ausnahmsweisekein Verteidiger beigeordnet werden soll, bedarf dies einerausf�hrlichen Begr�ndung. Vergleichbar ist dies mit der pro-zessualen Behandlung der Regelbeispiele des materiellenStrafrechts, wie z.B. denjenigen des § 243 Abs. 1 StGB. Isteines von ihnen erf�llt, spricht eine Vermutung f�r das Ein-greifen der Regelwirkung und es bedarf der zus�tzlichen Pr�-fung und Begr�ndung nur, wenn Anhaltspunkte f�r einNichtvorliegen eines Regelfalls gegeben sind.25 Nun ist derhier angenommene Regelfall der rechtsanwaltlichen Vertre-tung des Nebenkl�gers oder Nebenklageberechtigten – imGegensatz zu den Regelbeispielen des § 243 Abs. 1 StGB –nat�rlich nicht vom Gesetzgeber kodiert worden. Jedoch ge-bietet eine Auslegung entlang der Grunds�tze des fairen Ver-fahrens und der Waffengleichheit die Annahme eines unge-schriebenen Regelfalls. So kann verhindert werden, dass dieGegenseite des Beschuldigten ein �bergewicht bekommt

und sich der Beschuldigte schon zu Beginn des Verfahrensals David im Kampfe gegen Goliath sieht. Hierf�r mussdas Gesetz nicht unbedingt ge�ndert werden – auch wenndies nat�rlich w�nschenswert w�re. Es reicht eine Auslegunganhand des Rechtsstaatsprinzips, in concreto anhand desFair-trial-Grundsatzes und des Gebots der Waffengleichheit.Bei angemessener W�rdigung dieser Prinzipien im Rahmender Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO ist eine notwendigeVerteidigung im Regelfall angezeigt.

2. Bei einer Einzelfalll�sung besteht hingegen die Tendenz,dass die strukturbedingte Benachteiligung des Beschuldigtenschon wegen des zus�tzlichen Begr�ndungsaufwandes klein-geredet und in v�lliger Verkennung der Sachlage in ein um-gekehrtes Regel-Ausnahme-Prinzip umgedeutet wird. Letzt-endlich zeigt auch die Einzelfallpr�fung des 1. Strafsenats desOLG Hamburg die große Gefahr der Umkehr des Regel-Aus-nahme-Verh�ltnisses: Sollte der Beschuldigte – im Gegensatzzu den in der Hauptverhandlung vor dem AG agierendenprofessionellen Strafverfolgungsorganen – als Laie erkennenund r�gen, dass der anwaltliche Beistand des nebenklagebe-fugten Verletzten eigentlich kein Schlusspl�doyer nach § 258Abs. 1 StPO halten durfte? Lebensfremd erscheint auch derHinweis, dass dem Angeklagten gen�gend Abwehrmittel zurVerf�gung standen, weil ein Vertreter der �ffentlichenRechtsauskunfts- und Vergleichsstelle Hamburg den gesam-ten Akteninhalt mit ihm besprochen habe. Denn dieser Ver-treter der �ffentlichen Rechtsauskunfts- und VergleichsstelleHamburg kann aber nat�rlich nicht den Strafverteidiger er-setzen. Vor allem ist er w�hrend der Verhandlung im Ge-richtssaal nicht anwesend, wo das Ungleichgewicht psycho-logisch f�r den Angeklagten am st�rksten ins Gewicht f�llt.Es liegen also gerade keine hinreichenden Gr�nde f�r eineAusnahme von der regelm�ßig notwendigen Beiordnung ei-nes Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO vor, wenn derVerletzte in der Hauptverhandlung anwaltlich begleitet wird.Vielleicht gibt der letzte Satz der Begr�ndung des vorliegen-den Beschlusses die wahren Motive f�r die gegenteilige Ent-scheidung des OLG Hamburg am ehrlichsten wieder: Dievom AG verh�ngte Sanktion in Form einer Geldstrafe vonlediglich 60 Tagess�tzen zuz�glich der Zahlung von 3.000Euro an den Adh�sionskl�ger – die das LG nicht mehr zumNachteil des Angeklagten �ndern konnte (§ 331 StPO) –wurde angesichts der Schwere der durch den Gesch�digtenerlittenen Gesichtsverletzungen als nicht schuldangemesseneingestuft. Warum bedurfte es im Rahmen der Stellungnah-me zum strafprozessualen Problem der notwendigen Vertei-digung noch dieses schulmeisterhaft wirkenden (konsequen-zenlosen) Tadels? Selbst eine zu milde Bestrafung des gewalt-bereiten Grillteilnehmers sollte nicht den Blick auf eineproblematische Verfahrensgestaltung versperren.

Prof. Dr. Werner Beulke und Wiss. Mit. Malte Sander, Passau.

20 S.o. (Fn. 7 und 8).21 S. LR-StPO/L�derssen/Jahn (Fn. 11), Nachtrag § 140 Rn. 36.22 So auch LR-StPO/L�derssen/Jahn (Fn. 11), Nachtrag § 140 Rn. 36; KG StV

2012, 714 m. Anm. Meyer-Goßner.23 Vgl. hierzu SSW-StPO/Sch�ch (Fn. 3), § 406g Rn. 6.24 So auch Meyer-Goßner StV 2012, 718.25 Vgl. Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 46 Rn. 91; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht

BT II, 38. Aufl. 2015, Rn. 209.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 153/212] 4

StV 3 · 2017 153

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Entscheidungen Verfahrensrecht

Dauer der Pflichtverteidigerbeiordnung;R�cknahme aus wichtigem Grund

StPO §§ 140, 143

Ist die Frage der Notwendigkeit der Verteidigung in ir-gendeinem Verfahrensstadium positiv beantwortet wor-den, muss es grunds�tzlich auch dann bei der Bestellungbleiben, wenn das Gericht seine rechtliche Auffassung�ber das Vorliegen der Voraussetzungen einer Pflichtver-teidigerbestellung �ndert. Dies gilt auch f�r das Beru-fungsgericht. (amtl. Leitsatz)

KG, Beschl. v. 21.04.2016 – 2 Ws 122/16

Aus den Gr�nden: I. Gegen den Angekl. ist vor der 65. (kl.) StrKdes LG Berlin das Berufungsverfahren anh�ngig. Mit der von der23. (gr.) StrK vor dem Sch�G zur Hauptverhandlung zugelassenenAnklage v. 14.12.2012 war ihm zun�chst ein (gemeinschaftlicher)schwerer Raub vorgeworfen worden. In erster Instanz wurde derAngekl. vom Sch�G Tiergarten in Berlin am 03.06.2015 wegen N�-tigung zu einer Geldstrafe von 30 Ts. zu je 20 E verurteilt. Gegendieses Urt. hat die StA Berufung eingelegt, mit der sie eine ankla-gegem�ße Verurteilung wegen schweren Raubes erstrebt.

Im Hinblick auf die zun�chst zur gr. StrK erhobene Anklage hattederen Vors. dem Angekl. auf dessen Antrag hin am 21.02.2013seinen damaligen Wahlverteidiger, RA Dr. B., bereits im Zwischen-verfahren zum Pflichtverteidiger bestellt. W�hrend des Hauptver-fahrens erster Instanz hatte sodann der Vors. des Sch�G dem An-gekl. am 03.09.2013 zus�tzlich RA T. als zweiten Pflichtverteidigerbeigeordnet, weil aus seiner Sicht RA Dr. B. unter Umst�nden alsZeuge in Betracht zu ziehen sei.

Die Akten gingen am 05.08.2015 bei der BerufungsK ein. DerenVors. beraumte am 14.01.2016 die Berufungshauptverhandlungf�r den 21. und 28.06.2016 an und lud zu dieser zun�chst (nur)den vom LG gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO zum Pflichtverteidigerbestellten RA Dr. B. als Verteidiger des Angekl. Als dieser f�r den28.06.2016 seine urlaubsbedingte Verhinderung anzeigte (die sei-nem B�ro offenbar bei der zuvor erfolgten Terminsabsprache nichtbekannt gewesen war), lehnte die Vors. mit Schreiben v.21.03.2016 (gefertigt am 24.03.2016) eine Aufhebung oder Ver-schiebung des Fortsetzungstermins ab und fragte an, ob »binnen10 Tagen« ein eingearbeiteter Vertreter benannt werden k�nneoder ob sie »dem Angekl. von vorneherein einen anderen Pflicht-verteidiger beiordnen« solle.

Durch einen Anruf des zweiten Pflichtverteidigers, der erst durchRA Dr. B. von der angesetzten Berufungshauptverhandlung erfah-ren hatte, wurde die Vors. darauf aufmerksam, dass der Angekl.�ber zwei (Pflicht-)Verteidiger verf�gt. Ohne eine Antwort oderden Ablauf der von ihr gesetzten Frist abzuwarten, hob die Vors.daraufhin mit dem angefochtenen Beschl. v. 29.03.2016 die Bei-ordnung von RA Dr. B. auf, weil es gen�ge, wenn der Angekl. voneinem Verteidiger vertreten werde. Außerdem habe RA Dr. B. be-reits angek�ndigt, zum Fortsetzungstermin nicht zu erscheinen,w�hrend RA T. an beiden Tagen auftreten k�nne.

Gegen die Entpflichtung von RA Dr. B. richtet sich die Beschwerdedes Angekl. v. 01.04.2016. Dieser hat der Dezernatsvertreter nichtabgeholfen.

II. 1. Die Beschwerde des Angekl. ist nach § 304 Abs. 1 StPO zu-l�ssig. Sie ist insbes. nicht nach § 305 S. 1 StPO ausgeschlossen,denn der angegriffene Beschl. steht mit der Urteilsf�llung in keineminneren Zusammenhang, sondern dient vielmehr unabh�ngig da-von der Sicherung des justizf�rmigen Verfahrens und hat deshalbeigenst�ndige verfahrensrechtliche Bedeutung (vgl. KG, Beschl. v.22.01.2014 – 4 Ws 4/14 – m.w.N.).

2. Die Beschwerde ist auch begr�ndet, denn die angefochte-ne Entscheidung widerspricht den in der Rspr. entwickeltenRechtsgrunds�tzen zur R�cknahme einer Pflichtverteidiger-bestellung in Fallgestaltungen der vorliegenden Art.

Hiernach gilt die Bestellung eines Pflichtverteidigers gem.§ 140 StPO grunds�tzlich f�r das gesamte Verfahren biszur Rechtskraft. Ist die Frage der Notwendigkeit der Ver-teidigung in irgendeinem Verfahrensstadium positiv beant-wortet worden, muss es – abgesehen von den gesetzlichgeregelten Ausnahmen nach den §§ 140 Abs. 3 S. 1, 143StPO – insbes. dann bei der Bestellung bleiben, wenn dasGericht lediglich seine rechtliche Auffassung �ber das Vor-liegen der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestel-lung �ndert. Denn der Eintritt einer �nderung ist nachobjektiven Kriterien zu bestimmen. Insofern ist es grund-s�tzlich unbeachtlich, wenn das Gericht im Laufe des Ver-fahrens nur seine subjektive Auffassung hinsichtlich derNotwendigkeit der Pflichtverteidigung durch eine andereBeurteilung ersetzen will oder ein w�hrend des Verfahrensneu zust�ndig werdendes Gericht die Auffassung des Vor-derrichters nicht zu teilen vermag. Dies gebietet derGrundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes (vgl. nurSenat, Beschl. v. 10.09.2014 – 2 Ws 49/14).

Zutreffend hat die GStA in ihrer Stellungnahme u.a. Folgen-des ausgef�hrt:

»Nach der Bestellung von RA Dr. B. erfolgte mit Beschl. desSch�G v. 03.09.2013 die Bestellung von RA T. zum zweitenPflichtverteidiger, weil laut Hauptverhandlungsprotokoll v.19.08.2013 eine Entpflichtung des RA Dr. B. im Raumestand, da dieser als Zeuge �ber die Umst�nde des Abschlusseseines ggf. f�r die sp�tere Strafzumessung relevanten T�-ter-Opfer-Ausgleichs v. 31.07.2013 zwischen dem Angekl.und den Zeugen K., G. und B. in Betracht kam, und dieBestellung eines weiteren Pflichtverteidigers daher als gebo-ten erachtet wurde. Zur Entpflichtung kam es in der Folgejedoch nicht. Bis zu der angefochtenen Entpflichtungsent-scheidung hatte sich die Sach- und Rechtslage nicht in einerWeise ge�ndert, dass die angefochtene Entscheidung gerecht-fertigt gewesen sein k�nnte. Denn eine Vernehmung desPflichtverteidigers zur Frage des Zustandekommens des T�-ter-Opfer-Ausgleichs v. 31.07.2013 und damit das Bed�rfnisder Sicherung der Hauptverhandlung kann auch noch in derBerufungsinstanz – also bis zum Abschluss des Tatsachen-rechtszugs – als erforderlich erachtet werden. Die Vors. der65. StrK hat stattdessen ihre eigene – von der des Sch�G ab-weichende – Auffassung, die Verteidigung des Angekl. durcheinen Pflichtverteidiger sei ausreichend, und RA Dr. B. habeangek�ndigt, den Fortsetzungstermin am 28.06.2016 nichtwahrnehmen zu k�nnen, zur Grundlage der Aufhebung derBeiordnung gemacht.

Auch eine R�cknahme der Bestellung, die neben der in§ 143 StPO genannten Fallgestaltung aus wichtigem Grundm�glich ist, kommt vorliegend nicht in Betracht. Zwar istanerkannt, dass �ber den Wortlaut des § 143 StPO hinausder Widerruf der Bestellung des Pflichtverteidigers aus wich-tigem Grund zul�ssig ist. Als wichtiger Grund kommt jederUmstand in Frage, der den Zweck der Pflichtverteidigung,dem Angekl. einen geeigneten Beistand zu sichern und denordnungsgem�ßen Verfahrensablauf zu gew�hrleisten, ernst-

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 154/212] 4

154 StV 3 · 2017

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Verfahrensrecht Entscheidungen

haft gef�hrdet (vgl. KG, Beschl. v. 27.01.2015 – 5 Ws 2/15).Hierf�r ist indes nichts ersichtlich. Die angek�ndigte Nicht-teilnahme am Fortsetzungstermin am 28.06.2016 reicht f�rsich genommen nicht aus, da hierin eine gewichtige Pflicht-verletzung nicht gesehen werden kann, zumal der zweitePflichtverteidiger seine Anwesenheit zugesagt hat und An-haltspunkte f�r eine verfahrenswidrige wechselseitige Vertre-tung nicht auszumachen sind (vgl. dazu OLG Stuttgart, Be-schl. v. 14.12.2015 – 2 Ws 203/15, juris [= StV 2016, 479]).Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Buchung desFamilienurlaubs versehentlich und ohne Kenntnis der vorhe-rigen telefonischen Absprache der Hauptverhandlungstermi-ne zwischen der Vors. und dem B�ro des RA Dr. B. erfolgtist. Auch konnte dieser mit der Entpflichtung nicht rechnen.Denn die Vors. hatte ihm noch mit Schreiben v. 21.03.2016Gelegenheit gegeben, binnen 10 T. mitzuteilen, ob er die Ver-tretung des Angekl. im Fortsetzungstermin am 28.06.2016gew�hrleisten k�nne oder ob er einen Wechsel des Pflichtver-teidigers bef�rworte. Die Stellungnahme des Pflichtverteidi-gers Dr. B. v. 29.03.2016 ging vor Ablauf der von der Vors.gesetzten Frist am 31.03.2016 bei den Justizbeh�rden ein.Warum die Aufhebung der Beiordnung – vorzeitig undohne Ber�cksichtigung der Stellungnahme – bereits am29.03.2016 erfolgte, erkl�rt sich vor diesem Hintergrundnicht.

Die Aufhebung der Beiordnung mit Beschl. v. 29.03.2016,die einen zentralen Bereich des Rechtsinstituts der Verteidi-gung ber�hrt und dem Angekl. denjenigen Verteidiger, dersein grunds�tzlich beachtliches Vertrauen genießt, nimmt(vgl. OLG Stuttgart a.a.O.), verletzt vorliegend vielmehr dasRecht des Angekl. auf ein faires Verfahren. Wegen des aus§ 142 Abs. 1 S. 2 und 3 StPO zu erkennenden Bestrebensdes Gesetzgebers, dem Angekl. zu erm�glichen, sich von ei-nem Pflichtverteidiger seines Vertrauens verteidigen zu las-sen, wenn dem keine wichtigen Gr�nde entgegenstehen,soll sich aus Gr�nden der gerichtlichen F�rsorgepflicht diePflichtverteidigung m�glichst wenig von der Wahlverteidi-gung unterscheiden (vgl. KG, Beschl. v. 13.04.2012 – 2 Ws171/12).

Ein Vertrauenstatbestand ist vorliegend gegeben. Bei demPflichtverteidiger Dr. B. handelt es sich um den urspr�ng-lichen Wahlverteidiger des Angekl., der ihn von Anfang anvertreten hat. RA T. hingegen wurde erst nachtr�glich vor-sorglich als zweiter Pflichtverteidiger zur Sicherung derHauptverhandlung bestellt. Sowohl das Sch�G, das eineEntpflichtung des Pflichtverteidigers Dr. B. bis zum erst-instanzlichen Urt. am 03.06.2015 nicht mehr in Erw�gunggezogen hat, als auch die BerufungsK, die den beigeordne-ten Verteidiger Dr. B. zu den Hauptverhandlungsterminenam 21. und 28.06.2016 geladen hat, haben das Vertrauendes Angekl. best�rkt, dass es bei der Bestellung seines ers-ten Pflichtverteidigers bleibt. Einen wichtigen Grund, derdem entgegenstehen k�nnte, hat auch das Gericht ausweis-lich des Schreibens v. 21.03.2016 offenbar zun�chst nichtangenommen. Denn die Vors. hatte hiermit dem Pflicht-verteidiger Dr. B. noch Gelegenheit gegeben, die Vertre-tung des Angekl. im Fortsetzungstermin am 28.06.2016sicherzustellen.«

Diese Ausf�hrungen treffen zu, weshalb der Senat sie sich zuEigen macht. [...]

Beschwerde gegen die Bestellung einesweiteren PflichtverteidigersStPO §§ 140, 143, 304, 305

Die Beschwerde gegen die Bestellung eines weiterenPflichtverteidigers ist zul�ssig, wenn der Angeklagte sub-stanziiert geltend macht, die Pflichtverteidigerbestellungsei unzul�ssig oder sachlich nicht gerechtfertigt.

KG, Beschl. v. 06.07.2016 – 2 Ws 176/16

Aus den Gr�nden: I. Der Vors. [...] ordnete mit Beschl. v.31.05.2016 dem Bf. neben dessen bereits beigeordneten VerteidigerRA B. »zur Sicherung des Verfahrens« als weiteren PflichtverteidigerRA S. bei. Zuvor hatte der Vors. dem Verteidiger RA B. eine Fristzur Benennung eines weiteren Verteidigers gesetzt und bis zum30.05.2016, 11.00 Uhr verl�ngert, da er aufgrund der Mitteilungdes RA v. 11.05.2016 davon ausging, dass dieser nicht an allenTerminstagen anwesend sein k�nnte. Der Verteidiger sicherte eineR�cksprache mit seinem Mdt. zu. Mit Fax v. 31.05.2016, beim LGum 11:40 Uhr eingegangen, teilte der Verteidiger mit, dass er nun-mehr an s�mtlichen Terminstagen teilnehmen k�nne. Um 12:57Uhr versandte das LG ein Fax mit dem Beiordnungsbeschl. v.31.05.2016 u.a. an RA B. Wiederum mit Fax v. 31.05.2016 ver-langte dieser die Aufhebung der weiteren Beiordnung, was das LGmit weiterem Beschl. v. selben Tag ablehnte.

II. 1. Die gegen den Beiordnungsbeschluss in der Fassungdes Nichtabhilfebeschl. gerichtete Beschwerde des Angekl.ist gem. § 304 StPO zul�ssig und insbes. auch nicht durch§ 305 S. 1 StPO ausgeschlossen, weil der angegriffene Be-schl. mit der Urteilsfindung in keinem Zusammenhangsteht, sondern hiervon unabh�ngig der Sicherung eines jus-tizf�rmigen Verfahrens dient und dadurch eigenst�ndige ver-fahrensrechtliche Bedeutung erlangt (vgl. KG, Beschl. v.20.09.2013 – 4 Ws 122/13, m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 59. Aufl., § 141 Rn. 10a, § 305 Rn. 5). Die Be-schwerde ist ausdr�cklich im Auftrag des Bf. erhoben.

Der Angekl. ist durch die Aufrechterhaltung der Beiordnungvon RA S. als weiteren Pflichtverteidiger auch beschwert.

Die GStA Berlin f�hrt hierzu aus:

»Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist zwar im Grundsatz f�rden Angekl. nicht belastend, weshalb sie einer Anfechtung auchregelm�ßig entzogen ist (vgl. KG, Beschl. v. 23.11.2012 – 3 Ws653/12; v. 04.12.2012 – 3 Ws 683/12 und v. 29.01.1999 – 3 Ws60/99). Das gilt auch f�r die Bestellung eines weiteren Pflichtver-teidigers (vgl. KG, Beschl. v. 29.01.1999 – 3 Ws 60/99, juris; OLGD�sseldorf, Beschl. v. 09.11.2000 – 1 Ws 568/00, iuris; OLG Th�-ringen, Beschl. v. 10.05.2012 – 1 Ws 173/12, juris). Es ist aberanerkannt, dass die Beschwerde dann zul�ssig sein kann, wenn derAngekl. substantiiert geltend macht, die Pflichtverteidigerbestel-lung sei unzul�ssig oder sachlich nicht gerechtfertigt, etwa weildie Vorschrift des § 142 Abs. 1 StPO nicht beachtet wurde, keinVertrauensverh�ltnis besteht, der bestellte Verteidiger unf�hig er-scheint, die Verteidigung ordnungsgem�ß zu f�hren oder dassdurch den weiteren Verteidiger das mit dem ersten Verteidiger ab-gestimmte Verteidigungskonzept des Angekl. durch insoweit unpas-sende Sach- oder Prozessantr�ge gest�rt wird. Der Angekl. wirddann n�mlich dazu gezwungen, sich entgegen seinem Willen mitzwei statt nur einem Verteidiger abzustimmen, wodurch seine Ver-teidigung beeintr�chtigt sein kann (vgl. KG, Beschl. v. 03.12.2008– 4 Ws 119/08, juris [= StV 2010, 63]; OLG D�sseldorf, Beschl. v.09.11.2000 – 1 Ws 568/00; LR-StPO/L�derssen/Jahn, 26. Aufl.,§ 143 Rn. 15; einschr. OLG Th�ringen, a.a.O.). Aus diesem Grundist es geboten, in solchen F�llen die M�glichkeit einer �berpr�f-

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 155/212] 4

StV 3 · 2017 155

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Entscheidungen Verfahrensrecht

barkeit der Verteidigerbestellung im Beschwerderechtszug zu er�ff-nen, zumal wenn sie dem ausdr�cklichen Wunsch des Angekl. wi-derspricht und dieser anderweitig verteidigt ist.

So ist es hier, denn der Angekl. r�gt, dass die Bestellung eines zwei-ten Verteidigers nicht geboten und die Ablehnung der R�cknahmeobjektiv willk�rlich sei, nachdem der erste Verteidiger nunmehr anallen geplanten Verhandlungstagen die Verteidigung wird wahrneh-men k�nnen.«

Diesen zutreffenden Ausf�hrungen schließt sich der Senat an.[...]

Mitgeteilt von RA Hansgeorg Birkhoff, Berlin.

R�cknahme derPflichtverteidigerbestellung

StPO §§ 140, 143, 304, 305

Die R�cknahme der Bestellung eines Rechtsanwaltes alsPflichtverteidiger setzt jedenfalls voraus, dass der Wahl-verteidiger zum Zeitpunkt der R�cknahme der Bestellungnoch mandatiert ist sowie dauerhaft und nicht nur punk-tuell zur �bernahme der Verteidigung des Angeklagtenbereit und in der Lage ist. (amtl. Leitsatz)

KG, Beschl. v. 30.06.2016 – 3 Ws 309, 310/16

Aus den Gr�nden: I. [...] Der Angekl. wird von RAin B. vertre-ten, die am 05.12.2014 zu seiner Pflichtverteidigerin bestellt wor-den war. Am 03.05.2016, dem 20. Verhandlungstag, ist f�r denAngekl. zus�tzlich RA E. aus D�sseldorf als Wahlverteidiger unterVorlage einer vom Angekl. unterzeichneten Vollmacht aufgetreten.Laut Protokoll erkl�rte er, dass er nur als vor�bergehende Unter-st�tzung der Pflichtverteidigerin f�r die Sitzungen am 03. und04.05.2016 auftreten wird. Sowohl die beiden Verteidiger alsauch der Angekl. gaben �bereinstimmend an, dass eine Aufhebungder Pflichtverteidigung der RAin nicht gew�nscht ist. Daraufhinhat die Vors. angeordnet, dass eine Entscheidung �ber die Ent-pflichtung der RAin nach § 143 StPO zur�ckgestellt wird. AmEnde des Sitzungstages hat die Vors. neben den bereits terminiertenSitzungstagen [...] weitere Fortsetzungstermine [...] bestimmt [und]die Prozessbeteiligten, mit denen diese Termine zuvor besprochenworden sind, m�ndlich geladen. Der Wahlverteidiger hat zwar am04.05.2016, aber nicht am 17.05., dann aber wieder am 24.05. ander Hauptverhandlung teilgenommen, am 24.05. jedoch mit derErkl�rung, er werde nur bis 11.00 Uhr und erneut lediglich zurvor�bergehenden Unterst�tzung der Pflichtverteidigerin anwesendsein. [...]

Am 27.05.2016 erließ die Vors. [...] die angefochtene Entscheidungnach § 143 StPO, die sie maßgeblich damit begr�ndet, dass RA E.entgegen seiner Ank�ndigung an 3 und nicht nur an 2 Sitzungs-tagen an der Hauptverhandlung teilgenommen habe und in dieSache offenbar eingearbeitet sei. Seine gleichzeitige Bestellungzum Pflichtverteidiger diene der Sicherung des Verfahrens. Diessei wegen der bereits fortgeschrittenen Beweisaufnahme und wegendes denkm�glichen Ausfalls aufgrund unzureichender finanziellerMittel des Angekl. erforderlich. [...]

Der Angekl. legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein.

Zur Begr�ndung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass weder dieVerteidiger noch der Bf. rechtliches Geh�r erhalten h�tten. RA E.sei nur an zwei Tagen zur punktuellen Unterst�tzung der Pflicht-verteidigerin bei der Vernehmung des ehemaligen Mitangekl. an-wesend gewesen, und nur weil sich die Vernehmung verz�gert habe,sei er auch noch am 24.05. anwesend gewesen. Er habe sich auf die

Vernehmung dieses Zeugen vorbereitet. Eine regelm�ßige Teilnah-me an dieser Hauptverhandlung sei nicht geplant gewesen undk�nne er auch aufgrund der Distanz, der »zivilistischen Ausrich-tung« seiner anwaltlichen T�tigkeit und der Terminskollisionennicht sicherstellen. [...]

II. Die Beschwerde des Angekl. gegen die R�cknahme derBestellung der RAin B. als Pflichtverteidigerin wegen derWahl des RA E. zum Verteidiger und gegen dessen Beiord-nung als Pflichtverteidiger hat Erfolg.

1. Sie ist gem. § 304 StPO zul�ssig. Denn die angegriffeneVfg. z�hlt nicht zu solchen Entscheidungen, die nach § 305Abs. 1 StPO der Beschwerde entzogen sind. Zwar handelt essich bei der Verf�gung der Vors. um eine solche, die der deserkennenden Gerichts gleichzustellen ist, sie steht jedochnicht in einem inneren Zusammenhang mit der Urteilsfin-dung, sondern dient der Sicherung des justizf�rmigen Ver-fahrens und hat eigenst�ndige verfahrensrechtliche Bedeu-tung (vgl. Senat StV 2009, 572; KG, Beschl. v. 10.07.2015– 1 Ws 44/15 und v. 29.07.2013 – 2 Ws 369/13, jew. beijuris; OLG K�ln StV 2007, 288 ff.).

2. Die Beschwerde ist auch begr�ndet.

Die R�cknahme der Bestellung von RAin B. als Pflichtver-teidigerin des Angekl. ist gem. § 143 StPO rechtsfehlerhaftund daher aufzuheben. F�r die Beiordnung des RA E. alsPflichtverteidiger zur Sicherung des Verfahrens war daherkein Raum.

Nach § 143 StPO ist grds. die Bestellung eines Pflichtvertei-digers zur�ckzunehmen, wenn ein anderer Verteidiger ge-w�hlt wird und dieser die Wahl annimmt. Eine Ausnahmevon diesem Grundsatz liegt dann vor, wenn ein unabweisba-res Bed�rfnis daf�r besteht, den Pflichtverteidiger nebendem Wahlverteidiger t�tig bleiben zu lassen (vgl. OLG Bran-denburg, Beschl. v. 05.03.2014 – 1 Ws 18/14 – m.w.N, ju-ris).

a) Die R�cknahme der Bestellung setzt jedenfalls voraus, dassder Wahlverteidiger zum Zeitpunkt der R�cknahme der Be-stellung des Pflichtverteidigers noch mandatiert ist sowiedauerhaft und nicht nur punktuell zur �bernahme der Ver-teidigung des Angekl. bereit und in der Lage ist.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

RA E. hat von Anfang an gegen�ber dem Gericht klar zumAusdruck gebracht, dass seine Beauftragung als Wahlvertei-diger tempor�r sein sollte und zwar bezogen auf die Sitzungs-tage am 03., 04. und sp�ter auch am 24.05.2016. Sie habeauf die Dauer der Vernehmung des ehemaligen Mitangekl.als Zeugen beschr�nkt sein sollen, nur insoweit habe er diePflichtverteidigerin unterst�tzen sollen. In diesen Ausschnittder Beweisaufnahme sei er eingearbeitet. Seine Beauftragungsei danach beendet.

Der Senat hat keinen Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln.Das Wahlmandat war von vornherein auf diese Sitzungstagebeschr�nkt, so dass am 27.05.2016, also zum Zeitpunkt derEntscheidung der Vors., die Voraussetzungen des § 143StPO nicht mehr vorlagen. Anhaltspunkte daf�r, dass docheine dauerhafte Beauftragung zur Verteidigung des Angekl.in der zum Zeitpunkt des Auftretens des RA bereits 19 Ver-handlungstage andauernden Hauptverhandlung und damit

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 156/212] 4

156 StV 3 · 2017

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Verfahrensrecht Entscheidungen

bereits fortgeschrittenen Beweisaufnahme �ber den24.05.2016 hinaus erfolgt ist, ergeben sich weder aus der an-gegriffenen Entscheidung noch anderweitig. Auch fehlen tat-s�chlich belastbare Hinweise darauf, dass sich RA E., wie indem angefochtenen Beschl. behauptet, in den gesamten Ver-fahrensstoff eingearbeitet hat. Auf der Grundlage seines eige-nen, nachvollziehbaren und nicht widerlegten Vorbringensist er auch nicht geeignet, das Verfahren sichern zu k�nnen.Seinem Beschwerdevorbringen, er k�nne aufgrund der r�um-lichen Distanz zwischen D. und B., bestehender Terminskol-lisionen und seinem T�tigkeitsschwerpunkt »Zivilrecht« eineordnungsgem�ße Verteidigung nicht gew�hrleisten, kann derSenat folgen. Selbst wenn die Vors. der StrK bestehende Ter-minskollisionen nach der Beschwerdeentscheidung durchAbsprachen beseitigen will, �ndert dies an dem bereits been-deten Mandat und der dar�ber hinaus fehlenden Bereitschaftdes RA E. zur ordnungsgem�ßen Verteidigung nichts. [...]

Mitgeteilt vom 3. Strafsenat des KG, Berlin.

Notwendigkeit der Verteidigung nachStrafmaßberufung der StAStPO § 140 Abs. 2

Verfolgt die Staatsanwaltschaft mit der Berufung die Ver-urteilung zu einer Freiheitsstrafe anstatt einer Geldstrafe,ist f�r das weitere Verfahren wegen Schwierigkeit derRechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers (§ 140Abs. 2 StPO) geboten. (amtl. Leitsatz)

OLG Naumburg, Beschl. v. 19.01.2016 – 2 Ws (s) 2/16

Aus den Gr�nden: I. Das AG Merseburg hat dem Angekl., dersich vor Beginn der Hauptverhandlung v. 24.09.2015 l�nger als3 M. in Haft [...] befunden hatte, mit Beschl. v. 31.08.2015RA K. [...] gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO als Pflichtverteidiger bei-geordnet. Das AG hat den Angekl. sodann wegen Diebstahls zurGeldstrafe von 90 Ts. zu jew. 3 E verurteilt.

Gegen dieses Urt. hat die StA Berufung eingelegt, mit der sie dieVerurteilung des Angekl. zu einer Freiheitsstrafe von 6 M. weiterverfolgt.

Nachdem der Angekl. am 16.11.2015 aus der Haft entlassen wor-den war, hat das LG Halle mit Beschl. v. 14.12.2015 die Bestellungvon RA K. als Pflichtverteidiger aufgehoben und der dagegen ge-richteten Beschwerde nicht abgeholfen.

II. Die zul�ssige Beschwerde (§ 304 StPO) ist begr�ndet.

Die Mitwirkung des Verteidigers ist trotz der Haftentlassungdes Angekl. gem. § 140 Abs. 2 StPO weiter notwendig. Nachdieser Vorschrift bestellt der Vors. auf Antrag oder von Amtswegen einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tatoder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage dieMitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wennersichtlich ist, dass sich der Besch. nicht selbst verteidigenkann.

Jedenfalls wegen der Schwierigkeit der Rechtslage ist die Mit-wirkung des Verteidigers in der Berufungsinstanz geboten.Die StA verfolgt mit ihrer Berufung das Ziel, dass der Ange-kl. statt zu einer Geldstrafe zu einer Freiheitsstrafe verurteiltwird. F�r F�lle dieser Art sind wegen der unterschiedlichenBewertungen der Rechtsfolgenerwartung durch das Gericht

und die StA die zu entscheidenden Fragen als schwierig ein-zustufen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 58. Aufl., § 140Rn. 26a, OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.03.2001 – 1 Ss259/00, juris). Solche unterschiedlichen Ansichten von Ge-richt und StA stellen f�r den juristischen Laien »eine schwie-rige Rechtslage« i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO dar.

Mitgeteilt vom 2. Strafsenat des OLG Naumburg.

Pflichtverteidigung in der Strafvoll-streckung, hier: Bew�hrungswiderrufStPO §§ 140 Abs. 2, 453; StGB § 56f

Im Verfahren zur Pr�fung des Widerrufs der Strafausset-zung zur Bew�hrung kommt ein Fall notwendiger Vertei-digung analog § 140 Abs. 2 StPO in Betracht, wenn imvorherigen Vollstreckungsverfahren bereits mehrfachEntscheidungen wegen Verfahrensfehlern aufgehobenwerden mussten.

OLG K�ln, Beschl. v. 09.05.2016 – 2 Ws 294-295/16

Mitgeteilt von RA Christian Kemperdick, K�ln.

Anm. der Red.: S. dazu auch BVerfGE 70, 297 = StV 1986, 160 f.,OLG Frankfurt/M. StRR 2008, 225, OLG Hamm, Beschl. v.03.01.2008 – 3 Ws 704/07, OLG K�ln, Beschl. v. 28.12.2006 –2 Ws 665/06 = OLGSt StPO § 140 Nr. 22.

Einvernehmlicher Wechsel desPflichtverteidigersStPO §§ 142, 143

1. Ein einvernehmlicher Wechsel des Pflichtverteidigerskann auch w�hrend der laufenden Hauptverhandlung er-folgen, wenn der bisherige Pflichtverteidiger damit ein-verstanden ist und durch die Beiordnung des neuen Ver-teidigers weder eine Verfahrensverz�gerung noch Mehr-kosten f�r die Staatskasse verursacht werden.

2. Die Entpflichtung eines Verteidigers aufgrund einernachhaltigen und endg�ltigen Ersch�tterung des Vertrau-ensverh�ltnisses zwischen ihm und seinem Mandantenist geboten, wenn der Verteidiger in anderer Sache An-spr�che zur Insolvenztabelle derjenigen Gesellschaft an-gemeldet hat, deren fr�heren Gesch�ftsf�hrer er nun-mehr verteidigt, und wenn der Insolvenzverwalter imweiteren Verfahren wegen versp�teter Insolvenzantrag-stellung Anspr�che gegen diesen Mandanten (den ehe-maligen Gesch�ftsf�hrer) geltend macht. (amtl. Leits�tze)

OLG Naumburg, Beschl. v. 29.09.2016 – 1 Ws (s) 318/16

Mitgeteilt von RA Dr. Maik Bunzel, Cottbus.

Zustellung an RechtsanwaltStPO § 145a

Die Erm�chtigung zur Entgegennahme von Zustellungenbleibt auch dann, wenn im Verh�ltnis zwischen dem Be-troffenen und dem Verteidiger die Verteidigungsvoll-macht erloschen ist, aus Gr�nden der Rechtssicherheitim Außenverh�ltnis so lange bestehen, bis das Erl�schender Vollmacht dem Gericht mitgeteilt wird.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 157/212] 4

StV 3 · 2017 157

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Entscheidungen Verfahrensrecht

OLG K�ln, Beschl. v. 20.01.2016 – 1 RBs 7/16

Aus den Gr�nden: Gem. § 145a Abs. 1 StPO gilt der ge-w�hlte Verteidiger, dessen Vollmacht sich bei den Akten be-findet, zur Entgegennahme von Zustellungen erm�chtigt.Eine Vollmacht von RA X. befand sich im Zeitpunkt derZustellung nicht bei den Akten. Die an ihn bewirkte Zustel-lung war daher grunds�tzlich unwirksam (vgl. SenE v.07.07.2000 – Ss 262/00; v. 27.04.2001 – Ss 432/00 Z; v.30.04.2001 – Ss 159/01 Z; v. 03.08.2001 – Ss 308/01; v.16.10.2001 – Ss 416/01; v. 23.12.2005 – 81 Ss 91/05;OLG D�sseldorf DAR 2004, 41 = VRS 105, 438 [439] =VM 2004, 5 [Nr. 5]).

Es mag offen bleiben, ob im Streitfall deswegen etwas andersgilt, weil RA X. hier als rechtsgesch�ftlich gerade zur Inemp-fangnahme von Zustellungen bevollm�chtigt gelten durfte (s.zu dieser M�glichkeit SenE v. 30.06.2005 – 83 Ss-OWi 5/05;v. 01.06.2007 – 83 Ss-OWi 48/07; v. 13.07.2009 – 83 Ss-OWi 61/08; v. 02.12.2013 – III-1 RBs 330/13; s.a. SenE v.19.09.2003 – Ss 381/03; zum Streitstand vgl. i.�.SK-StPO/Wohlers, 4. Aufl. 2011, § 154a Rn. 8). Denn je-denfalls war die Beendigung des Mandats zu RA X. demAG bereits vor Bewirken der Zustellung mit der Folge ange-zeigt worden, dass die Zustellung nunmehr ausschließlich(entweder an die Betr. selbst oder aber) an RA C. zu bewirkenwar.

Die Erm�chtigung zur Entgegennahme von Zustellungenbleibt auch dann, wenn im Verh�ltnis zwischen dem Betrof-fenen und dem Verteidiger die Verteidigungsvollmacht erlo-schen ist, aus Gr�nden der Rechtssicherheit im Außenver-h�ltnis so lange bestehen, bis das Erl�schen der Vollmachtdem Gericht mitgeteilt wird (BayObLG VRS 38, 194; OLGKoblenz VRS 71, 203; OLG D�sseldorf StraFo 1998, 227 –bei Juris Rn. 15; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 154aRn. 11; LR-StPO/L�derssen/Jahn, 26. Aufl. 2008, § 154aRn. 6; KMR-StPO/M�ller, § 145a Rn. 7). Diese Anzeigekann durch den bisherigen Verteidiger oder durch den Be-troffenen erfolgen (BayObLG und OLG D�sseldorf a.a.O.; f�reine Sonderkonstellation vgl. OLG D�sseldorf NStZ 1993,403), wobei sie sich auch schl�ssig aus dessen Verhalten sollergeben k�nnen (so: SK-StPO/Wohlers a.a.O., Rn. 9 unterHinweis auf die – eine andere Konstellation betreffende –Entscheidung BGH StV 2006, 284). Hier hat mit Schriftsatzv. 23.07.2015 RA C. unter Vorlage einer Vollmacht der Betr.mitgeteilt, dass das Mandatsverh�ltnis zu RA X. beendet sei(und zugleich um Zustellung des schriftlichen Urt. an sichgebeten). Diese Erkl�rung stellt schon nach Wortlaut undSinnzusammenhang zweifelsfrei eine solche der Betr. nichtnur �ber die (zus�tzliche) Mandatierung von RA C. sondernzugleich �ber die Beendigung des Mandatsverh�ltnisses zuRA X. dar, da die Begr�ndung und Beendigung des Man-datsverh�ltnisses ausschließlich dieser obliegt. Gr�nde, war-um die Betr. sich bei der Anzeige dieses Sachverhalts nichtsollte vertreten lassen k�nnen, sind nicht ersichtlich.

Etwas anderes folgt auch nicht aus der am 18.08.2015 eingegange-nen Mitteilung der erfolgten Mandatsniederlegung durch RA X.Die Erkl�rung, »hiermit« werde das Mandat niedergelegt, ist ange-sichts der zuvorigen Erkl�rung durch RA C. als Mitteilung der (zu-vor erfolgten) Mandatsniederlegung nunmehr auch an das Gerichtzu verstehen, die angesichts der zeitlichen Zusammenh�nge ersicht-lich eine Reaktion auf die an RA X. erfolgte, von diesem nicht mehr

erwartete Urteilszustellung darstellt. Bereits am 23.07.2015 war da-her die Anzeige der Beendigung des Mandats zu RA X. bei Gerichteingegangen und fortan bei Zustellungen zu beachten. Dass derSchriftsatz v. 23.07.2015 im Zeitpunkt der Vfg. der Zustellungam 11.08.2015 dem zust�ndigen Abteilungsrichter ersichtlich nichtvorlag, verschl�gt nichts, da die Anzeige der Mandatsbeendigungdem Gericht, nicht aber notwendig dem zust�ndigen Richter gegen-�ber zu erfolgen hat.

Da nach alledem eine wirksame Zustellung des Urt. v. 07.07.2015bislang noch nicht erfolgt ist, hat auch die Frist zur Rechtsbe-schwerdebegr�ndung noch nicht zu laufen begonnen. [...]

Beschwerde der StA gegen richterlicheAkteneinsichtsentscheidungen

StPO § 147 Abs. 4

Der Anfechtungsausschluss des § 147 Abs. 4 S. 2 StPObezieht sich auch auf Beschwerden der Staatsanwalt-schaft, so dass die Entscheidung des Vorsitzenden �berdie Art und Weise der Gew�hrung von Akteneinsicht (z.B.in Aufzeichnungen der Telekommunikation) insgesamtder Anfechtung entzogen ist. (amtl. Leitsatz)

OLG Celle, Beschl. v. 26.08.2016 – 1 Ws 415/16

Aus den Gr�nden: I. Mit Anklage der StA Hannover v.27.06.2016 werden den Angesch. Verbrechen gegen das BtMGzur Last gelegt. Die Angesch. C. C., M. und Ma. wurden am02.02.2016 vorl�ufig festgenommen. Die beiden erstgenannten be-finden sich seither aufgrund des Haftbefehls des AG Hannover v.29.10.2015 (...) in U-Haft, w�hrend der Angesch. Ma. seit dem03.02.2015 aufgrund des Haftbefehls des AG Hannover vom selbenTag (...) U-Haft verb�ßt.

Die Entscheidung �ber die Zulassung der Anklage zur Hauptver-handlung und die Er�ffnung des Hauptverfahrens steht noch aus.F�r den Fall der Er�ffnung hat der Vors. der 2. Gr. StrK Hauptver-handlungstermine beginnend im September 2016 festgesetzt.

Der Anklageerhebung vorausgegangen waren Ermittlungen derStA Hannover, die auch Telekommunikations�berwachungen undmit Videotechnik dokumentierte Observationen umfassten. Diedabei angefallenen Daten wurden auf vier Festplatten gesichert,die der zust�ndigen StrK erst mit Vfg. der StA Hannover v.11.07.2016 �bersandt wurden. Den auf diesen Festplatten befind-lichen Dateiordner »PDF-Protokolle TK�« hat der Vors. bereitsextrahieren und auf passwortgesch�tzte CDs kopieren lassen, dieer den Verteidigern �bersandte. Hinsichtlich der �brigen Datenverwies er die Verteidiger mit Vfg. v. 14.07.2016 zun�chst auf dieEinsichtnahme in den Dienstr�umen des LG. Mit Schriftsatz v.28.07.2016 beantragte der Verteidiger des Angeschuldigten C. C.,RA N., ihm die auf den Festplatten befindlichen Dateien in geeig-neter Form zur Einsichtnahme in seiner Kanzlei zur Verf�gung zustellen. Hieraufhin stellte der Vors. mit Entscheidung v. 29.07.2016fest, dass er beabsichtige, Doppel der vorgenannten 4 Festplatten zuerstellen und diese den Verteidigern im Falle eines Antrages zurEinsichtnahme in die dortigen Gesch�ftsr�ume zu �bersenden. Eswird den Verteidigern aufgeben werden, diejenigen Dateien, welcheBeweisst�cke enthalten, weder zu vervielf�ltigen, noch diese in derihnen �bersandten Form den Beschuldigten oder dritten Personenzu �berlassen oder den vorgenannten Personen in ihrer Abwesen-heit Einsicht zu gew�hren. Dies begr�ndete der Vors. in Form einerAbw�gung der im vorliegenden Einzelfall betroffenen Interessen. Ergew�hrte der StA Hannover jedoch Gelegenheit zur Stellungnahme,ob in begr�ndeten Einzelf�llen einzelne Dateien von der �bersen-

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158 StV 3 · 2017

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Verfahrensrecht Entscheidungen

dung in die Gesch�ftsr�ume auszunehmen seien, und setzte hierf�reine Frist bis zum 05.08.2016.

Gegen diese Entscheidung des Vors. richtet sich die Beschwerde derStA Hannover v. 02.08.2016. [...] Der Vors. half der Beschwerdenicht ab und legte die Sache dem Senat zur Entscheidung vor. DieGStA beantragt, auf die Beschwerde der StA die Entscheidung desVors. v. 29.07.2016 aufzuheben.

II. Die Beschwerde ist unzul�ssig. Die Entscheidung desVors. �ber die Art und Weise der Gew�hrung von Aktenein-sicht unterliegt gem. § 147 Abs. 4 S. 2 StPO keiner Anfech-tung (OLG Hamburg, Beschl. v. 27.05.2016 – 2 Ws 88/16,zit. nach juris; OLG Frankfurt/M. StV 2016, 148; vgl. auchschon OLG Stuttgart NStZ-RR 2013, 217; Meyer-Goß-ner/Schmitt-StPO, 58. Aufl., § 147 Rn. 32).

Nach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO sollen dem Verteidiger, soweitnicht wichtige Gr�nde entgegenstehen, die Akten mit Aus-nahme der Beweisst�cke zur Einsichtnahme in seine Ge-sch�ftsr�ume oder in seine Wohnung mitgegeben werden.Nach S. 2 dieser Vorschrift ist die Entscheidung nicht an-fechtbar. Dieser Ausschluss der Anfechtbarkeit bezieht sichentgegen verbreiteter Rspr. (vgl. OLG Celle [2. Strafsenat],Beschl. v. 05.07.2016 – 2 Ws 11/16 und NStZ 2016, 305;OLG Hamburg, Beschl. v. 16.02.2016 – 3 Ws 11-12/16, zit.nach juris; OLG N�rnberg StraFo 2015, 102; OLG KarlsruheNJW 2012, 2742 und Beschl. v. 05.04.2007 – 1 Ws42-43/07, zit. nach juris; KG NStZ-RR 2016, 143; OLGFrankfurt/M. NJW-Spezial 2014, 25) nicht allein auf Rechts-mittel des Angekl., sondern statuiert eine allgemeine Rege-lung, die auch Beschwerden der StA erfasst.

1. F�r dieses Verst�ndnis streitet zun�chst der Wortlaut derVorschrift. Diese differenziert gerade nicht nach m�glichenAnfechtungsberechtigten.

Auch der systematische Zusammenhang der Vorschrift belegtnichts Gegenteiliges. Zwar bezieht sich der Anfechtungsaus-schluss auf den vorgenannten Antrag des Verteidigers. Da dieEntscheidung �ber die Gew�hrung von Akteneinsicht stetseinen entsprechenden Antrag voraussetzt, kann aus dem Zu-sammenspiel der beiden S�tze jedoch nicht der Ausschlussder Anfechtbarkeit nur f�r den Angekl. hergeleitet werden(so aber OLG Celle a.a.O.).

Bei dieser Bewertung braucht der Senat nicht zu entscheiden,ob die auf den Festplatten befindlichen Dateien als Beweis-st�cke (BGH NStZ 2014, 347; OLG N�rnberg wistra 2015,246; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 29.05.2012 – 2 Ws 146/12,zit. nach juris) oder – wozu der Senat tendiert – als sonstigeAktenbestandteile einzuordnen sind (so auch OLG StuttgartOLGSt § 58a Nr. 1; Pfeiffer, § 147 Rn. 6; offen lassend OLGCelle, Beschl. v. 24.07.2015 – 2 Ws 116/15, auszugsweiseabgedruckt in NStZ 2015, 305; OLG Hamburg, Beschl. v.16.02.2016 – 3 Ws 11-12/16 und v. 27.05.2016 – 2 Ws88/16). Denn nach Wortlaut und Wortsinn erfasst der Aus-schluss der Anfechtbarkeit gem. § 147 Abs. 4 S. 2 StPO so-wohl die Entscheidung, ob die fraglichen Gegenst�nde demVerteidiger in seine Kanzleir�ume �bersandt werden, als auchauf die regelm�ßig damit zusammentreffende Bewertungherausgegebener Sachen als Beweisst�cke oder sonstige Ak-tenbestandteile.

2. Die anerkannten juristischen Auslegungsmethoden strei-ten ebenfalls nicht f�r ein Anfechtungsrecht der StA, sondernbest�tigen das vorgefundene Ergebnis:

a) Die historische Auslegung l�sst nicht den Schluss auf einvom Gesetzgeber intendiertes Anfechtungsrecht der StA zu.In der Begr�ndung des Gesetzes zur �nderung der StPO unddes GVG heißt es zu § 147 Abs. 4 S. 2 StPO lediglich: »Dierichterliche Entscheidung �ber einen Antrag nach Abs. 4 sollnicht mit der Beschwerde (§ 304) angefochten werden k�n-nen. Hat der StA im vorbereitenden Verfahren entschieden,so wird die M�glichkeit, dagegen Dienstaufsichtsbeschwerdeeinzulegen, durch Abs. 4 S. 2 nicht eingeschr�nkt (BT-Drs.4/178, S. 32). Aus dieser knappen Begr�ndung lassen sichsomit keine Hinweise auf den Willen des historischen Ge-setzgebers zur Begr�ndung eines Beschwerderechts der StAgewinnen.

b) In gleicher Weise sind keine systematischen, aus einemVergleich mit strukturell �hnlich gelagerten Regelungen derStPO erkennbaren, Gr�nde f�r einen nur partiellen Anfech-tungsausschluss erkennbar. In diesem Zusammenhang ist§ 406e StPO in den Blick zu nehmen. Durch diese Vor-schrift, die durch das erste Gesetz zur Verbesserung der Stel-lung des Verletzten im Strafverfahren am 01.04.1987 einge-f�gt wurde, wird das Akteneinsichtsrecht des durch die Straf-tat Verletzten geregelt. § 406e Abs. 3 StPO wiederholt hierwortgleich die Regelung des § 147 Abs. 4 StPO, mit der ein-zigen Ausnahme, dass dort statt von dem »Verteidiger« vondem »RA« die Rede ist. In der Begr�ndung dieser Vorschriftheißt es: »Wird diese Entscheidung von einem Gericht ge-troffen, so besteht f�r ein Rechtsmittel kein zwingenderGrund; im Interesse der Verfahrens�konomie soll die Ent-scheidung unanfechtbar sein« (BT-Drs. 10/5305, S. 18). Andieser Stelle hat der Gesetzgeber damit unzweifelhaft zumAusdruck gebracht, dass dem Interesse der Verfahrens�kono-mie Vorrang vor einer umfassenden Rechtskontrolle durchEtablierung eines Instanzenzuges einger�umt wird.

c) In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen,dass ein Instanzenzug von Verfassungs wegen nicht vorausge-setzt (BVerfGE 65, 76 [90]; 96, 27 [39] [= StV 1997, 393];104, 220 [231]; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/D�rig [Hrsg.],Grundgesetz, Lfg. 48, Stand November 2011, Art. 103Rn. 26; Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz, 6. Aufl. 2011,Art. 103 Rn. 48) und auch nicht vom Fairnessgebot in Straf-sachen gem. Art. 6 EMRK gefordert wird (BVerfGE 118,212, [235] [= StV 2007, 393]). Aus der grundlegenden Ent-scheidung des BVerfG zur Wohnraum�berwachung ergibtsich nichts anderes, weil dort allein die Verpflichtung zurEinschaltung eines Gerichts statuiert wird (E 109, 279,Rn. 199–201).

Der �berlassung der Dateien in die Kanzleir�ume der Ver-teidiger geht nach § 147 Abs. 4 StPO die Entscheidung desVors. des Spruchk�rpers voraus. Damit ist ein Richtervorbe-halt installiert. Hierdurch wird der Schutz der Rechte der voneiner Telekommunikations�berwachung oder der Videogra-phie einer Observation zuf�llig Drittbetroffenen wirksam ge-w�hrleistet. F�r eine Kontrolle dieser richterlichen Entschei-dung durch die StA besteht vor dem Hintergrund der vorste-henden Erw�gungen keine Notwendigkeit. Insbes. kann dieErforderlichkeit einer solchen Kontrollm�glichkeit nicht aus

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StV 3 · 2017 159

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Entscheidungen Verfahrensrecht

§ 101 Abs. 8 StPO hergeleitet werden (a.A. OLG Cellea.a.O.). Durch diese Norm wird die StA lediglich strikt zurL�schung der bei ihr vorr�tigen, zur Strafverfolgung und f�reine etwaige gerichtliche �berpr�fung der Maßnahme nichtmehr erforderlichen personenbezogenen Daten verpflichtet.Eine weitergehende Erm�chtigung, f�r eine umfassende Ein-haltung dieser Vorschrift hinsichtlich solcher Daten Sorge zutragen, die Dritten rechtm�ßiger Weise �berlassen werden,besteht dagegen nicht (vgl. Knauer/Pretsch NStZ 2016, 307).

In diesem Zusammenhang ist zudem zu ber�cksichtigen,dass dem Verteidiger auch im Falle der Inaugenscheinnahmeder Dateien in R�umen der Justizverwaltung das Recht zu-steht, Aufzeichnungen zu fertigen oder Lichtbilder herzustel-len (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., Rn. 19 m.w.N.). Da-her w�re auch in diesem Falle die Beeintr�chtigung der Rech-te Dritter durch Verbreitung der Daten niemals v�lligauszuschließen.

Daraus folgt, dass f�r eine verfassungskonforme Auslegungdes § 147 Abs. 4 S. 2 StPO dahingehend, dass der Anfech-tungsausschluss nicht f�r die StA wirkt (vgl. OLG Celle[2. Strafsenat] a.a.O.), kein Anlass besteht.

d) Schließlich fordert auch die Symmetrie der Anfechtungs-m�glichkeiten der StA mit denen des Angekl. keine Rechts-mittelbefugnis der erstgenannten. Im Falle der Statthaftigkeiteiner Beschwerde der StA w�re diese vielmehr gegen�ber demAngekl. deutlich bevorzugt. W�hrend die Beschwerde nach§ 304 StPO keinen formalen Beschr�nkungen unterliegt,kann der Angekl. die unterlassene �bersendung der Dateienin die Kanzleir�ume seines Verteidigers nur mittels der – �u-ßerst strengen Anforderungen unterliegenden – Revisionsr�-ge nach § 338 Nr. 8 StPO angreifen (vgl. dazu BGH, Beschl.v. 11.02.2014 – 1 StR 355/13 [= StV 2015, 10]).

Im �brigen belegt zum Beispiel die Norm des § 339 StPO,dass die StPO auch sonst nicht von einem Gleichlauf derAnfechtungsm�glichkeiten von Angekl. und StA ausgeht.So versagt diese Vorschrift der StA, eine Revision zu Unguns-ten des Angekl. nur auf die Verletzung solcher Rechtsnormenzu st�tzen, die nur in dessen Interesse gegeben sind. Dortgeht somit die Anfechtungsm�glichkeit des Angekl. weiterals die der StA. [...]

Mitgeteilt vom 1. Strafsenat des OLG Celle und von RA Dr.J�rgen Meyer, Verden.

Herausgabe von TK�-Aufzeichnungen;Beschwerderecht der StA

StPO §§ 147, 100a, 101, 304, 305

1. Die Entscheidung des Vorsitzenden des erkennendenGerichts, Kopien der Dateien mit den Aufzeichnungeneiner Telekommunikations�berwachung an Verteidigerherauszugeben, kann von der StA mit der Beschwerdeangefochten werden (entgegen OLG Hamburg, Beschl.v. 27.05.2016 – 2 Ws 88/16 [= StV 2017, 160 [nachste-hend]).

2. Grunds�tzlich ist von einer ausreichenden Gew�hrungdes Rechts auf Akteneinsicht und Besichtigung amtlichverwahrter Beweisst�cke auszugehen, wenn der Vertei-digung die M�glichkeit einger�umt wird, sich im Rahmen

einer Telekommunikations�berwachung aufgezeichneteTelefongespr�che in den R�umlichkeiten der Justizbeh�r-den oder der Polizei anzuh�ren. Im Einzelfall kann nacheiner Gesamtabw�gung der Umst�nde des Einzelfallseine ausnahmsweise Herausgabe von Kopien der Dateienmit den Aufzeichnungen geboten sein (Anschluss an OLGKarlsruhe, Beschl. v. 29.05.2012 – 2 Ws 146/12 [= StV2013, 74]). (amtl. Leits�tze)

OLG Celle, Beschl. v. 05.07.2016 – 2 Ws 114/16

Mitgeteilt vom 2. Strafsenat des OLG Celle.

Beschwerde gegen Akteneinsichts-entscheidung des Vorsitzenden

StPO §§ 147 Abs. 4, 304

Der Anfechtungsausschluss in § 147 Abs. 4 S. 2 StPO um-fasst nicht nur die Anfechtung gerichtlicher Entscheidun-gen �ber die Art und Weise der Einsichtsgew�hrung inBeweisst�cke und sonstige Aktenteile nach § 147 Abs. 4S. 1 StPO durch Beschuldigte, sondern gleichermaßen dieAnfechtung solcher Entscheidungen durch die Staatsan-waltschaft, so dass die Beschwerde einer Staatsanwalt-schaft etwa gegen die Anordnung eines Strafkammervor-sitzenden, Datentr�ger mit Kopien von Audiodateien mitabgeh�rten Telefongespr�chen an den Verteidiger einesAngeklagten auf dessen Antrag zur Mitnahme in seineGesch�fts- oder Wohnr�ume herauszugeben, nicht statt-haft ist (gegen OLG Celle, Beschl. v. 24.07.2015 – 2 Ws116/15 [= StV 2016, 146]). (amtl. Leitsatz)

OLG Hamburg, Beschl. v. 27.05.2016 – 2 Ws 88/16

Aus den Gr�nden: I. Gegen den Angekl. und mehrere Mit-angekl. ist ab Mitte 2015 ein strafrechtliches Ermittlungsverfahrenwegen unerlaubten Herstellens von Btm und weiterer Delikte ge-f�hrt worden, in dessen Rahmen die Telekommunikation u.a. desAngekl. �berwacht und aufgezeichnet worden ist. Unter dem22.02.2016 ist gegen den Angekl. und vier Mitangekl. Anklagezur Gr. StrK des LG Hamburg erhoben worden. [...]

Der Verteidiger des Angekl. hat im Dezember 2015 Einsicht in eineKopieakte und im M�rz 2016 Akteneinsicht durch �bersendungeiner sog. E-Akte sowie eines am 17.03.2016 zur�ck gegebenenSonderbandes »DNA« erhalten. Am 27.04.2016 ist ihm eine aktua-lisierte »E-Akte« zugesandt worden. Audiodateien von aufgezeich-neten Telefongespr�chen befanden sich noch nicht bei den Akten,die insoweit lediglich in zwei Sonderb�nden, den Sonderb�nden Iund III, schriftliche Zusammenfassungen ausgew�hlter Gespr�cheenthielten.

Am 22.04.2016 hat der Verteidiger beantragt, ihm zum Zwecke der�berpr�fung der Verschriftlichungen der Telefongespr�che die be-treffenden Audiodateien bzw. Kopien dieser Dateien zur Verf�gungzu stellen.

Der Kammervors. hat darauf am 27.04.2016 das LKA um �ber-mittlung der bisher weder im Original noch in Kopien bei denAkten befindlichen Audiodateien der Telefongespr�che in einemf�r die »IT-Abteilung« des LG »praktikablen Format (mp-3)« gebe-ten. Am 29.04.2016 hat der Kammervors. angeordnet, dass demVerteidiger des Angekl. die M�glichkeit einger�umt wird, »s�mtli-che aufgezeichneten Gespr�che, die in den Sonderb�nden I (Rele-vante TK�-Protokolle) und III (TK� 07.11.15) zusammengefasstsind, als Audio-Dateien anzuh�ren«. Dazu hat er erg�nzend ausge-f�hrt: »Die Anh�rm�glichkeit wird – nach freier Raumkapazit�t –in den R�umen des LG Hamburg (Strafjustizgeb�ude) bestehen; n�-

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160 StV 3 · 2017

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Verfahrensrecht Entscheidungen

here Vereinbarung von Zeit und Ort erfolgt �ber die IuK-Abteilungdes LG (Tel.: ..., Herr ...). Zur Durchf�hrung dieser Anordnungsind die genannten Audiodateien umgehend vom LKA Hamburgan die IuK-Abteilung des LG zu �bermitteln«.

Dagegen hat der Verteidiger eingewandt, er sehe sich gegenw�rtignicht in der Lage, mit dem Angekl. – der sich lediglich v.19.11.2015 bis zum 15.04.2016 in Polizei- und U-Haft befundenhat – die Audiodateien im Gericht, »offenbar auch noch in wech-selnden R�umen, abzuh�ren«; er wolle die Gespr�che in den »eige-nen Kanzleir�umen und abgeschirmt anh�ren und diese ggf. auchmit dem Mandanten er�rtern«. Zugleich hat er beantragt, von denAudiodateien Kopien zu machen und ihm diese zur Einsicht oderzum Verbleib zu �berlassen.

Der Kammervors. hat sodann am 06.05.2016 seine Anordnung v.29.04.2016 dahin abge�ndert, dass dem Verteidiger Kopien derAudiodateien von s�mtlichen Telefongespr�chen, die in den Son-derb�nden I und III zusammenfassend verschriftlicht sind, aufeinem Datentr�ger auszuh�ndigen sind.

Dagegen hat die StA am 11.05.2016 Beschwerde eingelegt, welcherder Kammervors. nicht abgeholfen hat. Die GStA hat unterdem 17.05.2016 beantragt, die Anordnung des Kammervors. V.06.05.2016 aufzuheben und zu bestimmen, dass die auf Grunddieser Anordnung an den Verteidiger des Angekl. herausgegebenenKopien von Audiodateien an die Gr. StrK (...) des LG Hamburgzur�ckzugeben sind.

Auf Grund Anordnung des Kammervors. v. 19.05.2016 ist am sel-ben Tag eine CD mit Kopien der Audiodateien zu den Sonderb�n-den I und III u.a. an den Verteidiger des Angekl. herausgegebenworden.

II. Die Beschwerde der StA gegen die Anordnung des Vors.der Gr. StrK des LG Hamburg v. 06.05.2016 ist unzul�ssig.Sie ist bereits nicht statthaft, weil es an einer Beschwerde-befugnis der StA fehlt, da die Anfechtbarkeit hier gem.§ 147 Abs. 4 S. 2 StPO allg. und auch f�r die StA ausge-schlossen ist.

1. Die Anfechtbarkeit der Entscheidung des Kammervors.,Kopien der Audiodateien zu den in den Sonderb�nden I undIII zusammengefassten verschriftlichten Telefongespr�chenan den Verteidiger herauszugeben, richtet sich allg. undauch f�r die StA nach § 147 Abs. 4 S. 2 StPO, der eine An-fechtbarkeit ausschließt.

a) § 147 StPO, nach dessen Abs. 1 das Recht auf Aktenein-sicht und Besichtigung amtlich verwahrter Beweisst�cke f�reinen Besch. durch den Verteidiger wahrgenommen wirdund nach dessen Abs. 5 S. 1 im vorbereitenden Verfahrensowie nach rechtskr�ftigem Abschluss des Verfahrens dieStA und im �brigen der Vors. des mit der Sache befasstenGerichts �ber die Einsichtsgew�hrung entscheidet, sieht zurArt und Weise der Einsichtsgew�hrung in Abs. 4 vor, dass»auf Antrag« »dem Verteidiger, soweit nicht wichtige Gr�ndeentgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisst�ckezur Einsichtnahme in seine Gesch�ftsr�ume oder in seineWohnung mitgegeben werden« sollen (S. 1) und »die Ent-scheidung« »nicht anfechtbar« ist (S. 2).

b) § 147 StPO geht, soweit er konkrete Regelungen enth�lt,als spezielle Einzelvorschrift allg. strafprozessualen Vorschrif-ten und damit auch den allg. beschwerderechtlichen Rege-lungen der §§ 304, 305 StPO vor (vgl. allg. zum Vorrangvon Einzelvorschriften Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 304Rn. 1). Dem entspricht § 304 Abs. 1 StPO, wonach die Be-

schwerde gegen alle von den Gerichten im ersten Rechtszugoder im Berufungsverfahren erlassenen Beschl�sse und gegendie Verf�gungen des Vors., des Richters im Vorverfahren undeines beauftragten oder ersuchten Richters zul�ssig ist, »so-weit das Gesetz sie nicht ausdr�cklich einer Anfechtung ent-zieht«. Einen solchen speziellen Anfechtungsausschluss ent-h�lt § 147 Abs. 4 S. 2 StPO (Meyer-Goßner a.a.O., § 304Rn. 5).

Die Regelung des § 304 Abs. 4 S. 2 Nr. 4 StPO, wonach eineBeschwerde gegen die Akteneinsicht betreffende Entschei-dung in bestimmten F�llen ausnahmsweise nicht ausge-schlossen ist, greift hier schon deshalb nicht ein, weil dieseAusnahmeregelung allein Entscheidungen und Verf�gungender OLG im ersten Rechtszug betrifft, w�hrend vorliegendeine Kammervorsitzendenentscheidung im landgerichtlichenerstinstanzlichen Verfahren in Rede steht. Ob die Regelungdes § 304 Abs. 4 S. 2 Nr. 4 StPO zudem in sachlicher Hin-sicht andere Fragen der Akteneinsichtsgew�hrung als die in§ 147 Abs. 4 S. 1 StPO geregelte Art und Weise der Ein-sichtsgew�hrung erfasst und deswegen schon grunds�tzlichden § 147 Abs. 4 S. 2 StPO unber�hrt l�sst (vgl. Meyer-Goß-ner a.a.O., Rn. 16), kann danach hier dahin stehen.

c) Die Auslegung des § 147 Abs. 4 S. 2 StPO erbringt, dassdie unter diese Regelung fallenden Gerichtsentscheidungenallg. und auch f�r die StA nicht anfechtbar sind.

aa) Wortlaut und Wortsinn der beiden in § 147 Abs. 4 StPOenthaltenen Regelungen erbringen Folgendes:

§ 147 Abs. 4 S. 1 StPO regelt die Entscheidung �ber die Artund Weise der Einsichtsgew�hrung in Akten und Beweis-st�cke durch Gew�hrung der Mitgabe an den Verteidigerbzw. deren Versagung (unter Einsichtsgew�hrung bei eineramtlichen Stelle).

Die hier maßgebliche Vorschrift des S. 2 des § 147 Abs. 4StPO (»Die Entscheidung ist nicht anfechtbar«) enth�ltnach Wortlaut und Wortsinn einen allg. geltenden Anfech-tungsausschluss, der sich nach seiner Stellung innerhalb desgesamten § 147 StPO und seiner Einordnung innerhalb desAnsatz 4 auf Entscheidungen nach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO�ber die Art und Weise der Einsichtsgew�hrung bezieht. EineBeschr�nkung auf einzelne Entscheidungsgegenst�nde desvorangehenden S. 1 bzw. eine Unterscheidung nach verschie-denen potentiellen Rechtmittelf�hrern, enth�lt S. 2 des§ 147 Abs. 4 StPO nach seinem Wortlaut und seinem Wort-sinn nicht.

Da hier eine Entscheidung des nach § 147 Abs. 5 S. 1 StPOzust�ndigen Kammervors. �ber die Art und Weise der Ein-sichtsgew�hrung in Aktenteile bzw. Beweisst�cke in Gestalteiner Anordnung der Herausgabe einer DVD mit Kopienvon Audiodateien an den Verteidiger nach § 147 Abs. 4S. 1 StPO – mit damit einhergehender Ablehnung der vonder StA begehrten Versagung der Mitgabe – in Rede steht, istnach Wortlaut und Wortsinn des § 147 Abs. 4 S. 2 StPOeine Anfechtung der Anordnung allg. und damit von Seitendes Besch. wie auch der StA ausgeschlossen (so auch OLGFrankfurt/M., Beschl. v. 11.08.2015 – 3 Ws 438/15 [= StV2016, 148 m. Anm. Killinger] ; OLG Stuttgart, Beschl. v.03.12.2012 – 2 Ws 295/12, betreffend Beschwerde einesVerteidigers, sowie v. 12.11.2002 – 4 Ws 267/02 [= StV

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 161/212] 4

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Page 26: StV - Wolters Kluwer Shop€¦ · AG M nchen 821 Ls 257 Js 21598/12 v. 13.01.2014 Akteneinsicht des Verletzten 178 Strafrecht BVerfG 1 BvR 2646/15 v. 29.06.2015 Anwaltliche Schm hkritik

Entscheidungen Verfahrensrecht

2003, 17], betreffend eine Beschwerde der StA gegen dieAnordnung der �bersendung einer Kopie der Videoauf-zeichnung einer Zeugenvernehmung an einen Verteidiger,in OLGSt, § 58a Nr. 1; SK-StPO/Wohlers, § 147 Rn. 76m.w.N.; SSW-StPO/Beulke, § 147 Rn. 57 m.w.N.; KK-Laufh�tte/Willnow, § 147 Rn. 28; Knauer/Pretsch NStZ206, 307).

Ob die vorliegend herausgegebene DVD mit Kopien vonAudiodateien ein Beweisst�ck darstellt oder, wie richtiger-weise anzunehmen ist, es sich bei einer Kopie im Gegensatzzu Original-Tonaufzeichnungen von abgeh�rten Telefonge-spr�chen um sonstige Aktenbestandteile handelt (so auchOLG Stuttgart OLGSt, § 58a Nr. 1; Pfeiffer, § 147 Rn. 6),kann hier dahin stehen (offen lassend OLG Celle, Beschl. v.24.07.2015 – 2 Ws 116/15 [= StV 2016, 146], auszugsweiseabgedruckt in NStZ 2015, 305 ff.; HansOLG, Beschl. v.16.02.2016 – 3 Ws 11-12/16; a.A., mit Bewertung der Ton-aufzeichnungen von abgeh�rten Telefongespr�chen allg. alsBeweisst�cke i.S.d. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO, OLG N�rnberg,Beschl. v. 11.02.2015 – 2 Ws 8/15, wistra 2015, 246 f.; OLGKarlsruhe, Beschl. v. 29.05.2012 – 2 Ws 146/12), denn nachWortlaut und Wortsinn bezieht sich der Anfechtungsaus-schluss nach § 147 Abs. 4 S. 2 StPO sowohl darauf, ob diebetreffenden Sachen dem Verteidiger in seine Gesch�ftsr�u-me oder seine Wohnung mitgegeben werden, als auch auf diei.d.R. damit zugleich getroffene Bewertung herausgegebenerSachen als Beweisst�cke oder sonstige Aktenbestandteile.

bb) Die weiteren Auslegungsmethoden erbringen nichts Ab-weichendes, so dass dahin gestellt bleiben kann, ob die �u-ßerste Grenze der Auslegung des § 147 Abs. 4 S. 2 StPO hiernicht ohnehin bereits auf Grund des eindeutigen Wortlautsder Norm (vgl. allg. dazu BVerfGE 71, 108 [115] [BVerfG,23.10.1985 – 1 BvR 1053/82]; SSW-StPO/Beulke, Einl.Rn. 24) dahin gehend gesetzt ist, dass eine Anfechtung derunter § 147 Abs. 4 S. 1 StPO fallenden Entscheidung allg.und damit auch f�r die StA ausgeschlossen ist.

(1) Der gesetzgeberische Wille weist auf einen allg., auch dieStA umfassenden Anfechtungsausschluss in § 147 Abs. 4 S. 2StPO hin.

F�r die Auslegung einer – hier strafprozessualen – Norm istder objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgeblich, dernicht ohne weiteres mit den subjektiven Vorstellungen deshistorischen Gesetzgebers gleichzusetzen ist (allg. dazuBGHSt 10, 157 [159]; 26, 156 [159]; Beulke a.a.O., Rn. 23m.w.N.). Eine von den Gesetzgebungsmaterialien ausgehen-de historische Auslegung kann aber wertvolle Anhaltspunktezum Geltungsbereich einer Norm liefern, sofern die der be-treffenden Gesetzesfassung zu Grunde gelegten Gesichts-punkte fortbestehen (Beulke a.a.O.).

(a) Die Gesetzgebungshistorie spricht f�r einen allg., auch die StAumfassenden Anfechtungsausschluss.

S. 2 des § 147 Abs. 4 StPO mit dem darin formulierten Anfech-tungsausschluss ist durch das Gesetz zur �nderung der StPO unddes GVG (StP�G) v. 19.12.1964, das am 01.04.1965 in Kraft ge-treten ist, zugleich mit einer Erweiterung der in § 147 Abs. 4 S. 1StPO geregelten Einsichtsrechte von Verteidigern in die StPO neueingef�gt worden.

Vor der Gesetzes�nderung hatte § 147 Abs. 4 StPO folgendenWortlaut: »Nach dem Ermessen des Vors. k�nnen die Akten mit

Ausnahme der �berf�hrungsst�cke dem Verteidiger zur Mitnahmein seine Wohnung oder in seine Gesch�ftsr�ume �bergeben wer-den« (vgl. Abdruck in Kleinknecht/M�ller, StPO, 4. Aufl. 1958,S. 408). Eine Regelung zur Anfechtbarkeit der erfassten Entschei-dungen enthielt die Vorschrift nicht.

Die durch das Gesetz zur �nderung der StPO und des GVG(StP�G) v. 19.12.1964 eingef�hrte, hinsichtlich des S. 1 ge�nderteund um S. 2 erg�nzte aktuelle Fassung des § 147 Abs. 4 StPO ent-spricht im Wesentlichen den zu Grunde liegenden Gesetzesvor-schl�gen. Im Gesetzgebungsverfahren ist lediglich die Formulierungder Ausnahmeregelung in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO auf Grund einesVorschlags des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages abge-�ndert worden.

Im Einzelnen:

Bereits in der dritten Wahlperiode hatte die Bundesregierung demDeutschen Bundestag unter dem 17.08.1960 einen Entwurf f�r einGesetz zur �nderung der StPO und des GVG (StP�G) vorgelegt,dessen Vorschlag f�r eine Neufassung des § 147 Abs. 4 StPO lau-tete: »Auf Antrag sollen dem Verteidiger, soweit tunlich, die Aktenmit Ausnahme der Beweisst�cke zur Einsichtnahme in seine Ge-sch�ftsr�ume oder in seine Wohnung mitgegeben werden. Die Ent-scheidung ist nicht anfechtbar« (BT-Drs. III/2037, S. 8). Nachdemes innerhalb der dritten Wahlperiode nicht mehr zu einer Be-schlussfassung des Deutschen Bundestages �ber das Gesetzesvorha-ben gekommen war (zum diesbez�glichen Verlauf vgl. BT-Drs.IV/178, S. 15), hat die Bundesregierung in der vierten Wahlperiodedem Deutschen Bundestag unter dem 07.02.1962 erneut einenEntwurf f�r ein Gesetz zur �nderung der StPO und des GVG(StP�G) mit einem zur Neufassung des § 147 Abs. 4 StPO identi-schen Gesetzesvorschlag (BT-Drs. IV/178, S. 8) vorgelegt.

Zur Begr�ndung ist zum Einsichtsrecht des Verteidigers in beidenEntw�rfen inhaltsgleich ausgef�hrt worden: »Schließlich verbessertder Entwurf [...] allg. die Stellung des Verteidigers. Der Verteidigersoll grunds�tzlich befugt sein, die Akten einzusehen, [...] W�hrendes bisher eine reine Ermessensentscheidung ist, ob die Akten – ohnedie Beweisst�cke – dem Verteidiger auf Antrag in seine Gesch�fts-r�ume oder in seine Wohnung zur Einsichtnahme mitgegeben wer-den, sieht der Entwurf vor, dass einem solchen Antrag entsprochenwerden soll. Der Entwurf stellt also hier, obwohl es sich nur umeine Angelegenheit der �ußeren Ordnung handelt, eine Regel zu-gunsten der Verteidiger auf. Die Einschr�nkung ’soweit tunlich’ istallerdings notwendig; denn es k�nnen sich – insbes. im Vorverfah-ren – Umst�nde verschiedener Art ergeben, die es geboten erschei-nen lassen, von der Regel abzuweichen« (in den allg. Begr�ndungenin BT-Drs. III/2037, S. 16, BT-Drs. IV/178, S. 17 f., und �hnlichin den besonderen Begr�ndungen zu § 147 StPO in BT-Drs.III/2037, S. 30 f., BT-Drs. IV/178, S. 31 f.).

Zur Einf�gung des Anfechtungsausschlusses in § 147 Abs. 4 S. 2StPO heißt es in den Gesetzesentwurfsbegr�ndungen, auch inso-weit �bereinstimmend, anschließend lediglich noch: »Die richter-liche Entscheidung �ber einen Antrag nach Abs. 4 soll nicht mit derBeschwerde (§ 304) angefochten werden k�nnen. Hat der StA imvorbereitenden Verfahren entschieden, so wird die M�glichkeit, da-gegen Dienstaufsichtsbeschwerde einzulegen, durch Abs. 4 S. 2nicht eingeschr�nkt« (in der besonderen Begr�ndung zu § 147StPO in BT-Drs. III/2037, S. 30 und in BT-Drs. IV/178, S. 32).

Im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu dem Gesetzesentwurf v.07.02.1962 ist der Anfechtungsausschluss in § 147 Abs. 4 S. 2StPO erkennbar unumstritten gewesen. Die Stellungnahme desBundesrates (BT-Drs. IV/178, S. 49 f.) verh�lt sich dazu nicht.Der Rechtsausschuss des Bundestages hat in der von ihm beschlos-senen und dem Deutschen Bundestag vorgelegten Gesetzesfassungden Rechtsmittelausschluss in § 147 Abs. 4 S. 2 StPO unver�ndert�bernommen und lediglich die Beschreibung der Ausnahme vom

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162 StV 3 · 2017

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Verfahrensrecht Entscheidungen

Regelfall der Mitnahmegew�hrung in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO da-hingehend ge�ndert, dass es statt »soweit tunlich« »soweit nichtwichtige Gr�nde entgegenstehen« heißen sollte (BT-Drs. IV/1020,S. 18), was in die vom Deutschen Bundestag beschlossene und ak-tuell geltende Gesetzesfassung des § 147 Abs. 4 StPO �bernommenworden ist.

Auf dieser Materialgrundlage ist die Verabschiedung der vorgeschla-genen �nderung und Erg�nzung des § 147 Abs. 4 StPO in der Fas-sung des Vorschlags des Rechtsausschusses des Deutschen Bundes-tages mit dem Gesetz zur �nderung der StPO und des GVG(StP�G) von 1965 dahin zu werten, dass der von der Bundesregie-rung vorgeschlagene allg. formulierte Anfechtungsausschluss in§ 147 Abs. 4 S. 2 StPO vom historischen Gesetzgeber bewusst allg.und ohne eine Ausnahmeregelung insbes. etwa f�r die StA �ber-nommen sowie in das Gesetz eingef�gt worden ist.

Daf�r spricht der nach den Ausf�hrungen zur Erweiterung der Ein-sichtsrechte von Verteidigern in den Entwurfsbegr�ndungen allg.formulierte Wille, eine Beschwerde nach § 304 StPO auszuschlie-ßen, ohne dabei zum Ausdruck zu bringen, dass etwa die StA davonausgenommen sein solle. Daf�r, dass der historische Gesetzgeberauch nicht von einer sich aus anderen Regelungen ergebenden Aus-nahme f�r die StA ausgegangen ist, spricht, dass in den Entwurfs-begr�ndungen ausdr�cklich als durch § 147 Abs. 4 S. 2 StPOnicht eingeschr�nkte Anfechtungsm�glichkeit die Dienstaufsichts-beschwerde gegen Entscheidungen der StA im vorbereitenden Ver-fahren genannt ist.

Nach allem ist davon auszugehen, dass der historische GesetzgeberGerichtsentscheidungen �ber die Art und Weise der Einsichtnahmein Akten und Beweisst�cke nach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO durchEinf�gung des § 147 Abs. 4 S. 2 StPO umfassend der Anfechtbar-keit entziehen wollte.

(b) Die vom historischen Gesetzgeber der geltenden Gesetzesfas-sung des § 147 Abs. 4 S. 2 StPO zu Grunde gelegten Gesichts-punkte bestehen fort.

Der Gesetzgeber hat in den seit Inkrafttreten des Gesetzes zur �n-derung der StPO und des GVG (StP�G) am 01.04.1965 vergan-genen rund f�nf Jahrzehnten die Regelungen des § 147 Abs. 4StPO zu keiner Zeit erneut ver�ndert und insbes. auch hinsichtlichdes allg. formulieren Anfechtungsausschlusses in § 147 Abs. 4 S. 2StPO keine Einschr�nkungen vorgenommen bzw. Ausnahmen ein-gef�gt, obwohl es in anderen Abs�tzen des § 147 StPO noch zu�nderungen bzw. Erg�nzungen u.a. zur Anfechtung von Entschei-dungen der StA �ber Akteneinsichtsgesuche von Verteidigern ge-kommen ist.

Nachdem die bis zum 01.04.1965 geltende Fassung des § 147StPO lediglich vier Abs�tze umfasst hatte, war mit dem Gesetzzur �nderung der StPO und des GVG (StP�G) v. 19.12.1964 erst-mals ein Abs. 5 in das Gesetz eingef�gt worden, der zun�chst, �hn-lich dem geltenden § 147 Abs. 5 S. 1 StPO, lediglich geregelt hatte,dass �ber die Gew�hrung der Akteneinsicht vor Einreichung derAnklageschrift die StA, w�hrend der Voruntersuchung der Unter-suchungsrichter und im �brigen der Vors. des mit der Sachebefassten Gerichts entscheidet. Die nachfolgenden S. 2 bis 4 dergeltenden Fassung des Abs. 5 des § 147 StPO, in denen die An-fechtbarkeit bestimmter staatsanwaltlicher Entscheidungen zur Ak-teneinsichtsgew�hrung mittels Antrags auf gerichtliche Entschei-dung geregelt ist, sind erst in den Jahren 2000 und 2009 in dasGesetz eingef�gt worden (vgl. Gesetz zur �nderung und Erg�nzungdes Strafverfahrensrechts – Strafverfahrens�nderungsgesetz 1999(StV�G 1999) v. 02.08.2000 in BGBl. I 2000, S. 1253 [1254],in Kraft seit dem 01.11.2000, und Gesetz zur St�rkung der Rechtevon Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsre-formgesetz) v. 29.07.2009 in BGBl. I 2009, S. 2280 [2281], inKraft seit dem 01.10.2009).

F�r die in § 147 Abs. 5 S. 2 StPO bezeichneten staatsanwaltschaft-lichen Entscheidungen zur Akteneinsichtsgew�hrung hat der Ge-setzgeber mithin in den vergangenen Jahrzehnten Bedarf f�r Ver-�nderungen der Regelungen zur Anfechtbarkeit solcher Entschei-dungen gesehen, dem er durch Einf�gung der S. 2 bis 4 in § 147Abs. 5 StPO nachgekommen ist. Dass der Gesetzgeber die Regelun-gen des § 147 Abs. 4 StPO und insbes. den dortigen S. 2 seit 1965unver�ndert gelassen hat, erbringt im Umkehrschluss, dass er inso-weit in den seit Einf�gung des allg. Anfechtungsausschlusses ver-gangenen f�nf Jahrzehnten einen �nderungs- oder auch nur Kon-kretisierungsbedarf nicht gesehen hat. Das belegt, dass der Willedes historischen Gesetzgebers, f�r die in § 147 Abs. 4 S. 1 StPOgeregelten Entscheidungen einen allg. und damit auch die StA be-treffenden Anfechtungsausschluss vorzusehen, dem objektiviertenaktuellen Willen des Gesetzgebers entspricht.

(2) Systematische, sich durch Abgleich mit anderen, struktu-rell vergleichbaren Regelungen hier der StPO ergebende Ge-sichtspunkte sprechen ebenfalls f�r einen dem Wortlaut derNorm entsprechenden allg. Anfechtungsausschluss mit Wir-kung auch f�r die StA in § 147 Abs. 4 S. 2 StPO.

(a) Der systematische Bezug des Anfechtungsausschlusses inS. 2 des § 147 Abs. 4 StPO zu dem vorangehenden S. 1 derNorm erbringt Anhaltspunkte f�r eine ausweitende Ausle-gung des § 147 Abs. 4 S. 2 StPO dahin, dass von dem allg.formulierten Anfechtungsausschluss in S. 2 die StA ausge-nommen w�re, nicht.

Die in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO geregelte Entscheidung �berdie Art und Weise der Einsichtsgew�hrung in Akten und Be-weisst�cke durch Mitgabe an den Verteidiger in seine Ge-sch�fts- oder Wohnr�ume bzw. deren Versagung setzt aller-dings einen auf Mitgabe gerichteten Antrag des Verteidigersvoraus. Daraus folgt allerdings nicht, dass der in § 147 Abs. 4S. 2 StPO vorgesehene Anfechtungsausschluss sich entgegenseinem allg. formulierten Wortlaut und dem darin zum Aus-druck gebrachten entsprechenden Willen des Gesetzgebersallein auf die antragstellende Seite des Besch. bezieht unddemgegen�ber eine Beschwerde der StA nicht verbietet (soaber OLG Celle a.a.O.; eine Anfechtbarkeit f�r die StAnach § 304 Abs. 1 StPO, allerdings ohne Erw�hnung des§ 147 Abs. 4 S. 2 StPO, bejahend OLG N�rnberg a.a.O.;den genannten Entscheidungen des OLG Celle und desOLG N�rnberg ohne weitere Begr�ndung folgend HansOLG,Beschl. v. 16.02.2016 – 3 Ws 11-12/16; �hnlich OLG Karls-ruhe, Beschl. v. 29.05.2012 – 2 Ws 146/12; vgl. ferner OLGFrankfurt/M., Beschl. v. 13.09.2013 – 3 Ws 897/13). An-dernfalls h�tte es nahe gelegen, eine konkretisierende Ge-setzesformulierung etwa dahin vorzusehen, dass die Versa-gung einer Mitgabe von Aktenteilen bzw. Beweisst�cken indie Gesch�fts- oder Wohnr�ume des Verteidigers durch denAst. nicht und die Gew�hrung einer Mitgabe nur von Seitender StA angefochten werden kann.

(b) Die er�rterte Einf�gung der S. 2 bis 4 des geltenden§ 147 Abs. 5 StPO zur Anfechtbarkeit der dort genanntenstaatsanwaltschaftlichen Entscheidungen zur Akteneinsichts-gew�hrung f�r Verteidiger mittels Antrags auf gerichtlicheEntscheidung in die Vorschriften des § 147 StPO sprichtauch in systematischer Hinsicht daf�r, dass mangels entspre-chender Einf�gung einer solchen Regelung auch zur An-fechtbarkeit der in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO geregelten ge-richtlichen Entscheidungen durch die StA in § 147 Abs. 4

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StV 3 · 2017 163

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Entscheidungen Verfahrensrecht

StPO der Anfechtungsausschluss im dortigen S. 2 entspre-chend der uneingeschr�nkten Formulierung allg. und auchf�r die StA gilt.

(c) Erst Recht gilt das unter Ber�cksichtigung der rund zweiJahrzehnte nach Inkrafttreten der aktuellen Fassung des§ 147 Abs. 4 StPO erfolgten Einf�gung einer dem § 147Abs. 4 StPO �hnlichen Regelung zur Akteneinsicht f�r RAevon Verletzten in § 406e StPO, bei welcher der Gesetzgebererneut den auch dort vorgesehenen Anfechtungsausschlussallg. und ohne Einschr�nkung bzw. Ausnahme formulierthat, nachdem in den Gesetzesmaterialien vorangehend deut-lich zum Ausdruck gebracht worden war, dass und aus wel-chem Grund ein solcher umfassender Anfechtungsausschlussgewollt ist.

§ 406e Abs. 3 StPO lautet in der geltenden Fassung: »AufAntrag k�nnen dem RA, soweit nicht wichtige Gr�nde ent-gegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisst�cke inseine Gesch�ftsr�ume oder seine Wohnung mitgegeben wer-den. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar«. Die Zust�ndig-keiten f�r Entscheidungen �ber die Einsichtsgew�hrung f�rRAe von Verletzten und die Anfechtungsm�glichkeiten ge-gen Entscheidungen der StA �ber die Akteneinsichtsgew�h-rung nach § 406e StPO sind in § 406e Abs. 4 StPO �hnlichder Fassung des geltenden § 147 Abs. 5 StPO geregelt.

§ 406e StPO ist durch das Erste Gesetz zur Verbesserung derStellung des Verletzten im Strafverfahren zum 01.04.1987 indie StPO eingef�gt worden. Die urspr�ngliche Fassung des§ 406e Abs. 4 StPO beinhaltete lediglich S. 1 der geltendenFassung (»Auf Antrag k�nnen dem RA, soweit nicht wichtigeGr�nde entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Be-weisst�cke in seine Gesch�ftsr�ume oder seine Wohnungmitgegeben werden«), w�hrend der dem § 147 Abs. 4 S. 2StPO entsprechende Ausschluss von Rechtsmitteln, wie erin S. 2 der geltenden Fassung des § 406e Abs. 3 StPO vor-gesehen ist, urspr�nglich den Zust�ndigkeitsregelungen in§ 406e Abs. 4 StPO angef�gt war (»�ber die Gew�hrungder Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahrenund nach rechtskr�ftigem Abschluss des Verfahrens die StA,im �brigen der Vors. des mit der Sache befassten Gerichts.Versagt die StA die Akteneinsicht, so kann gerichtliche Ent-scheidung nach Maßgabe des § 161a Abs. 3 S. 2 bis 4 bean-tragt werden; die Entscheidung des Vors. ist unanfechtbar«).

Durch das Verschieben des Anfechtungsausschlusses aus demfr�heren § 406e Abs. 4 StPO in den neuen S. 2 des § 406eAbs. 3 StPO hat der Gesetzgeber entsprechend der Regelungin § 147 Abs. 4 StPO klargestellt, dass der Ausschluss sichauf die vorangehend in S. 1 des § 406e Abs. 3 StPO geregel-ten Entscheidungen �ber die Art und Weise der Einsichtsge-w�hrung in Akten und Beweisst�cke bezieht.

Die 1987 in die StPO eingef�gten vorgenannten Regelungenentsprachen dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 10/5305), in dessen Begr�ndung dazu ausgef�hrt wor-den ist: »Abs. 3 entspricht § 147 Abs. 4, doch ist, um Verfah-rensverz�gerungen zu vermeiden, der dortige grunds�tzlicheAnspruch auf Aktenmitgabe auf eine bloße Mitgabebefugnisreduziert worden. Abs. 4 S. 1 begr�ndet f�r die Entscheidung�ber die Akteneinsicht die Zust�ndigkeit der jeweils akten-f�hrenden Stelle. Wird diese Entscheidung von einem Ge-richt getroffen, so besteht f�r ein Rechtsmittel kein zwingen-

der Grund; im Interesse der Verfahrens�konomie soll die Ent-scheidung unanfechtbar sein« (BT-Drs. 10/5305, S. 18). DerBundesrat hat in seiner Stellungnahme zu dem Gesetzentwurfder Bundesregierung vorgeschlagen, S. 2 des § 406e Abs. 4StPO (»Versagt die StA die Akteneinsicht, so kann gericht-liche Entscheidung nach Maßgabe des § 161a Abs. 3 S. 2bis 4 beantragt werden; die Entscheidung des Vors. ist unan-fechtbar«) zu streichen und dazu zur Begr�ndung ausgef�hrt,»eine gesetzgeberische Entscheidung« �ber die Anfechtbarkeitder betreffenden Entscheidungen k�nne »der bevorstehendenallg. Regelung �ber die Einsicht in Strafakten vorbehaltenbleiben« (BT-Drs. 10/5305, S. 30). Die Bundesregierunghat in einer Gegen�ußerung erkl�rt, dass dem Vorschlag nichtzugestimmt werde, und dazu zur Begr�ndung ausgef�hrt:»Anders als bei der Regelung des Akteneinsichtsrechts f�rden Verteidiger (§ 147 StPO) kommt nach § 406e i.d.F.d.E.eine Versagung der Akteneinsicht auch nach Erhebung der�ffentlichen Klage in Betracht. Um eine zus�tzliche Belastungder Justiz zu vermeiden, erscheint es geboten, die Entschei-dung des Vors. in diesen F�llen f�r unanfechtbar zu erkl�ren.Der Vorschlag des Bundesrates w�rde zur Folge haben, dassin diesen F�llen die Beschwerde er�ffnet w�re« (BT-Drs.10/5305, S. 33).

Danach ist f�r die der Regelung des § 147 Abs. 4 StPO nach-gebildeten �hnlichen Bestimmungen in § 406e StPO deut-lich zum Ausdruck gebracht worden, dass eine Beschwerdegegen gerichtliche Entscheidungen �ber die Art und Weiseder Einsichtsgew�hrung in Akten und Beweisst�cke f�r RAevon Verletzten zur Vermeidung von Belastungen der Justizgrunds�tzlich und damit auch f�r die StA ausgeschlossensein soll, um dadurch sonst begr�ndete Belastungen der Jus-tiz zu vermeiden.

Unter systematischen Aspekten spricht die Wortgleichheitder jeweils allg. und ohne Einschr�nkung bzw. Ausnahmeformulierten Anfechtungsausschl�sse in § 147 Abs. 4 S. 2StPO und § 406e Abs. 3 S. 2 StPO bei vergleichbaren da-durch betroffenen Regelungsbereichen in den jeweiligen vor-anstehenden S�tzen 1 dagegen, den Anfechtungsausschluss in§ 147 Abs. 4 S. 2 StPO anders als in § 406e Abs. 3 S. 2 StPOentgegen dem Wortlaut der Norm abweichend ausweitenddahin auszulegen, dass eine Anfechtbarkeit durch die StAnicht ausgeschlossen sein soll.

(d) Ein systematischer Vergleich mit den Vorschriften der§§ 304 Abs. 1, 305 StPO erbringt nicht Abweichendes f�rdie Auslegung der, wie eingangs ausgef�hrt, grunds�tzlichvorrangigen Einzelnorm des § 147 Abs. 4 S. 2 StPO.

Demgegen�ber erbringt die Regelung des § 305 StPO, dassder Gesetzgeber Entscheidungen erkennender Gerichte, alsonach Er�ffnung des Hauptverfahrens ergangene gerichtlicheEntscheidungen (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 305 Rn. 2m.w.N.) mit wenigen Ausnahmen der Anfechtung generellentziehen wollte. Damit steht der allgemeine Anfechtungs-ausschluss f�r gerichtliche Entscheidungen �ber die Art undWeise der Einsichtsgew�hrung in Beweisst�cke und sonstigeAktenteile in § 147 Abs. 4 S. 2 StPO mit den hinsichtlichder m�glichen Entscheidungsgegenst�nde weiter und bez�g-lich des betroffenen Verfahrensabschnittes enger gefasstenRegelungen der §§ 304 Abs. 1, 305 StPO systematisch in

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Verfahrensrecht Entscheidungen

Einklang und keineswegs etwa in einem Widerspruch (soauch Knauer/Pretsch, a.a.O.).

(e) Auch das systematische Argument, dass im Gegensatzzum Angekl., der eine f�r ihn ung�nstige Entscheidungnach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO noch als unzul�ssige Beschr�n-kung der Verteidigung in einem f�r die Entscheidung we-sentlichen Punkt im Rahmen einer Revision mit einer R�genach § 338 Nr. 8 StPO geltend machen k�nne, der StA dieserevisionsrechtliche �berpr�fung indes versagt sei (so OLGCelle a.a.O.; durch Bezugnahme auf die Entscheidung desOLG Celle v. 24.07.2015 im Ergebnis ebenso HansOLGa.a.O.), tr�gt eine dahingehende Auslegung, dass § 147Abs. 4 S. 2 StPO deshalb entgegen seinem allg. formuliertenWortlaut eine Anfechtbarkeit von Entscheidungen nach§ 147 Abs. 4 S. 1 StPO durch die StA nicht ausschließen soll,nicht (vgl. Knauer/Pretsch a.a.O.).

Zum einen geht der Vergleich zwischen der M�glichkeit zurBeanstandung einer gerichtlichen Vorsitzendenentscheidungnach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO mittels einer Revisionsr�genach § 338 Nr. 8 StPO und einer – einfachen – Beschwerdein systematischer Hinsicht bereits im Ansatz fehl, weil ange-sichts der strengen Voraussetzungen der Beanstandung einerVorsitzendenentscheidung nach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO mit-tels einer revisionsrechtlichen Verfahrensr�ge nach § 338Nr. 8 StPO (vgl. dazu etwa BGH, Beschl. v. 11.02.2014 –1 StR 355/13 [= StV 2015, 10]) einerseits und der weitge-hend voraussetzungslosen Anfechtung mit einer – einfachen– Beschwerde andererseits eine damit begr�ndete Einengungdes Anfechtungsausschlusses nach § 147 Abs. 4 S. 2 StPOauf den Besch. zu einer Umkehrung des behaupteten Un-gleichgewichts und nicht zu einem Gleichgewicht zwischenBesch. und StA f�hren w�rde (vgl. Knauer/Pretsch a.a.O.).

Dass unter Ber�cksichtigung der §§ 336 bis 339 StPO dieetwaige Fehlerhaftigkeit einer gerichtlichen Entscheidung�ber die Art und Weise der Einsichtsgew�hrung in Aktenund Beweisst�cke nach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO durch dieStA kaum erfolgreich mit einer zu Ungunsten eines Angekl.eingelegten Revision gegen ein Urt. geltend gemacht werdenkann, so dass die Beanstandung einer solchen Entscheidungf�r die StA mit einer Revision im Vergleich zu einem Angekl.noch weiter erschwert erscheint, begr�ndet eine ausweitendeAuslegung des § 147 Abs. 4 S. 2 StPO dahin, dass eine Be-schwerde gegen eine erfolgte Mitgabe von Aktenbestandtei-len oder Beweisst�cken entgegen dem eindeutigen Wortlautder Norm mit einem allg. formulierten Anfechtungsaus-schlusses f�r die StA gleichwohl statthaft sein soll, auch im�brigen nicht, da nach der StPO keineswegs stets eineRechtsmittelsymmetrie zwischen Besch. und StA gegebenist (vgl. Senat, Beschl. v. 19.05.2015 – 2 Ws 75/15 m.w.N,betreffend weitere Beschwerde gegen Arrestbeschl�sse).

Vielmehr ist in der StPO etwa in § 339 StPO sogar eineAsymmetrie der Anfechtungsm�glichkeiten eines Angekl. ei-nerseits und der StA andererseits angelegt, indem danach vonSeiten der StA mit einer Revision »die Verletzung vonRechtsnormen, die lediglich zu Gunsten des Angekl. gegebensind, nicht zu dem Zweck geltend gemacht werden« kann,»um eine Aufhebung des Urt. zum Nachteil des Angekl. her-beizuf�hren«. Etwaige Rechtsfehler, die von Seiten eines An-gekl. im Rahmen einer Revision beanstandet werden k�n-

nen, m�ssen danach nicht im Sinne einer Rechtsmittelsym-metrie auch von Seiten der StA mit einer Revision zubeanstanden sein. Daraus folgt, dass in Konstellationen, indenen – wie hier – nach der StPO ein anderes Rechtsmittelals die Revision nicht gegeben ist, in § 339 StPO notwendigangelegt ist, dass es zu einer asymmetrischen Lage zwischenAngekl. und StA bez�glich der Rechtsmittelbefugnis kom-men kann.

(3) Die teleologische Auslegung nach dem objektivenZweckinhalt unter Ber�cksichtigung der Zwecke des Straf-verfahrens und der Prozessmaximen (vgl. Beulke a.a.O.,Rn. 26 m.w.N.) erbringt schließlich Anhaltspunkte f�r einevom Wortlaut abweichende Auslegung des § 147 Abs. 4 S. 2StPO ebenfalls nicht.

Die Ziele der materiellen Wahrheitsfindung und der Herbei-f�hrung gerechter, Rechtsfrieden schaffender Entscheidun-gen sowie der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchesund die dabei zum Tragen kommenden Maximen der Amts-ermittlung, der M�ndlichkeit und der Unmittelbarkeit derBeweisaufnahme sowie des Grundsatzes freier Beweisw�rdi-gung (allg. dazu Beulke a.a.O., Rn. 4 ff., 43 ff.) sind durchdie hier in Frage stehenden Regelungen nicht ber�hrt. Siewerden jedenfalls in aller Regel nicht dadurch beeintr�chtigt,ob einem Verteidiger Einsicht in Aktenteile bzw. Beweisst�-cke unter Mitgabe in seine Gesch�fts- oder Wohnr�ume oderin Gestalt – ungest�rter und auch zeitlich hinreichender –Einsichtnahme innerhalb amtlicher R�ume gew�hrt wordenist. Entsprechendes gilt f�r eine zugleich mit einer Entschei-dung �ber die Art und Weise der Einsichtsgew�hrung nach§ 147 Abs. 4 S. 1 StPO getroffene Bewertung bestimmterTeile als Beweisst�cke oder als sonstige Aktenbestandteile.Deshalb sind die genannten Grunds�tze auch nicht dadurchbeeintr�chtigt, ob gegen die betreffenden gerichtlichen Ent-scheidungen ein allg. umfassender Anfechtungsausschlusseingreift oder jedenfalls die StA dagegen Beschwerde einlegenk�nnte.

Der Grundsatz der Gew�hrung eines rechtsstaatlichen Ver-fahrens und der Gew�hrleistung prozessordnungsgem�ßenZustandekommens von Entscheidungen gilt nicht absolut,so dass aus ihm weder ein Erfordernis, bestimmte Rechtsmit-tel vorzuhalten, noch ein dahin gehender Grundsatz, dassgegen jede gerichtliche Entscheidung stets mindestens einRechtsbehelf gegeben sein muss, folgt. Vielmehr ist dieserGrundsatz im Zusammenhang mit dem Interesse an der Auf-rechterhaltung einer funktionst�chtigen Strafrechtspflegeund dem Erfordernis effektiver Strafverfolgung zu sehen, wo-bei bei der stets erforderlichen Abw�gung zwischen derEffektivit�t der Strafverfolgung und den schutzw�rdigen Be-schuldigtenrechten stets darauf zu achten ist, dass Effektivi-t�tsbestrebungen nicht zunehmend zu Lasten der Rechts-stellung von Besch. gehen d�rfen (zum Ganzen vgl. Beulkea.a.O., Rn. 9 [12], jeweils m.w.N.).

Gerade im Hinblick auf die Erfordernisse effektiver Strafver-folgung und Aufrechterhaltung einer funktionst�chtigenStrafrechtspflege erscheint indes eine Beschr�nkung vonRechtsbehelfen als zwingend geboten, wobei diese, wenn an-dere Zwecke und Maximen des Strafverfahrens nicht beein-tr�chtigt werden und insbes. nicht �berm�ßig in die Rechts-

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Entscheidungen Verfahrensrecht

stellung von Besch. eingegriffen wird, in teleologischer Hin-sicht unproblematisch erscheint.

So verh�lt es sich hier mit dem in § 147 Abs. 4 S. 2 StPOvorgesehenen allg. Anfechtungsausschluss auch mit Geltungf�r die StA im Hinblick auf nach § 147 Abs. 4 S. 1 getroffeneGerichtsentscheidungen �ber die Art und Weise der Ein-sichtsgew�hrung in Beweisst�cke und sonstige Aktenteile.Insoweit steht einem erheblichen Interesse an einer Vermei-dung von zus�tzlichen Belastungen der Gerichtsvors. undVerfahrensverz�gerungen, da es lediglich um Entscheidun-gen �ber die Art und Weise der Einsichtsgew�hrung undnicht �ber eine Einsichtsgew�hrung an sich geht, ein nur ver-h�ltnism�ßig geringer Eingriff in Anfechtungsrechte gegen-�ber.

Die hier vertretene Ablehnung einer �berschreitung derWortlautgrenze des § 147 Abs. 4 S. 2 StPO steht danachauch mit teleologischen Gesichtspunkten in Einklang.

2. Nach allem ist vorliegend die Beschwerde der StA bereitsnicht statthaft und deshalb als unzul�ssig zu verwerfen.

Mitgeteilt vom 2. Strafsenat des OLG Hamburg.

Verlesung von Erkl�rungen desAngeklagten gegen�ber seinemVerteidiger

StPO §§ 250 S. 2, 261

1. Schriftliche Erkl�rungen, die der Angeklagte im an-h�ngigen Verfahren zu der gegen ihn erhobenen Beschul-digung abgibt, k�nnen verlesen werden, selbst wenn ersp�ter Angaben verweigert.

2. Hat er sich gegen�ber einer anderen Person ge�ußertund diese die �ußerung schriftlich festgehalten, so han-delt es sich bei der Wiedergabe um die Erkl�rung dieserPerson; geht es um die Feststellung, ob der Angeklagtedas schriftlich Niedergelegte ge�ußert hat, so ist die nie-derschreibende Person �ber ihre Wahrnehmung bei derUnterredung mit dem Angeklagten zu vernehmen. Nichtsanderes gilt, wenn die niederschreibende Person der Ver-teidiger ist. (amtl. Leits�tze)

OLG Koblenz, Beschl. v. 12.05.2016 – 2 OLG 4 Ss 54/16

Aus den Gr�nden: I. Mit Strafbefehlsantrag v. 30.03.2015 legtdie StA Koblenz dem Angekl. zur Last, am 08.12.2014 in H. einenDiebstahl in Tateinheit mit Sachbesch�digung begangen zu haben,indem er im Staatswald N. entlang eines Waldweges unterhalb desHotels »... [A]« ohne Kenntnis und Billigung des Forstamtes15 Festmeter Douglasienstammholz, »Hiebsunreife« sowie Energie-holz im Gesamtwert von 3.235 E geschlagen habe, um das Holzanschließend f�r eigene Zwecke zu verwenden.

Nachdem der Angekl. gegen den am 08.04.2015 vom AG Monta-baur erlassenen Strafbefehl rechtzeitig Einspruch eingelegt hatte,sprach das AG Montabaur den Angekl. mit Urt. v. 31.07.2015aus Mangel an Beweisen frei.

Auf die rechtzeitig eingelegte Berufung der StA verurteilte das LGKoblenz den Angekl. am 09.12.2015 wegen Diebstahls in Tateinheitmit Sachbesch�digung zu einer Geldstrafe von 60 Ts. zu je 80 E.

Gegen das Berufungsurteil hat der Angekl. mit Verteidigerschrift-satz am 10.12.2015 Revision eingelegt. Nach Urteilszustellung am

21.01.2016 hat der Verteidiger die Revision am Montag, dem22.02.2016, begr�ndet.

II. Die form- und fristgerecht angebrachte Revision hat einen zu-mindest vorl�ufigen Erfolg. Die neben anderen Verfahrensr�genund der Sachr�ge zul�ssig erhobene R�ge der Verletzung des§ 250 S. 2 StPO f�hrt zur Aufhebung des Urt.

1. Der R�ge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: DerAngekl. hatte in der Hauptverhandlung und zuvor auch im Ermitt-lungsverfahren Angaben zur Sache verweigert. In der Berufungs-hauptverhandlung wurden zwei bei der Akte befindliche Schrift-s�tze seines Verteidigers v. 06.02.2015 auszugsweise verlesen. Indem an das Forstamt N. gerichteten Schriftsatz hatte der Verteidi-ger f�r den Angekl. erkl�rt, dieser bedauere den Vorfall zutiefst undwolle sich f�r sein Verhalten entschuldigen; er habe ihn (den Ver-teidiger) gebeten abzukl�ren, inwieweit die Gegenseite zur Mit-wirkung an einem T�teropferausgleich bereit sei. An die StA gerich-tet hatte der Verteidiger »namens und im Auftrag« des Angekl. mit-geteilt, dass dieser die Tatbegehung dem Grunde nach nichtbestreite. Beide Schrifts�tze hat das LG in dem angefochtenenUrt. seiner Beweisw�rdigung zu Grunde gelegt.

2. Diese Verfahrensweise verst�ßt gegen § 250 S. 2 StPO,worauf bereits die GStA in ihrer Stellungnahme v. 06.04.2016zutreffend hingewiesen hat.

Die schrifts�tzlichen Ausf�hrungen des Verteidigers, in de-nen er Angaben des Angekl. wiedergibt, waren hier nichtals schriftliche Erkl�rung des Angekl. verlesbar (vgl. BGHSt39, 305 Ls. 1 [= StV 1993, 623]). Es ist anerkannt, dassschriftliche Erkl�rungen, die der Angekl. im anh�ngigen Ver-fahren zu der gegen ihn erhobenen Beschuldigung abgibt,verlesen werden k�nnen, selbst wenn er sp�ter Angaben ver-weigert. Denn das Gesetz l�sst den Urkundenbeweis zu, woes ihn nicht ausdr�cklich untersagt (BGHSt 39, 305 [306][= StV 1993, 623]; 20, 160 [162]; 27, 135 [136]). Das giltjedoch nur f�r schriftliche Erkl�rungen, die der Angekl.selbst abgegeben hat. Hat er sich gegen�ber einer anderenPerson ge�ußert und diese die �ußerung schriftlich festgehal-ten, so handelt es sich bei der Wiedergabe um die Erkl�rungdieser Person; sie schreibt nieder, was sie als �ußerung desAngekl. wahrnimmt. Geht es um die Feststellung, ob derAngekl. das schriftlich Niedergelegte ge�ußert hat, so ist dieniederschreibende Person �ber ihre Wahrnehmung bei derUnterredung mit dem Angekl. zu vernehmen (§ 250 StPO).Nichts anderes gilt, wenn die niederschreibende Person derVerteidiger ist (BGHSt 39, 305 [306] [= StV 1993, 623];NStZ 2002, 555; OLG Celle NStZ 1988, 426). Anhalts-punkte daf�r, dass der Angekl. sich des Verteidigers nur »alsSchreibhilfe« bedient hat (vgl. hierzu BGHSt 39, 305 [307][= StV 1993, 623]; NStZ 2002, 555), bestehen nicht. Eshandelte sich um die nach Gew�hrung von Akteneinsichtan den beauftragten Verteidiger »namens und im Auftragdes Angekl.« erfolgte pauschale Mitteilung, dass dieser dieTatbegehung dem Grunde nach nicht bestreite, bei der einEinfluss von eigenen �berlegungen des Verteidigers oderMissverst�ndnissen jedenfalls nicht auszuschließen ist. Hin-zukommt, dass der Verteidiger sich – wie die Urteilsgr�ndeausdr�cklich ausf�hren – im Schlussvortrag darauf berufenhat, in den Schrifts�tzen habe der Angekl. die Tatverantwor-tung f�r eine andere Person �bernommen. Ebenso wenig istdurch eine Erkl�rung des Angekl. oder des Verteidigers klar-gestellt worden, dass der Angekl. die in den Schrifts�tzen v.06.02.2015 enthaltenen �ußerungen als eigene Einlassung

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 166/212] 4

166 StV 3 · 2017

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Verfahrensrecht Entscheidungen

verstanden wissen wollte (vgl. BGH NStZ 2002, 555; NStZ1990, 447). Aus dem Umstand, dass weder der Angekl. nochder Verteidiger der Verlesung der Schrifts�tze widersprochenhaben, kann auf eine solche Zustimmung nicht geschlossenwerden (vgl. BGH NStZ 2002, 555). Ihr stehen auch dieAusf�hrungen des Verteidigers im Schlussvortrag entgegen.Da es um die Feststellung ging, ob der Angekl. das schriftlichNiedergelegte ge�ußert hat, w�re der Verteidiger als Zeuge zuvernehmen gewesen (BGHSt 39, 305 [= StV 1993, 623];NStZ 2002, 555; OLG Celle a.a.O.).

Die Kammer hat den Nachweis der T�terschaft des Angekl.im Wesentlichen auf den Inhalt der verlesenen Schrifts�tzedes Verteidigers gest�tzt. Da es sich hierbei um die gewich-tigsten Beweise f�r die T�terschaft handelt, kann trotz derim �brigen aufgezeigten, f�r die Beteiligung des Angekl.sprechenden Zeugenaussagen und Schlussfolgerungen nichtmit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass das Urt. auf demRechtsfehler beruht. [...]

Mitgeteilt vom 2. Strafsenat des OLG Koblenz.

Verlesung von Vernehmungsprotokolleninfolge krankheitsbedingterReiseunf�higkeit des ZeugenStPO § 251 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1

1. Die dem Tatgericht obliegende Entscheidung, ob einZeuge in absehbarer Zeit nicht gerichtlich vernommenwerden kann bzw. dass eine Vernehmung in der Haupt-verhandlung f�r eine l�ngere oder ungewisse Zeit nichtm�glich ist, erfordert eine Abw�gung der Bedeutungder Sache und der Wichtigkeit der Zeugenaussage f�rdie Wahrheitsfindung einerseits gegen das Interesse aneiner reibungslosen und beschleunigten Durchf�hrungdes Verfahrens andererseits unter Ber�cksichtigung derPflicht zur ersch�pfenden Sachaufkl�rung.

2. Kommt den Angaben eines Zeugen ausschlaggebendeBedeutung zu und bedarf es im Interesse einer ersch�p-fenden Sachaufkl�rung eines pers�nlichen Eindrucks vondem Zeugen, wird die Verlesung der Niederschrift seinerpolizeilichen Vernehmung nicht durch eine Arbeitsunf�-higkeitsbescheinigung gerechtfertigt, die nicht zugleicheine Reise- oder eine Verhandlungs- bzw. Vernehmungs-unf�higkeit attestiert.

OLG Naumburg, Beschl. v. 07.06.2016 – 1 Rv 9/16

Mitgeteilt von RAin Dr. Heide Sandkuhl, Potsdam.

Anfechtbarkeit der Akteneinsicht anVerletztenStPO §§ 406e, 33, 305

1. § 305 S. 1 StPO steht einer Beschwerde des Angeklag-ten gegen die Gew�hrung der Akteneinsicht an den Ver-letzten nicht entgegen. (amtl. Leitsatz)

2. Vor der Entscheidung �ber den Akteneinsichtsantragdes Verletzten ist entsprechend § 33 StPO rechtliches Ge-h�r zu gew�hren.

KG, Beschl. v. 02.10.2015 – 4 Ws 83/15

Aus den Gr�nden: I. Das AG Tiergarten hat den Angekl. am06.01.2014 wegen exhibitionistischer Handlungen, die er vor denZeuginnen Hu. vorgenommen haben soll, zu einer Geldstrafe von120 Ts. zu je 70 E verurteilt. Gegen ihn ist seit dem 26.03.2014 beider 80. Kl. StrK des LG Berlin das Berufungsverfahren anh�ngig.Am 11.02.2015 zeigte RA H. die Vertretung der Gesch�digten Hu.an und bat um �berlassung der Verfahrensakten zwecks Durchset-zung der seinen Mandantinnen zustehenden Unterlassungs- undSchadensersatzanspr�che. Er wiederholte das Akteneinsichtsgesuchmit Schriftsatz v. 18.03.2015. Der StrK-Vors. verf�gte daraufhinam 31.03.2015 die �berlassung der Akten – mit Ausnahme desden Angekl. betreffenden forensisch-psychiatrischen Gutachtensund der Auskunft aus dem Bundeszentralregister – an RA H. DieAkteneinsicht wurde im April 2015 durchgef�hrt.

Nachdem der Verteidiger des Angekl. durch eigene erg�nzende Ak-teneinsicht von der RA H. gew�hrten Akteneinsicht Kenntnis er-langt hatte, legte er f�r den Angekl. Beschwerde gegen die zugrundeliegende richterliche Entscheidung v. 31.03.2015 ein und beantrag-te festzustellen, dass die Gew�hrung der Akteneinsicht rechtswidrigwar. Der Bf. macht geltend, dass ein berechtigtes Interesse der Zeu-ginnen Hu. an der Akteneinsicht nicht gegeben sei und dieser zu-dem schutzw�rdige Interessen seinerseits entgegengestanden h�tten.Er beanstandet ferner, dass ihm vor der Entscheidung �ber den Ak-teneinsichtsantrag kein rechtliches Geh�r gew�hrt wurde.

Der StrK-Vors. hat den auf den 26.08.2015 anberaumten Terminzur Berufungshauptverhandlung auf Antrag des Bf. aufgehobenund der Beschwerde nicht abgeholfen.

II. 1. Die Beschwerde ist nach § 304 Abs. 1 StPO zul�ssig.§ 305 S. 1 StPO, der auch f�r Entscheidungen des Beru-fungsgerichts oder des Vors. dieses Gerichts ab Aktenvorlagenach § 321 S. 2 StPO gilt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt-StPO,58. Aufl., § 305 Rn. 2 f.), steht der Zul�ssigkeit nicht entge-gen.

Zwar wird ein Beschwerderecht des Angekl. gegen die Versa-gung der Akteneinsicht nach § 147 StPO durch das erken-nende Gericht teilweise unter Hinweis auf § 305 S. 1 StPOverneint (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 147 Rn. 41;a.A. KK-StPO/Laufh�tte/Willnow, 7. Aufl., § 147 Rn. 28,jew. m.w.N. zum Streitstand). Hieraus l�sst sich indes f�rdie vorliegende Konstellation nichts herleiten. Der Angekl.wendet sich gegen die Bewilligung der Akteneinsicht an denRA der Gesch�digten. Insoweit ist § 406e Abs. 4 S. 4 StPOals lex specialis einschl�gig. Danach sind gerichtliche Ent-scheidungen �ber Akteneinsichtsantr�ge des Verletzten (nurdann) unanfechtbar, wenn sie (vom Ermittlungsgericht) imErmittlungsverfahren getroffen werden. Hieraus folgt imUmkehrschluss, dass gegen entsprechende Entscheidungen,die nach Abschluss der Ermittlungen durch das Gericht –auch durch das erkennende Gericht – getroffen werden, dieBeschwerde statthaft ist (vgl. HansOLG Hamburg StraFo2015, 23; 2015, 328; OLG Naumburg NStZ 2011, 118;Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 406e Rn. 11; LR-StPO/Wenske, 26. Aufl. [Nachtrag], § 406e Rn. 8; KK-StPO/Za-beck a.a.O., § 406e Rn. 13). Das Beschwerderecht steht in-soweit nicht nur – entsprechend der vom Gesetzgeber mitder Einf�hrung des § 406e Abs. 4 S. 4 StPO verfolgten Ab-sicht (vgl. BT-Drs. 16/12098, S. 36) – dem Verletzten (imFall der Versagung der Akteneinsicht) zu; denn eine derartigeBeschr�nkung ist dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen.Anfechtungsberechtigt ist vielmehr auch der durch die Bewil-ligung der Akteneinsicht in seinen Grundrechten betroffeneAngekl. (vgl. HansOLG Hamburg StraFo 2015, 23; OLG

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 167/212] 4

StV 3 · 2017 167

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Entscheidungen Verfahrensrecht

Saarbr�cken ZWH 2013, 204 – juris; Meyer-Goßner/Schmitta.a.O., § 406e Rn. 11). Danach ist auch vorliegend ein Be-schwerderecht des Angekl. gegen die Entscheidung des Vors.der BerufungsK gegeben.

Der Zul�ssigkeit des Rechtsmittels steht auch nicht entgegen,dass die Akteneinsicht bereits ausgef�hrt worden ist; dennder StrK-Vors. hat es vers�umt, dem Angekl. vor der Ent-scheidung �ber den Akteneinsichtsantrag des Verletzten ent-sprechend § 33 StPO rechtliches Geh�r zu gew�hren. DieAnh�rungspflicht folgt zum einen daraus, dass die Bewilli-gung der Einsicht in die Strafakten und die dadurch zug�ng-lich gemachten personenbezogenen Daten des Angekl. miteinem Eingriff in dessen Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung verbunden ist, zum anderen aus dem Gebot derSachaufkl�rung im Hinblick auf m�glicherweise bestehendeVersagungsgr�nde oder in die Interessenabw�gung einzustel-lende Umst�nde (vgl. LG Karlsruhe MMR 2010, 68 – juris;Wenske a.a.O., § 406e Rn. 4; LR-StPO/Hilger a.a.O., § 406eRn. 16; zum Erfordernis der Anh�rung im Fall von Grund-rechtseingriffen vgl. ferner BVerfG NStZ-RR 2005, 343; Za-beck a.a.O., § 406e Rn. 12). Die Verletzung des Anspruchsauf rechtliches Geh�r hat zur Folge, dass dem Angekl. jedeM�glichkeit genommen worden ist, vor dem Vollzug der Ak-teneinsicht seine Rechte geltend zu machen. Daher bestehtein Rechtsschutzbed�rfnis f�r die nachtr�gliche Feststellungder Rechtswidrigkeit der Bewilligung (vgl. LG Stralsund Stra-Fo 2006, 76; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.; vgl. ferner LGKarlsruhe a.a.O.).

2. Die Beschwerde hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

a) Die Bewilligung der Akteneinsicht an den RA der Verletzten istnicht schon deshalb f�r rechtswidrig zu erkl�ren, weil dem Angekl.– wie dargelegt – zuvor kein rechtliches Geh�r gew�hrt worden ist(so aber LG Dresden StV 2006, 11 [13]). Zwar liegt hierin einschwerwiegender Verfahrensmangel. Dieser ist jedoch durch dieDurchf�hrung des Beschwerdeverfahrens als geheilt anzusehen, dadieses zur Nachholung des rechtlichen Geh�rs f�hrt (vgl. LG Stral-sund a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 406e Rn. 11, § 478Rn. 4; KK-StPO/Gieg a.a.O., § 478 Rn. 3 [zur entsprechendenProblematik bei § 478 StPO]). [wird ausgef�hrt]

Mitgeteilt vom 4. Strafsenat des KG, Berlin.

�berlassung von Urteilen anPrivatpersonen

StPO §§ 474, 475, 478; EGGVG §§ 24 ff.

1. Bei einem Urteil handelt es sich um einen Bestandteilder Akten, sodass dessen �berlassung an nicht verfah-rensbeteiligte Dritte als Auskunft i.S.d. §§ 474 ff. StPOanzusehen ist.

2. Auch ein Verfahren, das Allgemeininteressen in evi-denter Weise ber�hrt, begr�ndet nicht per se f�r jeder-mann einen individuellen Anspruch auf �berlassung einer(anonymisierten) Urteilsfassung.

OLG Naumburg, Beschl. v. 27.06.2016 – 1 VAs 2/16

Aus den Gr�nden: Mit Schreiben v. 24.11.2015 hat der Pr�si-dent des LG Halle [Herrn X.] die �bersendung einer anonymisier-ten Fassung der schriftlichen Gr�nde des Urt. [...] bewilligt und

den Vollzug dieser Entscheidung bis zum Eintritt der Bestandskraftaufgeschoben.

Hiergegen wendet sich der Angekl. des zugrunde liegenden Straf-verfahrens (...) mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidungaus dem Schriftsatz seines Verfahrensbevollm�chtigten v.17.12.2015.

Da hier eine Angelegenheit der Strafrechtspflege zugrunde liegt, istder Senat nach § 25 Abs. 1 S. 1 EGGVG zur Entscheidung �berden Antrag berufen.

Der Antrag des Beteiligten, der geltend macht, durch die angegrif-fene Maßnahme in seinen Rechten verletzt zu sein, ist nach § 24Abs. 1 [EGGVG] statthaft und unterliegt auch sonst keinen Zul�s-sigkeitsbedenken.

Er hat ebenso in der Sache Erfolg, da die vom Pr�sidentendes LG bewilligte �bersendung der schriftlichen Gr�nde desUrt. v. 09.02.2015 rechtswidrig war und den Ast. in seinenRechten verletzt hat. Die Entscheidung war deshalb gem.§ 28 Abs. 1 S. 1 EGGVG aufzuheben.

Entgegen der Auffassung des LG handelt es sich bei der hierbegehrten �bersendung einer Urteilsfassung um keine Jus-tizverwaltungsangelegenheit, f�r die der Pr�sident des LGHalle zust�ndig w�re.

Vielmehr hat sich die von [Herrn X.] ohne konkreten Ver-fahrensbezug, ausdr�cklich als jedermann begehrte Urteils-�berlassung nach den Vorgaben des § 475 StPO zu richten.Denn auch bei Urt. handelt es sich um Aktenbestandteile,sodass deren �berlassung an nicht verfahrensbeteiligte Dritteals Auskunft i.S.d. §§ 474 ff. StPO anzusehen ist (OLGM�nchen, Beschl. v. 27.02.2016 – 2 Ws 79/16, juris Rn. 14).

Es ist zwar anerkannt, dass die Vorschrift des § 475 StPO aufAuskunftsanspr�che der Presse keine Anwendung findet. Der-artige Ausk�nfte richten sich vielmehr nach den Landespres-segesetzen und verlangen nicht die Geltendmachung eines be-rechtigten Interesses nach § 475 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 StPO.Ebenso liegt auch der �bersendung von Entscheidungen anFachzeitschriften eine Justizverwaltungsangelegenheit zugrun-de (LR-StPO/Hilger, 26. Aufl., § 475 Rn. 2; SK-StPO/Weß-lau, 4. Aufl., § 475 Rn. 9). [Herr X.] unterf�llt hingegen kei-ner dieser Ausnahmen. Als bloße Privatperson hat er deshalbgrds. ein berechtigtes Interesse nach § 475 Abs. 1 und 4 StPOdarzulegen. Die Zust�ndigkeit, �ber sein Begehren zu ent-scheiden, richtet sich folglich nach § 478 Abs. 1 StPO.

Davon abgesehen vermag der Senat aber auch in der Sacheder Auffassung des LG, eine Informations- und Publikations-pflicht f�hre bei einem Verfahren, welches, wie hier, das All-gemeininteresse in evidenter Weise ber�hre, f�r jedermannzu einem individuellen Anspruch auf eine (anonymisierte)Urteils�berlassung, nicht n�her zu treten. Aus dem zitiertenBeschl. des BVerfG v. 14.09.2015 – 1 BvR 857/15 – folgtvielmehr das Gegenteil. In dieser Entscheidung hat dasBVerfG klargestellt, dass einem Pressevertreter selbst einnoch nicht rechtskr�ftiges Urt. regelm�ßig �berlassen werdenmuss. Dies hat das BVerfG auch mit Blick auf eine m�glicheMissbrauchsgefahr deshalb f�r vertretbar erachtet, weil dieMedien einer besonderen eigenen Verantwortung im weite-ren Umgang der Entscheidungen unterliegen (a.a.O.,Rn. 23). Derartigen selbstbeschr�nkenden Pflichten unter-liegt eine Privatperson hingegen nicht, weshalb f�r sie ein

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 168/212] 4

168 StV 3 · 2017

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Anmerkung Ahlbrecht Verfahrensrecht Entscheidungen

unbeschr�nktes Zug�nglichmachen eines, hier ohnehin nochnicht rechtskr�ftigen Urt. ausscheidet.

Der Umstand, dass damit eine Privatperson mitunter Er-schwerungen bei einer direkten Informationsbeschaffungim Vergleich zu Vertretern der Presse unterliegt und gehaltenist, ein berechtigtes Interesse darzulegen, l�sst auch keine ver-fassungsrechtlichen Bedenken aufkommen. Bei dem berech-tigten Interesse i.S.d. § 475 Abs. 1 S. 1 StPO handelt es sichum einen unbestimmten Rechtsbegriff, der es ohne Weiteresgestattet, Grundrechte und andere in der Verfassung wur-zelnde Werte und Prinzipien mit in die Abw�gung einzube-ziehen, was, abh�ngig vom Einzelfall, auch bei einem beson-deren Informationsbed�rfnis der Allgemeinheit zu einer Ur-teils�berlassung an eine Privatperson f�hren kann.

Im vorliegenden Fall verh�lt es sich hingegen anders. Zumeinen ist das betroffene Urt. zwischenzeitlich vom BGH [...]aufgehoben worden. Zum anderen hat sich der BGH in sei-nen Urteilsgr�nden [kostenfrei abrufbar] ausf�hrlich mit denFeststellungen des LG [...] auseinander gesetzt und diese um-fassend dargestellt. Vor diesem Hintergrund besteht f�r je-dermann ausreichend Gelegenheit, sich �ber den Inhalt desbegehrten Urt. zu informieren, weshalb ein berechtigtes In-teresse auf zus�tzliche �berlassung einer Urteilsfassung nach§ 475 Abs. 1 S. 1 StPO nicht ersichtlich ist. [...]

Mitgeteilt von RA Dr. Jan Schl�sser, Berlin.

�berlassung eines Strafurteils an einenverfahrensfremden DrittenStPO § 475; GG Art. 5 Abs. 1 S. 2

Ein verfahrensfremder Dritter, der kein berechtigtes Inter-esse an der Akteneinsicht in Strafakten gem. § 475 StPOhat, kann einen Anspruch auf �berlassung des nichtrechtskr�ftigen Strafurteils nicht aus der presserechtli-chen Ver�ffentlichungspflicht der Gerichte ableiten,wenn er die �berlassung lediglich zur Verfolgung vonPartikularinteressen fordert. (amtl. Leitsatz)

OLG M�nchen, Beschl. v. 27.01.2016 – 2 Ws 79/16

Mitgeteilt von RiOLG Andrea Titz, M�nchen.

Besorgnis der Befangenheit beiBesch�ftigung mit einem MobiltelefonStPO § 24 Abs. 2

Besch�ftigt sich ein Sch�ffe �ber einen Zeitraum vonetwa 30 Minuten immer wieder mit seinem Mobiltelefonstatt seine Aufmerksamkeit der Hauptverhandlung zuwidmen, gibt dies begr�ndeten Anlass zu der Bef�rch-tung, er habe sich mangels uneingeschr�nkten Interessesan der den Kernbereich richterlicher T�tigkeit unterfallen-den Beweisaufnahme auf ein bestimmtes Ergebnis fest-gelegt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob durch dieNutzung des Mobiltelefons die Aufmerksamkeit desSch�ffen tats�chlich erheblich eingeschr�nkt war.

LG Koblenz, Beschl. v. 28.09.2015 – 12 KLs 2090 Js 29752/10

Anm. d. Red.: Siehe bereits BGH StV 2016, 270 (Ablehnung einerBeisitzerin wegen Befangenheitsbesorgnis bei Nutzung eines Mobil-telefons w�hrend der Beweisaufnahme).

Ausschließung des ZeugenbeistandsStPO § 68b Abs. 1

1. Richtet sich die T�tigkeit des Zeugenbeistands in er-heblichem Umfang an m�glicherweise gegenl�ufigen In-teressen eines Dritten aus, beeintr�chtigt dies jedenfallsdann eine geordnete Beweiserhebung i.S.d. § 68b Abs. 1S. 3 StPO, wenn der Zeuge urspr�nglich einen selbst ge-w�hlten Zeugenbeistand hatte, der Dritte aber dessenAustausch betrieben hat und der Zeugenbeistand dem(auskunftswilligen) Zeugen die Beantwortung einer Fra-ge in der Hauptverhandlung regelrecht verwehrt.

2. Ein Einverst�ndnis des Zeugen mit der T�tigkeit desZeugenbeistands steht der Anwendung des § 68b Abs. 1S. 4 Nr. 2 StPO nicht entgegen, sofern sich der Zeuge ineinem Abh�ngigkeitsverh�ltnis zu dem Dritten befindet,insbes. wenn es sich um seinen Dienstherrn handelt.

LG Hanau, Beschl. v. 12.08.2015 – 5 KLs 4424 Js 11790/12

Gr�nde abgedruckt in StV 2016, 153.

Anmerkung: I. Einf�hrung. Die Entscheidung ist schwereKost f�r jeden Anwalt. Wer will schon nach § 68b Abs. 1S. 4 Nr. 2 StPO als Zeugenbeistand wegen der Annahmeausgeschlossen werden, das Aussageverhalten des Zeugen– seines Mandanten – k�nne dadurch beeinflusst werden,dass er, der Zeugenbeistand, nicht nur den Interessen desZeugen verpflichtet erscheint? Zu dieser Norm hat sich inver�ffentlichter Form bislang allein das AG Rudolstadt1 ver-halten, das eine Interessenkollision des Zeugenbeistands an-genommen hat, der aus dem gleichen Strafverteidigerb�rowie der Strafverteidiger des Angeklagten stammte, weil letz-terer ein gewichtiges Interesse an einer bestimmten Aussagedes Zeugen hatte. Konkreter wurde das AG Rudolstadt in sei-ner Entscheidung nicht, so dass die von der Norm geforder-ten »bestimmten Tatsachen« f�r die Annahme der Interessen-kollision offen blieben. So �hnlich liegt es in der Entschei-dung des LG Hanau.

II. Zum Kontext und Inhalt des Beschlusses. Der Gesetzgeberhat mit dieser Gesetzesformulierung zum Ausdruck gebracht,dass die Annahme der (negativen) Zeugenbeeinflussung sichauf bestimmte Tatsachen gr�nden muss, d.h. sie darf nichtnur auf Spekulationen oder vagen Verdachtsmomenten be-ruhen;2 aus der weiteren Gesetzesbegr�ndung sei zum besse-ren Gesamtverst�ndnis auszugsweise zitiert:

»Durch Nummer 2 sollen außerhalb der dem Interesse des ZeugenVerpflichteten anwaltlichen Beistandsleistung liegende, durch dieAnwesenheit des Beistands bewirkte – direkte oder indirekte – Ein-flussnahmen auf das Aussageverhalten des Zeugen ausgeschlossenwerden. So ist es zur Sicherstellung einer effektiven Wahrheitser-mittlung im Strafverfahren von ganz wesentlicher Bedeutung, dasssich ein Zeuge frei entscheiden kann, ob er von einem m�glicher-weise bestehenden Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrechtnach § 52 ff. StPO Gebrauch macht. Ebenso muss er seiner Pflicht,vollst�ndig und wahrheitsgem�ß auszusagen, unbeeinflusst nach-kommen k�nnen. Insoweit ist es – was ja gerade der Sinn der Hin-zuziehung eines anwaltlichen Beistands ist – selbstverst�ndlich zu-l�ssig, dass sich der Zeuge von seinem Beistand z.B. �ber den Um-

1 Beschl. v. 05.03.2012 – 770 Js 21821/10 – 1 Ls, StraFo 2012, 181 m. Anm.Fromm.

2 BT-Drs. 16/12098, S. 16 f.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 169/212] 4

StV 3 · 2017 169

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Entscheidungen Verfahrensrecht Anmerkung Ahlbrecht

fang seiner Rechte und Pflichten beraten l�sst. Dabei muss jedochsowohl im Interesse der Wahrheitsermittlung als auch des Zeugen(der sich bei unvollst�ndigen oder unrichtigen Aussagen m�glicher-weise strafbar macht) soweit m�glich sichergestellt sein, dass sichdie Beratung des Zeugen an seinem Interesse und nicht auch amm�glicherweise gegenl�ufigen Interesse anderer Personen orientiert.Der Zeuge soll sich – im gegebenen gesetzlichen Rahmen – derVertraulichkeit seiner Angaben sicher sein k�nnen. Eine freie Wil-lensentscheidung im vorstehenden Sinn erscheint dabei vor allemdann gef�hrdet, wenn der anwaltliche Beistand auch f�r andere Per-sonen t�tig ist, die im zugrundeliegenden Fall ein Interesse an einerbestimmten Aussage des Zeugen haben. Offensichtlich ist dies, fallsder Beistand einen im betreffenden Verfahren Beschuldigten ver-tritt. Soweit Anhaltspunkte daf�r vorliegen, dass die Aussage desZeugen Einfluss auf andere laufende oder ggf. noch einzuleitendeVerfahren hat, kann es aber auch ausreichend sein, dass der anwalt-liche Beistand f�r eine von einem solchen Verfahren betroffene Per-son t�tig ist. Wenn auch nicht als Regelfall, erscheint eine Interes-senkollision in der Person des anwaltlichen Beistands zudem dannm�glich, wenn er in einem Verfahren mehrere Zeugen vertritt (z.B.in dem Fall, in dem einer seiner Mandanten unzutreffend ausgesagthat und nunmehr der weitere Zeuge vernommen wird). Eine f�rden Zeugen problematische Situation ergibt sich in solchen und�hnlichen Konstellationen vor allem dann, wenn er in einem un-mittelbaren oder mittelbaren Abh�ngigkeitsverh�ltnis zu anderenam Verfahren interessierten Personen steht. So kann es z.B. sehrzweifelhaft sein, ob ein Arbeitnehmer, der in einem gegen Kollegengerichteten Verfahren als Zeuge geladen ist, im Beisein eines ihmvon seinem Arbeitgeber gestellten Beistands unbefangen auszusagenin der Lage ist.«

Auf die letztgenannten Ausf�hrungen der Gesetzesbegr�n-dung stellt das LG Hanau in seiner Entscheidung erkennbarab, weil – dies wird als feststehend geschildert – als Zeugen-beistand eine Rechtsanw�ltin vom Zollkriminalamt be-auftragt worden war, f�r s�mtliche als Zeugen in Betrachtkommende Bedienstete des Zollfahndungsamts Frankfurtals Zeugenbeistand zu fungieren. Die Beauftragung einerRechtsanw�ltin f�r alle Zeugen des ZFA sieht das LG Hanaukritisch, weil die Ermittlungst�tigkeiten des ZFA in Rede ste-hen, wie sich aus der Entscheidung an sp�terer Stelle ergibt.Dar�ber hinaus bringt das LG Hanau seine Verwunderungzum Ausdruck, dass der Zeuge A. des ZFA in der Hauptver-handlung von der besagten Rechtsanw�ltin begleitet wird,obwohl – zeitlich offenkundig vorangehend – dem Zeugenbereits ein von ihm selbst gew�hlter Zeugenbeistand durchdas Gericht beigeordnet worden war. Dieser erschien aber of-fenbar nicht zur Vernehmung, sondern die Rechtsanw�ltinmit Einverst�ndnis des Zeugen. Dem Leser stellen sich sp�-testens hier die ersten Fragen: Wie kann der beigeordneteZeugenbeistand nicht erscheinen? Oder erschien er dochund kam nicht zum Zuge, hat er sich selbst entpflichtet?Wie soll das Zollkriminalamt den Zeugenbeistand »beauf-tragen«, wenn die Mandatierung doch durch den jeweiligenZeugen unmittelbar erfolgen muss? Liegt in dem Einver-st�ndnis des Zeugen mit der Rechtsanw�ltin nicht eine kon-kludente Mandatierung?

Diese Fragen beantwortet die Entscheidung nicht, sondernsteigt ein in die eigentliche Begr�ndungsarbeit f�r die Aus-schließung der Rechtsanw�ltin nach § 68b Abs. 1 S. 4 Nr. 2StPO: Das Gericht beschreibt zun�chst nachvollziehbar dief�r die Beamten des ZFA und insbesondere den Zeugen A.naheliegenden Interessenskonflikte innerhalb des Amtes undder gegebenen Hierarchien aufgrund unrechtm�ßiger Er-

mittlungsmaßnahmen. Es nimmt dann erheblichen Anstoßdaran, dass die Rechtsanw�ltin dem Zeugen die Beantwor-tung der Frage, ob er diese beauftragt habe, regelrecht ver-wehrt. Dieses Verhalten diene erkennbar nicht mehr demSinn und Zweck des Instituts des Zeugenbeistands und dienenicht mehr der Wahrung der Rechte des Zeugen oder dessenBeratung oder einer m�glichen Beanstandung. Wohlge-merkt: das Gericht h�lt in der Entscheidung zuvor fest, dassdas Zollkriminalamt die Rechtsanw�ltin beauftragt hatte (ge-nauer formuliert h�tte es vermutlich heißen m�ssen, dass dasZKA die Rechtsanw�ltin beauftragt hatte, sich den Zeugenals Zeugenbeistand anzubieten). Warum dann die Frage nachder Beauftragung an den Zeugen, wenn der Zeuge doch mitder Anw�ltin als Zeugenbeistand einverstanden war? Warum– und dies ist der gr�ßte Kritikpunkt an der Entscheidung –die unzul�ssige Frage in das gesch�tzte Mandatsverh�ltnishinein?

III. Stellungnahme. Es mag in der Hand des Zeugen liegen,�ber das Innere des Mandatsverh�ltnisses Auskunft zu ertei-len, also auch �ber die Umst�nde der Beauftragung. DerZeugenbeistand, der diese unzul�ssige Frage auch in Rich-tung des eigenen Mandanten kritisch hinterfragt und denKern des Mandatsverh�ltnisses verteidigt, damit mittelbarden Zeugen ber�t und zugleich die Frage beanstandet, han-delt nicht falsch – im Gegenteil. Es ist die Pflicht des Zeu-genbeistands derartige Fragen abzuwehren. Gleiches g�lte f�rFragen nach der Honorierung, wer diese tr�gt und welcheInhalte das Beratungsgespr�ch hatte.3 Die Entscheidung liestsich nun so, als habe die Anw�ltin dem Zeugen regelrechteinen Maulkorb verpasst und ihm keine eigene Entscheidunggelassen, ob er Auskunft geben will. Unabh�ngig davon, wiesich dies konkret dargestellt haben mag, kann die Rechtsan-w�ltin damit durchaus das Maß des Zul�ssigen �berschrittenhaben, worin aber allein keine wesentliche Beeintr�chtigungder geordneten Beweiserhebung l�ge,4 der Ausschlusstatbe-stand also nicht griffe. Grenzwertig lesen sich die Ausf�hrun-gen des LG, die Beratung des Zeugen durch die Rechtsanw�l-tin habe sich maßgeblich auch an m�glicherweise gegen-l�ufigen Interessen des Dienstherrn und anderer Zeugendes ZFA orientiert. Dies wirkt wie eine Spekulation, zumin-dest aber bleibt unklar, wie die Strafkammer Kenntnis vonden Inhalten der Beratung des Zeugen durch die Rechts-anw�ltin erlangt hat. Eine �hnliche Diktion tr�gt die Fest-stellung, der Dienstherr habe den Austausch des Zeugen-beistands betrieben. Eine ausf�hrlichere Herleitung dieserFeststellung, so es denn eine war, h�tte die Entscheidung ver-st�ndlicher gemacht.

IV. Fazit. Zusammengefasst erscheint als der objektivste Aus-schließungsgrund die aus Sicht der Strafkammer innerhalbder ZFA-Zeugen verschiedener Hierarchiestufen immanen-ten Interessenskollisionen, die gegen die Beauftragung einesgemeinsamen Zeugenbeistands sprechen in Verbindung mitder grunds�tzlichen Skepsis der Kammer gegen�ber den Er-mittlungsaktivit�ten des ZFA. Insoweit erscheint die Ent-scheidung nachvollziehbar und vertretbar. Die weiteren Aus-f�hrungen insbesondere zur T�tigkeit der als Zeugenbeistandt�tigen Rechtsanw�ltin tragen nicht, zumindest sind die f�r

3 Vgl. Wessing/Ahlbrecht, Der Zeugenbeistand, 2013, Rn. 102 f.4 BT-Drs. 16/12098, S. 16.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 170/212] 4

170 StV 3 · 2017

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Anmerkung Ahlbrecht Verfahrensrecht Entscheidungen

§ 68b Abs. 1 S. 4 Nr. 2 StPO erforderlichen Ankn�pfungs-tatsachen f�r den Ausschluss nur unzureichend geschildertund werfen mehr Fragen auf als sie Antworten geben.

Rechtsanwalt Prof. Dr. Heiko Ahlbrecht,D�sseldorf/Hannover.

Beschlagnahmeschutz und OmbudsmannStPO §§ 97, 53, 160a

Zwischen einem Hinweisgeber und einem anwaltlichenOmbudsmann entsteht weder ein Mandatsverh�ltnisnoch ein »mandats�hnliches Vertrauens-verh�ltnis«, dasdem Schutzbereich des § 97 StPO unterf�llt.

LG Bochum, Beschl. v. 16.03.2016 – 6 Qs 1/16

Aus den Gr�nden: [1] I. Die StA Bochum ermittelt u.a. gegenden Besch. H wegen des Verdachts der Bestechlichkeit im gesch�ft-lichen Verkehr und der Untreue, jeweils im besonders schwerenFall, sowie wegen anderer Straftaten. [...]

[5] Im Rahmen einer �berwachung der privaten E-Mail-Adressedes Besch. H [...] wurde eine E-Mail aufgezeichnet, welche die Zeu-gin M als Integrit�tsbeauftragte der N1 unter dem 12.11.2014 andiese Adresse gesandt hat. Dieser war ein nicht vollst�ndiger Scaneiner anonymen Anzeige gegen den Besch. H als Anlage beigef�gtmit dem Hinweis darauf, dass sich die Anlage auf die »gestern be-sprochene Angelegenheit« beziehe. [...]

[8] Im Rahmen einer bei der N1 durchgef�hrten Durchsuchunghat die Zeugin M angegeben, die Anzeige sei nicht bei ihr, sondernbei der Ombudsfrau der N1, Frau RAin H3 – der Bf. – eingegan-gen und diese habe ihr den Inhalt per E-Mail bekannt gegeben.Hierzu legte sie den Ermittlungsbeh�rden eine entsprechendeE-Mail der Bf. v. 29.10.2014 vor, in welcher der Inhalt der anony-men Anzeige wiedergegeben wird. [...]

[10] Das AG Bochum hat [...] mit Beschl. v. 01.10.2015 – 64 Gs3902/15 die Durchsuchung der RA-Kanzlei G in X einschließlichs�mtlicher Nebengeb�ude angeordnet. [...]

[14] Am 01.10.2015 erfolgte die Durchsuchung der Gesch�ftsr�u-me der Bf. Hierbei �bergab diese zur Abwendung der Durchsu-chung das Original der Anzeige an die StA, welche sodann in derNachweisung zu der Durchsuchung unter der laufenden Nr. 1 als»Umschlag mit Unterlagen aus der Anzeige Herbst 2014« bezeich-net wurde. Gleichzeitig widersprach sie jedoch der Beschlagnahme.[...]

[17] Mit Schriftsatz v. 02.11.2015 wurde die Beschwerde »gegenden Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss des AG Bochumv. 01.10.2015« f�r Frau RA H durch Herrn RA X wie folgt begr�n-det: [...]

[25] Soweit der Beschl. auf die vollst�ndige Anzeige des anonymenHinweisgebers gerichtet sei, sei er zum einen unverh�ltnism�ßig.Nach der Rspr. des BVerfG (2 BvR 1036/08 [= StV 2009, 505])sei die Durchsuchung einer RA-Kanzlei als einem Nichtverd�chti-gen zur Erlangung von Informationen �ber einen ebenfalls nicht-verd�chtigen Dritten weder mit Art. 13 GG, noch mit dem Rechtdes betroffenen Dritten auf informationelle Selbstbestimmung ver-einbar.

[26] Zudem bestehe auch ein Beschlagnahmeverbot im Hinblickauf die Anzeige des Hinweisgebers. Das Bestehen eines Zeugnisver-weigerungsrechts nach § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO setze nicht dasBestehen eines Mandatsverh�ltnisses voraus, sondern alleine, dasseinem RA etwas in seiner Eigenschaft als RA anvertraut oder be-

kannt geworden sei. Soweit ein RA als Ombudsperson bestellt wer-de, liege dem die besondere Vertrauensstellung des RA zu Grunde,welche maßgeblich auf der nach § 203 StGB strafbewehrten Ver-schwiegenheitspflicht des RA beruhe, so dass der anwaltlichen Om-budsperson ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO zustehe.

[27] Der Hinweisgeber habe sich vorliegend bewusst der Bf. als RAoffenbart, da er seine Anonymit�t in jedem Fall habe gewahrt wis-sen wollen und darauf vertraut habe, dass diese bei einer RA absolutgesch�tzt sei. In der Lit. werde zudem ein Beschlagnahmeverbot imFalle einer anwaltlichen Ombudsperson auf § 160a Abs. 1 StPOgest�tzt.

[28] Andernfalls werde zudem das Zeugnisverweigerungsrecht deranwaltlichen Ombudsperson vollst�ndig unterlaufen, indem dieHandakte des RA beschlagnahmt und auf die Identit�t des Hin-weisgebers gepr�ft werde, wodurch die gleichen Ergebnisse erzieltw�rden, wie bei einer Vernehmung, der § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3StPO entgegen stehe. [...]

[43] II. Die Beschwerde v. 07.10.2015 gegen den Durchsuchung-sbeschl. des AG Bochum v. 01.10.2015 ist zul�ssig, aber unbegr�n-det. [...]

[65] 1. [...] b) [...] dd) (1) Nach § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPOunterliegen der Beschlagnahme solche Gegenst�nde nicht,auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht der in § 53Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO genannten Personen erstreckt.

[66] Nach § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO sind zur Verweige-rung des Zeugnisses u.a. RAe �ber das berechtigt, was ihnenin dieser Eigenschaft anvertraut oder bekannt geworden ist.

[67] Entgegen ihrem umfassenden Wortlaut ist die Regelungin § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO aber dahingehend einschr�nkendauszulegen, dass das Beschlagnahmeverbot nicht das allge-meine Zeugnisverweigerungsrecht des RA aus § 53 Abs. 1Nr. 3 StPO im Sinne einer ebenso umfassenden Freistellungvon der Beschlagnahme widerspiegelt.

[68] Vielmehr ist § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO dahingehend ein-schr�nkend auszulegen, dass allein das Vertrauensverh�ltnisdes Besch. im Strafverfahren zu einem von ihm in Anspruchgenommenen Zeugnisverweigerungsberechtigten durch einBeschlagnahmeverbot gesch�tzt sein soll (Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 57. Aufl., § 97 Rn. 10), nicht jedoch die Be-ziehung eines Nichtbesch. zu einem Berufsgeheimnistr�ger.

[69] Diese Zielrichtung der Vorschrift l�sst sich insbes. denRegelungen in § 97 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StPO entnehmen,die ausdr�cklich allein auf den Schutz der Vertrauensbezie-hung zwischen Besch. und Zeugnisverweigerungsberechtig-tem ausgerichtet sind. Als Erg�nzung dieser Regelungenkommt § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO der Sinn zu, den Anwen-dungsbereich des Beschlagnahmeverbots auf »andere Gegen-st�nde« als die in § 97 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StPO genanntenzu erweitern, nicht dagegen der Zweck, das Beschlagnahme-verbot nunmehr umfassend und unter Einschluss am Straf-verfahren nicht direkt beteiligter Dritter zu erweitern, wo-durch die Ausdifferenzierung des f�r den Besch. geltendenBeschlagnahmeschutzes aus § 97 Abs. 1 Nrn. 1 und 2StPO tlw. unterlaufen w�rde (LG Hamburg, Beschl. v.15.10.2010 – 608 Qs 18/10, NJW 2011, 942 [= StV 2011,148 u. StV 2012, 277 m. Anm. Jahn/Kirsch]).

[70] Dieses Verst�ndnis der Vorschrift, wonach die Bezie-hung eines Nichtbesch. zu einem Berufsgeheimnistr�ger

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 171/212] 4

StV 3 · 2017 171

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Entscheidungen Verfahrensrecht

nicht der Schutznorm des § 97 Abs. 1 StPO unterliegt, istauch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG, Be-schl. v. 27.10.2003 – 2 BvR 2211/00, NStZ-RR 2004, 83;BVerfG, Beschl. v. 11.07.2008 – 2 BvR 2016/06, NJW 2009,281).

[71] Der anonyme Hinweisgeber ist allerdings vorliegendnicht Besch., sondern kommt lediglich als Zeuge in Betracht.

[72] (2) Zudem ist vorliegend zwischen dem anonymenHinweisgeber und der Bf. auch kein »mandats�hnliches Ver-trauensverh�ltnis« entstanden, aus dem sich eine Schutzwir-kung des § 97 StPO zu Gunsten der Bf. ergeben k�nnte.

[73] Der Zweck der Inanspruchnahme der Bf. durch die N1bestand darin, die Interessen der N1 dahingehend wahrzu-nehmen, dass Meldungen �ber Regelverst�ße im Unterneh-men durch die Bf. entgegengenommen und anonymisiert andas Unternehmen weiterzuleiten waren.

[74] Der anonyme Hinweisgeber befand sich insoweit nichtin einer dem Auftraggeber – der N1 – vergleichbaren Stel-lung.

[75] Vielmehr w�rde die Annahme einer konkludentenMandats�bernahme f�r diesen seitens der Bf. einen struk-turellen, die Standespflichten des RA ber�hrenden, Kon-flikt mit den gegenl�ufigen Interessen des beauftragendenUnternehmens hervorrufen (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.,Rn. 10b).

[76] Der BGH hat insoweit in einem Fall, in dem es umzivilrechtliche Anspr�che des Konkursverwalters gegen denRA des Gemeinschuldners auf Herausgabe von Handaktenund Einsichtnahme in die Handakten ging, zur Frage deszivil- und strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechtsnach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO und § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPOsowie zu den Strafsanktionen nach §§ 203 Abs. 1 Nr. 3, 204StGB folgendes ausgef�hrt (Urt. v. 30.11.1989 – III ZR113/88, NJW 1990, 510):

[77] »Pers�nliche Geheimhaltungsinteressen der an den Be-sprechungen mit dem Bekl. beteiligten Organmitglieder derGemeinschuldnerin verm�gen – entgegen der Auffassung desBerufungsgerichts – f�r diesen zumindest nicht ein uneinge-schr�nktes Auskunftsverweigerungsrecht zu begr�nden.[wird n�her ausgef�hrt]«

[78] Dieser Auffassung des BGH schließt sich die Kammeran.

[79] �bertragen auf das hier fragliche Beschlagnahmeverbotnach § 97 Abs. 1 StGB bedeutet dies, dass eine Erstreckungdes Vertrauensverh�ltnisses der Bf. zur N1 auf den anonymenHinweisgeber abzulehnen ist.

[80] (3) I.�. reicht auch die Zusicherung einer vertraulichenBehandlung von an die Bf. in ihrer Funktion als Ombudsfraumitgeteilten Informationen f�r den Aufbau eines den Schutzvor strafprozessualem Zugriff nach § 97 StPO gebietendenmandats�hnlichen Verh�ltnisses zu dem anonymen Hinweis-geber nicht aus.

[81] Eine »mandats�hnliche« Vertrauensbeziehung, derenGegenstand das von § 97 StPO gesch�tzte Interesse der Hin-weisgeber sein m�sste, sich ohne Furcht vor strafrechtlicherVerfolgung anwaltlichen Beistands zu bedienen, konnte al-

lein hierdurch offensichtlich nicht entstehen. I.�. kommtauch eine privatrechtliche Disposition �ber die Zul�ssigkeitstrafprozessualer Maßnahmen im Wege von »Zusagen« ab-seits der gesetzlichen Regelungen ersichtlich nicht in Frage(LG Hamburg, a.a.O.).

[82] (4) Zwar schließt nach der Rspr. des BVerfG (Beschl. v.27.10.2003 – 2 BvR 2211/00, NStZ-RR 2004, 83) der Um-stand, dass die Schutzvorschriften der StPO nicht eingreifen,nicht das Vorliegen einer schutzw�rdigen Vertrauensbezie-hung allg. aus.

[83] Vielmehr k�nnen sich nach der Rspr. des BVerfG Be-schlagnahmeverbote unmittelbar aus dem GG ergeben,wenn wegen der Eigenart des Beweisthemas in grundrecht-lich gesch�tzte Bereiche unter Verstoß gegen den Grund-satz der Verh�ltnism�ßigkeit eingegriffen wird (BVerfGa.a.O.).

[84] Jedoch bedarf es dann, wenn ausnahmsweise �ber dasgeschriebene Strafprozessrecht hinaus unmittelbar von Ver-fassungs wegen ein Zeugnisverweigerungsrecht oder ein die-ses Recht flankierendes Beschlagnahmeverbot bestehen soll,im Einzelfall einer n�heren Begr�ndung, weil Zeugnisverwei-gerungsrechte und Beschlagnahmeverbote die im Interesseder Allgemeinheit bestehende Pflicht der staatlichen Strafver-folgungsorgane zur umfassenden Sachaufkl�rung begrenzen.Fehlt es an einer eindeutigen Begr�ndung f�r das Vorliegeneines besonderen Ausnahmefalles, welche die Beschr�nkungder Strafverfolgungst�tigkeit �ber gesetzliche Ausnahmetat-best�nde hinaus rechtfertigen soll, dann geht das �ffentlicheInteresse an vollst�ndiger Wahrheitsermittlung im Strafver-fahren dem Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen vor(BVerfG a.a.O.).

[85] Derartige besondere Gr�nde, weshalb im Verh�ltniszwischen der Bf. und dem anonymen Hinweisgeber unmit-telbar von Verfassungs wegen ein Vertrauensschutz mit derFolge eines Beschlagnahmeverbots bestehen sollte, sind vor-liegend nicht ersichtlich. Weder ist ein besonders sensiblerBereich der Privatsph�re des Hinweisgebers betroffen, nochw�rden durch die Beschlagnahme prozessuale Schutzvor-schriften umgangen.

[86] Der anonyme Hinweisgeber hat keinerlei Ermittlungs-maßnahmen gegen seine Person zu bef�rchten und kommtin dem vorliegenden Strafverfahren lediglich als Zeuge in Be-tracht. Zudem bestand zwischen ihm und der Bf. auch wieoben ausgef�hrt weder ein Mandatsverh�ltnis, noch ein man-dats�hnliches Vertrauensverh�ltnis.

[87] (5) Der Beschlagnahmeanordnung steht auch weder einBeschlagnahmeverbot nach § 160a Abs. 1 StPO entgegen,noch bedarf es einer besonderen Pr�fung der Verh�ltnism�-ßigkeit nach § 160a Abs. 2 StPO, da nach § 160a Abs. 5StPO die Vorschriften der §§ 97 und 100c Abs. 6 StPO un-ber�hrt bleiben und damit die speziell normierten Erhe-bungsverbote im Bereich der Beschlagnahme der allg. Rege-lung in § 160a ZPO vorgehen (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.,Rn. 10b und § 160a Rn. 17; KK-StPO/Griesbaum, 7. Aufl.,§ 160a Rn. 21).

[88] Die Vorschrift des § 160a StPO tritt hierbei sowohldann zur�ck, wenn § 97 StPO an einen Eingriff h�here An-forderungen stellt, als auch, wenn umgekehrt § 160a StPO

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 172/212] 4

172 StV 3 · 2017

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Verfahrensrecht Entscheidungen

ein h�heres Schutzniveau vorsieht. Die Vorschrift des § 160aAbs. 5 StPO enth�lt also keine »Meistbeg�nstigungsklausel«(Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 97 Rn. 17).

[89] I.�. w�re die Durchsuchung allerdings auch unter dengesteigerten Anforderungen des § 160a Abs. 2 StPO vor demHintergrund verh�ltnism�ßig, dass vorliegend ein Tatver-dacht gegen den Besch. Dr. X wegen Untreue mit einem Un-treueschaden in Millionenh�he besteht. [...]

Anm. d. Red.: Siehe zu diesem Beschluss den Beitrag von Buchert/Buchert StV 2017, 204 (in diesem Heft).

Notwendige Verteidigung bei in Betrachtkommendem BeweisverwertungsverbotStPO §§ 140 Abs. 2, 102, 105

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Hinblick aufdie Schwierigkeit der Rechtslage ist jedenfalls dann ge-boten, wenn die Annahme eines Beweisverwertungsver-botes ernsthaft in Betracht kommt.

LG K�ln, Beschl. v. 19.07.2016 – 108 Qs 31/16

Aus den Gr�nden: Der Bf. wird vorgeworfen, unerlaubt Btmbesessen zu haben, indem sie am 01.02.2016 gegen 18:05 Uhr imK�lner Hauptbahnhof 0,46 Gramm Amphetamin mit sich f�hrte.

Hintergrund des Vorwurfs ist, dass die Btm im Rahmen einer Po-lizeikontrolle und einer anschließenden Durchsuchung der Bf. si-chergestellt werden konnten.

Die Bf. hat mit Schreiben ihres Verteidigers v. 24.05.2016 bean-tragt, ihr diesen als Pflichtverteidiger beizuordnen. Das AG hat denBeiordnungsantrag mit dem angefochtenen Beschl. zur�ckgewie-sen. [...]

II. Die zul�ssige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Vorliegend liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gem.§ 140 II StPO vor, da die Rechtslage sich im Hinblick auf dieFrage der Verwertbarkeit der Durchsuchungsergebnisse alsschwierig im Sinne dieser Vorschrift darstellt. Maßgeblich istinsoweit nicht, ob tats�chlich von einem Verwertungsverbotauszugehen ist. Ausreichend ist vielmehr, dass fraglich ist, obein Beweisergebnis einem Beweisverwertungsverbot unterliegt(vgl. Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 59. Aufl., § 140 StPORn. 27a, m.w.N.). Insoweit erscheint die Beiordnung einesPflichtverteidigers jedenfalls dann geboten, wenn die Annah-me eines Verwertungsverbotes ernsthaft in Betracht kommt.Zun�chst wird ein Angekl., der �ber keine juristische Vorbil-dung verf�gt, die sich insoweit stellenden Rechtsfragen nichtbeantworten k�nnen. Er bedarf daher insbes. f�r die Frage, obein Berufen auf ein Beweisverwertungsverbot Aussicht auf Er-folg hat, die f�r die Wahl der Verteidigungsstrategie maßgeb-lich sein kann, der Verteidigung durch einen RA.

Hinzu kommt, dass die Frage, ob von einem Beweisverwer-tungsverbot auszugehen ist, regelm�ßig ohne vollst�ndigeAktenkenntnis nicht zu beantworten ist. Gemessen daran,liegt vorliegend ein Fall der notwendigen Verteidigung vor,weil die Annahme eines Beweisverwertungsverbots jedenfallsernsthaft in Betracht kommt.

Insoweit erscheint bereits die Annahme eines Anfangsver-dachts nicht zwingend. Zwar vermag der Umstand, dass die

Angekl. auf die Polizeibeamten den Eindruck einer Drogen-konsumentin machte, den Verdacht begr�nden, dass diese inder Vergangenheit Btm konsumiert und – was die Strafbar-keit begr�nden w�rde – auch besessen hat. Ob sich alleinhieraus und aus der nerv�sen Reaktion auf die Polizeibeam-ten – eine n�here Beschreibung dazu, weshalb die Polizeibe-amten das Verhalten der Bf. als nerv�s bezeichneten, ist inden Akten nicht enthalten – bereits ein Anfangsverdacht da-rauf herleiten l�sst, dass sich die Bf. im Moment der polizei-lichen Kontrolle im Besitz von Btm befand, die im Rahmender Durchsuchung aufgefunden werden k�nnten, erscheintfraglich. Angeh�rige der sogenannten Drogenszene reagierenim Allgemeinen unabh�ngig davon, ob sie sich gerade imBesitz von Btm befinden, auf Polizeibeamte eher zur�ckhal-tend und nerv�s. Insoweit bleibt der Beweisaufnahme vorbe-halten, welche konkreten Umst�nde die Polizeibeamten zu derKontrolle veranlassten. Zwar w�rde die Verneinung eines An-fangsverdachts nicht zwingend zu der Annahme eines Verwer-tungsverbotes f�hren, die insoweit erforderliche Abw�gungf�hrt angesichts des eher geringf�gigen Tatvorwurfs indesnicht zwingend zu einer Verwertbarkeit des Beweismittels.

Hinzu kommt, dass vorliegend die ernsthafte M�glichkeitbesteht, dass die Durchsuchungsmaßnahme unter Missach-tung des Richtervorbehaltes erfolgte. Insoweit bleibt n�mlichzun�chst der Beweisaufnahme vorbehalten, ob die dieDurchsuchung vornehmenden Polizeibeamten �berhaupt er-kannt haben, dass die vorliegende Maßnahme grunds�tzlichnur durch das Gericht angeordnet werden darf und eine po-lizeiliche Anordnungskompetenz nur bei der Annahme vonGefahr im Verzug besteht. Diese Zweifel sind hier deshalbbegr�ndet, weil die Durchsuchung – um eine solche handeltes sich bei der »Inaugenscheinnahme« des Inhalts der von derBf. mitgef�hrten Tasche zweifelsfrei – in der Akte nicht alssolche bezeichnet wird und es an jeglicher Dokumentation inder Akte fehlt, auf welcher Grundlage die Durchsuchungvorgenommen wurde. Auch die Annahme von Gefahr imVerzug ist vorliegend nicht eindeutig. Zwar ist das AG inden angefochtenen Beschl. zu Recht davon ausgegangen,dass die Durchsuchungsmaßnahme nur dann Aussicht aufErfolg haben konnte, wenn sie durchgef�hrt wurde, ohnedass die Bf. vorher Gelegenheit hatte etwaige Beweismittelverschwinden zu lassen. Die Polizeibeamten h�tten aber je-denfalls die M�glichkeit gehabt, die Bf. zu fragen, ob sie be-reit w�re, bis zur Einholung einer Entscheidung durch denzust�ndigen Ermittlungsrichter zu warten.

Vor diesem Hintergrund bestehen begr�ndete Zweifel an derRechtm�ßigkeit der Durchsuchungsanordnung und der Ver-wertbarkeit der daraus resultierenden Beweismittel.

Das Vorliegen der Voraussetzungen von § 140 Abs. 2 StPOkann vorliegend auch nicht mit der Begr�ndung abgelehntwerden, dass die Bf. nach Aktenlage die Tat einger�umthat, nachdem sie mit den in ihrer Tasche aufgefundenenBtm konfrontiert wurde. Denn insoweit steht in Rede,dass die Bf. sich nur deshalb zur Sache eingelassen hat,weil sie angenommen hat, dass die Beweismittel aus derDurchsuchung gegen sie verwendet werden k�nnten.Dann aber steht auch insoweit die Annahme eines Verwer-tungsverbotes in Rede.

Mitgeteilt von RA Frank Hatl�, K�ln.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 173/212] 4

StV 3 · 2017 173

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Entscheidungen Verfahrensrecht

R�ckwirkende Bestellung desPflichtverteidigers

StPO §§ 140, 141

1. Eine Bestellung des Pflichtverteidigers nach § 141StPO ist auch r�ckwirkend m�glich.

2. Eine Beschwerde gegen die Zur�ckweisung der Bei-ordnung ist insbes. auch nach Abschluss des Verfahrenszul�ssig, weil es sich bei der Entscheidung �ber die Bei-ordnung um eine der Verfahrenssicherung dienendeAnordnung handelt, die unabh�ngig vom Verfahrenssta-dium beschwerdef�hig ist, da die beschwerende Anord-nung auch nach Abschluss des Verfahrens bzgl. der Kos-tenerstattung fortwirkt.

LG Magdeburg, Beschl. v. 11.10.2016 – 23 Qs 18/16

Mitgeteilt von RA Jan-Robert Funck, Braunschweig.

Anm. der Red.: Vgl. hierzu Wohlers StV 2007, 376.

Anh�rung vor Entpflichtung undBeiordnung eines anderenPflichtverteidigers

StPO §§ 142, 143

1. Im Falle einer Entpflichtung und Beiordnung eines an-deren Pflichtverteidigers ist der Betroffene, also der An-geschuldigte, regelm�ßig vor der entsprechenden Ent-scheidung zu h�ren; die Sollvorschrift des § 142 Abs. 1S. 1 StPO kommt insoweit grunds�tzlich einer Anh�-rungspflicht gleich, von der nur in seltenen Ausnahmef�l-len abgewichen werden darf.

2. Zwar kann eine vorherige Anh�rung unterbleiben,wenn eine Verfahrenslage vorliegt, in der die sofortigeBestellung des Pflichtverteidigers notwendig erscheint.Jedoch ist dann zu beachten, dass in einem solchen Falldie Bestellung auf die Beschwerde hin aufzuheben undder nunmehr bezeichnete RA beizuordnen ist.

LG Zwickau, Beschl. v. 03.08.2016 – 1 Qs 139/16; 140/16

Mitgeteilt von RA Michael Windisch, Zwickau.

Unt�tigkeitsbeschwerde gegenNichtbescheidung einesBeiordnungsantrages

StPO §§ 304, 141, 140 Abs. 2

Das Unterlassen einer Entscheidung ist anfechtbar, wenndie unterlassene Entscheidung selbst anfechtbar w�reund das die Unterlassung der Sachentscheidung ihrerendg�ltigen Ablehnung gleichkommt und nicht derenbloßer Verz�gerung. F�r die Nichtbescheidung eines Bei-ordnungsantrages zwei Wochen vor Beginn der Haupt-verhandlung trifft dies zu.

LG Dresden, Beschl. v. 07.12.2015 – 3 Qs 118/15

Aus den Gr�nden: I. Das AG Dresden erließ am 05.10.2015Strafbefehl gegen den Angekl. wegen Hausfriedensbruchs in 2 F�l-len und verh�ngte gegen ihn eine Gesamtgeldstrafe i.H.v. 30 Ts. zuje 10,00 Euro. Gegen den am 16.10.2015 zugestellten Strafbefehl

legte der Bf. am selben Tage Einspruch ein und beantragte die Bei-ordnung eines Pflichtverteidigers, weil er aufgrund einer psychi-schen Erkrankung in seiner Verteidigungsf�higkeit beschr�nkt sei.

Am 10.11.2015 bestimmte das AG Termin zur Hauptverhandlungauf den 26.11.2015, ohne �ber den Antrag auf Verteidigerbestel-lung zu entscheiden. Unter dem 12.11.2015 legte der Bf. gegen dieunterlassene Beiordnung eines Pflichtverteidigers Beschwerde ein.Mit Beschl. v. 16.11.2015 wies das AG den Antrag auf Bestellungeines Pflichtverteidigers zur�ck. Die StA hat beantragt, die Be-schwerde als unzul�ssig zu verwerfen, weil der Bf. die Beschwerdeeinlegte, bevor das AG am 16.11.2015 den Antrag des Bf. zur�ck-gewiesen hat.

Unter dem 19.11.2015 legte der Bf. Unterlagen, u.a. ein amts�rzt-liches Gutachten v. 26.03.2012 �ber eine psychische Erkrankungbzw. psychische St�rung i.S.v. § 1 S�chsPsychKG sowie eine Epi-krise v. 30.04.2014 der Klinik [...] vor. Am 24.11.2015 hat das AGauf Hinweis der Kammer den Hauptverhandlungstermin aufgeho-ben. Nach Aufforderung durch die Kammer benannte der Bf. am25.11.2015 RA X. als Verteidiger seines Vertrauens.

II. Die Beschwerde des Angekl. ist zul�ssig und auch in der Sachebegr�ndet.

1. Die am 12.11.2015 eingelegte Beschwerde ist zul�ssig. Sieist nicht als Beschwerde gegen den durch das AG erst am16.11.2015 gefassten Beschl. gerichtet, sondern bereits gegendas Unterlassen einer Entscheidung �ber den Antrag aufPflichtverteidigerbestellung bei Terminierung.

Zwar ist der StPO eine reine Unt�tigkeitsbeschwerde fremd,weil in der bloßen Unt�tigkeit keine sachliche Entscheidungliegt, nur eine solche aber Gegenstand der �berpr�fung durchdas Beschwerdegericht sein kann. Die Unterlassung einer vonAmts wegen oder auf Antrag zu treffenden Entscheidung istjedoch dann anfechtbar, wenn die unterlassene Entscheidungselbst bzw. deren Ablehnung anfechtbar ist, und der Unterlas-sung die Bedeutung einer Sachentscheidung i.S.e. endg�ltigenAblehnung und nicht einer bloßen Verz�gerung der zu tref-fenden Entscheidung zukommt. Das ist hier der Fall. Gegendie Ablehnung der Bestellung steht dem Angekl. das Rechts-mittel der Beschwerde nach § 304 StPO zu. Angesichts desUmstandes, dass das AG am 10.11.2015 bei Bestimmungeines 16 Tage sp�ter stattfindenden Hauptverhandlungster-mins nicht �ber den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtver-teidigers entschied, entspricht dies einer ablehnenden Sachent-scheidung. Denn ein beigeordneter Verteidiger h�tte dieverbleibende Zeit bis zum Hauptverhandlungstermin zur Ter-minsvorbereitung nutzen m�ssen. Eine am 10.11.2015 nichtgetroffene Entscheidung kommt daher einer endg�ltigen Ab-lehnung gleich. Hiergegen kann sich der Angekl. mit seinerBeschwerde wenden. In der Folge ist der am 16.11.2015 er-gangene amtsgerichtliche Beschl. v. 16.11.2015 als Nichtab-hilfeentscheidung zu betrachten.

2. Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Der Bf. hat am19.11.2015 Unterlagen vorgelegt, aus denen ersichtlich ist, dass beiihm eine »schwere andere seelische Abartigkeit vorliegt und zwareine kombinierte Pers�nlichkeitsst�rung mit narzisstischen undselbstunsicheren Z�gen (...) bzw. Verdacht auf kombinierte und an-dere Pers�nlichkeitsst�rungen, Verdacht auf wahnhafte St�rung(Epikrise ...). Die Kammer hat deshalb erhebliche Zweifel an derF�higkeit des Angekl. zur Selbstverteidigung, so dass ihm gem.§ 140 Abs. 2 StPO ein Verteidiger zu bestellen war.

Mitgeteilt vom Pr�sidenten des LG Dresden.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 174/212] 4

174 StV 3 · 2017

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Verfahrensrecht Entscheidungen

Versagung der Akteneinsicht anNebenklageberechtigteStPO § 406e

Dem nebenklageberechtigten Verletzten kann wegen derGef�hrdung des Untersuchungszwecks die Akteneinsichtversagt werden, wenn er vor Gericht noch nicht zeugen-schaftlich vernommen worden ist. Dies gilt auch f�r dasBerufungsverfahren.

LG D�sseldorf, Beschl. v. 17.11.2015 – 022 Ns-70 Js7769/14-153/15

Aus den Gr�nden: I. Der Angekl. ist durch nicht rechtskr�ftigesUrt. des AG D�sseldorf v. 13.05.2015 u.a. wegen K�rperverletzung-staten zum Nachteil der K. schuldig gesprochen worden. In derBerufungshauptverhandlung wird diese als Zeugin zu vernehmensein.

II. Das Akteneinsichtsgesuch [der K.] war zur�ckzuweisen. Zwarkann die Ast. als gem. § 395 Abs. 1 Nr. 3 StPO i.V.m. § 223StGB nebenklageberechtigte Verletzte �ber einen RA grunds�tzlichAkteneinsicht beanspruchen, ohne dass es hierf�r der Darlegungeines berechtigten Interesses bedarf (§ 406e Abs. 1 S. 2 StPO). Imvorliegenden Fall liegt jedoch ein Versagungsgrund i.S.v. § 406eAbs. 2 StPO vor.

Gem. § 406e Abs. 2 S. 2 StPO kann dem Verletzten die Aktenein-sicht versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gef�hrdet er-scheint. Dies ist hier beim gegenw�rtigen Verfahrensstand der Fall,denn die Ast. ist zu den sie betreffenden Tatvorw�rfen in der Be-rufungsinstanz noch nicht vor Gericht zeugenschaftlich vernom-men worden. Bei einer solchen Konstellation ist die Akteneinsichtim Regelfall zu verweigern, weil die Gefahr besteht, dass die Kennt-nis des Verletzten vom Akteninhalt die Unbefangenheit, die Zuver-l�ssigkeit oder den Wahrheitsgehalt seiner noch bevorstehendenZeugenaussage beeintr�chtigen k�nnte (OLG D�sseldorf, Beschl. v.26.05.2014 – 1 Ws 196/14 m.w.N.). So liegt der Fall auch hier.Selbst bei einer nur eingeschr�nkten Akteneinsicht best�nde dieGefahr einer bewussten oder unbewussten »Anpassung« der Erin-nerung der Zeugin an das in Anklageschrift/erstinstanzliche Urt.dokumentierte Ermittlungsergebnis und damit eine Verf�lschungihrer noch zu erwartenden Aussage vor Gericht. Dieser Gefahrkann im Stadium vor Abschluss der Vernehmung der Verletztennur durch vollst�ndige Versagung der Akteneinsicht Rechnung ge-tragen werden.

Mitgeteilt von RA Dr. h.c. R�diger Deckers, D�sseldorf.

Akteneinsicht f�r »Verletzte«StPO § 406e

1. Gem. § 406e StPO ist nicht nur derjenige »verletzt«,der »unmittelbar« aus der Tat zivilrechtliche Anspr�cheableiten kann, sondern auch derjenige, der in einemrechtlich gesch�tzten Interesse durch eine Straftat beein-tr�chtigt sein kann, die seinem Schutz dient, wobei maß-geblich der Schutzzweck der – m�glicherweise – verletz-ten Norm ist.

2. Je fernliegender die Wahrscheinlichkeit, dass ein nichtam Verfahren Beteiligter »Verletzter« sein k�nnte, destost�rker muss bei der Ermessensentscheidung dar�ber, obAusk�nfte oder Akteneinsicht gew�hrt wird, dem Grund-recht des Betroffenen auf Schutz seiner informationellenSelbstbestimmung Rechnung getragen werden.

3. Der Begriff »Akteneinsicht« ist weit auszulegen undumfasst nicht nur die Verfahrensakte, sondern alle amt-lich verwahrten Beweismittel.

LG Cottbus, Beschl. v. 19.01.2016 – 22 KLs 8/15

Mitgeteilt von RA Prof. Dr. Bj�rn Gercke, K�ln.

Verg�tungsr�ckzahlungsanspruch desMandanten eines StrafverteidigersBGB §§ 626 ff., 346 ff.; RVG §§ 14, 15

Zu den Voraussetzungen eines Verg�tungsr�ckzahlungs-anspruchs des Mandanten eines Strafverteidigers.

LG Duisburg, Urt. v. 29.04.2016 – 7 S 61/15

Aus den Gr�nden: I. Gegen den Kl. war – neben drei weiteren inden Jahren 2012/2013 gegen den Kl. eingeleiteten Strafverfahren we-gen Straßenverkehrsdelikten – bei der StA N. ein Strafverfahrenwegen des Verdachts des fahrl�ssigen gef�hrlichen Eingriffs in denStraßenverkehr gem. § 315b StGB anh�ngig [...]. Dem Kl. wurdevorgeworfen, einen ihm nachfolgenden Lkw bewusst zu einer Gefahr-bremsung gezwungen zu haben. Wegen dieser Tat wurde der Kl. vomAG N. am 17.06.2013 zun�chst wegen N�tigung gem. § 240 StGBzu einer Geldstrafe von 30 Ts. zu je 55,00 E verurteilt. Der seinerzeitf�r den Kl. zun�chst t�tige Verteidiger legte namens und im Auftragdes hiesigen Kl. Berufung gegen das Urt. ein. Nach zweimaligemWechsel des Verteidigers bestellte sich der hiesige Bekl. mit Schriftsatzv. 19.09.2013 als Verteidiger des hiesigen Kl. gegen�ber dem LG N.Der Kl. zahlte an den Bekl. auf dessen Anforderung einen Vorschussi.H.v. 1.500,00 E, von denen letztlich 381,43 E r�ckerstattet wur-den (...). Im Vorfeld des Hauptverhandlungstermins vor dem Beru-fungsgericht entspann sich zwischen den Parteien ein Schriftwechselzur Vorgehensweise im Berufungsverfahren [...]. Letztlich teilte derKl. dem Bekl. mit Schreiben v. 28.01.2014 mit, dass er sich nichtdazu durchringen k�nne, das Verfahren mit dem Bekl. fortzusetzen,und bat um Abrechnung seiner Bem�hungen. In der �ffentlichen Sit-zung des LG N. am 05.05.2014 wurde das Strafverfahren gegen denKl. gem. § 153 Abs. 2 StPO eingestellt, nachdem dieser eine am24.01.2014 gefertigte gutachterliche Stellungnahme des von ihm be-auftragten Sachverst�ndigen [...] vorgelegt hatte.

Mit der hiesigen Klage nimmt der Kl. den Bekl. auf R�ckzahlungdes von diesem vereinnahmten Honorars in Anspruch.

Das AG hat die Klage im Wesentlichen mit der Begr�ndung abge-wiesen, dass ein Anspruch des Kl. aus § 280 BGB nicht bestehe,weil eine Pflichtverletzung des Bekl. nicht feststellbar sei. [wird aus-gef�hrt]

Hiergegen wendet sich der Kl. mit seiner form- und fristgerechteingelegten Berufung. [...]

II. Die Berufung ist zul�ssig, in der Sache aber nicht begr�ndet.Der Bekl. ist dem Kl. nicht zur R�ckerstattung des Anwaltshono-rars aus der Beauftragung zur Vertretung im Strafverfahren [...] ver-pflichtet.

1. Ein derartiger Anspruch folgt zun�chst nicht aus §§ 628Abs. 1 S. 2 und 3, 346 ff. BGB. Unstreitig ist der Bekl. vomKl. mit der Wahrnehmung seiner Rechte im seinerzeitigenStrafverfahren vor dem LG N. beauftragt worden. Damit istzwischen den Parteien ein wirksamer Gesch�ftsbesorgungsver-trag mit Dienstvertragscharakter �ber Dienste h�herer Art zu-stande gekommen, auf den insbes. auch die Vorschriften der§§ 627, 628 BGB Anwendung finden (BGH NJW 1965, 106;Palandt-BGB/Sprau, 74. Aufl. 2015, § 675 Rn. 23).

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 175/212] 4

StV 3 · 2017 175

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Entscheidungen Verfahrensrecht

a) Diesen Vertrag hat der Kl. als Dienstberechtigter mitSchreiben v. 26.01.2014 wirksam gem. § 627 Abs. 1 BGBgek�ndigt, ohne dass es eines K�ndigungsgrundes bedurfte,da es sich bei den vom RA zu erbringenden Dienstleistungenregelm�ßig um Dienste h�herer Art handelt (Palandt-BGB/Weidenkaff a.a.O., § 627 Rn. 2 m.w.N.).

b) Da der Geb�hrenanspruch des RA gem. §§ 2, 14 RVGi.V.m. Nr. 4100, 4124, 7002, 7008 VV RVG mit der Beauf-tragung entsteht, und eine vorzeitige Beendigung der Ange-legenheit den bereits entstandenen Geb�hrenanspruch gem.§ 15 Abs. 4 RVG nicht beeinflusst, hat der Bekl. trotz derK�ndigung einen Anspruch auf die Zahlung der vollen f�rdie Vertretung im Berufungsverfahren anfallenden Geb�hrenbehalten und ist nicht auf einen Teilverg�tungsanspruchgem. § 628 Abs. 1 S. 1 BGB beschr�nkt.

c) Der Geb�hrenanspruch des Bekl. ist auch nicht gem. § 628Abs. 1 S. 2 BGB dadurch entfallen, dass er die K�ndigung desKl. durch sein vertragswidriges Verhalten veranlasst hat undseine bisherigen Leistungen infolge der K�ndigung f�r denKl. nicht mehr von Interesse sind. Grunds�tzlich kommt einInteressewegfall des Mandanten regelm�ßig dann in Betracht,wenn er nach der K�ndigung einen anderen RA beauftragenmuss, mit dessen Verg�tung auch die T�tigkeit des ersten RAabgegolten w�re (vgl. nur BGH NJW-RR 2012, 294 m.w.N,juris Rn. 13). Im vorliegenden Fall kann letztlich dahinstehen,ob von einem Interessewegfall i.S.d. § 628 Abs. 1 S. 2 BGBauszugehen ist, obwohl der Kl. auf den Rat des Bekl. schonvor der K�ndigung des Dienstvertrags ein Privatgutachtenzur Verz�gerung des nachfolgenden Lkw eingeholt und aufdieser Grundlage letztlich die Einstellung des Verfahrens er-reicht hat. Denn jedenfalls war die K�ndigung des Kl. nichtdurch ein vertragswidriges Verhalten des Bekl. veranlasst.

Ein vertragswidriges Verhalten setzt eine schuldhafte, nichtnur geringf�gige Verletzung der Pflichten aus dem Dienstver-trag, nicht jedoch das Vorliegen eines wichtigen Grundes zurK�ndigung i.S.d. § 626 Abs. 1 S. 1 BGB voraus (BGH NJW2011, 1674, juris Rn. 13 ff.). Kleinere Fehler, deren Folgenohne Schwierigkeiten zu beseitigen sind, reichen zur Annahmeeines vertragswidrigen Verhaltens nicht aus. Vielmehr mussdem Dienstverpflichteten ein vorwerfbarer gravierender Feh-ler unterlaufen sein, der das Vertrauen des Dienstberechtigtenin den Dienstverpflichteten ersch�ttert und den Dienstberech-tigten zu dem Ergebnis gef�hrt hat, dass ihm die Entgegen-nahme weiterer Leistungen nicht zumutbar ist (OLG Karlsru-he, Urt. v. 20.01.1988 – 1 U 166/87, juris). Eine an diesenMaßst�ben gemessene Pflichtverletzung des Bekl., die denKl. zur K�ndigung veranlasst hat, hat der insoweit darlegungs-und beweisbelastete Kl. (vgl. BGH NJW 1997, 188 und 2011,1674, juris) nicht dargetan.

aa) Eine derartige nicht nur geringf�gige Pflichtverletzung desBekl. ergibt sich insbes. nicht aus dem Verhalten des Bekl. imHinblick auf die Einholung eines Sachverst�ndigengutachtenszur auf dem Fahrtenschreiber dokumentierten Verz�gerungdes Lkw. Zun�chst war der Bekl. nicht gehalten, vor derDurchf�hrung der Hauptverhandlung vor dem Berufungsge-richt ein Privatgutachten zur Verz�gerung des Lkw einzuholen.Denn die Erhebung von Beweisen stellt zwar ein strafprozes-suales Recht, nicht aber eine durch den Mandatsvertrag be-gr�ndete Pflicht dar, deren Verletzung zur Haftungsbegr�n-

dung f�hrt (vgl. f�r den Bereich der zivilrechtlichen MandateBGH VersR 1960, 911; NJW 1985, 1154; OLGR M�nchen1997, 35, s�mtlich juris; sowie zum Verteidiger L NStZ 2000,225 [227], zit. nach Beck-online). Der Bekl. schuldete die Ein-holung eines Gutachtens auch nicht aufgrund einer Weisungdes Kl., weil derartige einseitige Erkl�rungen den Pflichten-kreis des Dienstverpflichteten nicht erweitern k�nnen. Inso-weit hat der Bekl. mit seinem – vom Kl. letztlich befolgten –Rat, ein Privatgutachten zur Frage der Verz�gerung des Lkweinzuholen, seinen Pflichten aus dem Anwaltsvertrag gen�gt,ohne dass es darauf ank�me, ob er zur Benennung eines geeig-neten Gutachters h�tte in der Lage sein m�ssen.

Soweit der Kl. erneut im Schriftsatz v. 14.04.2016 unter dieBerufung auf die These 25 der von der BRAK verabschiedeten»Thesen zur Strafverteidigung« eine Pflicht zur Erhebung ei-gener Ermittlungen f�r den vorliegenden Fall bejaht, vermagdie Kammer sich dem nicht anzuschließen. Dies gilt selbstdann, wenn man diese Thesen – der Ansicht des Kl. entspre-chend – als den Pflichtenkreis des Verteidigers verbindlich fest-legend ansehen will. Entgegen der vom Kl. vertretenen Rechts-ansicht ergibt sich f�r den vorliegenden Fall zun�chst etwasanderes nicht aus den konkreten Umst�nden des Einzelfalls.Denn bei dem vorliegenden Fall handelt es sich um ein durch-schnittliches Strafverfahren wegen eines im Grundsatz allt�g-lichen Straßenverkehrsdelikts, wenngleich dem Kl. im Hin-blick auf die mit einer etwaigen Verurteilung einhergehendeEintragung im Verkehrszentralregister der Verlust des F�hrer-scheins drohte. Diese objektiv gleichwohl immer noch allen-falls durchschnittliche Bedeutung des Falls rechtfertigt es nachAuffassung der Kammer nicht, vom Regelfall, dass der RA zurErhebung eigener Ermittlungen berechtigt, aber nicht ver-pflichtet ist, abzuweichen und ausnahmsweise eine Pflichtzur Erhebung eigener Erhebungen zu begr�nden. Auch derWissensstand des Kl. als damaligen Mandanten des Bekl. be-gr�ndet eine derartige Pflicht zur Erhebung eigener Ermitt-lungen nicht. Die Notwendigkeit der Einholung eines Sach-verst�ndigengutachtens stand zwischen den Parteien außerStreit und der Bekl. hatte mit Schreiben v. 12.11.2013 emp-fohlen, die Bremsverz�gerung durch einen Sachverst�ndigenbeurteilen zu lassen, dies vor der Berufungsverhandlung.Schließlich f�hrt auch die �berlegung, der Bekl. h�tte selbstein Gutachten veranlassen m�ssen, um zu gew�hrleisten, dassein etwa ung�nstiges Ergebnis in den Schutzbereich der an-waltlichen Schweigepflicht fiele, nicht zu einer abweichendenBeurteilung. Denn letztlich verkehrt diese Auffassung eben-falls das Regel-Ausnahmeverh�ltnis jedenfalls f�r Sachverst�n-digengutachten in ihr Gegenteil, weil damit der RA regelm�-ßig, wenn nicht gar immer, verpflichtet w�re, selbst die Einho-lung von Gutachten zu veranlassen.

bb) Soweit der Kl. r�gt, dass der Bekl. die Stellung von Be-weisantr�gen rechtsfehlerhaft als von bestimmten Vorausset-zungen abh�ngig dargestellt habe, trifft dies nicht zu. Die�ußerungen des Bekl., auf die der Kl. seine Auffassungst�tzt, fehlerhaft �ber die M�glichkeiten der Stellung vonBeweisantr�gen beraten worden zu sein, stellen zum eineneine sachgerechte Reaktion auf die wiederholten Forderun-gen des Kl. nach einer aggressiven, den Zeugen und die er-kennende StrK unter Druck setzende Verteidigungsstrategiedar. Zum anderen ergibt sich aus dem Zusammenhang derzwischen den Parteien gewechselten Schreiben, dass sich die

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 176/212] 4

176 StV 3 · 2017

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Verfahrensrecht Entscheidungen

Hinweise nicht generell auf die rechtliche Bewertung, son-dern auf die jeweiligen konkret vom Kl. angesprochenen Fra-gen beziehen. Im Einzelnen gilt:

Die vom Kl. angef�hrte Formulierung im Schreiben v.27.12.2013 »Es k�nnen Beweisantr�ge gestellt werden, wennseine Angaben nachweislich falsch sind (...)« bezieht sich nichtauf die rechtlichen Voraussetzungen eines Beweisantrags. Viel-mehr ergibt sich aus dem Zusammenhang des Schreibens undder vorangegangenen Forderung des Kl. im Schreiben v.17.12.2013, den Zeugen H anzuzeigen, dass sich die Ausf�h-rungen des Bekl. auf die Frage bezieht, ob es taktisch angezeigtist, die Glaubw�rdigkeit des Zeugen H vor oder w�hrend derstrafprozessualen Hauptverhandlung zu ersch�ttern. EineAussage zu den rechtlichen Voraussetzungen von Beweisantr�-gen als solche enth�lt das Scheiben demgegen�ber nicht.

Die vom Kl. dar�ber hinaus als fehlerhaft ger�gte Formulie-rung im Schreiben v. 26.11.2013 »Im �brigen bitte ich Siezu bedenken, dass wir nicht Fragen aufwerfen k�nnen, diedas Gericht zwingen, einen Gutachter zu beauftragen. Wirm�ssen konkrete Tatsachen benennen, die durch den Sach-verst�ndigen bewiesen werden« ist als solche nicht fehlerhaft,sondern stellt zutreffend die Anforderungen des § 244 Abs. 3StPO an die Formulierung eines Beweisantrags dar, der einekonkrete Tatsachen benennen muss, die durch den Antragunter Beweis gestellt werden soll (vgl. nur BGH NJW 1999,2683, juris Rn. 12). Damit reagierte der Bekl. auf die vomKl. im Schreiben v. 20.11.2013 ge�ußerte Forderung, esm�sse »ein Gutachten mindestens f�r alle folgenden Fragengestellt werden«, um – wie er in dem Schreiben ebenfalls for-mulierte – das Gericht »zu Fehlern [zu] zwingen« und dazu zubringen, »das Recht zu beugen«, damit dem Kl. die Revisi-onsm�glichkeit offen stehe.

cc) Der Bekl. hat ferner nicht gegen die anwaltliche Pflichtverstoßen, den sichersten Weg zu gehen. Zu eigenen Beweis-erhebungen war der Bekl. nach den obigen Ausf�hrungennicht verpflichtet. Eine fehlerhafte Beratung �ber den si-chersten Weg im �brigen liegt nicht vor. Denn der Bekl.hatte dem Kl. bereits im Schreiben v. 12.11.2013 empfohlen,einen Sachverst�ndigen zur Frage, ob die vom Zeugen H ge-schilderte Geschwindigkeitsreduzierung bereits den Tatbe-stand der N�tigung erf�llt, noch »vor einer Berufungsver-handlung« einzuholen. Von dieser Empfehlung ist er auchin der Folge bis zur K�ndigung des Mandats nicht mehr ab-ger�ckt und der Kl. ist ihr nachgekommen. Das sp�tere, imhiesigen Prozess angef�hrte Verteidigungsvorbringen desBekl., mit dem er darauf hinweist, dass es taktisch g�nstigersein kann, Beweisantr�ge erst in der Hauptverhandlung zustellen, vermag eine den Kl. zur K�ndigung veranlassendePflichtverletzung schon zeitlich nicht zu begr�nden.

dd) Eine Pflichtverletzung des Bekl. liegt auch nicht darin,dass er den Kl. nicht �ber die M�glichkeit einer Verfahrens-einstellung gem. § 153 StPO aufgekl�rt hat. Selbst wennman unterstellt, dass der Bekl. trotz des vehementen undnachhaltigen Dr�ngens des Kl. auf »100 % Freispruch« zueinem entspr. Hinweis verpflichtet war, war dieser jedenfallszum Zeitpunkt des ungek�ndigten Anwaltsvertrags (noch)nicht veranlasst. Denn der RA ist nicht verpflichtet, denMandanten �ber alle theoretisch in Frage kommenden M�g-lichkeiten der Verfahrensbeendigung aufzukl�ren, sondern er

muss die angesichts des Verfahrensstandes realistischerweisein Betracht kommenden M�glichkeiten aufzeigen. Ange-sichts der erstinstanzlichen Verurteilung des Bekl. durch dasAG N. kam eine Einstellung gem. § 153 StPO nicht ernsthaftin Betracht, solange nicht ein Gutachten zur Verz�gerung desvom damaligen Zeugen H gesteuerten Lkw vorlag, oder sichsonstige Ansatzpunkte f�r eine geringe Schuld des Kl. imZuge der vor dem LG N. noch durchzuf�hrenden Beweisauf-nahme abzeichneten.

d) Der Kl. hat auch nicht dargetan, dass die von ihm ausge-sprochene K�ndigung durch die seinerseits behauptetePflichtverletzung veranlasst worden sei. Denn zwischen denParteien wurde nicht nur die Frage, ob und wann ein Sach-verst�ndigengutachten eingeholt werden solle, diskutiert,sondern vielmehr auch und deutlich intensiver die Art undWeise der Verteidigung. So stand beim Kl. mehr als die Aus-einandersetzung in der Sache die Frage im Vordergrund, wieman auf Gericht und Zeugen so viel Druck aus�ben k�nne,dass das vom Kl. ausweislich seines Schreibens v. 22.11.2013verfolgte Ziel eines »lupenreinen Freispruchs« und »keinRechtsgespr�ch« erreicht werden k�nne. Diesem Ansinnenist der Bekl. – seiner Stellung als Organ der Rechtspflege ent-sprechend – entgegen getreten. Dass er vor diesem Hinter-grund nach mehrfachen Gespr�chsangeboten auch die Pr�-fung angeboten hat, einen »Fachanwalt f�r Verkehrsrecht« zubeauftragen, der die W�nsche des Bekl. hinsichtlich der Vor-gehensweise eher erf�lle, und der Kl. daraufhin das Mandatk�ndigt, legt umgekehrt die Vermutung nahe, dass Anlass f�rdie K�ndigung des Kl. die Meinungsverschiedenheiten �berdie Verteidigungsstrategie waren. Dementsprechend hat derKl. den Bekl. in seinem K�ndigungsschreiben auch gebeten,seine (des Bekl.) Bem�hungen abzurechnen und nicht etwadie R�ckzahlung des Vorschusses unter Berufung auf einePflichtverletzung verlangt.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der seitens des Kl.angef�hrten Rspr. des OLG N�rnberg (BeckRS 1995,31342163), die sich nicht mit der Frage der Kausalit�t zwi-schen Pflichtverletzung und K�ndigung, sondern mit derFrage der haftungsbegr�ndenden Kausalit�t zwischenPflichtverletzung und Schaden befasst. Dar�ber hinaus be-ruht diese Entscheidung auf dem tragenden Gedanken,dass die Beweisnot des Mandanten hinsichtlich der hypothe-tischen richterlichen Strafzumessung gerade durch diePflichtverletzung des Anwalts verursacht worden ist. DieseErw�gung kann im Rahmen einer K�ndigung und der An-gabe des K�ndigungsgrundes durch den K�ndigenden selbstauch nicht ansatzweise herangezogen werden.

2. Ein Anspruch des Kl. folgt auch nicht aus § 628 Abs. 2 BGB,denn auch insoweit w�re ein vertragswidriges Verhalten des Bekl.erforderlich, welches nach den obigen Ausf�hrungen nicht festzu-stellen ist. Anspr�che aus § 280 BGB werden von § 628 Abs. 2BGB als speziellere Vorschrift verdr�ngt (M�Ko-BGB/Henssler,6. Aufl. 2012, Rn. 15).

3. Der Kl. kann eine R�ckforderung des Honorars auch nicht teil-weise aus § 812 Abs. 1 S. 1 BGB verlangen, weil der Bekl. keineMittelgeb�hren, sondern die H�chstgeb�hren gem. Nr. 4100,4124 VV RVG abgerechnet hat. Denn mit seinem Vorbringen,die Geb�hren seien unangemessen hoch gewesen, ist der Kl. gem.§ 531 Abs. 2 ZPO ausgeschlossen. [...]

Mitgeteilt von VPr�sLG Klaus G. M�ller, Duisburg.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 177/212] 4

StV 3 · 2017 177

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Entscheidungen Strafrecht

Befangenheit wegen verweigerterAkteneinsicht

StPO § 24

Wird dem Betroffenen ohne plausiblen Grund Aktenein-sicht vorenthalten, begr�ndet dies die Besorgnis der Be-fangenheit.

AG Frankfurt/M., Beschl. v. 07.03.2015 – 970 OWi 862 Js65796/15

Befangenheit wegen Verletzung desrechtlichen Geh�rs

StPO § 24; GG Art. 103 Abs. 1

Gew�hrt ein Richter vor Erlass des Er�ffnungsbeschlusseskein rechtliches Geh�r zum Ergebnis der durch ihn veran-lassten Nachermittlungen, begr�ndet dies aus Sicht desAngeklagten die Besorgnis der Befangenheit.

AG K�ln, Beschl. v. 02.03.2016 – 612 AR 19/16 und v.13.05.2016 – 612 AR 33/16

Mitgeteilt von RA Dr. Wolfram Bauer, K�ln.

Befangenheit

StPO § 24

Regt ein Richter bei der Staatsanwaltschaft die �berpr�-fung einer Einstellungsverf�gung an und bittet – auch nur»ggf.« – um die Erweiterung einer Anklage, so begr�ndetdies die Besorgnis der Befangenheit, da sich der Richterdann in eine Position begibt, die der eines Staatsanwalts�hnlich ist.

AG K�ln, Beschl. v. 17.05.2016 – 612 AR 40/16

Mitgeteilt von RA Thomas Gros, K�ln.

Akteneinsicht des Verletzten

StPO §§ 406e, 161a Abs. 3, 162 Abs. 3, 33

Wird dem Angeklagten zum Antrag des Verletzten, Akten-einsicht zu erhalten, kein rechtliches Geh�r gew�hrt, istdie nach Aktenlage gew�hrte Akteneinsicht unzul�ssig.

AG M�nchen, Beschl. v. 13.01.2014 – 821 Ls 257 Js 21598/12

Aus den Gr�nden: Mit Beschwerde v. 12.09.2013 wandte sichder anwaltliche Vertreter des Angekl., RA X., gegen die gew�hrteAkteneinsicht f�r die RAe der Gesch�digten mit der Begr�ndung,dass kein rechtliches Geh�r gew�hrt wurde, und beantragte, dieRechtswidrigkeit der Entscheidung festzustellen.

Im Rahmen einer beantragten Akteneinsicht ist von Amts we-gen eine Abw�gung der schutzw�rdigen Interessen des Ast. aneiner Akteneinsicht gegen�ber den schutzw�rdigen Interessendes Angekl., diese zu versagen, vorzunehmen. Eine Interessen-abw�gung kann nur dann vorgenommen werden, wenn beideSeiten hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme hatten. Vorlie-gend wurde dem Angekl. zum Antrag kein rechtliches Geh�rgew�hrt, somit konnte die StA auch keine Abw�gung vorneh-men. Allein eine Entscheidung anhand der Akten ist nicht zu-

l�ssig. Die Gew�hrung war somit aufgrund eines Formfehlersrechtswidrig. Auf eine etwaige materiell-rechtlich richtige Ent-scheidung kommt es insoweit nicht an. Dies war daher im vor-liegenden Fall nicht zu pr�fen.

Strafrecht

Anwaltliche Schm�hkritik

StGB § 185; GG Art. 5

1. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG sch�tzt nicht nur sachlich-diffe-renzierte �ußerungen, vielmehr darf gerade Kritik auchpointiert, polemisch und �berspitzt erfolgen; insoweitliegt die Grenze zul�ssiger Meinungs�ußerungen nichtschon da, wo eine polemische Zuspitzung f�r die �uße-rung sachlicher Kritik nicht erforderlich ist.

2. Der Schutz der Meinungsfreiheit gebietet es, hinsicht-lich des Vorliegens von Formalbeleidigungen undSchm�hkritik strenge Maßst�be anzuwenden; wegen sei-nes die Meinungsfreiheit verdr�ngenden Effekts ist ins-bes. der Begriff der Schm�hkritik von Verfassungs wegeneng zu verstehen. Auch eine �berzogene oder gar ausf�l-lige Kritik macht eine �ußerung f�r sich genommen nochnicht zur Schm�hung; eine �ußerung nimmt diesen Cha-rakter vielmehr erst dann an, wenn nicht mehr die Aus-einandersetzung in der Sache, sondern – jenseits auchpolemischer und �berspitzter Kritik – die Diffamierungder Person im Vordergrund steht.

3. Auch wenn die in Rede stehenden �ußerungen (hier:eines Strafverteidigers) ausfallend scharf sind und dieEhre der Betroffenen (hier: einer Staatsanw�ltin) beein-tr�chtigen, ist in einer den besonderen Anforderungenf�r die Annahme einer Schm�hung entsprechenden Wei-se darzulegen, dass ihr ehrbeeintr�chtigender Gehalt vonvornherein außerhalb jedes in einer Sachauseinanderset-zung (hier: die Frage der Inhaftierung des Mandanten)wurzelnden Verwendungskontextes stand.

BVerfG, 3. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 29.06.2016 – 1 BvR2646/15

Aus den Gr�nden: [1] I. Die Verfassungsbeschwerde richtet sichgegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung gem.§ 185 StGB.

[2] 1. Der Bf. arbeitet als RA. Seit Dezember 2009 vertrat er alsStrafverteidiger den ersten Vors. eines gemeinn�tzigen Vereins, derBesch. in einem Ermittlungsverfahren der StA wegen Veruntreuungvon Spendengeldern war. Dieses Ermittlungsverfahren erregte gro-ßes Medieninteresse.

[3] 2. Das AG erließ auf Antrag der StA einen Haftbefehl gegen denBesch. An der nicht �ffentlichen Sitzung der Haftbefehlsverk�n-dung nahm neben dem Bf. auch die mit dem Verfahren betrauteStAin teil. Der Bf. griff die StAin im Laufe des Termins verbal anund verließ die Sitzung noch vor ihrer offiziellen Schließung. DerBf. war der Ansicht, sein Mandant werde zu Unrecht verfolgt unddie erfolgten und drohenden Maßnahmen der Strafverfolgung seienungerechtfertigt. Am Abend desselben Tages rief ein Journalist, deran einer Reportage �ber den Besch. und das ihn betreffende Ermitt-lungsverfahren arbeitete und der �ber die Verhaftung im Bilde war,den Bf. an. Nach den Feststellungen der Fachgerichte kannte der Bf.den Journalisten nicht und wollte ihm keine Fragen beantwortenoder ihm ein Interview mit dem Besch. vermitteln, war jedoch im-mer noch w�tend �ber den Verlauf der Ermittlungen und bezeich-

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 178/212] 4

178 StV 3 · 2017

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Strafrecht Entscheidungen

nete im Laufe des Telefonats die zust�ndige StAin als »dahergelau-fene StAin«, »durchgeknallte StAin«, »widerw�rtige, boshafte,d�mmliche StAin«, »geisteskranke StAin«.

[4] 3. Das AG erließ auf Antrag der StA gegen den Bf. einen Straf-befehl wegen Beleidigung. Nach Einspruch des Bf. verurteilte ihndas AG wegen Beleidigung. Auf die Berufung des Bf. und der StAhob das LG das Urt. auf und sprach den Bf. frei. Auf die Revisionder StA hob das KG das freisprechende landgerichtliche Urt. aufund verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidungan eine andere StrK des LG zur�ck.

[5] 4. Mit angegriffenem Urt. verurteilte das LG [Berlin] den nichtvorbestraften Bf. wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 70 Ts.zu je 120 E. Die �ußerungen seien ehrverletzend gewesen. Durchsie w�ren der StAin in �bertriebener Weise negative Eigenschaftenund Verhaltensweisen zugeschrieben, ihr der sittliche und sozialeGeltungswert abgesprochen und letztlich attestiert worden, grund-s�tzlich sozial minderwertig und beruflich unzul�nglich zu sein.Eine Rechtfertigung nach § 193 StGB liege nicht vor. Anlass, Kon-text und Zielrichtung der �ußerungen seien nicht mehr der Kampfum das Recht gewesen, sondern Ausdruck einer pers�nlichen Fehdegegen die ermittelnde StAin, die einer haltlosen Verteufelunggleichkomme. Dies ergebe sich schon daraus, dass die �ußerungenweder relativierend noch bezogen auf ganz bestimmte, einzelneHandlungen der StAin abgezielt h�tten, sondern sie insgesamt alsPerson und unabh�ngig von ihren Verhaltensweisen in den Vorder-grund gestellt worden sei. Keine ihrer Ermittlungshandlungen seikonkret beanstandet worden. Der Bf. habe zudem gar keinen Anlassgehabt, sich gegen�ber dem mit dem Ermittlungsverfahren unddessen Einzelheiten selbst gar nicht befassten Journalisten �ber dieStAin in einer derartigen Form zu beschweren, nachdem der Jour-nalist ihn lediglich um objektive Informationen zu dem »Spenden-skandal« aus der Sicht des Mandanten des Bf. gebeten habe.

[6] 5. Die Revision des Bf. verwarf das KG mit angegriffenem Be-schl. Das LG sei rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gekommen, dassdie Gesamtheit der Bezeichnungen einer StAin als »dahergelaufen«,»durchgeknallt«, »widerw�rtig, boshaft und d�mmlich« sowie »geis-teskrank« den Tatbestand der Beleidigung objektiv erf�lle und nichtgerechtfertigt sei. Es habe festgestellt und in seine W�rdigung ein-bezogen, dass die �ußerungen außerhalb des Gerichtssaals und da-mit des Kernbereichs des »Kampfs ums Recht« gefallen seien undim konkreten Kontext keinen konstruktiven Bezug zu einzelnenErmittlungshandlungen der StAin gehabt h�tten. Revisionsrecht-lich beanstandungsfrei habe das LG ausgeschlossen, dass die �uße-rung – gewissermaßen im umgangssprachlichen Sinne einer durch-gebrannten Sicherung – lediglich zum Ausdruck h�tten bringensollen, dass bei den Ermittlungen Fehler gemacht worden seien.Dabei habe das LG Anlass und Verwendungskontext ausf�hrlichdargestellt und gew�rdigt. Es h�tte auch in noch ausreichenderDichte das Pers�nlichkeitsrecht der Gesch�digten gegen das Grund-recht der Meinungsfreiheit abgewogen.

[7] 6. Mit seiner Verfassungsbeschwerde r�gt der Bf. die Verletzungseines Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG, sei-ner Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG, eine Verletzung des Will-k�rverbotes des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die Verletzung des Rechtesauf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren aus Art. 2 Abs. 1i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. [...]

[10] II. [...] 1. Das BVerfG hat die maßgeblichen verfassungsrechtli-chenFragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 61, 157 ff.4; 90, 2415246 ff.4; 93, 266 5292 ff.4 [= StV 1996, 17]). Dies gilt insbes.f�r den Einfluss des Grundrechts auf Meinungsfreiheit bei Auslegungund Anwendung der grundrechtsbeschr�nkenden Vorschriften der§§ 185 ff. StGB (vgl. BVerfGE 82, 43 550 ff.4 [= StV 1990, 401];85, 23 530 ff.4; 93, 266 5292 ff.4 [= StV 1996, 17]).

[11] 2. Die Verfassungsbeschwerde ist im Umfang der Annahmezul�ssig und i.S.d. § 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG offensichtlich be-

gr�ndet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzten den Bf. inseinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG.

[12] a) Unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen nach st.Rspr. des BVerfG Werturteile und Tatsachenbehauptungen,wenn und soweit sie zur Bildung von Meinungen beitragen(vgl. BVerfGE 85, 1 5154). Das Grundrecht auf Meinungs-freiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos gew�hrt. Es findet sei-ne Schranken in den allg. Gesetzen, zu denen die hier von denGerichten angewandten Vorschriften der §§ 185, 193 StGBgeh�ren. Auslegung und Anwendung dieser Vorschriftensind Sache der Fachgerichte, die hierbei das eingeschr�nkteGrundrecht interpretationsleitend ber�cksichtigen m�ssen,damit dessen wertsetzender Gehalt auch bei der Rechtsanwen-dung gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 5205 ff.4; 120,180 5199 f.4; st. Rspr.). Dies verlangt grunds�tzlich eineAbw�gung zwischen der Schwere der Pers�nlichkeitsbeein-tr�chtigung durch die �ußerung einerseits und der Einbußean Meinungsfreiheit durch ihr Verbot andererseits (vgl.BVerfGE 99, 1855196 f.4; 114, 33953484). Das Ergeb-nis der Abw�gung ist verfassungsrechtlich nicht vorgegebenund h�ngt von den Umst�nden des Einzelfalls ab (vgl.BVerfGE 85, 1 5164; 99, 185 5196 f.4).

[13] Zu beachten ist hierbei indes, dass Art. 5 Abs. 1 S. 1 GGnicht nur sachlich-differenzierte �ußerungen sch�tzt, sonderngerade Kritik auch pointiert, polemisch und �berspitzt erfol-gen darf; insoweit liegt die Grenze zul�ssiger Meinungs�uße-rungen nicht schon da, wo eine polemische Zuspitzung f�r die�ußerung sachlicher Kritik nicht erforderlich ist (vgl. BVerfGE82, 272 5283 f.4; 85, 1 5164). Einen Sonderfall bildenhingegen herabsetzende �ußerungen, die sich als Formalbelei-digung oder Schm�hung darstellen. Dann ist ausnahmsweisekeine Abw�gung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Per-s�nlichkeitsrecht notwendig, weil die Meinungsfreiheit regel-m�ßig hinter den Ehrenschutz zur�cktreten wird (vgl.BVerfGE 82, 43 5514; 90, 241 52484; 93, 266 52944[= StV 1996, 17]). Diese f�r die Meinungsfreiheit einschnei-dende Folge gebietet es aber, hinsichtlich des Vorliegens vonFormalbeleidigungen und Schm�hkritik strenge Maßst�be an-zuwenden (vgl. BVerfGE 93, 266 52944 [= StV 1996, 17]).

[14] Das BVerfG ist auf eine Nachpr�fung begrenzt, ob dieFachgerichte die Grundrechte ausreichend beachtet haben(vgl. BVerfGE 93, 266 5296 f.4 [= StV 1996, 17]; 101,361 53884). Bedeutung und Tragweite der Meinungsfrei-heit sind auch dann verkannt, wenn eine �ußerung unzutref-fend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oderSchm�hkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dannnicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmtwie �ußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oderschm�henden Charakter anzusehen sind (vgl. BVerfGE 85, 15144; 93, 266 52944 [= StV 1996, 17]).

[15] b) Diesen Maßst�ben gen�gen die angegriffenen Ent-scheidungen nicht in jeder Hinsicht.

[16] aa) Das LG geht bei seiner Verurteilung ohne hinreichen-de Begr�ndung vom Vorliegen des Sonderfalls einer Schm�h-kritik aus. Es verwendet den Begriff der Schm�hkritik zwarnicht ausdr�cklich, stellt aber darauf ab, die inkriminierten�ußerungen seien Ausdruck einer pers�nlichen Fehde undstellten die Beleidigte als Person in den Vordergrund. Dement-sprechend unterl�sst es die verfassungsrechtlich gebotene Ab-

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StV 3 · 2017 179

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Entscheidungen Strafrecht

w�gung von Meinungsfreiheit und Pers�nlichkeitsrecht unterBer�cksichtigung aller Umst�nde des Einzelfalls, worin ein ei-genst�ndiger verfassungsrechtlicher Fehler liegt (vgl. BVerfGE93, 266 52944 [= StV 1996, 17]).

[17] Wegen seines die Meinungsfreiheit verdr�ngenden Ef-fekts ist der Begriff der Schm�hkritik von Verfassung wegeneng zu verstehen. Auch eine �berzogene oder gar ausf�lligeKritik macht eine �ußerung f�r sich genommen noch nichtzur Schm�hung. Eine �ußerung nimmt diesen Charakter erstdann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sa-che, sondern – jenseits auch polemischer und �berspitzter Kri-tik – die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (vgl.BVerfGE 82, 2725283 f.4; 85, 15164; 93, 26652944[= StV 1996, 17]). Sie liegt bei einer die �ffentlichkeit wesent-lich ber�hrenden Frage nur ausnahmsweise vor und ist eherauf die Privatfehde beschr�nkt (vgl. BVerfGE 93, 26652944[= StV 1996, 17]). Die Annahme einer Schm�hung hat wegendes mit ihr typischerweise verbundenen Unterbleibens einerAbw�gung gerade in Bezug auf �ußerungen, die als Beleidi-gung und damit als strafw�rdig beurteilt werden, ein eng zuhandhabender Sonderfall zu bleiben.

[18] Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben hat das LG ver-kannt.Zwar sind die inRede stehenden�ußerungenausfallendscharf und beeintr�chtigen die Ehre der Betroffenen. Die ange-griffenen Entscheidungen legen aber nicht in einer den beson-deren Anforderungen f�r die Annahme einer Schm�hung ent-sprechenden Weise dar, dass ihr ehrbeeintr�chtigender Gehaltvon vornherein außerhalb jedes in einer Sachauseinanderset-zung wurzelnden Verwendungskontextes stand. Der Bf.reagierte auf einen Anruf von einem mit dem Verfahrensstandvertrauten Journalisten, der ihn in seiner Eigenschaft als Straf-verteidiger zu dem Ermittlungsverfahren gegen seinen Man-danten und dessen Inhaftierung befragte. In diesem Kontextist es jedenfalls m�glich, dass sich die inkriminierten �ußerun-gen auf das dienstliche Verhalten der StAin vor allem mit Blickauf die Beantragung des Haftbefehls bezogen. F�r die Annah-me einer Schm�hkritik reicht es unter diesen Umst�nden nicht,wenn das LG nur darauf abstellt, dass die �ußerungen dabeinicht relativiert oder auf ganz bestimmte einzelne Handlungender betreffenden StAin Bezug nahmen. Es h�tte insoweit inAuseinandersetzung mit der Situation n�herer Darlegungenbedurft, dass sich die �ußerungen von dem Ermittlungsverfah-ren v�llig gel�st hatten oder der Verfahrensbezug nur als mut-willig gesuchter Anlass oder Vorwand genutzt wurde, um dieStAin als solche zu diffamieren.

[19] So lange solche Feststellungen nicht tragf�hig unter Aus-schluss anderer Deutungsm�glichkeiten getroffen sind, h�ttedas LG den Bf. nicht wegen Beleidigung verurteilen d�rfen,ohne eine Abw�gung zwischen seiner Meinungsfreiheit unddem Pers�nlichkeitsrecht der StAin vorzunehmen. An dieserfehlt es hier. Auch das KG hat diese nicht nachgeholt, denn esverweist lediglich auf eine »noch hinreichende« Abw�gungdurch das LG, die indes nicht stattgefunden hat.

[20] bb) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf diesemFehler. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass die Gerichte beierneuter Befassung im Rahmen einer Abw�gung zu einer anderenEntscheidung kommen werden. Es ist allerdings festzuhalten, dassein Anwalt grunds�tzlich nicht berechtigt ist, aus Ver�rgerung �bervon ihm als falsch angesehene Maßnahmen einer StAin oder einesStA diese gerade gegen�ber der Presse mit Beschimpfungen zu

�berziehen. Insoweit muss sich im Rahmen der Abw�gung grund-s�tzlich das allgemeine Pers�nlichkeitsrecht der Betroffenen durch-setzen. Wie hier die Abw�gung – die sich ggf. auch auf die Strafzu-messung auswirkt –- unter n�herer W�rdigung der Umst�nde aus-f�llt, obliegt jedoch fachgerichtlicher W�rdigung. [...]

Kollektivbeleidigung (A.C.A.B.)

StGB § 185 StGB; GG Art. 5

Es ist verfassungsrechtlich nicht zul�ssig, eine auf Ange-h�rige einer Gruppe (hier: die Polizei) im Allgemeinen be-zogene �ußerung (hier: »A.C.A.B.«) allein deswegen alsauf eine hinreichend �berschaubare Personengruppe be-zogen zu behandeln, weil eine solche Gruppe eine Teil-gruppe des nach der allgemeineren Gattung bezeichne-ten Personenkreises bildet.

BVerfG, 3. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 17.05.2016 – 1 BvR2150/14

Aus den Gr�nden: [1] I. Der Bf. wendet sich gegen eine straf-gerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung.

[2] 1. Der Bf. besuchte im Oktober 2010 ein Fußballspiel in Karls-ruhe. W�hrend des Spiels hielt der Bf. gemeinsam mit anderen Per-sonen im Fanblock verschiedene großfl�chige Banner hoch. EinTransparent trug die Aufschrift »Stuttgart 21 – Polizeigewalt kannjeden treffen«, ein weiteres war mit der Aufschrift »BFE ABSCHAF-FEN« versehen, wobei »BFE« f�r die Beweis- und Festnahmeeinhei-ten der Polizei steht. Der Bf. und vier weitere Personen trennten vierBuchstaben aus diesem Transparent heraus und hielten diese dann inder Formation »A C A B!« hoch. Einige der im Stadion anwesendenPolizeibeamten f�hlten sich durch das Transparent mit dem AkronymACAB, das f�r »all cops are bastards« steht, in ihrer Ehre verletzt.

[3] 2. Das AG sprach den Bf. vom Tatvorwurf der Beleidigung frei.Nachdem die Berufung der StA beim LG erfolglos geblieben war,hob das OLG die Entscheidung des LG auf und verwies die Sachezur erneuten Entscheidung an eine andere Kammer des LG zur�ck.

[4] 3. Das LG [Karlsruhe] stellte daraufhin fest, dass der Bf. derBeleidigung schuldig sei, und verwarnte ihn unter Vorbehalt derVerurteilung zu einer Geldstrafe i.H.v. 20 Ts. zu je 30 E. [...]

[5] 4. Das OLG [Karlsruhe] verwarf die Revision des Bf. [...]

[6] 5. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Bf. gegendie Verurteilung. Er r�gt [u.a.] die Verletzung seines Rechts aufMeinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG [...].

[9] II. [...] 1. Das BVerfG hat die maßgeblichen Fragen bereits ent-schieden. Dies gilt namentlich f�r den Einfluss des Grundrechts derMeinungsfreiheit bei Auslegung und Anwendung von diesesGrundrecht beschr�nkenden Strafvorschriften (vgl. BVerfGE 43,130 5136 f.4; 82, 43 550 ff.4 [= StV 1990, 401]; 93, 2665292 ff.4 [= StV 1996, 17]).

[10] 2. Die Verfassungsbeschwerde ist zul�ssig und i.S.d. § 93cAbs. 1 S. 1 BVerfGG offensichtlich begr�ndet. Die angegriffenenEntscheidungen verletzen den Bf. in seinem Grundrecht aus Art. 5Abs. 1 S. 1 GG.

[11] a) Die strafrechtliche Verurteilung des Bf. greift in dasGrundrecht auf Freiheit der Meinungs�ußerung ein. DieKundgabe des Akronyms ACAB f�llt in den Schutzbereichdes Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Meinungen sind im Unterschiedzu Tatsachenbehauptungen durch die subjektive Einstellungdes sich �ußernden zum Gegenstand der �ußerung gekenn-zeichnet. Sie enthalten sein Urteil �ber Sachverhalte, Ideenoder Personen (BVerfGE 93, 266 52894 [= StV 1996,17]). Sie genießen den Schutz der Meinungsfreiheit aus

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 180/212] 4

180 StV 3 · 2017

Page 45: StV - Wolters Kluwer Shop€¦ · AG M nchen 821 Ls 257 Js 21598/12 v. 13.01.2014 Akteneinsicht des Verletzten 178 Strafrecht BVerfG 1 BvR 2646/15 v. 29.06.2015 Anwaltliche Schm hkritik

Strafrecht Entscheidungen

Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, ohne dass es darauf ankommt, ob die�ußerung begr�ndet oder grundlos, emotional oder rationalist, als wertvoll oder wertlos, gef�hrlich oder harmlos einge-sch�tzt wird (vgl. BVerfGE 90, 241 52474; 93, 26652894 [= StV 1996, 17]; 124, 300 53204).

[12] Die Gerichte sind zutreffend davon ausgegangen, dassder Aufdruck »ACAB« f�r die englische Parole »all cops arebastards« steht. Da diese Aufl�sung der Buchstabenfolge so-wohl der Polizei als auch den �ußernden allg. bekannt ist,begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass dieVerwendung der Buchstabenfolge der �ußerung der Aussagegleichgestellt wird. Es handelt sich um eine Meinungs�uße-rung i.S.d. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Die Parole ist nicht vonvornherein offensichtlich inhaltlos, sondern bringt eine all-gemeine Ablehnung der Polizei und ein Abgrenzungsbed�rf-nis gegen�ber der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck(vgl. BVerfG [3. Kammer des 1.Senats], Beschl. v. 26.02.2015– 1 BvR 1036/14, NJW 2015, 2022 [= StV 2015, 548]).

[13] b) Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist nicht vor-behaltlos gew�hrleistet, sondern unterliegt nach Art. 5 Abs. 2GG den Schranken, die sich aus den allg. Gesetzen sowie dengesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und indem Recht der pers�nlichen Ehre ergeben. § 185 StGB ist alsallgemeines Gesetz geeignet, der freien Meinungs�ußerungSchranken zu setzen (vgl. BVerfGE 93, 266 5290 f.4[= StV 1996, 17]).

[14] c) Der in der strafgerichtlichen Verurteilung liegendeEingriff in die Meinungsfreiheit ist jedoch nicht gerechtfer-tigt, weil die verfassungsrechtlichen Anforderungen an dieAnwendung und Auslegung des § 185 StGB als Schrankeder freien Meinungs�ußerung nicht gewahrt sind.

[15] aa) Die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze istgrunds�tzlich Aufgabe der Fachgerichte. Gesetze, die in dieMeinungsfreiheit eingreifen, m�ssen jedoch so interpretiertwerden, dass der prinzipielle Gehalt dieses Rechts in jedemFall gewahrt bleibt. Es findet eine Wechselwirkung i.d.S. statt,dass die Schranken zwar dem Wortlaut nach dem GrundrechtGrenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grund-legenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demo-kratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht be-grenzenden Wirkung selbst wieder eingeschr�nkt werden m�s-sen (vgl. BVerfGE 7, 1985208 f.4; 93, 26652924 [= StV1996, 17]; 124, 300 53424; st. Rspr.).

[16] Die Meinungsfreiheit findet in den allg. Gesetzen und derdurch diese gesch�tzten Rechte Dritter ihre Grenze. Dies istder Fall, wenn eine Meinungs�ußerung die Betroffenen unge-rechtfertigt in ihrem allg. Pers�nlichkeitsrecht und der durchsie gesch�tzten pers�nlichen Ehre verletzt. Dabei kann eineherabsetzende �ußerung, die weder bestimmte Personen be-nennt noch erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist,sondern ohne individuelle Aufschl�sselung ein Kollektiv er-fasst, unter bestimmten Umst�nden auch ein Angriff auf diepers�nliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs sein (vgl.BVerfGE 93, 266 52994 [= StV 1996, 17]). Je gr�ßer dasKollektiv ist, auf das sich die herabsetzende �ußerung bezieht,desto schw�cher kann auch die pers�nliche Betroffenheit deseinzelnen Mitglieds werden, weil es bei den Vorw�rfen an gro-ße Kollektive meist nicht um das individuelle Fehlverhaltenoder individuelle Merkmale der Mitglieder, sondern um den

aus der Sicht des Sprechers bestehenden Unwert des Kollektivsund seiner sozialen Funktion sowie der damit verbundenenVerhaltensanforderungen an die Mitglieder geht. Auf der ima-gin�ren Skala, deren eines Ende die individuelle Kr�nkung ei-ner namentlich bezeichneten oder erkennbaren Einzelpersonbildet, steht am anderen Ende die abwertende �ußerung �bermenschliche Eigenschaften schlechthin oder die Kritik an so-zialen Einrichtungen oder Ph�nomenen, die nicht mehr geeig-net sind, auf die pers�nliche Ehre des Individuums durchzu-schlagen (BVerfGE 93, 266 5301 f.4 [= StV 1996, 17]). Esist verfassungsrechtlich nicht zul�ssig, eine auf Angeh�rige ei-ner Gruppe im Allgemeinen bezogene �ußerung allein deswe-gen als auf eine hinreichend �berschaubare Personengruppebezogen zu behandeln, weil eine solche Gruppe eine Teilgrup-pe des nach der allgemeineren Gattung bezeichneten Perso-nenkreises bildet (vgl. BVerfGE 93, 266 5302 f.4 [= StV1996, 17]).

[17] bb) Hiermit sind die angegriffenen Entscheidungennicht vereinbar. Sie tragen die Annahme einer hinreichendenIndividualisierung des negativen Werturteils nicht. Hinrei-chende Gr�nde daf�r, dass sich die allg. formulierte �uße-rung im konkreten Fall auf eine hinreichend �berschaubareund abgegrenzte Personengruppe bezieht, lassen sich ihnennicht entnehmen. Hierf�r reicht es nicht, dass die die Parolewahrnehmenden Polizeikr�fte eine Teilgruppe aller Polizistenund Polizistinnen bilden. Ebenso wenig gen�gt es den verfas-sungsrechtlichen Anforderungen an eine personalisierte Zu-ordnung der �ußerungen, dass sich zur Sicherung des be-suchten Fußballspiels auch Einsatzkr�fte der Polizei im Sta-dion befanden und nach der Vorstellung des Bf. dieM�glichkeit bestand, dass diese die von ihm mit hochgehal-tene Buchstabenfolge »A C A B!« wahrnehmen w�rden.

[18] Eine strafbegr�ndende Deutung der Aktion des Bf.,wonach die Buchstabenkombination ohne weiteren Zusam-menhang mit anderen �ußerungen im Rahmen des durchEinsatzkr�fte der Polizei gesicherten Sportstadions als an dieseadressiert h�tte erscheinen m�ssen, war vorliegend den Fest-stellungen der Fachgerichte nicht zu entnehmen. Vielmehr warunmittelbar vor der Verwendung des Akronyms »ACAB« Kri-tik an den Beweis- und Festnahmeeinheiten »(BFE)« sowie anden Polizeieins�tzen im Rahmen des Projekts »Stuttgart 21«ge�ußert und damit eine in der �ffentlichkeit viel diskutierteFrage aufgenommen worden. Hiermit setzen sich die Fachge-richte nicht sachhaltig auseinander. Aus den Feststellungen desGerichts ist insofern nicht ersichtlich, dass die �ußerung sichindividualisiert gegen bestimmte Beamte richtete.

[19] Insoweit kann die strafgerichtliche Entscheidung auchnicht darauf gest�tzt werden, dass es sich bei der Aktion desBf. um eine unzul�ssige Schm�hung gehandelt habe. Zumeinen setzt auch die Annahme einer Schm�hung eine perso-nalisierte Zuordnung der �ußerungen voraus. Zum anderenist der Begriff der Schm�hung, der – anders als im Regelfallbei Entscheidungen �ber eine m�gliche Beleidigung – keineAbw�gung mehr mit der Meinungsfreiheit verlangt, von Ver-fassungs wegen eng zu definieren und erfasst nur F�lle, indenen es nicht mehr um die Auseinandersetzung in der Sachegeht, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrundsteht (vgl. BVerfGE 93, 266 52944 [= StV 1996, 17]).Auch hier konnten daher die zuvor gezeigten Transparente

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 181/212] 4

StV 3 · 2017 181

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Entscheidungen Strafrecht

mit der allgemeineren Kritik an aktueller Polizeiarbeit nichtaußer Betracht bleiben. [...]

Anm. d. Red.: S. dazu auch die Parallelentscheidung derselbenKammer vom selben Tage zum Az. 1 BvR 257/14 sowie die Bespre-chung von Jahn JuS 2016, 750.

�ble Nachrede einen Polizisten betreffend

StGB § 186; GG Art. 5

1. Ist im Einzelfall eine Trennung der tats�chlichen undder wertenden Bestandteile einer �ußerung nicht m�g-lich, ohne deren Sinn zu verf�lschen, muss diese im Inter-esse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt alsMeinungs�ußerung angesehen werden, weil andernfallseine wesentliche Verk�rzung des Grundrechtsschutzesdroht.

2. Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sindauch dann verkannt, wenn eine �ußerung (hier: �berdie T�tigkeit eines Polizeibeamten) unzutreffend als Tat-sachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schm�hkri-tik eingestuft wird.

BVerfG, 3. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 29.06.2016 – 1 BvR2732/15

Aus den Gr�nden: [1] I. Die Verfassungsbeschwerde richtet sichgegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen �bler Nachredegem. § 186 StGB.

[2] 1. Gegenstand des Ausgangsverfahren ist ein Facebook-Eintragdes Bf. �ber das Verhalten eines ihm pers�nlich bekannten Polizei-beamten, der ihn in der Vergangenheit mehrfach anlasslosen Kon-trollen ohne Ergebnis unterzogen hatte. Nach den gerichtlichenFeststellungen bemerkte der Bf. an einem Abend im November2013 in der Einfahrt gegen�ber dem von ihm bewohnten Hausdas Polizeifahrzeug dieses Polizeibeamten, der gerade wendete undhierbei das vom Bf. bewohnte Geb�ude anleuchtete. Der Bf. entzogsich der geplanten Kontrolle und bemerkte dasselbe Fahrzeug imsp�teren Verlauf des Abends nochmals. Dies nahm er zum Anlass,am fr�hen Morgen des Folgetags folgenden Eintrag auf seiner Face-book-Seite [...] zu ver�ffentlichen:

»Da hat der [Name des Polizeibeamten ] nix besseres zu tun, als inK. und Co in irgendwelchen Einfahrten mit Auf- und Abblendlichtzu stehen und in die gegen�berliegenden H�user in den Hausplatzzu leuchten!!! Der [Vorname ] Spanner [Nachname ] (PI ...)«

[3] Der Polizeibeamte stellte Strafantrag.

[4] 2. Das AG [Sonneberg] verurteilte den Bf. wegen �bler Nachredegem. § 186 StGB zu einer Geldstrafe von 50 Ts. zu je 10,00 E. DerBf. sei der �blen Nachrede schuldig. Er habe aus Ver�rgerung �ber dieKontrolle gehandelt. Mit der Verwendung des Wortes »Spanner«habe er Tatsachen verbreitet, die geeignet seien, den Polizeibeamtenin seiner Ehre zu verletzen. Dem Bf. sei bewusst gewesen, dass es sichum eine unwahre Tatsache handle. Ausgehend vom Verst�ndnis einesunvoreingenommenen und verst�ndigen Durchschnittspublikumssei mit Spanner ein Voyeur gemeint, der als Zuschauer bei sexuellenBet�tigungen anderer Personen Befriedigung erfahre. Weiterhin k�n-ne ein Spanner auch eine Person sein, die bei ungesetzlichen Hand-lungen die Aufgabe eines Aufpassers habe. In beiden F�llen l�gen eh-renr�hrige Tatsachenbehauptungen zum Nachteil des Polizeibeamtenmit der Bezichtigung ungesetzlicher, auch rechtsbrecherischer Hand-lungen vor, die weder ein Werturteil darstellten noch von der Mei-nungsfreiheit gedeckt seien.

[5] 3. Das [Th�r] OLG verwarf die Sprungrevision des Bf.

[6] 4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde greift der Bf. die Entschei-dungen von AG und OLG an und r�gt die Verletzung seines Rechtsauf freie Meinungs�ußerung aus Art. 5 Abs. 1 GG. [...]

[9] II. [...] 1. Das BVerfG hat die maßgeblichen verfassungsrechtli-chen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 61, 1 57 ff.4; 90,241 5246 ff.4; 93, 266 5292 ff.4 [= StV 1996, 17]). Dies giltnamentlich f�r den Einfluss des Grundrechts auf Meinungsfreiheitbei Auslegung und Anwendung der grundrechtsbeschr�nkendenVorschriften der §§ 185 ff. StGB (vgl. BVerfGE 82, 43 550 ff.4[= StV 1990, 401]; 85, 23 530 ff.4; 93, 266 5292 ff.4 [= StV1996, 17]).

[10] 2. Die Verfassungsbeschwerde ist danach zul�ssig und i.S.d.§ 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG offensichtlich begr�ndet. Die angegrif-fenen Entscheidungen verletzen den Bf. in seinem Grundrecht aufMeinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG.

[11] a) Die Gerichte verk�rzen den Schutzgehalt des Grund-rechts hinsichtlich der gegenst�ndlichen �ußerungen bereitsinsofern, als sie in verfassungsrechtlich nicht mehr tragbarerArt und Weise annehmen, dass es sich um eine nicht erweis-lich wahre, ehrverletzende Tatsachenbehauptung i.S.v. § 186StGB handelt und nicht um ein durch Elemente der Stel-lungnahme und des Daf�rhaltens gepr�gtes Werturteil unddamit um eine Meinung i.e.S. (vgl. BVerfGE 61, 1 57 ff.4;90, 241 5247 ff.4).

[12] aa) Bei der Frage, ob eine �ußerung ihrem Schwerpunktnach als Meinungs�ußerung oder als Tatsachenbehauptunganzusehen ist, kommt es entscheidend auf den Gesamtzusam-menhang dieser �ußerung an. Die isolierte Betrachtung einesumstrittenen �ußerungsteils wird den Anforderungen an einezuverl�ssige Sinnermittlung regelm�ßig nicht gerecht (vgl.BVerfGE 93, 266 52954 [= StV 1996, 17]). Auch ist imEinzelfall eine Trennung der tats�chlichen und der wertendenBestandteile einer �ußerung nur zul�ssig, wenn dadurch ihrSinn nicht verf�lscht wird. Wo dies nicht m�glich ist, muss die�ußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzesinsgesamt als Meinungs�ußerung angesehen werden, weil an-dernfalls eine wesentliche Verk�rzung des Grundrechtsschut-zes drohte (vgl. BVerfGE 61, 1 594; 90, 241 52484).Denn anders als bei Meinungen i.e.S., bei denen insbes. im�ffentlichen Meinungskampf im Rahmen der regelm�ßig vor-zunehmenden Abw�gung zwischen der Meinungsfreiheit ei-nerseits und dem Rechtsgut, in deren Interesse sie durch einallgemeines Gesetz wie den §§ 185 ff. StGB eingeschr�nktwerden kann, eine Vermutung zugunsten der freien Rede gilt,gilt dies f�r Tatsachenbehauptungen nicht in gleicher Weise(vgl. BVerfGE 54, 208 52194; 61, 1 58 f.4, 90, 24152484). Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheitsind deshalb auch dann verkannt, wenn eine �ußerung unzu-treffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oderSchm�hkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dannnicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmtwie �ußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oderschm�henden Charakter anzusehen sind (vgl. BVerfGE 85, 15144; 93, 266 52944 [= StV 1996, 17]).

[13] bb) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wer-den die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Die Ge-richte gehen zu Unrecht vom Vorliegen einer Tatsachenbe-hauptung aus und verk�rzen damit den grundrechtlichenSchutz der Meinungsfreiheit. Der Bf. schildert zwar ein tat-s�chliches Geschehen, n�mlich den Wendevorgang des Poli-zeibeamten. Die �ußerung »Spanner« ist aber keine Tatsa-

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 182/212] 4

182 StV 3 · 2017

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Strafrecht Entscheidungen

chenbehauptung, sondern eine Bewertung des Beobachteten,die dem Beweis nicht zug�nglich ist.

[14] b) Bereits die falsche Einordnung der �ußerung als Tat-sache f�hrt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidun-gen, da nicht auszuschließen ist, dass das AG, wenn es zutref-fend vom Vorliegen einer von Art. 5 Abs. 1 GG gesch�tztenMeinung ausgeht, zu einer anderen Entscheidung in der Sa-che kommen wird.

[15] c) Bei der erneuten Befassung wird das AG zu ber�ck-sichtigen haben, dass es bei der Auslegung der �ußerungmaßgeblich auf den Gesamtzusammenhang ankommt. DasAG geht im Ansatz zutreffend davon aus, dass der Bf. sichvon dem Polizeibeamten beobachtet f�hlte und dies durchdie Verwendung des Wortes »Spanner« zum Ausdruck brin-gen wollte. Die Deutung der �ußerung dergestalt, dass esdem Polizeibeamten darum gegangen sei, Befriedigung alsZuschauer bei sexuellen Handlungen anderer zu erfahren,liegt angesichts des Gesamtkontextes nicht nahe.

[16] d) Damit ist nicht entschieden, dass die Bezeichnung des Po-lizeibeamten als »Spanner« im Ergebnis von der Meinungsfreiheitgedeckt war, und schon gar nicht, dass der Bf. den Polizeibeamtenk�nftig beliebig als »Spanner« bezeichnen k�nnte. Soweit es sich beider �ußerung nicht um eine Tatsachenbehauptung, sondern nahe-liegender Weise um ein Werturteil handeln sollte, l�ge hierin jeden-falls eine Herabsetzung des Polizeibeamten und damit eine Beein-tr�chtigung seines allg. Pers�nlichkeitsrechts, die nicht ohne weite-res zul�ssig ist. Wieweit diese �ußerung durch die Meinungsfreiheitgerechtfertigt sein kann, entscheidet sich grunds�tzlich nach Maß-gabe einer Abw�gung, die freilich nicht Gegenstand vorliegendenVerfahrens ist, das sich mit der Verbreitung von Tatsachenbehaup-tungen (�ble Nachrede nach § 186 StGB), nicht aber mit demTatbestand der Beleidigung nach § 185 StGB befasst.

Anwaltliche Schm�hkritikStGB §§ 185, 193; GG Art. 5

1. Selbst eine �berzogene und ausf�llige Kritik macht f�rsich genommen eine �ußerung noch nicht zur Schm�h-kritik. Eine herabsetzende �ußerung nimmt erst dannden Charakter einer Schm�hung an, wenn in ihr nichtmehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern dieDiffamierung der Person im Vordergrund steht, weshalbder Begriff eng auszulegen ist.

2. Bei �ußerungen im Zusammenhang mit einem konkre-ten, noch anh�ngigen Gerichtsverfahren im Rahmeneines Rechtsbehelfs nach § 33a StPO kann nicht davonausgegangen werden, dass die Diffamierung der einzel-nen Mitglieder des Spruchk�rpers im Vordergrund stand.

3. Ein Richter ist schon von Berufs wegen in der Lage undauch gehalten, �berpointierte Kritik an seiner Arbeitbeim »Kampf um das Recht« auszuhalten.

OLG M�nchen, Beschl. v. 11.07.2016 – 5 OLG 13 Ss 244/16

Aus den Gr�nden: [1] Die zul�ssige Revision des Angekl. hatmit der Sachr�ge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), weil die Verurteilungdes Angekl. wegen Beleidigung auf der Grundlage der getroffenenFeststellungen nicht rechtsfehlerfrei erfolgt ist.

[2] I. Das AG M�nchen hat den Angekl. nach einem vorangegan-genen Strafbefehlsverfahren am 02.10.2015 wegen Beleidigung zueiner Geldstrafe von 60 Ts. zu je 100 E verurteilt. Die Berufungen

des Angekl. und der StA hat das LG M�nchen I am 16.02.2016verworfen.

[3] Den Verurteilungen lag zugrunde, dass der Angekl. in einer ineinem Beschwerdeverfahren beim OLG M�nchen erhobenen Anh�-rungsr�ge v. 16.02.2015, in der er sich mit der Nichteinleitungeines Ermittlungsverfahrens hinsichtlich einer von ihm erhobenenStrafanzeige und der Verwerfung seines diesbez�glichen Klageer-zwingungsantrages durch das OLG besch�ftigt, u.a. ausf�hrte:

»Ihr Gef�hl von Machtvollkommenheit kennt offenbar keine Gren-zen, keine Scham. Anders ist es nicht zu erkl�ren, dass Sie (...) denreinen Unsinn fabrizieren. (...) Der Unterschied zwischen Ihnenund R[udolf ] F[reisler] liegt in Folgendem: W�hrend R[udolf ]F[reisler]1 im Gerichtssaal schrie und tobte und �berhaupt keinenWert darauf legte, das von ihm begangene Unrecht in irgendeinerWeise zu verschleiern, gehen Sie den umgekehrten Weg: Sie habensich ein M�ntelchen umgeh�ngt, auf dem die Worte ›Rechtsstaat‹und ›Legitimit�t‹ aufgen�ht sind. Sie h�llen sich in einen Anscheinvon Pseudolegitimit�t, die sie aber in Wahrheit in keiner Weise f�rsich beanspruchen k�nnen. Denn in Wahrheit begehen Sie – zu-mindest in diesem vorliegenden Justizskandal – genauso schlichtUnrecht, wie es auch R[udolf ] F[reisler] getan hat. So betrachtetist das Unrecht, das Sie begehen noch viel perfider, noch viel ab-gr�ndiger, noch viel hinterh�ltiger als das Unrecht, das ein R[udolf ]F[reisler] begangen hat: Bei R[udolf ] F[reisler] kommt das Unrechtsehr offen, sehr direkt, sehr unverbl�mt daher. Bei Ihnen hingegenkommt das Unrecht als unrechtm�ßige Beanspruchung der BegriffeRechtsstaatlichkeit und Demokratie daher: Sie berufen sich auf dieBegriffe Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, handeln dem aber –zumindest in dem vorliegenden Justizskandal – zuwider.«

[4] Das LG hat ausgef�hrt, dass durch die �ußerung des Angekl.der Tatbestand des § 185 StGB erf�llt sei. Es l�gen objektiv belei-digende �ußerungen vor, die nicht nach § 193 StGB gerechtfertigtseien. Zwar handele es sich nicht um reine Schm�hkritik, die gebo-tene Abw�gung ergebe aber, dass hier die pers�nliche Ehre der Be-troffenen die Meinungsfreiheit des Angekl. �berwiege. Dabei seiinsbes. zu ber�cksichtigen, dass das Schreiben keine verfahrens-rechtliche Relevanz mehr gehabt habe, weil eine anders gearteteEntscheidung in der Sache nicht mehr m�glich gewesen sei.

[5] Hiergegen wendet sich die Revision des Angekl., die die Verlet-zung materiellen Rechts r�gt und in diesem Rahmen insbes. bean-standet, dass der Angekl. mit seiner Anh�rungsr�ge sehr wohl nocheine �nderung der Sachentscheidung bezwecken wollte und dassdas LG die Reichweite der Meinungsfreiheit von RAen im Lichteder Rspr. des EGMR verkannt habe.

[6] Die GStA h�lt die Revision f�r offensichtlich unbegr�ndet. Siemeint, es handele sich bereits um Schm�hkritik.

[7] II. Die erhobene Sachr�ge ist begr�ndet. Die Revision r�gt imErgebnis zu Recht, dass das Berufungsgericht die Abw�gung i.R.d.§ 193 StGB rechtsfehlerhaft vorgenommen hat.

[8] 1. § 193 StGB ist eine Auspr�gung des Grundrechts ausArt. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Allerdings gew�hrleistet Art. 5 Abs. 2GG das Grundrecht der freien Meinungs�ußerung nur inden Schranken der allg. Gesetze, zu denen auch die Strafge-setze geh�ren. Hierin liegt jedoch keine einseitige Beschr�n-kung der Geltungskraft des Grundrechts. Vielmehr m�ssenauch die allg. Gesetze im Licht der wertsetzenden Bedeutungdieses Grundrechts im freiheitlich-demokratischen Rechts-staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzendenWirkung selbst wieder eingeschr�nkt werden (BayObLGSt1994, 121 [123]; 2004, 133 [137 f.]).

1 In der senatsamtlichen Fassung wurde auch dieser Name durchg�ngig anony-misiert.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 183/212] 4

StV 3 · 2017 183

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Entscheidungen Strafrecht

[9] Eine ehrverletzende �ußerung ist allerdings dann nichtmehr hinzunehmen, wenn mit ihr die Grenze zur Schm�h-kritik �berschritten wird. Selbst eine �berzogene und ausf�l-lige Kritik macht f�r sich genommen eine �ußerung nochnicht zur Schm�hkritik. Eine herabsetzende �ußerungnimmt erst dann den Charakter einer Schm�hung an, wennin ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, son-dern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (vgl.im Einzelnen BayObLGSt 2001, 92 ff.). Der Begriff ist engauszulegen (vgl. Fischer, StGB, 63. Aufl., § 193 Rn. 18).

[10] 2. Der Angekl. hat sich hier im Zusammenhang miteinem konkreten, noch anh�ngigen Gerichtsverfahren imRahmen eines Rechtsbehelfs nach § 33a StPO ge�ußert. Erhat unter Bezugnahme auf vorherige Schreiben umfassendausgef�hrt, dass er das Vorgehen des LG im Zivilverfahrenund der StA f�r rechtswidrig h�lt und sein Unverst�ndnis�ber die Entscheidung des Senats, der in keine Sachpr�fungeingetreten ist, ge�ußert. Wegen dieser Anlassbezogenheit der�ußerungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieDiffamierung der einzelnen Mitglieder des Strafsenats im Vor-dergrund stand. Zwar hat der Angekl. im Rahmen seiner Kri-tik harsche Worte gebraucht. Die Grenze zur Schm�hkritik istjedoch entgegen der Ansicht der GStA nicht �berschritten,weil nicht erkennbar ist, dass die mittelbar durch die Kritikan der Vorgehensweise des Senats bewirkte Kritik an der Persondas sachliche Anliegen vollst�ndig in den Hintergrund tretenließe. Um Formalbeleidigungen handelt es sich bei den hierstreitgegenst�ndlichen �ußerungen nicht.

[11] 3. Wie auch das LG in der angefochtenen Entscheidungzun�chst zutreffend ausf�hrt, steht i.R.d. dann bei der Pr�fungvon § 193 StGB erforderlichen G�ter- und Pflichtenabw�-gung (vgl. Fischer a.a.O., § 193 Rn. 9 m.w.N.) dem vomBVerfG (vgl. BayObLGSt 2004, 133 [138]) betonten Rechtdes B�rgers, Maßnahmen der �ffentlichen Gewalt auch mitdrastischen Worten zu kritisieren, die Ehrverletzung der Mit-glieder des Strafsenats gegen�ber. Der Abw�gungsvorgang desLG ist allerdings schon deshalb zu beanstanden, weil es davonausgeht, dass das Schreiben des Angekl. keine verfahrensrecht-liche Relevanz mehr hatte und die Ausf�hrungen in der Sacheselbst nicht mehr dienlich war. Damit wird das Wesen der An-h�rungsr�ge verkannt, die bei Vorliegen einer hier behaupte-ten Verletzung des rechtlichen Geh�rs auch zur Nachpr�fungder bereits getroffenen Sachentscheidung zwingt (vgl. Mey-er-Goßner/Schmitt-StPO, 59. Aufl., § 33a Rn. 9). Wie jedochbereits ausgef�hrt, ist der Umfang der Sach- und Verfahrens-bezogenheit der �ußerung bereits bei der Bestimmung derGrenze zur Schm�hkritik, aber auch bei der Abw�gung i.e.S.von entscheidender Bedeutung, so dass hierin ein erheblicherRechtsfehler der Kammer zu sehen ist.

[12] Zwar ist die Abw�gung grunds�tzlich eine reine Rechtsfrage, sodass sie auch der Senat vornehmen k�nnte (vgl. OLG Stuttgart, Urt.v. 07.02.2014 – 1 Ss 599/13, zit. nach juris Rn. 21). Hierf�r fehltallerdings vorliegend die Tatsachengrundlage, weil in der angefoch-tenen Entscheidung des LG weder das vollst�ndige R�geschreibendes Angekl. noch der vorangegangene und der �ber die Anh�rungs-r�ge entscheidende Beschl. des OLG wiedergegeben sind.

[13] III. Da somit eine eigene Sachentscheidung des Senats ausschei-det, ist das angefochtene Urt. wegen der aufgezeigten M�ngel aufzu-heben (§ 353 StPO) und zur erneuten Verhandlung und Entschei-dung, auch �ber die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andereStrK des LG M�nchen I zur�ckzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).

[14] F�r das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin,dass unter Ber�cksichtigung der festzustellenden genauen»Vorgeschichte« der �ußerung und ihres Kontextes zun�chstgenauer festzulegen sein wird, wie diese zu deuten ist (vgl.BVerfG, Beschl. v. 16.10.1998 – 1 BvR 590/96 [dortRn. 17 ff.] und v. 10.03.2009 – 1 BvR 2650/05 [dortRn. 27 ff.], jew. zit. nach juris). Die nunmehr zur Entschei-dung berufene StrK wird vor dem Hintergrund der verfas-sungsgerichtlichen Rspr. außerdem zu beachten haben, dassEhrbeeintr�chtigungen gegen�ber der Meinungs�ußerungs-freiheit i.d.R. dann zur�cktreten m�ssen, wenn der VorwurfTeil einer umfassenderen Meinungs�ußerung ist, die derDurchsetzung legitimer eigener Rechte im gerichtlichen Ver-fahren dient und jedenfalls aus Sicht des �ußernden nichtv�llig aus der Luft gegriffen ist (vgl. BayObLGSt 2001, 92[100]). Dabei ist auch zu ber�cksichtigen, dass ein Richterschon von Berufs wegen in der Lage und auch gehalten ist,�berpointierte Kritik an seiner Arbeit beim »Kampf um dasRecht« auszuhalten (BayObLGSt 2001, 92 [100]; OLGNaumburg StraFo 2012, 283 f.; vgl. auch OLG M�nchen[4. Strafsenat] v. 30.07.2013 – 4 StRR 148/13).

Akteneinsichtsgesuch und Parteiverrat

StGB § 356; StPO §§ 147, 475

1. Bereits durch ein Akteneinsichtsgesuch [nach § 147StPO] kann ein Strafverteidiger den Parteien pflichtwid-rig dienen.

2. Im Strafverfahren unterliegt die Interessenlage nichtallein dem subjektiven Parteiwillen.

3. Dem Strafverteidiger steht zur Erf�llung seiner berufs-rechtlichen Pflicht, die Aktenlage zur Vermeidung von In-teressenkollisionen zu �berpr�fen, ein Akteneinsichts-recht nach § 475 StPO zu. (amtl. Leits�tze)

OLG Hamburg, Beschl. v. 16.12.2015 – 1 Rev 49/14

Aus den Gr�nden: [1] Das AG Hamburg hat die Angekl. wegenParteiverrats zu einer Geldstrafe verurteilt. Das LG hat mit Urt. v.10.07.2014 die – auf das Strafmaß beschr�nkte – Berufung der StAverworfen und auf die Berufung der Angekl. das Urt. des AG auf-gehoben und die Angekl. aus rechtlichen Gr�nden freigesprochen.Gegen den Freispruch richtet sich die – auf die Sachr�ge gest�tzte –Revision der StA. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

[2] A. I. Mit Anklage der StA war der Angekl. vorgeworfen worden,pflichtwidrig die Zeugin L. im Zeitraum v. 06.10.2010 bis zum03.02.2011 in einem gegen sie gerichteten Strafverfahren wegen desVorwurfs der uneidlichen Falschaussage vertreten zu haben. Der Zeu-gin L. sei – wie der Angekl. bewusst gewesen sei – zur Last gelegtworden, in der Hauptverhandlung gegen die Frau B. als Zeugin falschausgesagt zu haben. Die Angekl. habe das Mandat �bernommen, ob-wohl sie, wie ihr gleichfalls bewusst gewesen sei, bereits Frau B. ineinem Strafverfahren wegen des Vorwurfs verteidigt habe, mit der –zum Zeitpunkt ihrer Zeugenaussage insoweit bereits rechtskr�ftig ver-urteilten – Frau L. gemeinsam einen Betrug begangen zu haben.

[3] II. Das LG hat die Angekl. auf der Grundlage folgender Fest-stellungen und Bewertung freigesprochen:

[4] 1. Die Angekl. hat als RAin zeitgleich sowohl die Zeugin B. alsauch die Zeugin L. jeweils in gegen diese gerichteten Strafverfahrenverteidigt.

[5] Gegen beide Zeuginnen erging jeweils ein Strafbefehl �ber eineGeldstrafe wegen gemeinschaftlich miteinander begangenen Betru-

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 184/212] 4

184 StV 3 · 2017

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Strafrecht Entscheidungen

ges. Der Strafbefehl gegen die Zeugin L. wurde nach Ablauf derEinspruchsfrist rechtskr�ftig, w�hrend die von der Zeugin B. mitihrer Verteidigung betraute Angekl. Einspruch gegen den gegen dieZeugin B. ergangenen Strafbefehl einlegte.

[6] In der Hauptverhandlung gegen die Zeugin B. vor dem AGHamburg sagte auch die fr�here Mitbesch. L. als Zeugin aus. Siebestritt in ihrer Aussage den der Zeugin B. vorgeworfenen Tatab-lauf. Das AG schenkte den Angaben der Zeugin L. keinen Glaubenund verurteilte die Zeugin B. zu einer Geldstrafe. Gegen die ZeuginL. leitete die StA wegen ihrer Aussage noch am selben Tag ein Er-mittlungsverfahren wegen falscher uneidlicher Aussage ein.

[7] Die Zeugin B. ließ durch die Angekl. Berufung einlegen. In derBerufungshauptverhandlung vor dem LG Hamburg berief sich dieZeugin L. nunmehr auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht und wurdeunvernommen entlassen. Die Berufung wurde mit Urt. v. 18.01.2010verworfen. Das Urt. wurde auf die Revision der Zeugin B mit Beschl.des OLG Hamburg v. 18.08.2010 teilweise aufgehoben und im Um-fang der Aufhebung zur erneuten Entscheidung an eine andere 2. StrKdes LG zur�ckverwiesen. Nach Vorgespr�chen wurde das Verfahrengem. § 153a Abs. 2 StPO Mitte Februar 2011 endg�ltig eingestellt.

[8] Zuvor war bereits am 22.09.2010 gegen die Zeugin L. wegen desVorwurfes der uneidlichen Falschaussage Anklage erhoben worden.Die Zeugin L. meldete sich am 06.10.2010 nach der Zustellung derAnklage telefonisch bei der Kanzlei der Angekl. Dort sprach sie mitder B�roangestellten der Ankl., der Zeugin L., teilte dieser das amts-gerichtliche Aktenzeichen mit und bat um anwaltliche Vertretungdurch die Angekl. Die Zeugin L. legte, wie in der Kanzlei der Angekl.�blich, selbst�ndig einen Datensatz an, verschickte eine Prozessvoll-macht an die Zeugin L. und druckte einen Akteneinsichtsantrag aus,den sie unterschrieb und an das AG versandte, wo er am 06.10.2010einging. Am 08.10.2010 �bersandte die Zeugin L. die von der ZeuginL. unterschriebene Vollmacht an das AG mit einem von ihr, der Zeu-gin L., unterschriebenen Schriftsatz.

[9] Am 08.10.2010 rief der Zeuge RiAG J. bei der Angekl. an undteilte ihr mit, dass eine Vertretung der Zeugin L. mit Blick auf dasMandat der Zeugin B. und dem ansonsten bestehenden Verdachtdes Parteiverrats nicht in Betracht kommen d�rfte. Der Zeuge J.,der sich zuvor �ber den Stand des Verfahrens gegen die Zeugin B.informiert hatte, hat diesbez�glich Folgendes in der Akte vermerkt:

[10] »Telefonat mit RAin M. (v. 08.10.2010)[.] Ich habe ihr mit-geteilt, dass eine Vertretung der Besch. L. nicht in Betracht kom-men d�rfte, da sie bereits die Angekl. B. verteidigt. Es k�me Par-teiverrat in Betracht. Sie will das Mandat umgehend niederlegen«.

[11] Der Angekl. wurde der Vorgang von der Zeugin L. »sp�testens«am 21.10.2010 vorgelegt, da die beantragte Akteneinsicht noch nichtgew�hrt worden war. Die Angekl. »erinnerte sich an die zuvor am08.10.2010 vom Zeugen J. telefonisch erhaltenen m�ndlichen Mit-teilungen. Sie entschloss sich aber, die Akte gleichwohl anzufordern,um sich ein eigenes Bild von den Verfahrenszusammenh�ngen ma-chen zu k�nnen«. Die Angekl. hatte keine schriftlichen Unterlagenaus dem Verfahren gegen die Zeugin L., die den m�ndlichen Hinweisdes Zeugen J. best�tigt h�tten. Dementsprechend erinnerte sie mit andas AG gerichteten Schrifts�tzen v. 21.10.2010 und v. 15.12.2010 anihr unerledigtes Akteneinsichtsgesuch v. 06.10.2010, bevor sie aufeinen erneuten Hinweis des Zeugen J. schließlich das Mandat am03.02.2011 niederlegte. Die Zeugin L. wurde sp�ter wegen uneidli-cher Falschaussage verurteilt.

[12] 2. Das LG hat die Angekl. freigesprochen, da sie den Zeugin-nen nicht pflichtwidrig gedient habe. Das erste Akteneinsichtsge-such v. 06.10.2010 sei ihr nicht zuzurechnen. Die weiteren Akten-einsichtsgesuche seien nicht pflichtwidrig. Die Angekl. habe sichnicht auf die bloß m�ndlich erteilten Ausk�nfte des Zeugen J. ver-lassen m�ssen, sondern sei als Organ der Rechtspflege dazu berufenund berechtigt, gegen�ber ihrer Mandantin, der Zeugin L., sogar

verpflichtet gewesen, sich �ber die Sach- und Rechtslage durch Ak-teneinsicht zu informieren.

[13] B. Das Urt. h�lt revisionsgerichtlicher �berpr�fungnicht stand. Die gegen den Freispruch gerichtete Revisionder StA hat schon deshalb Erfolg, weil die Erw�gungen,mit denen das LG eine Strafbarkeit wegen Parteiverrats abge-lehnt hat, durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen.Nach § 356 Abs. 1 StGB macht sich ein Anwalt strafbar, wel-cher bei den ihm in dieser Eigenschaft anvertrauten Angele-genheiten in derselben Rechtssache beiden Parteien durchRat oder Beistand pflichtwidrig dient.

[14] I. Mit Recht ist die StrK zwar davon ausgegangen, dassder Angekl. in ihrer Eigenschaft als RAin mit der Verteidi-gung der Zeugin L. und der Zeugin B. die Vertretung vonzwei Parteien in derselben Rechtssache anvertraut war.

[15] 1. Parteien in diesem Sinne sind die an einer Rechtssa-che beteiligten Personen (BGH, Urt. v. 25.06.2008 – 5 StR109/07 Rn. 11; LK-StGB/Gillmeister, 12. Aufl., § 356Rn. 39), die ein rechtliches Anliegen verfolgen, vorliegenddie Vertretung der Zeuginnen L. und B. in Strafsachen indem Bem�hen um Straflosigkeit oder eine milde Strafe.Die Parteistellung h�ngt nicht an der prozessrechtlichen Par-teistellung oder einer anderen formellen Verfahrensbeteili-gung (Gillmeister a.a.O., Rn. 43). Der Begriff derselbenRechtssache umfasst alle Angelegenheiten, die zwischenmehreren Beteiligten mit jedenfalls m�glicherweise entge-gengesetzten rechtlichen Interessen nach Rechtsgrunds�tzenbehandelt und erledigt werden sollen (BGH a.a.O., Rn. 11).Maßgeblich ist dabei der sachlich-rechtliche Inhalt der anver-trauten Interessen (M�Ko-StGB/Dahs, 2. Aufl., § 356Rn. 43), das dem RA unterbreitete Lebensverh�ltnis in sei-nem gesamten Tatsachen- und materiellen Rechtsgehalt; diesgilt selbst dann, wenn dieses in Verfahren verschiedener Artund verschiedener Zielrichtung der maßgebliche Verfahrens-gegenstand ist (BGH a.a.O., Rn. 20). Als Parteien derselbenRechtssache sind f�r das Strafverfahren der Angekl. unds�mtliche, im Verh�ltnis zu diesem nicht v�llig unbeteiligteZeugen anerkannt (BGH a.a.O., Rn. 12 unter Hinweis aufBGH, Urt. v. 04.02.1954 – 4 StR 724/53, BGHSt 5, 301[304]; weitergehend generell f�r Zeugen: Fischer, StGB,61. Aufl., § 356 Rn. 6, NK-StGB/Kuhlen, 4. Aufl., Rn. 26;M�ssig NStZ 2009, 421 [423 f.]).

[16] 2. Um eine v�llig unbeteiligte Zeugin handelte es sichbei der Zeugin L. im Verh�ltnis zur seinerzeit angekl. ZeuginB. nach den Urteilsfeststellungen erkennbar nicht. Sie war alsMitt�terin der n�mlichen Tat (§ 264 StPO) rechtskr�ftig ver-urteilt worden und war wegen ihrer zeugenschaftlichen Aus-sagen in dem Verfahren gegen die Zeugin B. der uneidlichenFalschaussage verd�chtig. Die Zeuginnen L. und B. hattenhiernach ersichtlich wechselseitig ein rechtliches Interesseam jeweiligen Verlauf ihrer Verfahren und am Aussageverhal-ten der jeweils anderen, an das rechtliche Folgen f�r den je-weils anderen gekn�pft waren.

[17] II. Soweit die BerufungsStrK aber in den Akteneinsichts-gesuchen der Angekl. kein pflichtwidriges Dienen erkennt,legt sie einen unzutreffenden rechtlichen Maßstab zugrunde.

[18] 1. Pflichtwidrig handelt der RA, der beiden Parteientrotz widerstreitender Interessen dient.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 185/212] 4

StV 3 · 2017 185

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Entscheidungen Strafrecht

[19] a) Der Begriff des Dienens durch Rat und Beistand er-fasst jede berufliche T�tigkeit eines RA, durch die das Inter-esse einer Partei gef�rdert werden soll (BGH, Urt. v.02.12.1954 – 4 StR 500/54, BGHSt 7, 17 [19] [Vertretungs-anzeige]; SK-StGB/Rogall, 128. Lfg., § 356 Rn. 26). Hierf�rreicht bereits die Vorlage einer Verteidigervollmacht ebensowie die Informationsbeschaffung und Sachverhaltsaufkl�-rung im Rahmen eines Mandats aus. Dies gilt auch, wennder Rechtsbeistand die Informationen durch Akteneinsichterh�lt (vgl. Gillmeister a.a.O., Rn. 53).

[20] b) Hingegen ist dar�ber hinaus – anders als bei § 356Abs. 2 StGB – ein Nachteil f�r oder eine Gef�hrdung der Inter-essen der anderen Partei nicht erforderlich (BVerfG [3. Kammerdes 2. Senats], Beschl. v. 24.05.2001 – 2 BvR 1373/00, NJW2001, 3180 [3181]; BGH a.a.O., S. 21; BayObLG, Urt. v.26.07.1989 – RReg. 3 St 50/89, NJW 1989, 2903; vgl. aberauch KG, Urt. v. 10.05.2006 – (3) 1 Ss 409/05 [139/05], NStZ2006, 688).Dies folgt ausdemDeliktscharakter. Der Parteiver-rat ist ein abstraktes Gef�hrdungsdelikt (Fischer a.a.O., Rn. 2),bei dem die – generelle – Gef�hrlichkeit des strafbaren Han-delns durch den Gesetzgeber bestimmt ist.

[21] c) Der Straftatbestand des Parteiverrats sch�tzt dahernicht in erster Linie die nur mittelbar erfassten Auftraggeber,sondern das Vertrauen der Allgemeinheit in die Zuverl�ssig-keit und Integrit�t der Anwaltschaft, die Funktionsf�higkeitder Anwaltschaft in ihren inneren und �ußeren Funktionsbe-dingungen, ihr Ansehen als Institution und Organ der Rechts-pflege (BVerfG a.a.O., NJW 2001, 3181; Rogall a.a.O., § 356Rn. 3). Anders als im Zivilverfahren unterliegen die Interessender Verfahrensbeteiligten im Strafverfahren allenfalls einge-schr�nkt ihrer Disposition; maßgeblich ist die objektiv wirkli-che Interessenlage (BGH, Urt. v. 16.11.1962 – 4 StR 344/62,BGHSt 18, 192 [198]; Kuhlen a.a.O., Rn. 52 m.w.N.; fernerM�ller/Leitner, MAH Strafverteidigung, 2. Aufl., § 39Rn. 115). Normativ ist es das Interesse der Parteien, im Rah-men der Regeln des Strafverfahrens nicht oder ggf. m�glichstmild bestraft zu werden und insoweit durch den Verteidigerunvoreingenommen �ber die verschiedenen Handlungsspiel-r�ume und M�glichkeiten informiert und beraten zu werden.

[22] d) Soweit der Begriff des pflichtwidrigen Dienens dem-gegen�ber zur Abgrenzung von straflosen Vorbereitungs- undVersuchshandlungen einschr�nkend dahin ausgelegt wird, esm�sse sich um eine materielle T�tigkeit, nicht bloß um reineVorfeldt�tigkeiten und formelle T�tigkeiten, welche die Inte-ressen des anderen Mandanten nicht unmittelbar ber�hren,handeln (Fischer a.a.O., Rn. 10; Sch/Sch-StGB/Heine/Weißer,29. Aufl., § 356 Rn. 14; Kuhlen a.a.O., Rn. 18), wird diesdem Wortlaut und dem genannten Zweck der Vorschrift nichtgerecht. Die vorgeschlagenen Einschr�nkungen laufen daraufhinaus, den maßgeblichen Interessengegensatz ausschließlichsubjektiv zu bestimmen und eine konkrete Gef�hrdung derMandanteninteressen in den Vordergrund zu stellen oder –teilweise �berschneidend – den Deliktscharakter zu einemsog. abstrakt-konkreten (»potentiellen«) Gef�hrdungsdelikt(zum Begriff: BGH, Urt. v. 25.03.1999 – 1 StR 493/98,Rn. 9 [= StV 2000, 27]; Sch/Sch-StGB/Heine/Bosch a.a.O.,Vorbem. §§ 306 ff. Rn. 4) abzuwandeln.

[23] 2. Gemessen hieran tragen die Urteilsgr�nde ein pflicht-widriges Dienen der Angekl.

[24] a) Durch ihre Antr�ge auf Akteneinsicht im Verfahrengegen die Zeugin L. hat die wirksam bevollm�chtigte Angekl.– jedenfalls ankn�pfend an den bereits durch ihre B�rovor-steherin gestellten Akteneinsichtsantrag – eine Informations-beschaffung betrieben und damit objektiv und wissentlichder Zeugin L. gedient.

[25] b) Die Urteilsfeststellungen tragen auch die tatbestand-lich erforderliche Pflichtwidrigkeit.

[26] (1) Bei den Zeuginnen L. und B. bestand ein Interes-senwiderstreit. Ein strafmilderndes Gest�ndnis der einen h�t-te zur Belastung der jeweils anderen gef�hrt. Die Angekl. warnicht mehr in der Lage, beide Zeuginnen jeweils unvorein-genommen und umfassend �ber Vor- und Nachteile unter-schiedlicher Vorgehensweisen und Ziele der Verteidigung zuinformieren. Unerheblich ist aus den genannten, spezifischauf das Strafverfahren bezogenen Gr�nden, dass beide Zeu-ginnen den ihnen vorgeworfenen Betrug bestritten haben.

[27] (2) Die Pflichtwidrigkeit wird auch durch die �brigenUrteilsfeststellungen nicht in Zweifel gezogen.

[28] (a) Hiernach stellte die Angekl. den Akteneinsichtsan-trag v. 21.10.2010, »um sich ein eigenes Bild von den Ver-fahrenszusammenh�ngen machen zu k�nnen, zumal sie bisdahin keine schriftlichen Unterlagen aus dem Verfahren« ge-gen die Besch. L. »vorliegen hatte«.

[29] (b) Zwar mag es sein, dass sich ein RA als Organ derRechtspflege nicht auf den Hinweis eines Richters betreffendeinen aus dessen Sicht bestehenden Interessenwiderstreit ver-lassen muss. Im Einzelfall mag hierzu �ber ein sorgf�ltig zuf�hrendes Anbahnungsgespr�ch hinaus auch der Inhalt derjeweiligen Verfahrensakten von Bedeutung sein. So lag es hieraber nicht. Der Angekl. war ausweislich der Urteilsfeststel-lungen sowohl der Inhalt der Verfahrensakte im Strafverfah-ren gegen ihre Mandantin B. als auch der Inhalt der in derHauptverhandlung vor dem AG get�tigten Aussage der Zeu-gin L. bekannt. Vor diesem Hintergrund war jede weitereAktenkenntnis zu einer sorgf�ltigen Beurteilung etwa wider-streitender Interessen erkennbar nicht erforderlich.

[30] (c) Aber auch rechtlich waren weder die – mit Blick aufdie Feststellungen zur subjektiven Tatseite hier bedeutungs-lose – Erteilung einer Strafprozessvollmacht noch die begehr-te Akteneinsicht nach § 147 StGB f�r die Angekl. erforder-lich, um »sich ein eigenes Bild von den Verfahrenszusam-menh�ngen« zu machen. Die Angekl. h�tte auch ohneStrafprozessvollmacht die begehrten Ausk�nfte nach § 475Abs. 1 StPO erhalten und entsprechend beantragen k�nnen.Hiernach kann ein RA f�r eine Privatperson Ausk�nfte ausAkten erhalten, die dem Gericht vorliegen oder diesem imFalle der Erhebung der �ffentlichen Klage vorzulegen w�ren,soweit er hierf�r ein berechtigtes Interesse darlegt.

[31] Privatpersonen sind solche, die nicht schon nach den vor-rangigen Vorschriften (etwa §§ 147, 406e StPO) Ausk�nfteoder Akteneinsicht erhalten (vgl. LR-StPO/Hilger, 26. Aufl.,§ 475 Rn. 3). Solange eine Strafprozessvollmacht nicht erteiltworden ist, steht ein RA im Zuge eines Anbahnungsgespr�cheseiner Privatperson gleich; auf ein eigenes Akteneinsichts- oderAuskunftsrecht kann er sich n�mlich zu diesem Zeitpunktnicht berufen. Das – auch berufsrechtlich gebotene (§ 43aAbs. 4 BRAO) – Interesse an einer Abkl�rung eines etwaigen

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 186/212] 4

186 StV 3 · 2017

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Strafrecht Entscheidungen

Interessenwiderstreits zwischen einem bereits bestehendenMandatsverh�ltnis und einem solchen, das sich noch in derAnbahnungsphase befindet, erweist sich grunds�tzlich auchals berechtigtes Interesse i.S.d. § 475 Abs. 1 S. 1 StPO. Anden zur Begr�ndung dieses Anspruchs gebotenen schl�ssigenTatsachenvortrag sind mit Blick auf die gesetzlichen Wertun-gen des § 53 StPO wie § 203 StGB (vgl. BGH, Beschl. v.18.02.2014 – StB 8/13 [= StV 2014, 388]) keine zu strengenAnforderungen zu stellen. Namentlich wird eine Benennungder Rechtsrat nachsuchenden Person regelm�ßig nicht gefor-dert werden k�nnen. Der Umfang der Aktenauskunft korres-pondiert hiernach – anders als das nach § 147 i.V.m. § 169aStPO unbegrenzte Akteneinsichtsrecht – im Zuge einer ge-richtlichen Ermessensbet�tigung mit dem dargelegten berech-tigten Interesse. So kann bereits die – auch auf der Gesch�fts-stelle des Gerichts zu gew�hrleistende – Auskunft �ber einzelneAktenbestandteile, Seiten oder Teilb�nde, ausreichen, um imEinzelfall diesem Interesse an der Abkl�rung eines Interessen-widerstreits zu gen�gen.

[32] (d) Vor diesem regelungssystematischen Hintergrundund dem eindeutigen Wortlaut des § 147 Abs. 1 StPO, derausdr�cklich auf die Verteidigerstellung abhebt, besteht f�reine – ersichtlich – entsprechende Anwendung der Norm aufdas Mandatsanbahnungsverh�ltnis die notwendige Rege-lungsl�cke jedenfalls in solchen Konstellationen nicht, in de-nen ein Interessenwiderstreit aufzukl�ren ist. Ob diese Rege-lungsl�cke in anderen Verfahrenskonstellationen, etwa beider �berpr�fung des Umfangs eines Verfahrens, besteht –was eher fernliegt – bedarf hier keiner Entscheidung (vgl.aber f�r eine entsprechende Anwendung nur LR-StPO/L�-derssen/Jahn a.a.O., § 147 Rn. 121; SK-StPO/Wohlers,4. Aufl., § 147 Rn. 21 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt,58. Aufl., § 147 Rn. 9). [...]

ParteiverratStGB § 356; StPO § 146

1. Die Tatbestandsverwirklichung des Parteiverratessetzt voraus, dass unmittelbar widerstreitende materi-ell-rechtliche Interessen im Einzelfall bestehen; ein nurtheoretischer Interessengegensatz gen�gt nicht.

2. Wenn die gleichzeitige T�tigkeit des Rechtsanwaltskeiner der Parteien nachteilig werden kann, scheidet dieAnwendung des § 356 StGB aus.

LG Kiel, Beschl. v. 02.06.2016 – 1 Qs 41/16

Aus den Gr�nden: I. Der Besch. wurde am 23.03.2015 durchdie P. beauftragt, sie als Zeugenbeistand im Strafverfahren gegenden Bruder ihres Verlobten, N., bei der Vernehmung durch dieKriminalpolizei und StA zu vertreten. Der Besch. ist und war sei-nerzeit angestellter RA in der Soziet�t X zu der auch der RA Y ge-h�rt, der den in dem Verfahren [...] wegen zweifachen Mordes Be-sch. N. verteidigte. Nachdem die StA unter Berufung auf § 68bAbs. 1 S. 4 StPO dem Besch. die Anwesenheit bei der Vernehmungder Zeugin P. nicht gestattete und dies durch Beschl. des AG Kiel v.05.05.2015 best�tigt wurde, legte der Besch. das Mandat nieder.

Am 13.05. und 06.08.2015 suchte der Besch. den N. in der JVANeum�nster auf und hielt sich dort jeweils knapp eine halbe Stun-de lang auf.

Die StA sieht durch die �bernahme des Mandates als Zeugenbei-stand f�r die P. bei Verteidigung des Besch. durch ein Mitglied der-selben Soziet�t sowie durch die nachfolgenden Besuche des Besch.in der JVA Neum�nster den Tatbestand des Parteiverrates als er-f�llt, weil er hierdurch gegens�tzliche Interessen seiner Mandantenunterst�tzt habe.

II. [...] Die Er�ffnung des Hauptverfahrens ist aus tats�chli-chen Gr�nden abzulehnen, weil eine Pflichtwidrigkeit der an-waltlichen T�tigkeit des Besch. f�r die Mandantin P. und, dieseinmal f�r die Besuche des N. in der JVA Neum�nster voraus-gesetzt, nicht dargelegt und unter Beweis gestellt ist.

Eine Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 356 StGB liegt nach st. Rspr.vor, wenn der RA einer anderen Partei in derselben Sache,aber im entgegengesetzten Sinne bereits Rat und Beistandgew�hrt hat (BVerfG NJW 2001, 3180 m.w.N.). Es ist hier-bei schon streitig, ob der Besch. eines Strafverfahrens und einv�llig unbeteiligter Zeuge in dem Verfahren, der nicht Ver-letzter oder m�glicher Alternativt�ter ist, �berhaupt Parteienin derselben Sache sind. Dies hat das AG verneint (so z.B.auch M�Ko-StGB/Dahs, § 356 Rn. 14; LK-StGB/Gillmeis-ter, § 356 Rn. 43) und daher bereits aus rechtlichen Gr�ndendie Er�ffnung des Hauptverfahrens abgelehnt.

Jedenfalls fehlt es hier aber an hinreichenden Anhaltspunktenf�r das Vorliegen des f�r die Tatbestandserf�llung erforderli-chen Interessengegensatzes zwischen den �bernommenenMandaten. § 356 StGB setzt voraus, dass unmittelbar wider-streitende materiell-rechtliche Interessen bestehen, ein nurtheoretischer Interessengegensatz gen�gt nicht (Fischer,StGB, § 356 Rn. 4; BGH NJW 1954, 727 ff.; KG NStZ2006, 688). Wenn die gleichzeitige T�tigkeit des RA keinerder Parteien nachteilig werden kann, scheidet die Anwen-dung des § 356 StGB aus (Fischer a.a.O., Rn. 11 m.w.N.).

Ein solcher Interessenwiderstreit ist weder dargelegt noch er-sichtlich.

Dieser folgt noch nicht allein aus der unterschiedlichen Par-teistellung – diese einmal vorausgesetzt – der von dem Besch.�bernommenen Mandate f�r den Besch. und den Zeugeneines Strafverfahrens. Es ist nach der Grundsatzentscheidungdes BVerfG v. 28.10.1976 (BVerfGE 43, 79 ff.) anerkannt,dass RAe einer Soziet�t verschiedene Besch. in einem Straf-verfahren verteidigen k�nnen. Zwischen Besch. eines Straf-verfahrens sind jedoch viel eher widerstreitende Interessenvorstellbar als zwischen einem Besch. und einem an der Tatv�llig unbeteiligten Zeugen. § 146 StPO untersagt zudemausdr�cklich nur die gleichzeitige Verteidigung mehrerer Be-sch. derselben Tat. Die �bernahme des Mandates f�r den N.durch den Besch., dies einmal im Hinblick auf die Besuchein der JVA vorausgesetzt, nachdem zuvor das Mandat bez�g-lich der P. nach dem amtsgerichtlichen Beschl. v. 05.05.2015niedergelegt worden ist, w�re im Falle der �bernahme einesMandates f�r verschiedene Besch. nach § 146 StPO zul�ssig.Nichts anderes kann bei der vorherigen Vertretung einesZeugen des Strafverfahrens gelten.

Es bedarf danach f�r die Tatbestandsverwirklichung des Par-teiverrates konkreter Anhaltspunkte f�r das Vorliegen wider-streitender Interessen im Einzelfall. Solche Anhaltspunkte sindnicht hinreichend unter Beweis gestellt. [wird ausgef�hrt]

Mitgeteilt von RA Dr. Martin Schaar, Kiel.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 187/212] 4

StV 3 · 2017 187

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Aufs�tze

Konfliktverteidigung? Konfliktverteidigung!Zugleich eine Erinnerung an den �sterreichischen Strafverteidiger und Publizisten WaltherRode (1876–1934)

Rechtsanwalt Prof. Dr. Stefan K�nig, Berlin1

»Ich will reden �ber den Zweck von Frontalangriffenim Gerichtssaal, und da muß ich schon zugeben, dasses wahr ist, dass man die Welt nicht �ndern kann. DerHerr hat die H�ndler aus dem Tempel des Herrn ge-jagt, aber sie kehren immer wieder zur�ck. Dennochverlieren revolution�re Vorst�ße ihre Wirkung nicht.Es ist notwendig, dass sich von Zeit zu Zeit die Ideeaufr�hrerischer Opposition aufpflanze gegen die L�geder unbedingten Justizhoheit, damit sich immer wie-der die gekr�nkte Menschheit dagegen erhebe«.

A. Walther RodeDas sind Worte von Walther Rode, enthalten in einer Vertei-digungsrede, die er am 13.05.1927 vor dem Disziplinarratder nieder�sterreichischen Rechtsanwaltskammer gehaltenhat.2 Er war damals 51 Jahre alt und betrieb seit etwa zwan-zig Jahren eine Rechtsanwaltskanzlei in Wien. Verteidigt hater sich selbst, und zwar gegen den Vorwurf, als Strafverteidi-ger in einer Hauptverhandlung vor dem LandesG Wien be-leidigende, nicht zur Sache geh�rende Beschuldigungen ge-gen verschiedene Personen und Institutionen, darunter denSitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, vorgebracht undtrotz Verwarnung fortgesetzt zu haben, bis ihm wegen unge-b�hrlichen Benehmens zwei Geldstrafen auferlegt undschließlich das Wort entzogen wurde(n). In diesem Verhal-ten wurde eine Verletzung seiner Anwaltspflichten gesehen.

Die Rede ist in Ausz�gen unter dem Titel »Die Aufgabe des Ver-teidigers im offenen und versch�mten politischen Prozess« ver�f-fentlicht worden in Rodes Buch »Justiz«, das 1929 in Berlin er-schien. Peter Panter alias Kurt Tucholsky hat in der »Weltb�hne«dar�ber geschrieben. Er hat den deutschen Anw�lten empfohlen,sich ein Beispiel zu nehmen »an diesem �sterreicher«. Mut, Cha-rakterst�rke, Angriffsgeist und Einsicht in das Wesen der Justiz,diese Eigenschaften, meint Tucholsky, seien unter den deutschenAnw�lten fast gar nicht zu finden. Und warum? »Weil sie sich«,so schreibt er, »als ›Organe der Rechtsprechung‹ betrachten undGnade Gott, wenn ein Deutscher einem Beamten nacheifern will«.3

Inzwischen sind fast neunzig Jahre vergangen. Und der14.07. ist das richtige Datum, ein w�rdiger Anlass, danachzu fragen, wie es hierzulande um die Idee aufr�hrerischerOpposition im Gerichtssaal bestellt ist. Nat�rlich nicht dereinzige.

Sie werden sich vielleicht fragen, ob der Gerichtssaal hierf�rder richtige Ort ist? Soll nicht die Erforschung der Wahrheit�ber den Sachverhalt, die Pr�fung der Verantwortung desAngeklagten, die rechtliche Bewertung seines Handelns, dieZumessung der daf�r ggf. verwirkten Strafe in m�glichstn�chterner, sachlicher Atmosph�re abgewickelt werden?Das geschieht auch in den meisten F�llen so. Allerdings pral-len im Strafverfahren nicht selten ganz unterschiedliche Vor-stellungen von dem aufeinander, was geschehen und wasRecht und Unrecht ist. Auch das ist Ihnen bekannt: DerBeschuldigte sieht sich mit Behauptungen konfrontiert, dieer als dreiste L�gen zur�ckweist. Er f�hlt sich mit Vorw�rfen

�berzogen, die ihn zutiefst in seinem Selbstwertgef�hl ver-letzen. Wenn Sie selbst in diese Lage geraten oder vielleichtschon geraten sind, dann werden Sie in den N�chten, die Siedar�ber schlaflos verbringen, schwankend zwischen Angstund Emp�rung, sich einen Beistand an die Seite w�nschen,der oder die mit Mut und Emphase, un�berh�rbar, Ihre Wi-dersacher, das ganze Geb�ude von L�ge, Manipulation, hin-terh�ltiger Interessiertheit, Voreingenommenheit und Nie-dertracht mit wuchtigen Hieben zerschmettert:

»Wer die irdische Gerechtigkeit nicht kennt, ist oft der �berzeu-gung, dass die Wahrheit durch sich selbst, verm�ge der ihr inne-wohnenden sieghaften Kraft, den Glauben der Richter erobern unddurchdringen m�sse, und hierzu keiner Zurichtung und Bewaff-nung bed�rfe. Solche Neulinge in gerichtlichen Dingen denken,dass diese Wahrheit, die sie miterlebt haben und die ihnen sonnen-klar d�nkt, auch erweislich sein m�sse und unleugbar und dass ih-rer Sprache kein Glauben verschlossen bleiben k�nne. Aber aucheine gute Sache erfordert ernste Vorbereitung.«4

B. KampfEs geh�rt, um diese »Zurichtung und Bewaffnung« derWahrheit ihrer Mandanten zu gew�hrleisten, zum professio-nellen Grundverst�ndnis von Strafverteidigerinnen undStrafverteidigern, dass ihr Metier Kampf bedeutet. So ist esseit 1969 im »Handbuch des Strafverteidigers« von HansDahs nachzulesen, einem inzwischen in 8. Auflage vorliegen-den Standardwerk.

»Kampf um die Rechte des Beschuldigten im Widerstreit mit denOrganen des Staates, die dem Auftrag zur Verfolgung von Straftatenzu gen�gen haben.«5

Dieses Element unseres Rollenverst�ndnisses ist auch in derRechtsprechung grunds�tzlich unbestritten. Es war �brigensauch an einem 14.07., vor 29 Jahren, als das BVerfG in den –nicht allein wegen des Datums – so genannten Bastille- oderRevolutions-Beschl�ssen6 die Freiheiten des Anwalts neu de-finiert und seine Aufgabe unterstrichen hat, seinen Mandan-ten – nicht nur im Strafverfahren – vor Fehlentscheidungenzu seinen Lasten zu bewahren und ihn vor �bergriffen staat-licher Machtaus�bung zu sch�tzen. In diesem »Kampf umdas Recht«, so heißt es in der Entscheidung, darf er auchpolemisch agieren, Urteilsschelte �ben oder »ad personam«argumentieren. Dieses Recht ist in weiteren Entscheidungen

1 Geringf�gig �berarbeitete Fassung der Antrittsvorlesung als Honorarprofessoran der Georg-August-Universit�t G�ttingen vom 14.07.2016 (das Datumhabe ich mir nicht ausgesucht, es ist mir zugefallen infolge der Belegungssitua-tion der Aula der Universit�t). – Da viele Zuh�rer keine Juristinnen oder Ju-risten waren, habe ich mich um eine allgemeinverst�ndliche Sprache bem�ht.Die petit gesetzten Zitate aus Werken Rodes wurden von dem SchauspielerChristoph Sch�chner gelesen. Anders als Verf. ist er �sterreicher und konntedaher die Texte im richtigen Idiom vortragen.

2 Baumgartner, Werkausgabe Walther Rode, Bd. 2, 2007, S. 176.3 Peter Panter (= Kurt Tucholsky), Die Weltb�hne, 1929, S. 935 (936).4 Rode, Justiz. Fragmente, 1929, S. 439.5 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 6. Aufl. 1999, S. 6; die aktuelle 8. Aufl.

2015 enth�lt diesen Satz nicht mehr, allerdings – in anderer Formulierung –den gleichen Gedanken.

6 Beschl. v. 24.07.1987 – 1 BvR 537/81 n.a., NJW 1988, 191 ff.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 188/212] 4

188 StV 3 · 2017

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K�nig · Konfliktverteidigung Aufs�tze

des BVerfG immer wieder best�rkt worden. �ber diesek�mpferische Komponente der Rolle von Strafverteidigung,ihre Berechtigung und ihre Notwendigkeit, besteht also imGrundsatz Einvernehmen. Es gibt aber auch immer wiederProbleme damit. Zum einen haben manche Akteure die Be-f�rchtung, dem Kampfgeist k�nne durch die moderne Ent-wicklung zu einem sog. konsensualen Strafverfahren (ich er-kl�re gleich noch, was damit gemeint ist) die Luft, genauergesagt: das Feuer ausgehen. »Ist Strafverteidigung nochKampf?« hat Rainer Hamm in Hinblick auf diese Entwick-lung besorgt in einem Aufsatz im Jahr 20067 gefragt. Undim Editorial des Juni-Hefts des vergangenen Jahrgangs dieserZeitschrift spricht Franz Salditt vom aktuellen Strafverfahrenals »unserer braven neuen Welt«.8

C. KonfliktverteidigungAuf der anderen Seite war, besonders im letzten Jahrzehnt,von richterlicher, namentlich h�chstrichterlicher Seite vonbedenklichen Ver�nderungen des anwaltlichen Ethos die Re-de, von Erscheinungsformen einer die Grenzen des Ertr�gli-chen, f�r das Verfahrensziel noch irgendwie Sinnvollen �ber-schreitenden Verteidigung, die eine Bedrohung f�r denBestand des Strafprozesses darstellten.9 Das sind Stim-mungsbilder, die sich gelegentlich auch im Andeutungswei-sen ersch�pften. Empirische Untersuchungen des behaupte-ten Ph�nomens, gerade aus j�ngerer Zeit, sind mir nichtbekannt. �ltere Erhebungen zeichnen ein eher unspektaku-l�res, bisweilen phlegmatisches Bild der Praxis der Strafver-teidigung.10 Welche Grenzen dem »Kampf ums Recht«, woer stattfindet, gezogen sind, ist umstritten. Es soll u.a. dannnicht mehr die Rede davon sein, wenn dieser Kampf zumSelbstzweck wird. Das Ph�nomen der sog. Konfliktverteidi-gung ist an dieser Randzone angesiedelt. In seiner Benennung– von einem Begriff mit klaren, verbindlichen Konturen l�sstsich nicht reden, eher von einem Schlagwort – treffen sichverschiedene Auffassungen und Interessen:

Dass ein Verteidigungsgebaren unzul�ssig ist, welches einzigund allein das Ziel verfolgt, die Rechte, die die Prozessord-nung dem Verteidiger verleiht, zur Verhinderung eines Ur-teils einzusetzen, darin sind sich eigentlich alle einig. Dasbeschreibt aber einen Extremfall, in dem fast niemand sichwiedererkennt. In die Umschreibung des Ph�nomens werdendaher Komponenten eingestreut, die Wertungen zug�nglichsind. Die k�nnen aus den unterschiedlichen Positionen deram Prozess Beteiligten ganz unterschiedlich ausfallen. Vonzielgerichteter »Negation der Verfahrensherrschaft des Ge-richts« ist in der Definition die Rede, die Matthias Jahn11

versucht hat. Von der Verhinderung der »schnellstm�glichenErreichung der Ziele des Strafverfahrens«.12 Vom »Nichtf�h-ren sachbezogener Verteidigung«.13 Dar�ber, was darunterzu verstehen ist, k�nnen die Meinungen weit auseinanderge-hen. Nicht selten wird damit ein l�stiges, Antrags- und Er-kl�rungsrechte extensiv in Anspruch nehmendes Verteidi-gungsverhalten umschrieben. Handb�cher, wie Richter sichdessen erwehren k�nnen, sind auf dem Markt.14

Sie werden sich fragen, ob da nicht das Gesetz weiterhilft.Ich muss leider sagen: Es hilft nicht weiter. Es finden sich�berhaupt im Gesetz – in der StPO oder in der BRAO –allenfalls rudiment�re Beschreibungen der Rolle und derGrenzen von Verteidigung. Zwar sagt die Prozessordnungeiniges �ber die Rechte von Verteidigern. Wenig aber sagt

sie dazu, wie sie ausge�bt werden d�rfen. Insbesondere wienicht. Die hierf�r in Betracht kommenden Vorschriften las-sen sich an den Fingern h�chstens zweier H�nde abz�hlen.15

Beweisantr�ge zum Beispiel d�rfen nicht allein mit der Ab-sicht gestellt werden, den Prozess zu verschleppen, sie k�n-nen dann abgelehnt werden. Fragen, die nicht zur Sache ge-h�ren, kann der Vorsitzende Richter zur�ckweisen usw. DasGesetz regelt, wann ein Verteidiger ausgeschlossen werdenkann. Dazu, ob und wann die extensive, vielleicht miss-br�uchliche Wahrnehmung von Verfahrensrechten zum Aus-schluss des Verteidigers f�hren kann, sagt das Gesetz nichts.Allenfalls so viel, dass der dringende Verdacht einer Strafver-eitelung zugunsten des Beschuldigten hierf�r Voraussetzungist. Ob das beschriebene Verhalten aber eine Strafvereitelungdarstellen kann, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. DieGrenzen sind unklar, die Meinungen geteilt. 1974 kam ein-mal aus dem Bundesrat der Vorschlag, eine Ausschlussrege-lung f�r Verteidiger in das Gesetz einzuf�gen, die die»Durchf�hrung der Hauptverhandlung absichtlich undgr�blich gef�hrden.« Das hat sich nicht durchgesetzt undist auch seitdem nicht mehr aufgegriffen worden.16 Es warauch keine gute Idee.

Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger haben das Schlag-wort von der Konfliktverteidigung nicht f�r sich besetzt,etwa als selbstbewusste Inanspruchnahme des Rechts zur»Frontalverteidigung gegen das thronende Gericht«, derenErfindung Walther Rode im Vorwort zu seinem Buch »Justiz«f�r sich in Anspruch genommen hat. Sie verstehen es – je-denfalls �berwiegend – als »Unwort«, als »Kampfbegriff ge-gen alle Formen als zu aktiv, st�rend und verfahrensverz�-gernd empfundener Verteidigungsaktivit�ten«.17 Das hat da-mit zu tun, dass das in den letzten Jahren immer wieder inWellen an die Oberfl�che der justizpolitischen Debatten ge-sp�lte Menetekel von der Konfliktverteidigung (oder ande-rer Umschreibungen des gleichen Ph�nomens) als vermeint-liche Bedrohung des rechtsstaatlichen Strafverfahrens regel-m�ßig daf�r bem�ht wurde, die Einschr�nkung von Rechtender Verteidigung (und auch des Angeklagten) zu begr�ndenoder jedenfalls zu verlangen. Es erscheint wie ein Leucht-turm, der von Zeit zu Zeit umgesetzt und angez�ndet wird,um die Grenze zum unbefahrbaren Terrain auf dem weitenMeer des Strafprozesses zu markieren. Tats�chlich werdendie Fahrrinnen f�r die Verteidigung damit enger gezogen.

D. RechtstatsachenBevor ich mich dem n�her zuwende – und auch meinenKollegen Rode hier wieder zu Wort kommen lasse – mussich auf eine Merkw�rdigkeit hinweisen, deren Kenntnis

7 Hamm NJW 2006, 20848 Salditt, Chilling!, StV 2016, S. I (Editorial), www.strafverteidiger-stv.de/sys-

tem/files/users/user5/StV_2016_06_Editorial.pdf.9 Vgl. etwa BGH (GrS) StV 2007, 403; BGH NStZ 2005, 341; NStZ-RR 2009,

207.10 D�lling/Feltes/Dittmann, Die Dauer von Strafverfahren vor den Landgerichten,

2000; Barton StV 1984, 394 ff.11 Jahn, Konfliktverteidigung und Inquisitionsmaxime, 1998, S. 63.12 Jahn (Fn. 11), S. 63.13 Jahn (Fn. 11), S. 356.14 Z.B. Heinrich, Konfliktverteidigung, 2. Aufl. 2016; Artk�mper, Die »gest�rte«

Hauptverhandlung, 4. Aufl. 2013.15 Z.B. die §§ 26a, 138a Abs. 1 Nr. 2, 244 Abs. 3 S. 2 Alt. 5 (Prozessverschlep-

pungsabsicht) StPO und wenige andere.16 Vgl. Jahn (Fn. 11), S. 75.17 Gatzweiler StraFo 2010, 397.

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Aufs�tze K�nig · Konfliktverteidigung

zum Verst�ndnis des Problems notwendig ist. Von Konflikt-verteidigung ist n�mlich �berhaupt erst die Rede, wenn dasStrafverfahren in das Stadium der Hauptverhandlung tritt.Also dann, wenn es sich im Gerichtssaal abspielt. Vorher al-lerdings ist zumeist ein langer Weg zur�ckgelegt, viele, ja derweitaus �berwiegende Teil der Verfahren kommen nie andieses Licht der �ffentlichkeit.

Um in Zahlen zu sprechen: Bei insgesamt etwa 4,7 Millionen 2014in Deutschland eingeleiteten Ermittlungsverfahren wurde geradeeinmal in 9,4 % der F�lle Anklage18 erhoben. Zum Vergleich:1981 waren es noch 27,4 %, also dreimal so viele, 1998 noch17,6 %, etwa das doppelte.19 Die �brigen 90,6 % der Verfahrenim Jahr 2014 wurden entweder – in weiteren 11,5 % der F�lle –mit sog. Strafbefehlen, also mit Urteilen beendet, die in einemschriftlichen Verfahren ergehen, wenn nicht der davon BetroffeneEinspruch dagegen einlegt. Das ist etwa bei einem Drittel (35 %)der Fall,20 was dann auch zu einer Gerichtsverhandlung (mit redu-ziertem Beweisrecht) f�hrt. Es kommen danach also nur etwa 13 %der Verfahren vor Gericht. Alle anderen werden eingestellt, sei esgegen Auflagen (meistens die, Geld zu zahlen, 3,9 %), sei es wegenGeringf�gigkeit (10,2 %) oder anderen Gr�nden, die im Ermessender Staatsanwaltschaft liegen. Bei etwa 30 % geht sie davon aus,dass es am hinreichenden Tatverdacht fehlt, also eine Verurteilungunwahrscheinlich ist.21 In dem regierungsoffiziellen sog. 2. Periodi-schen Sicherheitsbericht von 2006 (einen neueren gibt es nicht)hieß es daher zu Recht, dass eine vollst�ndige Hauptverhandlunginzwischen die Ausnahme sei. »Der Regelfall des Strafverfahrens istheute ein informelles oder vereinfachtes Verfahren, ein Strafverfah-ren ›zweiter Klasse‹«.22

Diese immer weiter wachsende Welt der Verfahren außer-halb der Gerichtss�le hat Strafverteidigung schon lange f�rsich entdeckt. Nicht nur deshalb, weil deutlich geworden ist,dass dort wesentliche Weichenstellungen auch in den F�llenstattfinden, die sp�ter zur Anklage kommen, weshalb esempfehlenswert ist, auf den Gang der Ermittlungen durchBeweisanregungen, durch eigene Erhebungen, durch Schrift-s�tze fr�hzeitig Einfluss zu nehmen. Noch wichtiger ist aberdas Bem�hen, die Angelegenheit des Mandanten in diesenSielen des Verfahrens jenseits der Anklageerhebung versi-ckern zu lassen. F�r viele Verteidiger ist die Verteidigunggescheitert, wenn ihnen das nicht gelingt. Das ist eine Weltder dosierten Angriffe, des informellen Gespr�chs, derSchrifts�tze. Hier werden Anregungen gegeben, keine Antr�-ge gestellt. In dieser doch so wichtigen Phase des Verfahrenshat Verteidigung nach der bisherigen Konzeption des Straf-prozessgesetzes nicht viel zu suchen. Weil ihre Rechteschwach sind, ist hier von Konfliktverteidigung keine Rede.Verteidigung kann hier kaum den Weg zur Verurteilung ver-stellendes Widerstands entfalten. Es ist ein anderer Verteidi-gertyp der sich hier ausbreitet und das Bild der modernenVerteidigung mitbestimmt. An dieser Stelle muss aber daraufhingewiesen werden, dass das die Bedeutung der Hauptver-handlung, also des Verfahrens »erster Klasse«, nicht unbe-dingt relativiert. Denn die meisten dieser verschwiegenenAbschl�sse erfolgen auch aus dem Kalk�l, ob sich Aufwandund Risiken einer streitigen Verhandlung lohnen. Und dergroße Teil, etwa ein Drittel aller Verfahren, die, wie es imGesetz heißt, mangels hinreichenden Tatverdachts eingestelltwerden, finden ihren Abschluss aufgrund der Prognose, dasseine Verurteilung unwahrscheinlich ist. Es liegt auf derHand, dass diese Prognose umso einfacher ausf�llt, je leich-ter es wird, einen Verdacht zum Urteil zu entwickeln. Sie

h�ngt also auch davon ab, mit wieviel Widerstand seitenseiner Verteidigung in einer m�glichen Hauptverhandlungzu rechnen ist.

Das erkl�rt zu einem Teil die Heftigkeit, mit der immernoch �ber die Regularien der Hauptverhandlung gestrittenwird. Zwar trifft der Konflikt, in den ihn das Verfahrenst�rzt, den Beschuldigten in dieser fr�hen Phase h�ufig amh�rtesten. Wenn etwa unverhofft das Durchsuchungspeletonin seiner Wohnung erscheint und die Nachbarn in den Fens-tern liegen. Oder wenn er, ohne jede Gelegenheit, sich dar-auf einzurichten, in Untersuchungshaft gesperrt wird, aufunabsehbare Zeit, mit ungewissem Schicksal und abge-schnitten von der Kommunikation mit der Außenwelt. SeineVerteidigung, von der er gerade jetzt den Befreiungsschlagerwartet, mag sich zwar mit starken Worten und heftigerPolemik dem Angriff derer entgegenwerfen, die f�r seineLage verantwortlich sind. Ihre Schl�ge bleiben aber papierenund verlieren sich zwischen den Aktendeckeln. Akten wer-den hin und her bewegt. Zeit geht ins Land. Die Rufe ver-hallen. Zwar gibt es Rechtsmittel, �ber sie wird fast nurschriftlich entschieden. Auch hier wird der Kampf umsRecht ausgetragen. Es kommt aber eher auf klugen, abgewo-genen, pr�zisen Vortrag an. Konfliktverteidigung? Fehlanzei-ge! Alles wird anders, wenn das Verfahren die B�hne desGerichtssaals erreicht. Hier tritt Verteidigung ausgestattetmit Antrags-, Erkl�rungs- und Fragerechten auf. Hier kannsie eingreifen, kann sich dem Gang des Verfahrens entgegen-stellen. Das Gericht muss darauf reagieren.

E. Lesebuch f�r Strafverteidigerinnen und Strafvertei-diger»Du darfst nicht salopp sein in der Rechtsverteidigung. Du mußtbestreiten, du darfst nichts hinnehmen, du mußt zur�ckschlagen.Du mußt zur�ckschlagen, und �berdies sofort. Nach einem kon-trapunktlich dem Prozeß innewohnenden Grundgesetz, das �lterund st�rker ist als alle Prozessordnungen. Keine Ewigkeit kann er-setzen, was Du der Minute schuldig geblieben bist. Pfl�cke denMoment des Gerichtstages. Er geht so schnell vorbei. Gemessenan der L�nge des Lebens, an der Dauer der im Gesetz angedrohten,an der Dauer der zu bef�rchtenden Strafe ist eine Gerichtsverhand-lung unendlich kurz. Schlag und Gegenschlag m�ssen daher knappaufeinander folgen.

Wehe demjenigen, der Gelegenheit bekommt, in der Einsamkeitdes Gef�ngnislebens �ber seine Prozeßvers�umnisse nachzugr�beln!Was der Angeklagte in der Verhandlung l�ngere Zeit auf sich lastenl�ßt, wirkt sich zu seinem Schaden aus, bedeutet die Inkubations-frist der nachmaligen Verurteilung. Nichts ist peinlicher als eineBelastung, die keine baldige, keine gleichwertige Abwehr findet.Die Wort- und Ratlosigkeit der Verteidigungspartei zerst�rt dieHarmonie des assauts im Gerichtssaal. Da die Verhandlung sichin Kampfform abspielt, ist die unterlassene Parade das Symbol vor-

18 Statistisches Bundesamt, 2014, Fachserie 10 Reihe 2.6, Rechtspflege, Staatsan-waltschaften, S. 30. Nach dem zwischenzeitlich (am 02.11.2016) erschienenenBericht des statistischen Bundesamtes 2015, Fachserie 10 Reihe 2.6, Rechts-pflege, Staatsanwaltschaften, S. 26, betrug der Anteil der Anklagen 2015 nochetwa 8,5 %, w�hrend die Anzahl der eingeleiteten Ermittlungsverfahren auffast 5 Millionen gestiegen ist.

19 Vgl. Bundesministerium der Justiz und Bundesministerium des Innern(Hrsg.), 1. Periodischer Sicherheitsbericht, 2001, S. 349.

20 Vgl. dazu Bundesministerium der Justiz und Bundesministerium des Innern(Hrsg.), 2. Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 544.

21 Statistisches Bundesamt, 2014 (Fn. 18); zu den Zahlen f�r 2015 vgl. Statisti-sches Bundesamt, 2015 (ebenfalls Fn. 18).

22 Zit. n. K�nig AnwBl. 2010, 383.

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K�nig · Konfliktverteidigung Aufs�tze

zeitiger Niederlage. Der Rest des Prozesses wird an einem Totenabgef�hrt.«23

Das stammt aus Rodes »Lesebuch f�r Angeklagte«.24 DasBuch erschien 1931 in Berlin, zu einer Zeit, als er bereitsseine Anwaltst�tigkeit aufgegeben hatte und in die Schweiz�bergesiedelt war, nach Genf, wo er sich als Schriftstellerund politischer Publizist niederließ. Der Grund hierf�r d�rf-te nicht in dem Verfahren gelegen haben, in dem die Vertei-digungsrede gehalten wurde, aus der Sie eingangs ein St�ckgeh�rt haben. Sein Ausgang ist nicht �berliefert. Es war derwirtschaftliche Niedergang seiner Kanzlei, die sich wegenRodes vehementer schriftstellerischer Attacken gegen das Be-amtentum und seiner geharnischten Justizkritik einem Boy-kott ausgesetzt sah.25 Das »Lesebuch f�r Angeklagte« l�sstsich auch als »Lesebuch f�r Strafverteidigerinnen und Straf-verteidiger« lesen. Denn es enth�lt viele noch immer g�ltigeHinweise daf�r, wie eine aktive Strafverteidigung richtig zuf�hren ist.

»Oft, ja meistens ist der frontale Belastungszeuge auf dem Feldeseines Anmarsches nicht zu ersch�ttern. Die Verteidiger begehenjeden Tag von Neuem den Mißgriff, durch ausf�hrliche Befragungsolcher Zeugen noch mehr D�tails, die Verst�rkung der Belastung,zu ernten. Sie r�umen den letzten Zweifel an der Unschuld ihresMandanten weg, indem sie den Belastungszeugen in Widerspr�cheverwickeln wollen. Der tragende Belastungszeuge ist zu umgreifen.Seine Uninteressiertheit ist zu verd�chtigen, seine Integrit�t ist inZweifel zu ziehen.

Hierbei muss der Verteidiger behutsam zu Werke gehen. Nach derBelastungsaussage empfiehlt sich ein als Begr�ndung von Beweis-antr�gen verkleidetes Zwischenpl�doyer, das wenigsagend anhebt,zu den Hintergr�nden des Prozesses ansteigt und mit der Zerfet-zung des gef�hrlichen Zeugen endigt. Wer nicht a tempo zur�ck-geschlagen hat, darf sich auf sch�ne Reden nicht verlassen. Vertei-digung ist Aktion, nicht Meditation, nicht Widerlegung mit pos-tumen Gr�nden.«26

Rodes Ratschl�ge, von denen Sie gerade einen kleinen Aus-schnitt geh�rt haben, m�ssen sich hinter den Handreichun-gen nicht verstecken, die heute in den vielen Anleitungsb�-chern f�r Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger angebo-ten werden, die auf dem Markt sind, seit es den »Fachanwaltf�r Strafrecht« gibt. Sie sind pointiert, brillant und k�nnenden m�de gewordenen Kampfgeist beleben. Man muss sichja nicht alles zum Vorbild nehmen, diskutabel sind seineVorschl�ge allemal, zum Beispiel auch diese:

»F�r die Vorsitzenden Richter, aber auch f�r die anderen Chargender Hauptverhandlung, zerf�llt der Prozeß in zwei scharf voneinan-der getrennte Teile: in die Beweisaufnahme und in die Schlußvor-tr�ge.

Die Verteidiger, von der eingealterten Prozessregie �berw�ltigt, las-sen sich diese Zweiteilung gefallen, ergreifen das Wort erst, wenn esihnen gegeben ist, verabs�umen es, sich’s immer wieder zu erbitten,sich’s zu nehmen. Sie sind nette Menschen, die wissen, wie man sichvor Gericht aufzuf�hren hat. Ein netter Mensch sein, aber heißt:ein Verteidiger sein nach dem Herzen des Gerichts, eine quantit�n�gligeable, eine Schachfigur, die man wegstellt. Der nette Mensch,der sich gut benimmt und niemanden st�rt, der nicht trieft undnicht stinkt, kann verm�ge der Negativit�t seines Wesens nicht be-greifen, dass man nur durch �bung des ungern Gelittenen, desVerbotenen, des Perhorreszierten eine Position gewinnt; dass derVerteidiger nicht dulden darf, wie der Vorsitzende des Gerichtssich breit macht; dass die Hauptverhandlung kein S�ngerkrieg, son-

dern eine Stegreifkom�die ist; dass sie nicht dazu da ist, gute Erzie-hung, sondern Schlagfertigkeit zu beweisen; dass ein Zwischenruf,ein in die Rede Fallen, eine unziemliche Handbewegung, ein Lach-anfall, die Hoheit und W�rde des Gerichtes oder der Partei desAnkl�gers besser zerst�ren als alles knabenhaft ernste Eingehen indie L�cherlichkeiten des Prozesses. Durch Zwischenrufe werdensonst der Vernachl�ssigung unterliegende Entlastungsmomente un-terstrichen und �bertrieben, Belastungsmomente ironisiert. Gl�ck-liche Zwischenrufe, die Pfeile, die Satzfragmente des Thersites27

k�nnen die Anklage umwerfen, das Prozessmilieu blitzartig illus-trieren, den ganzen Prozess als Aufbauschung einer Geringf�gigkeitkennzeichnen.

Die netten Menschen haben keine Ahnung davon, welche Kraftdem perhorreszierten Zwischenpl�doyer zukommt, wie es gegenden Widerstand des Vorsitzenden eingeschmuggelt werden soll,und sind sich dessen nicht bewusst, dass es nebst treffsicher einge-schleudertem Hohn die eigentlich prozesswendende Macht ist.

D�ster der Verhandlungssaal, niedergedr�ckt die Angeklagten, ver-nichtend die Legende der Anklage. Wenn die Dampfwalze derSchuldbeweise �ber den Angeklagten schon hinweggangen ist, ihnbereits get�tet hat, ist seine Wiedererweckung in der Schlussrededurch bloße Widerlegung der Anklagemomente unm�glich. Nurdie Sch�nredner, die das selbstgef�lige Virtuosentum des Schluss-pl�doyers pflegen, die am Schluss der Verhandlung das Pl�doyer,ihr Pl�doyer hinlegen, glauben, weil es ihnen oft gelungen ist, un-vermeidliche Freispr�che mit Brustt�nen zu sch�ner Reife zu brin-gen, dass der Brunftruf des Verteidigers, die phrasenerstickte Klage,ehe der Vorsitzende die Akten zusammenrafft, der eigentliche Par-tiestoß des Prozesses sei.

Die Verteidigung hat fr�her zu beginnen. An der Spitze des Prozes-ses und vor Schluss des Beweisverfahrens hat sich der Verteidigermit seinen Antr�gen aufzupflanzen. Sofort hat er auszusprechen,was das f�r ein Prozess ist. Die Sch�ffen und die �ffentlichkeitsollen nicht glauben d�rfen, dass sich hier das Gesetz automatischverwirkliche.«28

So l�sst sich »Konfliktverteidigung« auch umschreiben, aller-dings als eine, die den Konflikt aufgreift und austr�gt, in dender Angeklagte mit dem gegen ihn erhobenen, vielleicht un-berechtigten Vorwurf gestellt ist. Man kann diesen Wortenheute allerdings auch mit etwas nostalgischen Gef�hlen lau-schen. Spricht hier eine Stimme nicht nur mit einer anderenSprache, sondern aus einer anderen Zeit, einer vergangenenWelt? Sind nicht die H�ndler, die Rode – wir haben es ein-gangs geh�rt – aus dem Tempel des Gerichts treiben wollte,l�ngst dorthin zur�ckgekehrt?

F. Verst�ndigungDas Handel-Treiben nennt das moderne Strafverfahren»Verst�ndigung«. Anders als fr�her hat es ihm allerdings Re-geln und einen Platz in der StPO gegeben: Den § 257c.

Ich will versuchen, den Nichtjuristen im Saal in einfachen Wortenzu erkl�ren, was das bedeutet und wie es – idealtypisch – funktio-niert. N�mlich so: Ist das Gericht nach dem Studium der Verfah-

23 Rode, Kn�pfe und V�gel. Lesebuch f�r Angeklagte, 1931, S. 430.24 Kn�pfe und V�gel. Lesebuch f�r Angeklagte, hier zit. n. der von Baumgartner

herausgegebenen Werkausgabe (Fn. 2), S. 257 ff.25 Vgl. dazu die Rezension von »Kn�pfe und V�gel« durch Anton Kuh, Weltb�h-

ne 1929, S. 681 (683).26 Rode (Fn. 23), S. 432.27 Thersites ist eine Gestalt der griechischen Mytologie, der nach der Ilias im grie-

chischen Heer am Trojanischen Krieg teilnahm. Homer schildert ihn als h�ss-lichen, schm�hs�chtigen und daher von den Helden verachteten, allgemeinverhassten und erfolglosen Demagogen (nach Wikipedia).

28 Rode (Fn. 23), S. 445 ff.

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Aufs�tze K�nig · Konfliktverteidigung

rensakten oder nach ersten Beweiserhebungen in der Hauptver-handlung zu einer ersten, vorl�ufigen Vorstellung vom entschei-dungsrelevanten Sachverhalt gelangt, der zu einer Verurteilung An-lass bietet, schl�gt es dem Angeklagten eine Ober- und eine Unter-grenze der danach zu verh�ngenden Strafe vor. Gegenleistung f�rdieses Angebot, das als Entgegenkommen offeriert wird, soll – sodas Gesetz – ein Gest�ndnis sein. In aller Regel ist es das. Ist dieStaatsanwaltschaft mit dem Vorschlag einverstanden und der Ange-klagte zum Gest�ndnis bereit, kommt die Verst�ndigung zustandeund muss anschließend nur noch vollzogen werden, indem der An-geklagte das angek�ndigte Gest�ndnis ablegt. Die Regeln f�r diesesprocedere enthalten allerlei Kleingedrucktes. Zum Teil steht es imGesetz. Zum Teil ist es von der Rechtsprechung, insbesondere desBVerfG entwickelt worden. Wichtig ist: Die Verpflichtung des Ge-richts bleibt bestehen, den wahren Sachverhalt zu ermitteln, insbe-sondere das Gest�ndnis durch Beweisaufnahme zu �berpr�fen. Dief�llt in der Regel aber kursorisch und affirmativ aus. Weitere Ein-zelheiten muss ich Ihnen ersparen.

Diese Art, Verfahren zu beenden wird auch als konsensualesVerfahren bezeichnet. Sie erfreut sich heute großer Beliebt-heit, trotz der etwas kompliziert gewordenen Kautelen. DenGerichten erspart es langwierige und konflikttr�chtigeHauptverhandlungen und die M�he, ein kompliziertesschriftliches Urteil niederzulegen. F�r die Seite des Ange-klagten und seiner Verteidigung dient es der Reduzierungder Risiken, die sich aus den Unsicherheiten in der Ausle-gung moderner Strafgesetze und der Freiheit des Gerichtsergeben, die erhobenen Beweise nach seinem, von einem Re-visionsgericht nur beschr�nkt kontrollierbaren Verst�ndniszu w�rdigen und dabei z.B. selbst f�r sich genommen schwa-che Indizien mit dem Zauberstab der so genannten Gesamt-schau zur Grundlage einer Verurteilung zu komponieren. Dadas Gericht dem Angeklagten vor dem Urteil keine Auskunftdar�ber schuldet, wie es die Beweislage bewertet, und ihmaußer dunklen Andeutungen zumeist auch keine erteilt, istder Weg dieser sog. Verst�ndigung h�ufig der einzige, dessenEnde f�r den Angeklagten wenigstens absehbar ist.

In dieser Lage f�r ihn einen nicht nur absehbaren, sondernauch akzeptablen Kompromiss herauszuhandeln, ist dasKunsthandwerk einer Verteidigung, die es versteht, die Posi-tion des Angeklagten in ausf�hrlichen Darlegungen auszu-breiten und das zu ihrer Befestigung notwendige Beweispro-gramm lediglich anzudeuten, um den Preis f�r das Gest�nd-nis in die H�he zu treiben, den das Gericht mit einer mildenBestrafung bezahlt. In dem Klima, in dem ein solcher Aus-tausch gedeiht, ist kein Ort f�r aufr�herische Reden, f�r denaggressiven Gegenstoß, den Zwischenruf. Dieses Verfahrenund auch die eingangs geschilderte Verlagerung von Vertei-digung in die weite Welt außerhalb der Gerichtss�le, wo �b-rigens keinerlei Regeln f�r die Verst�ndigung bestehen, hateinen neuen Verteidigertyp herausgebildet, den »konsensua-len« Verteidiger. Er dominiert das Erscheinungsbild moder-ner Strafverteidigung und beherrscht die Verteidigungskunstnach der genannten Art in vielen F�llen zum Besten des An-geklagten. Welten scheinen ihn zu trennen vom Konfliktver-teidiger. Er ist der good guy des Strafverfahrens.

G. Neuer »neuer Verteidigertyp«Historisch korrekt sollte man allerdings von einem neuen»neuen« Verteidigertyp sprechen. Denn von einem »neuenVerteidigertyp« war schon vor dreißig Jahren die Rede, aller-dings mit ganz anderen Konnotaten. Der Strafrechtswissen-

schaftler Hanack hat ihn in einem Beitrag von 1987 aufge-bracht.29 Er hat ihn aus dem Eindruck der Entwicklung vonStrafverteidigung in Deutschland in der vorausgegangenenDekade heraus als einen Verteidiger beschrieben, der

»im Interesse seines Mandanten, auch wenn er ihn f�r schuldig h�lt,in alle gesetzlichen Freir�ume vorst�ßt [...], der in der Regel formaldurchaus korrekt verf�hrt, auch das Standesrecht beachtet, sich imGrunde aber dem traditionellen Ziel des Strafverfahrens nicht mehrverpflichtet f�hlt, mindestens doch die Bedeutung dieses Ziels imSpannungsverh�ltnis zu den Interessen seiner Mandanten kritischergewichtet.«

Dieser neue Verteidigertyp, ich nenne ihn mal den alten»neuen«, dieser konfliktfreudige und konfliktsuchende Ver-teidigertyp wird oft gegen den neuen »neuen« in Stellung ge-bracht und ausgespielt. Es wird die Besorgnis ge�ußert, derkonsensuale Verteidigertyp k�nne den k�mpferischen insAbseits dr�ngen, seine Rechtsgrundlagen obsolet werden las-sen und das ganze Verfahren unter einem Teppich derscheinbaren Harmonie ersticken. Es muss aber darauf hin-gewiesen werden, dass Verst�ndigungen nur so lange zu f�rden Angeklagten ertr�glichen Ergebnissen f�hren k�nnen,wie die Alternative eines streitig ausgetragenen Verfahrensnicht nur f�r ihn, sondern auch f�r das Gericht mit Risikenund Unw�gbarkeiten belastet bleibt. Die Verst�ndigung ge-r�t f�r den Angeklagten aus der ohnehin fragilen Balance,wenn die Option, das Verfahren streitig auszufechten, nichtmehr pr�sent und nicht mehr lebendig ist. Anders gesagt:Das Verst�ndigungsverfahren wird besch�digt, wenn die aufSeiten der Verteidigung daran Beteiligten keine Z�hne mehrhaben, die sie zeigen k�nnen. Die beiden vermeintlich feind-lichen Br�der, der alte neue und der neue neue Verteidiger-typ, der Konflikt- und der konsensuale Verteidiger stehensich daher n�her, als es manchmal den Anschein hat. Unddie meisten wissen das auch.

Zweierlei ist dabei zu beachten. Jetzt wird es vielleicht einwenig kompliziert, sehen Sie mir das bitte nach. Aber dasgeh�rt zum Thema: Es kommt zum einen auf den Zustanddes Verfahrensrechts an. Genauer gesagt auf den Bestand vonRechten, mit denen Verteidigung der Position des Angeklag-ten auch dann Geh�r verschafft werden kann, wenn das Ge-richt sich bereits eine andere, ihm ung�nstige Meinung ge-bildet hat. Zum anderen darauf, dass Verteidigerinnen undVerteidiger in der Lage sind, von diesen Rechten Gebrauchzu machen und, nicht zuletzt, dass sie das auch tun.

I. VerfahrensrechteZum ersten Punkt, den Verfahrensrechten. Im Zentrum desStreits um Konfliktverteidigung steht heute das Beweisan-tragsrecht. Dazu findet sich in Rodes Schriften fast nichts.Das mag daran liegen, dass dieses Recht, eine Perle des deut-schen Strafverfahrens, in �sterreich zu Rodes Zeit – wie �bri-gens damals auch in Deutschland – noch nicht zu der Bl�teentwickelt war, in der es heute hierzulande steht, wenn auchein wenig angewelkt. Das ist, kurz und vereinfacht gesagt, dasRecht des Angeklagten und seiner Verteidigung, �brigens auchdas der Staatsanwaltschaft und der so genannten Nebenklage,unter bestimmten festgelegten Voraussetzungen das Gerichtzu einer Beweisaufnahme mit Beweismitteln, Zeugen zumBeispiel, zu zwingen, die der Antragsteller benennt. Das Ge-

29 Hanack StV 1987, 500.

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K�nig · Konfliktverteidigung Aufs�tze

richt kann sich dem nur unter engen, im Gesetz – § 244Abs. 3-6 StPO – genannten Voraussetzungen entziehen.Auch dann nicht, wenn es der festen �berzeugung ist, dassdie beantragte Beweisaufnahme ohnehin keine neuen Er-kenntnisse erbringen wird. Will es einen solchen Antrag auseinem im Gesetz genannten Grund ablehnen, z.B., weil dieunter Beweis gestellte Tatsache f�r die Entscheidung aus tat-s�chlichen oder rechtlichen Gr�nden ohne Bedeutung ist, somuss das durch einen begr�ndeten Beschluss geschehen.

Dieses Recht ist f�r den Angeklagten wichtig, weil er dadurchauch ein bereits verurteilungsgeneigtes Gericht dazu zwingenkann, sich mit seiner Sicht des Sachverhalts, mit seiner Wahr-heit auseinanderzusetzen. Ein wirksameres Mittel hat er dazunicht. Aber auch dann, wenn das Gericht einen solchen Antragablehnt, bedeutet die Begr�ndung des hierf�r notwendigenBeschlusses Zeit- und Arbeitsaufwand und birgt Risiken f�rden Bestand des Urteils. Das erh�ht das Gewicht der streitigenOption, die bei jeder Verst�ndigung mitgedacht wird, und ver-bessert damit die Position des Angeklagten in dieser Situation.Ich will dabei nicht der plumpen Strategie das Wort reden, dieversucht mit einer Kanonade mehr oder weniger sinnloser An-tr�ge ein Gericht verst�ndigungsbereit zu schießen. Daskommt selten vor. Mir ist kein Fall bekannt, wo so etwas funk-tioniert h�tte.

Es geht vielmehr um die allgemeinen Gesch�ftsbedingungenim Strafverfahren, nicht nur um solche f�r ganz spezielleSituationen. Denn der Bestand dieser Rechte ist auch undgerade f�r die Chance einer Verst�ndigung von erheblicherBedeutung, die nicht bloß hier Diktat und dort, auf Seitendes Angeklagten, Unterwerfung bedeutet, sondern in einereinigermaßen ausgewogenen Balance bleibt. Das liegt aufder Hand. Ebenso, dass an den Bedingungen dieser Balanceunterschiedliche Interessen bei denen bestehen, die auf denverschiedenen Seiten des Richtertischs Platz nehmen. Dakann es naheliegen, Stimmungslagen zu generieren, die dievermeintliche Notwendigkeit heraufbeschw�ren, diese Rech-te zu beschr�nken. So funktioniert moderne Rechtspolitik.Der BGH hat anhand vereinzelter Extremf�lle, in denen Ge-richte sich einer Lawine von hunderten oder tausenden sinn-loser Beweisantr�ge nur durch eine partielle Suspendierungdes Verfahrensrechts zu helfen wussten, Regelungen entwi-ckelt, die erkl�rtermaßen zur Bew�ltigung solcher Ausnah-mezust�nde vorgesehen waren.30 Erstaunlich schnell sinddiese Regelungen zur Alltagstauglichkeit fortgebildet wor-den.31 Dabei hat auch die h�chstrichterliche Beschw�rungeiner sich angeblich ausbreitenden Konfliktverteidigung Bei-hilfe geleistet. Ich kann das hier nicht im Einzelnen ausf�h-ren. Ich muss aber darauf hinweisen. Inzwischen liegt demParlament ein Gesetzentwurf vor, mit dem u.a. dieses Mo-dell f�r alle Strafverfahren kodifiziert werden soll. Die Gren-zen sind st�ndig in Bewegung, und das hat auch Auswirkun-gen auf die Gewichte der an der Verst�ndigung beteiligtenPositionen. Es wird also deutlich, dass auch der konsensualeVerteidiger daran interessiert sein muss, dass die Spielr�umef�r den erhalten bleiben, der den Konflikt suchen muss. Ge-legentlich ist er selbst in dieser Rolle.

II. MissbrauchsverbotDer zweite Punkt, den ich angesprochen habe, betrifft dieM�glichkeit von Verteidigung, von den ihr zur Verf�gungstehenden Rechten Gebrauch zu machen. Auch das tangiert

das Gewicht der streitigen Option und damit die Bedingun-gen des Konsenses. In einzelnen Entscheidungen des BGHist die Auffassung vertreten worden, die Aus�bung von Ver-fahrensrechten st�nde unter einem allgemeinen Miss-brauchsverbot.32 Das ist ein gef�hrliches Argument. Dennes ist ja selbst missbrauchsanf�llig. Gerade ein voreilig fest-gelegtes Gericht kann dazu geneigt sein, ein Verteidigungs-verhalten als missbr�uchlich zu disqualifizieren, das ihm en-gagiert entgegentritt. Missbrauch kann im Strafverfahrenvon allen Beteiligten ausge�bt werden. Auch ein Gerichtkann ein Verfahren in die L�nge ziehen, indem es die Be-weisaufnahme noch auf den entlegensten Winkel des Sach-verhalts ausdehnt, um den Angeklagten zur Zustimmung zueiner Verfahrenseinstellung zu n�tigen, die dem Gericht dieM�he erspart, ein kompliziertes freisprechendes Urteil zubegr�nden, das es l�ngst sprechen m�sste. Dagegen ist keinKraut gewachsen. Was die Seite der Verteidigung angeht,halte ich es mit dem Strafrechtsausschuss der BRAK:

»Auch ein Verteidigungsverhalten, dessen Ziel sich Dritten nichtunmittelbar erschließt [heißt es in der 33. seiner Thesen zur Straf-verteidigung33] kann der Wahrnehmung der Interessen des Man-danten dienen und deshalb seine Berechtigung haben. Beschr�n-kungen der Verteidigung �ber die ausdr�cklichen, ohnehin schonweit reichenden Regelungen der StPO hinaus unter Hinweis auf einallgemeines Missbrauchsgebot [folgt der Hinweis auf drei BGH-Entscheidungen] sind abzulehnen. Der Verteidiger sollte solchenEinschr�nkungsversuchen entgegentreten.«

Was hiermit geschieht.

III. Vorbilder?Schließlich – und damit komme ich zum Schluss – muss esaber auch Verteidigerinnen und Verteidiger geben, die dieRechte, die sie haben, engagiert aus�ben und dadurch diestreitige Option lebendig erhalten. Ich sehe unsere »braveneue Welt« nicht ganz so melancholisch, was vielleicht daranliegt, dass ich mich gelegentlich in Verfahren bewege, in de-nen es – und zwar von allen Seiten – nicht besonders bravzugeht. Das konsensuale Verfahren hat durch die Korsett-stangen, die ihm das BVerfG eingezogen hat, auch etwas anSchwung verloren. Als der neue Verteidigertyp, also der alte»neue«, von dem Hanack sprach, sich in den 1970er und80er Jahren in den Gerichtss�len ausbreitete, haben seineAkteure nach Vorbildern, nach Traditionen gesucht, an diesie ankn�pfen, auf die sie sich berufen konnten. In dem Ge-leitwort zu meiner Monographie �ber die Strafverteidigungim Nationalsozialismus hat Gerhard Jungfer, auch einer die-ser alten »neuen« Strafverteidigertypen, geschrieben:

»Strafverteidigung geht �ber die bloße Anwendung der Rechtsre-geln hinaus. Nicht allein zu vermitteln durch das Lernen dieser Re-geln, lebt sie besonders aus der Kraft ihrer Vorbilder.«34

30 Vgl. etwa BGHSt 38, 111 = NJW 1992, 1245; BGH StV 2006, 113; Bay-ObLG NStZ 2004, 647.

31 Zun�chst durch Richterrecht in der Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH v.23.09.2008, BGHSt 52, 355 = StV 2009, 64; vorbereitet in BGHSt 51, 333(334 f.) = StV 2007, 454 und grds. gebilligt durch BVerfG StV 2010, 113.Nunmehr soll sie nach dem RegE eines »Gesetzes zur effektiveren und praxis-tauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens« in § 244 Abs. 6 StPO aufge-nommen werden; krit. dazu B�rner StV 2016, 681.

32 Vgl. etwa BGHSt 51, 88 = StV 2006, 627 = JuS 2007, 91 m. abl. Anm. Jahn,der auch einen �berblick �ber den (seinerzeitigen) Meinungsstand gibt.

33 Strafrechtsausschuss der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, 2. Aufl. 2015.34 Jungfer, in: K�nig (Hrsg.), Vom Dienst am Recht, Rechtsanw�lte als Strafver-

teidiger im Nationalsozialismus, 1987.

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Aufs�tze Schoeller · Pflichtverteidigung

Nach solchen Vorbildern musste damals lange gesucht wer-den. An eine lebendige Tradition engagierter Strafverteidi-gung konnte hierzulande nicht angekn�pft werden, nach-dem diese Tradition in der Zeit nationalsozialistischer Herr-schaft vernichtet worden war. Damals begriff die offizielleDoktrin die am Strafprozess beteiligten als »Kameradeneiner Rechtsfront«, die – einschließlich der Verteidigung –alle an einem Strang zogen, an dessen Ende dann der Ange-klagte, so in den Prozessen gegen die Beteiligten am Attentatvom 20.07.1944, aufgeh�ngt wurde.35

Die alten »neuen« Strafverteidiger haben daher die Verteidi-ger aus der Weimarer Zeit wiederentdeckt. Namen wie MaxAlsberg, Erich Frey oder Hans Litten bekamen neuen Glanz,und es wurde versucht, aus ihren Schriften und aus Berich-ten �ber ihre Prozesse Ankn�pfungspunkte f�r eine moder-ne, k�mpferische, auch wissenschaftlich fundierte Strafver-teidigung zu gewinnen. Walther Rode ist seinerzeit nicht be-achtet worden, vielleicht, weil er ein �sterreicher war. Es istdaher an der Zeit, ihn in das Ged�chtnis der Strafverteidi-gung aufzunehmen. Dabei geht es nicht um Heldenvereh-rung. Man muss ihn nicht als Vorbild begreifen. Daraufkommt es sowieso nicht an. Aber seine Texte bieten vieleAns�tze, die eine Grundlage f�r die Diskussionen dar�berbieten, wie eine engagierte, konfliktbewusste Verteidigungverantwortlich gef�hrt werden kann, auch in Zeiten des kon-sensualen Verfahrens. Und sie machen auch Lust dazu.

H. EmpfehlungIch will sie aber jetzt nicht entlassen, ohne meinem Kollegendas letzte Wort zu erteilen mit ein paar Ratschl�gen dazu,

welchen Verteidiger Sie sich suchen sollten, wenn Sie selbstin die Lage geraten, einen zu brauchen:

»Angeklagter, h�te Dich vor dem geistreichen Verteidiger! F�r dieWahl deines Verteidigers, nicht f�r deine Tat wirst Du bestraft wer-den! Niemand wird dich gegen deinen Verteidiger verteidigen! Dergeistreiche Verteidiger ist ein Geistesmensch, und das Gericht istf�r den Materialmenschen das richtige Feld.

Der Advokat des Gewinners ist ein Ernst- und Wichtignehmer. Erkennt die Gefahren des Prozesses. Es kann seinem Mandanten nichtleicht widerfahren, eines tr�ben Tages bet�ubt dazuliegen, �berfah-ren von der Lokomotive der Gerechtigkeit.

Der Ernstnehmer ist von der Wirklichkeit der Begebnisse und derG�ttlichkeit der Rechte durchdrungen. Schuldscheine, Vertr�ge,Korrespondenzen, Statuten, alles, was Geltung hat auf der Ebenedes irdischen Gerichts, sind sein Element. Er ist der Mann der Ge-setze, der Tatsachen und Beweise. Konstruktionen zur Herstellungdes ideellen Anspruchs ringt er mit seinen Belegen nieder.

Willst Du einen Prozess gewinnen, so suche dir einen ledernen,trockenen, spindeld�rren, von Neid zerfressenen Advokaten. Bevor-zuge bei Deiner Auswahl den Magenleidenden. Auch die mit derLeber nicht ganz in Ordnung sind, kommen in Betracht. SolcheLeute durchschn�ffeln mit Wollust Gesetzessammlungen und Ak-ten. Verlieren sie trotz alledem den Prozeß, so k�nnen sie N�chtelang vor Schmerz �ber einen begangenen Kunstfehler nicht schla-fen.«36

Von der Istbeschaffenheit der Pflichtverteidigerbeiordnung –Aus einer aktenanalytischen Studie zur Praxis der Beiordnungvon PflichtverteidigernRechtsanwalt und Fachanwalt f�r Strafrecht Dr. Sven Schoeller, Kassel1

A. EinleitungIm Anwendungsbereich der notwendigen Verteidigung bie-tet das Strafprozessrecht zwei verschiedene Grundtypen vonVerteidigern an: Den Wahlverteidiger und den Pflichtvertei-diger. Nach der hinl�nglich bekannten Feststellung, dassStrafverteidigung Kampf2 sei, ist es schon in der Anlage un-vermeidlich, dass die Bereitstellung zweier unterschiedlicherGrundtypen von K�mpfern Fragen aufwirft.

I. Pflichtverteidigung: Das defizit�re Verteidi-gungsmodellBereits im Hinblick auf das genus proximum dieser beidenGrundtypen, dem Strafverteidiger als solchem, schwelt einendloser Streit dar�ber, welche Stellung er im Kampf umdie Interessen des Beschuldigten einzunehmen hat.3 ImKern geht es bei dem Widerstreit der die Rechtsstellungdes Strafverteidigers betreffenden sog. Organtheorien zurVertragstheorie um die Frage der Unabh�ngigkeit des Vertei-digers von Weisungen des Beschuldigten. W�hrend die Or-gantheorien die Unabh�ngigkeit des Verteidigers propagie-ren, wird nach der Vertragstheorie ein Weisungsrecht des

Beschuldigten gegen�ber dem Verteidiger zur inhaltlichenBestimmung der Verteidigung konstituiert.4 In der Recht-sprechung5 und im �berwiegenden Schrifttum6 wird dem

35 Vgl. dazu K�nig (Fn. 34), S. 145 f. und S. 161 ff., 163.36 Rode (Fn. 23), S. 424 ff.

1 Die vollst�ndige, am Kriminalwissenschaftlichen Institut der Leibniz Univer-sit�t Hannover entstandene Studie ist als Monographie »Die Praxis der Beiord-nung von Pflichtverteidigern« bei Nomos (Schriftenreihe des Deutsche Straf-verteidiger e.V., Bd. 44) ver�ffentlicht.

2 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl. 2005, Rn. 1.3 Vgl. nur Dahs (Fn. 2), Rn. 11 (»Gegenstand einer wohl nie endenden Diskus-

sion«); LR-StPO/L�derssen/Jahn, 26. Aufl. 2007, Vor § 137 Rn. 1 f. (»nichtendende Diskussion �ber die ›Stellung des Strafverteidigers‹«); MAH Strafver-teidigung/Salditt, 2. Aufl. 2014, § 1 Rn. 1 (»Gegenstand einer großen Kontro-verse«); Bernsmann StraFo 1999, 226 (227) (»Gegenstand einer �ußerst um-fangreichen und in den jeweils vertretenen Positionen alles andere als �ber-sichtlichen Diskussion«).

4 Vgl. LR/L�derssen/Jahn (Fn. 3), Vor § 137 Rn. 90.5 EGMR JR 2004, 339 m. Anm. Gaede; BVerfGE 34, 293 (300); 39, 156 (165);

39, 238 (245); 53, 207 (214); 63, 266 (284); 110, 226 (258); RG JW 1926,2756 f. m. Anm. Alsberg; BGHSt 9, 20 (22); 12, 367 (369); 15, 326; 26, 221(224); 38, 271 (274) = StV 1993, 453; 38, 345 (351) = StV 1993, 470; 46, 53(60) = StV 2000, 427.

6 Dahs (Fn. 2), Rn. 11; KK-StPO/Laufh�tte/Willnow, 7. Aufl. 2013, Vor § 137Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015, Vor § 137 Rn. 1;SK-StPO/Rogall, 4. Aufl. 2011, Vor § 133 Rn. 95; Pfeiffer, StPO, 5. Aufl.2005, Vor § 137 Rn. 1; Eck. M�ller FS Dahs, 2005, S. 3 (4 ff.); Berg DRiZ

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Schoeller · Pflichtverteidigung Aufs�tze

organtheoretischen Verteidigungskonzept der Vorzug gege-ben. Aus dem Blickwinkel der Prozesssubjektstellung des Be-schuldigten, die ihm im Rahmen fairen Verfahrens die M�g-lichkeit zur selbstbestimmten praktischen und effektivenEinflussnahme auf das gegen ihn gef�hrte Strafverfahren ge-w�hrleisten soll, ist mit dieser Festlegung auf den Verteidiger,der den Weisungen des Beschuldigten nicht unterliegt, fol-gende Feststellung verbunden: Der Beschuldigte hat mangelsWeisungsrechts kein Instrument, mit dem er unmittelbar dieInhalte und das Verfahren seiner durch den professionellenVerteidiger gef�hrten Verteidigung bestimmen und n�tigen-falls durchsetzen kann. In dem Fall, in dem ein Dissens zwi-schen dem Beschuldigten und dem Verteidiger dar�ber ent-steht, mit welchen Inhalten und auf welche Weise die Ver-teidigung zu f�hren ist, ist es der Verteidiger, der dieVerteidigung definiert und nicht der Beschuldigte. Dem Be-schuldigten bleibt nur die Rechtsmacht, seine abweichendeVorstellung �ber die Verteidigung neben seinem notwendi-gen professionellen Verteidiger eigenst�ndig vorzutragen.Diese Rechtsmacht darf als weitgehend unwirksam angese-hen werden. Liegt doch gerade in der Erkenntnis, dass derBeschuldigte zur eigenst�ndigen Ausf�hrung seiner Verteidi-gungsrechte mangels Kenntnis und Erfahrung nicht geeigneterscheint, die maßgebliche Legitimation f�r das Rechtsinsti-tut der notwendigen Verteidigung.7

Indessen hat der einen Wahlverteidiger in Anspruch nehmende Be-schuldigte zweifelsohne wirksame Instrumente, wie er gleichwohlmittelbar Einfluss auf Inhalt und Konzept der durch seinen profes-sionellen Verteidiger vorzutragenden Verteidigung nehmen kann:Der Beschuldigte w�hlt den Verteidiger aus.8 Dem Beschuldigtenkann nicht aus »wichtigem Grund« geboten werden, einen anderenVerteidiger zu nehmen. Entwickeln der Beschuldigte und seinWahlverteidiger kein einvernehmliches Verteidigungskonzept,kann der Beschuldigte ihn entlassen oder der Verteidiger kann k�n-digen. Der Beschuldigte kann sich jederzeit einen Neuen w�hlen.9

Der festgestellte Befund zeigt eines: Das organtheoretische Konzeptf�hrt aus dem Blickwinkel des Rechts des Beschuldigten, �ber seineeigene Verteidigung zu bestimmen, zu einer starken Verschmelzungzwischen den Inhalten der Verteidigung und der Person des Vertei-digers. Nur aufgrund der Dispositionsmacht des Beschuldigten�ber die Person des Verteidigers bleibt der Beschuldigte auchHerr seiner eigenen (professionalisierten) Verteidigung. So jeden-falls ist es bei der Wahlverteidigung.

Und bei der Pflichtverteidigung? Bereits die Auswahl desPflichtverteidigers liegt nicht in den H�nden des Beschuldig-ten. Sie wird vielmehr vom Richter getroffen.10 Freilichschreibt § 142 Abs. 1 S. 1 StPO vor, dass der Richter denBeschuldigten dar�ber anzuh�ren habe, welchen Pflichtver-teidiger er denn bevorzuge. Einen unbedingten Anspruchauf die Bestellung des Pflichtverteidigers seiner Wahl hatder Beschuldigte aber gerade nicht. Dies entspricht st�ndigerRechtsprechung11 und findet seinen normativen Nieder-schlag in § 142 Abs. 1 S. 2 StPO, der eine abweichende Be-stellung von der Wahl des Beschuldigten aus wichtigemGrund erlaubt. Auch die Beendigung eines Pflichtverteidi-gungsmandats ist dem Beschuldigten aus eigener Rechts-macht heraus nicht m�glich. Stellt sich ein Dissens zwischendem Beschuldigten und dem ihm einmal beigeordnetenPflichtverteidiger hinsichtlich inhaltlicher Fragen der Vertei-digungsf�hrung ein, kann nur der zust�ndige Richter demdefekten Mandatsverh�ltnis ein Ende bereiten. Einen grund-s�tzlichen Anspruch auf Aufhebung der Pflichtverteidigerbe-

stellung oder Pflichtverteidigerwechsel hat der Beschuldigtenicht. F�r den pflichtverteidigten Beschuldigten ist damit zuerkennen, dass er im Unterschied zum wahlverteidigten Be-schuldigten kein durchsetzungsf�higes Instrument hat, auchnur mittelbar �ber freie Auswahl und Abwahl des Verteidi-gers auf die inhaltliche Konzeptionierung der VerteidigungEinfluss zu nehmen. Die organtheoretische Unabh�ngigkeitseines Verteidigers f�hrt den pflichtverteidigten Beschuldig-ten damit in eine Abh�ngigkeit zum bestellenden Richter.Unter diesem Blickwinkel gewinnt der Richter im Bereichder Pflichtverteidigung die Kontrolle �ber die inhaltlicheAusgestaltung der Verteidigung.

Diese Fremdbestimmbarkeit der Verteidigungsinhalte durchdie letztg�ltige Entscheidung �ber die personelle Besetzungder Verteidigerbank macht die Pflichtverteidigung unterdem Gesichtspunkt der Autonomie des Beschuldigten,�ber die Verteidigung in dem gegen ihn gef�hrten Strafver-fahren selbst bestimmen zu k�nnen, zu einem gegen�ber derWahlverteidigung strukturell defizit�ren Verteidigungsmo-dell. Dass es dabei ausgerechnet der gegebenenfalls auch inder Entscheidung �ber Schuld- und Rechtsfolgenfragen zu-st�ndige Richter ist, der diese Fremdkontrolle �ber die Ver-teidigung aus�bt, macht die Sache besonders prek�r. Denngegen die Prozesshandlungen dieses Richters hat sich dieVerteidigung gegebenenfalls mit scharfen Waffen des Pro-zessrechts zu wenden. In diesem strukturellen Befund liegtein Grund�bel der Pflichtverteidigung, das sich als steterQuell f�r die bedenklichsten Wahrnehmungen �ber diepraktische T�tigkeit von Richtern erweist, die mit der Aus-wahl und Bestellung von Pflichtverteidigern befasst sind,und �ber die praktische T�tigkeit von Verteidigern, auf diedie richterliche Wahl gefallen ist. Fachbeitr�ge zu diesbez�g-lichen Fragen gehen nicht selten mit schweren Vorw�rfeneinher. Beliebtes Angriffsziel sind etwa die Kriterien, dieRichter angeblich bei der Auswahl von Pflichtverteidigernanlegen. Seit vielen Jahrzehnten steht die Beobachtung ausTeilen der Verteidigerschaft im Raum, der Auswahl von

1994, 380 (382); Dahs AnwBl. 1959, 171 (178); Dornach NStZ 1995, 57 (60);Hammerstein NStZ 1997, 12 (13); Kintzi DRiZ 1994, 325 (327); LiemersdorfMDR 1989, 204; Maatz NStZ 1992, 513 f.; Malmendier NJW 1997, 227(232); Sp�th DRiZ 1995, 220 (224); v. Stetten StV 1995, 606 (609); VehlingStV 1992, 86 (87); W�nsch StV 1997, 45 (48).

7 Vgl. Rieß StV 1981, 460 (462); Wohlers StV 2010, 151.8 Nach st. Rspr. des BVerfG ist das Recht des Beschuldigten, sich durch einen

Strafverteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, verfassungsrechtlich ver-b�rgt: BVerfGE 26, 66 (71); 34, 293 (302); 38, 105 (111); 39, 156 (163);66, 313 (318 f.) = StV 1984, 344; 110, 226 (253 f.) = StV 2004, 254; zudemwird es einfachgesetzlich durch §§ 137 Abs. 1, 138 Abs. 1 StPO garantiert;schließlich schl�gt es sich in Art 6 Abs. 3 lit. c EMRK nieder: Spaniol, DasRecht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europ�ischen Men-schenrechtskonvention, 1990, S. 131 f.; Frowein/Peukert, EMRK, 3. Aufl.2009, Art. 6 Rn. 300; LR-StPO/Gollwitzer, 26. Aufl. 2014, Art. 6 Rn. 196;SK-StPO/Paeffgen, 4. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 152; Sommer, in: Br�ssow u.a.(Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, 3. Aufl. 2004, § 17 Rn. 66.

9 Wegen der Vertrauensstellung, die der Verteidiger einnimmt, ist der Mandantdes Wahlverteidigers gem. § 627 Abs. 1 BGB jederzeit berechtigt, das Man-datsverh�ltnis ohne besonderen Grund mit sofortiger Wirkung zu k�ndigen:BGH AnwBl. 2010, 362 (367); NJW 2002, 2774 (2775). Der Wahlverteidigerist nach dieser Vorschrift ebenfalls grunds�tzlich jederzeit zur Mandatsnieder-legung mit sofortiger Wirkung und ohne besonderen Grund berechtigt; ledig-lich zur »Unzeit« ist ihm gem. § 627 Abs. 2 BGB die grundlose Mandatsnie-derlegung verwehrt: BGH AnwBl. 1978, 227 (228); AnwBl. 2010, 362 (365);Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 6), Vor § 137 Rn. 6.

10 §§ 142 Abs. 1 S. 2, 141 Abs. 4 StPO.11 BVerfGE 9, 36 (38); 39, 238 (243); OLG Dresden NStZ-RR 2012, 213; OLG

Jena NJW-Spezial 2010, 26; LG Landau (Pfalz) StV 2015, 23 f.; LG Neurup-pin, Beschl. v. 14.10.2002 – 11 Qs 167/02 –, juris.

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Aufs�tze Schoeller · Pflichtverteidigung

Pflichtverteidigern l�gen h�ufig sachfremde Kriterien zuGrunde.12 Im Vordergrund steht dabei die These, Richterw�rden in erster Linie Verteidiger ausw�hlen, die im Verfah-ren inaktiv sind und dem Richter einen Prozess mit wenigArbeitseinsatz und idealerweise rechtskr�ftigem Urteil er-m�glichen.13 Pflichtverteidiger, die ihre Verteidigung anden genannten Erwartungshorizont des Richters anpassenund sich geradezu f�r solche Verteidigungen andienen, wer-den von Kollegen unter anderem als »verurteilungsbegleiten-de Rechtsanw�lte«14 und »Verteidiger mit eingebautemRechtsmittelverzicht«15 und »große Gefahr f�r die Rechts-pflege«16 gescholten. Die Gesamtbetrachtung der geschilder-ten Wahrnehmungen �ber sachwidrig ausw�hlende Richtereinerseits und sich hieran und gegen die Beschuldigteninter-essen andererseits orientierender Verteidiger zeichnet nichtsanderes, als das Bild einer korrupten »Unrechtsvereinba-rung« zwischen Verteidigern, die im Interesse auf weiterek�nftige Bestellungen mit einhergehenden Verg�tungsan-spr�chen gegen die Staatskasse Richtern den immateriellenVorteil eines bequemen und wenig arbeitsintensiven Verfah-rens zuschanzen.17

II. Das empirische Forschungsinteresse zur Pflicht-verteidigungDen teilweise recht schmissig vorgetragenen Wahrnehmun-gen �ber das Beiordnungsverhalten von Richtern hat bislangeines jedoch gefehlt: Eine solide kriminologische Datenbasisf�r die im Zusammenhang der Praxis der Beiordnung vonPflichtverteidigern aufgestellten Thesen.

Mit diesem Argument haben sich Vertreter aus der Richterschaftgegen die wiederkehrend erhobenen Vorw�rfe betreffend das rich-terliche Beiordnungsverhalten k�hl zur Wehr gesetzt.18 Hierin lagein Auftrag f�r die kriminologische Rechtstatsachenforschung, daszu Recht bem�ngelte Defizit einer Datenbasis zu beheben oder je-denfalls zu verringern. Mit Blick auf die Feststellung der Pflichtver-teidigung als einem unter dem Aspekt des Beschuldigteninteressesan autonomer Selbstbestimmung der Verteidigung, der Wahlvertei-digung unterlegenes Verteidigungsmodell, ist beispielsweise ganzgrunds�tzlich die Frage nach der Quantifizierung der Pflichtvertei-digung von Interesse. Wieviel Pflichtverteidigung findet im Anwen-dungsbereich der Vorschriften notwendiger Verteidigung statt undwieviel Wahlverteidigung? Welche rechtstats�chliche Dimensionkommt dem beschriebenen Autonomiedefizit des pflichtverteidig-ten Beschuldigten zu? Das heißt: in wie vielen Pflichtverteidigungs-mandaten erfolgt die Pflichtverteidigerauswahl origin�r durch denRichter, ohne dass der Wunsch des Beschuldigten zur Bestellungeines bestimmten Verteidigers ber�cksichtigt wird? Wie groß istdie Anzahl der F�lle, in denen Richter eine eigene Auswahl desPflichtverteidigers treffen, weil Beschuldigte keinen Verteidiger be-nennen? Wie h�ufig wird der Beschuldigte hinsichtlich seinesRechts einen Pflichtverteidiger seiner Wahl zu bezeichnen nicht an-geh�rt? Wenn der Richter anh�rt: Gibt er dem Beschuldigten hin-reichend Zeit, einen geeigneten Pflichtverteidiger zu finden? Wieh�ufig kommt der Richter einem Antrag des Beschuldigten auf Auf-hebung der Pflichtverteidigerbestellung nach? Nach welchen Krite-rien w�hlen Richter Pflichtverteidiger aus und nach welchen tun esBeschuldigte? Wie ist z.B. die Quote von Fachanw�lten f�r Straf-recht bei richterlicher Auswahl einerseits und Auswahl des Beschul-digten andererseits? Werden bestimmte Pflichtverteidiger von den-selben Richtern gerne immer wieder genommen? Und sind das ge-rade diejenigen, die den Kampf vorschnell verloren geben, weil siekein Rechtsmittel einlegen oder gar darauf verzichten?

Seit Jahrzehnten werden solche und andere Fragen wieder-kehrend in rechtswissenschaftlichen Beitr�gen diskutiert.19

Die in der �berschrift dieses Beitrags verwendete Bezeich-nung von der Istbeschaffenheit spricht das Interesse an derBeleuchtung des tats�chlichen Zustands der Beiordnung vonPflichtverteidigern an. Insbesondere die mit Bezug zur Praxisder Pflichtverteidigerbeiordnung bestehenden Fragen sindes, die nach m�glichst objektiver Beantwortung suchen.Das empirische Forschungsinteresse zur Pflichtverteidigungist daher offenkundig.

III. Stand der empirischen Forschung zur Pflichtver-teidigungTeilweise hat der Forschungsdrang bereits Befriedigung er-fahren. Zuletzt war es die Studie Jahns zur Rechtswirklich-keit der Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4StPO, die mit eindrucksvollen Ergebnissen bereits einigesLicht ins Dunkel der Verteidigerbestellungen in U-Haft-Sa-chen nach der Einf�hrung des Beiordnungstatbestands beiHaftvollstreckung gebracht hat.20 Auch andere Studien ha-ben sich, jedenfalls teilweise, mit Fragen der Pflichtverteidi-gerbestellung befasst.21

IV. Notwendigkeit der aktenanalytischen Erhebungs-methodeDer gr�ßte Teil der Datenerhebungen der vorgenannten Studi-en beruht methodisch auf Befragungen von Verfahrensbeteilig-ten. Das hat unbestreitbare Vorteile, weil das Tableau der Tat-sachen, die abgefragt werden k�nnen, nahezu unbegrenzt ist.

Fragen kann man letztlich alles. Auf Befragung beruhende empiri-sche Studien weisen aber auch einen zentralen Mangel auf, der dar-in liegt, dass die Antworten der Befragten stets nur ihre subjektivgepr�gten Wahrnehmungen zum Ausdruck bringen. Wenn manz.B. in der Berufsgruppe der Strafverteidiger fragt, ob Beschuldigtehinsichtlich ihres Rechtes zur Bezeichnung eines gew�nschtenPflichtverteidigers angeh�rt werden und nur etwa 50 % die Wahr-nehmung �ußern, dies geschehe stets oder wenigstens regelm�ßig,w�hrend bei den befragten Strafrichtern �ber 90 % meinen, dies seistets oder regelm�ßig der Fall,22 was ist dann f�r die Forschunggewonnen? Bestenfalls, dass Strafverteidiger und Richter unter-schiedliche Wahrnehmungen zu denselben Sachverhalten machen.F�r den Praktiker ein nicht ganz unbekannter Befund. Nur dort,wo die Experimental- und Kontrollgruppen unterschiedlicher Pro-fessionen mindestens in der Tendenz zu denselben Befragungser-

12 Sarstedt JR 1957, 470 (471); Schlothauer StV 1981, 443 (444); vgl. LeitmeierStV 2016, 515 f.; s. auch die Wahrnehmungen der Teilnehmer an der Studievon Jahn, Zur Rechtswirklichkeit der Pflichtverteidigerbestellung. Eine Unter-suchung zur Praxis der Beiordnung durch den Strafrichter nach § 140 Abs. 1Nr. 4 StPO in der Bundesrepublik Deutschland, 2014, S. 120.

13 In diese Richtung gehend Ahmed StV 2015, 65 (68); Herrmann StraFo 2011,133 (138); M�nchhalffen StraFo 1997, 230 (231); Schlothauer StV 1981, 443(444); Thielmann NJW 2011, 1927; Wohlers StV 2010, 151 (153).

14 Heydenreich StraFo 2011, 263 (269).15 Sarstedt, zit. n. Ingo M�ller StV 1981, 570.16 Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Strafprozeßrechts,

3. Aufl. 1979, S. 133.17 Vgl. auch die wiedergegebenen Wahrnehmungen von Studienteilnehmern der

Studie Jahns (Fn. 12), S. 120 f.18 Wenske NStZ 2010, 479 (484).19 Um nur eine Auswahl in chronologischer Abfolge zu nennen: Sarstedt JR 1957,

470 ff.; Schlothauer StV 1981, 443 ff.; Ingo M�ller StV 1981, 570 ff.; M�nch-halffen StraFo 1997, 230 ff.; Thielmann StraFo 2006, 358 ff.; Wenske NStZ2010, 479 ff.; Wohlers StV 2010, 151 ff.; Herrmann StraFo 2011, 133 ff.; Hey-denreich StraFo 2011, 263 ff.; Ahmed StV 2015, 65 ff.

20 Jahn (Fn. 12).21 Ahrens, Auswahl und Bestellung des Pflichtverteidigers. Rechtspolitische �ber-

legungen aufgrund einer empirischen Untersuchung, 1983; Barton StV 1984,394 ff.; Heydenreich StV 2011, 700 ff.; Vogtherr, Rechtswirklichkeit und Effi-zienz der Strafverteidigung, 1991.

22 So das Studienergebnis zu dieser Frage bei Jahn (Fn. 12), S. 49 f.

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Schoeller · Pflichtverteidigung Aufs�tze

gebnissen kommen, zeigt sich der (objektive) Wert befragungsba-sierter Forschungsstudien. Dort wo disparate Ergebnisbilder resul-tieren, bleiben die gestellten Fragen offen. Gerade das Feld derPflichtverteidigung und die damit zusammenh�ngenden rechts-praktischen Wahrnehmungen Verfahrensbeteiligter sind doch inbesonderem Maße durch die jeweilige berufsspezifische Sichtweisebeeinflusst.

Damit sei nur beispielhaft das Interesse an umfassender em-pirischer Forschung zu Fragen der Pflichtverteidigung aufeiner von subjektiven Wahrnehmungsstandpunkten unab-h�ngigen Erhebungsmethode angesprochen. Hierf�r scheintdie aktenanalytische Erhebung das Mittel der Wahl zu sein.

V. Die Studie zur »Praxis der Beiordnung von Pflicht-verteidigern«Einen Beitrag zur Aufkl�rung der Problemfelder der Pflicht-verteidigung auf breiter aktenanalytischer Basis soll die 2015abgeschlossene Studie »Die Praxis der Beiordnung vonPflichtverteidigern«23 leisten. Ein kleiner Teil der mit derStudie erzielten Ergebnisse wird hier vorgestellt.

B. Die Durchf�hrung der StudieF�r die Untersuchung waren ausschließlich Akten solcherVerfahren von Interesse, bei denen die Voraussetzungen f�rdie Bestellung eines Pflichtverteidigers vorgelegen haben.Damit ist, um dies klarzustellen, keine Begrenzung auf le-diglich die Akten jener Verfahren gemeint, in denen es tat-s�chlich zur Bestellung von Pflichtverteidigern gekommenist, sondern vielmehr auf solche, in denen es aufgrund dererf�llten Voraussetzungen f�r eine notwendige Verteidigungprinzipiell zur Bestellung eines Pflichtverteidigers h�tte kom-men k�nnen. Diese Differenzierung ist insbesondere im Hin-blick auf die Auswertung des statistischen Verh�ltnisses zwi-schen Pflichtverteidigungen und Wahlverteidigungen in denF�llen notwendiger Verteidigung erforderlich gewesen.Denn hier�ber lassen sich Daten naturgem�ß nicht gewin-nen, wenn das zu untersuchende Aktenmaterial von vorne-herein auf F�lle erfolgter Bestellung von Pflichtverteidigernbegrenzt worden w�re.

Um den inhaltlichen Anforderungen gerecht zu werden,ohne vor einer Aktenanforderung vom Inhalt der AktenKenntnis nehmen zu k�nnen, bot es sich an, eine Begren-zung der zu untersuchenden Verfahren auf solche Strafver-fahren zu bestimmen, die zu Anklageerhebungen bei Land-gerichten und bei Sch�ffengerichtsabteilungen der Amtsge-richte gef�hrt hatten. Dabei waren folgende �berlegungenmaßgeblich: F�r Strafverfahren, die im ersten Rechtszug vordem Landgericht stattfinden, ergibt sich aufgrund des Tat-bestandes des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO ohne Weiteres, dasses sich um Verfahren handelt, bei denen die Mitwirkungeines Verteidigers notwendig ist. F�r Strafverfahren, die erst-instanzlich vor einem Sch�ffengericht stattfinden, gibt eszwar keine direkte Bestimmung, die – vergleichbar § 140Abs. 1 Nr. 1 StPO – die Notwendigkeit der Verteidigermit-wirkung in dem Verfahren anordnet. Allerdings ergibt sichaufgrund einer Kongruenz von Voraussetzungen derjenigenTatbest�nde, die die Zust�ndigkeit des Sch�ffengerichts re-geln, zu Voraussetzungen, die f�r die Notwendigkeit vonVerteidigung gelten, dass – mit Ausnahme von Jugendsch�f-fensachen – Anklagen zum Sch�ffengericht stets einen Fall

notwendiger Verteidigung beinhalten.24 Ausgew�hlt wurdennur rechtskr�ftig abgeschlossene Verfahren.

Um eine regionale Verteilung zu gew�hrleisten, wurden die Land-gerichtsbezirke Deutschlands in drei Regionen »Norden«, »S�den«und »Mitte« unterteilt.25 Im Rahmen der sp�teren Auswertung derErgebnisse wurden die Landgerichtsbezirke auch den Kategorien»Westen« und »Osten« zugeteilt.26 Zur Erreichung einer populati-onsspezifischen Verteilung der Landgerichtsbezirke, wurden die denRegionen »Norden«, »S�den« und »Mitte« zugeordneten Erhe-bungsbezirke in »großst�dtische«,27 »l�ndliche«28 und »mittlere«29

Landgerichtsbezirke unterteilt. Auf der Grundlage dieser Erhe-bungsvorgaben wurden zun�chst im Zufallsverfahren neun Landge-richtsbezirke ermittelt, die den Vorgaben entsprachen. F�r den Fall,dass eine Anforderung von Aktenmaterial aus den betreffenden Be-zirken scheitern w�rde, wurden zudem weitere neun Ersatzbezirkezuf�llig ausgew�hlt. Das langwierige und mit vielen praktischenHindernissen versehene Verfahren zur Erlangung wissenschaftlicherAkteneinsicht zu den geplanten Zwecken f�hrte letztlich zur Ge-w�hrung von Akteneinsicht in Akten aus sieben der gew�hlten Er-hebungsbezirke.30 Zwei der urspr�nglich geplanten neun Erhe-bungsbezirke mussten aufgegeben werden, nachdem in zeitlich fort-geschrittenem Stadium feststand, dass sowohl aus den ausgew�hltenHaupt- als auch aus den entsprechenden Ersatzbezirken keine Ak-teneinsicht zu den gew�nschten Zwecken zu erlangen war.31 F�rdie Zwecke der Studie konnte letztlich auf Aktenmaterial aus fol-genden Erhebungsbezirken zugegriffen werden: Hamburg, Pots-dam, Neuruppin, Bautzen,32 M�nchen I, Heidelberg und Offen-burg. Als Untersuchungsjahrg�nge wurden die Jahrg�nge 2005,

23 S. Fn. 1.24 Vgl. OLG Hamm StV 1999, 641; OLG Naumburg StV 2014, 10; Weider StV

1995, 220.25 Unter die Kategorien Norden, Mitte, S�den wurden die Landgerichtsbezirke je

nach Zugeh�rigkeit zum Bundesland zugeordnet: »Norden«: Berlin, Branden-burg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sach-sen-Anhalt, Schleswig-Holstein; »Mitte«: Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sach-sen, Th�ringen; »S�den«: Baden-W�rttemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz,Saarland.

26 Die Aufteilung »Osten« und »Westen« entspricht der Zuordnung zu »neuen«und »alten« Bundesl�ndern.

27 Als »großst�dtische« Landgerichtsbezirke wurden solche Gerichtsbezirke defi-niert, auf deren Territorium sich eine Stadt befindet, deren Einwohnerzahlgr�ßer als 500.000 ist.

28 Als »l�ndliche« Landgerichtsbezirke wurden solche Gerichtsbezirke definiert,deren einwohnerst�rkste Stadt maximal 100.000 Einwohner aufweist.

29 Als »mittlere« Landgerichtsbezirke wurden solche Gerichtsbezirke definiert,deren einwohnerst�rkste Stadt mehr als 100.000 bis zu 500.000 Einwohnerhat.

30 Die Historie der Akteneinsicht kann in diesem Beitrag nicht in ihren Einzel-heiten dargestellt werden, siehe nur Fn. 29 u. 30.

31 Urspr�nglich waren als »großst�dtischer« und »mittlerer« Erhebungsbezirk derRegion »Mitte« die Landgerichtsbezirke Dortmund und M�nchengladbach imZufallsverfahren bestimmt worden. Als Ersatzbezirke wurden die Landge-richtsbezirke D�sseldorf und M�nster bestimmt. Die Staatsanwaltschaft Dort-mund lehnte trotz Gegenvorstellung die Gew�hrung von Akteneinsicht wegendes damit verbundenen Aufwands ab. Im Landgerichtsbezirk M�nchenglad-bach erfolgte die Ablehnung bereits durch das Gericht im Zusammenhang mitder Anforderung von Verfahrensaktenzeichen (hierzu, s.u. Fn. 33). Die Ableh-nung erfolgte »im Benehmen mit der Pr�sidentin des OLG D�sseldorf« wegendes erheblichen Umfangs der einzuholenden Informationen. Eine Anforde-rung von Akten bei der Staatsanwaltschaft M�nster blieb dauerhaft ohne Be-scheid. Von einer Anfrage bei dem LG D�sseldorf wurde aufgrund der Auskunftdes LG M�nchengladbach abgesehen.

32 Bei dem Landgerichtsbezirk Bautzen handelt es sich um einen Ersatzbezirk.Prim�r ermittelter Erhebungsbezirk war der Landgerichtsbezirk M�hlhausenin Th�ringen. Das LG M�hlhausen lehnte die �bermittlung von Aktenzeichen(hierzu s. Fn. 33) nach R�cksprache mit dem Th�ringer Justizministerium ab.Als Grund wurde neben datenschutzrechtlichen Bedenken die �berm�ßige Be-lastung der Justizverwaltung mit entsprechenden wissenschaftlichen Aktenein-sichtsgesuchen angef�hrt. Der in den Untersuchungszeitr�umen gem. § 1S�chsJG v. 24.11.2000 (S�chsGVBl. 2001, 704) i.d.F. vom 01.09.2012 beste-hende Landgerichtsbezirk Bautzen wurde mit �nderung (d.d.S�chsStOG vom25.01.2012) des S�chsJG i.d.F. v. 01.01.2013 zum 01.01.2013 aufgel�st unddem Landgerichtsbezirk G�rlitz zugeschlagen.

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Aufs�tze Schoeller · Pflichtverteidigung

2009, 2010 bestimmt.33 Als Stichtag f�r die Zuordnung eines Ver-fahrens zu einem Untersuchungsjahrgang wurde der Eingang desbetreffenden Verfahrens bei dem Landgericht oder dem Sch�ffen-gericht (Datum der Anklageerhebung34) definiert.

Die Anforderung der f�r die Untersuchung auszuwertendenVerfahrensakten erfolgte in einem zweiaktigen Verfahren.Zun�chst war zur Erm�glichung der Auswahl gem�ß derKriterien zur Stichprobenbestimmung die Anforderungvon Listen mit s�mtlichen Verfahrensaktenzeichen erforder-lich, die die in den Untersuchungszeitr�umen bei den aus-gew�hlten Land- und Amtsgerichten anh�ngigen Verfahrenbezeichneten. Aus diesen Listen war sodann die konkreteAuswahl der f�r die Untersuchung anzufordernden Verfah-ren vorzunehmen. F�r die Anforderung der Verfahrensak-tenzeichen kamen aufgrund der Z�hlkartenerfassung in ers-ter Linie die betroffenen Gerichte selbst und in zweiter Liniedie statistischen Landes�mter in Frage.35 Aus diesen Verfah-renslisten wurde die jeweilige konkrete Stichprobe gebildet.Anschließend erfolgte die Anforderung der Verfahrensaktenbei der jeweiligen aktenf�hrenden Staatsanwaltschaft imWege eines Akteneinsichtsgesuchs f�r wissenschaftlicheZwecke gem. § 476 StPO.

Die inhaltliche Bestimmung der konkreten Stichprobe innerhalb dereinzelnen Landgerichtsbezirke und Untersuchungsjahrg�nge orien-tierte sich an dem Ziel der Repr�sentativit�t. Sie war in ihrer Gr�ßebegrenzt durch das Erfordernis der Machbarkeit der Auswertung. Zielwar die Erhebung von Daten aus 20 Verfahren pro Jahrgang, die beidem jeweiligen Landgericht des Bezirks anh�ngig gemacht wurdenund weiteren 10 Verfahren, die bei einem bestimmten der zum Erhe-bungsbezirk geh�renden Sch�ffengerichte anh�ngig gemacht wurden,sowie jeweils 5 Verfahren, die bei den �brigen Sch�ffengerichten desErhebungsbezirks anh�ngig gemacht wurden. Wegen der geplantenl�ngerfristigen Beobachtung des Beiordnungsverhaltens einzelnerRichter wurde festgelegt, dass 15 der 20 Verfahren des Landgerichtsbei einer bestimmten Strafkammer des Landgerichts anh�ngig ge-macht wurden. Aus demselben Grund wurde festgelegt, dass die 10o.g. amtsgerichtlichen Verfahren von einer einzigen bestimmtenSch�ffengerichtsabteilung des Amtsgerichts herr�hrten. Von dieserspeziell pro Erhebungsbezirk ausgew�hlten Strafkammer und Sch�f-fengerichtsabteilung wurden die Verfahren aus allen drei Untersu-chungsjahrg�ngen gewonnen. Damit konnte – unter der Vorausset-zung, dass ein Personalwechsel nicht stattfand – eine jahrgangs�ber-greifende Beobachtung des Beiordnungsverhaltens des jeweiligenVorsitzenden der Strafkammer bzw. Sch�ffengerichtsabteilung er-reicht werden. Die weiteren 5 Verfahren pro Strafkammer und proweiterem Amtsgericht des Landgerichtsbezirks sollte im Zufallsverfah-ren aus anderen Strafkammern und Sch�ffengerichtsabteilungen ge-wonnen werden.36 Die Anzahl der f�r die Untersuchung seitens derStaatsanwaltschaften tats�chlich bereitgestellten Akten hat im We-sentlichen den Zielvorstellungen entsprochen.37 Die f�r die Untersu-chung notwendigen Daten wurden jeweils aus den in den Akten do-kumentierten einzelnen Mandatsverh�ltnissen gewonnen. Da eineVerfahrensakte mitunter ein Verfahren gegen mehrere Beschuldigtedokumentieren kann und der jeweilige Beschuldigte sukzessiv oderauch zeitgleich mehrere Verteidiger haben kann, erh�ht sich dieGrundmenge der Mandatsverh�ltnisse, aus denen Daten gewonnenwurden, entsprechend.

Die untersuchten Verfahrensakten beinhalteten die genannteAnzahl von 678 Verfahren. Diese wurden gegen insgesamt886 Beschuldigte gef�hrt. Die Akten dokumentierten insge-samt 1.321 einzelne Mandatsverh�ltnisse, aus denen die un-tersuchungsrelevanten Daten gewonnen wurden. In dem un-tersuchten Aktenbestand traten insgesamt 878 personenver-

schiedene Verteidiger auf. Pflichtverteidigerbestellungenerfolgten durch 257 personenverschiedene Richter.

C. Eine Auswahl der UntersuchungsergebnisseIm Folgenden wird eine Auswahl von Untersuchungsergeb-nissen gezeigt. Die Ergebnisse befassen sich mit dem Verh�lt-nis von Wahlverteidigung und Pflichtverteidigung, mit demBinnenverh�ltnis sog. »Wahlpflichtverteidiger« zu Pflichtver-teidigern, die origin�r vom Richter ausgew�hlt wurden, mitVerfahren und Kriterien der Auswahl von Pflichtverteidigernund schließlich mit Zusammenh�ngen zwischen verschiede-nen Verteidigertypen und dem Ablauf des Strafverfahrens.

I. Verh�ltnis von Wahlverteidigung zu Pflichtverteidi-gungVon den insgesamt 1.321 untersuchten Mandatsverh�ltnis-sen handelte es sich bei 880 um Pflichtverteidigungen und441 um Wahlverteidigungen.38 Prozentual39 ausgedr�cktwaren 67 % aller Verteidigungsmandate Pflichtverteidigun-gen und 33 % Wahlverteidigungen. Die Werte zeigen – be-zogen auf den Anwendungsbereich notwendiger Verteidi-gung – ein deutliches �berwiegen des Verteidigungsmodellsder Pflichtverteidigung gegen�ber der Wahlverteidigung inder Rechtswirklichkeit.

Bei der Beurteilung der Aussagekraft des ermittelten und oben darge-stellten statistischen Verh�ltnisses zwischen Wahl- und Pflichtvertei-digungen wird man zu ber�cksichtigen haben, dass jedes Mandats-verh�ltnis, das zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf des Verfahrensbestanden hat, in die Z�hlung eingegangen ist. Jede Anzeige eines

33 Die Jahrg�nge 2010 und 2009 wurden gew�hlt, um gezielt die rechtstats�ch-lichen Auswirkungen des zum 01.01.2010 in Kraft getretenen Rechts�nderun-gen des UHaft�ndG anhand der benachbarten Jahrg�nge vor und nach derRechts�nderung untersuchen zu k�nnen. 2005 wurde ausgew�hlt, weil zu Stu-dienbeginn damit gerechnet werden konnte, dass die in diesem Jahr anh�ngiggemachten Verfahren gr�ßtenteils rechtskr�ftig sein w�rden und die Aktensomit bereits f�r Untersuchungszwecke zur Verf�gung st�nden.

34 Oder Eingang einer Antragsschrift gem. § 413 StPO.35 Die Tatsache und das Datum des Eingangs einer Anklageschrift ist eine auf-

grund der bundeseinheitlich gefassten »Anordnungen der Landesjustizverwal-tungen �ber die Erhebung von statistischen Daten in Straf- und Bußgeldver-fahren« zu erhebende und in einer sogenannten Z�hlkarte zu dokumentierendeVerfahrenstatsache. U.a. wird auf diesen Z�hlkarten auch das Js-Aktenzeichendes Verfahrens erfasst. § 2 der vorgenannten Anordnungen sieht vor, dass denGerichten bestimmte Schl�sselkennzahlen zuzuordnen sind, aus denen sich un-ter anderem auch die Art des Spruchk�rpers ermitteln l�sst. Gem. §§ 9 ff. derAnordnungen werden die Daten von den Gerichten entweder auf manuell odermittels elektronischer Datenverarbeitung anzulegender Z�hlkarten bei den Ge-richten vorgehalten und in periodischen Abst�nden dem f�r den Gerichtstand-ort zust�ndigen Statistischen Landesamt zur weiteren Datenverarbeitung �ber-mittelt: Justizverwaltungen der L�nder, »Anordnung �ber die Erhebung vonstatistischen Daten in Straf- und Bußgeldverfahren (StP/Owi-Statistik)«, amtl.Sonderdruck 01.01.2009.

36 Da somit der �berwiegende Teil des f�r die Erhebung anzufordernden Akten-materials jeweils aus Verfahren einer bestimmten Strafkammer stammte, wurdedarauf Bedacht genommen, dass es sich nicht um eine Strafkammer mit Son-derzust�ndigkeiten gem. §§ 74 Abs. 2, 74a Abs. 1, 74b, 74c Abs. 1 GVG han-delt, da aufgrund der rechtspraktischen Spezifika z.B. einer Wirtschaftsstraf-kammer mit einer Verzerrung der Ergebnisse zu rechnen gewesen w�re. Die�brigen f�nf im Zufallsverfahren ausgew�hlten Strafkammern des jeweiligenLandgerichtsbezirks unterlagen dieser Beschr�nkung nicht. F�r die Amtsgerich-te wurde generell darauf geachtet, dass die Erhebung nicht aus Verfahren einerJugendsch�ffengerichtsabteilung stattfand, da in diesem Zust�ndigkeitsbe-reich keine Gew�hr f�r einen Fall notwendiger Verteidigung bestanden hat.

37 Zur tats�chlichen Stichprobengr�ße Schoeller (Fn. 1), Kap. 2.5.38 Als Wahlverteidigungsmandat wurde nur ein solches Verteidigungsmandat ge-

wertet, bei dem der Verteidiger zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens zumPflichtverteidiger bestellt wurde.

39 Prozentuale Werte wurden grds. auf nat�rliche Zahlen gerundet; es kann des-halb in der folgenden Ergebnisdarstellung dazu kommen, dass die Additionvon Prozentwerten einer Auswertung nicht bei genau 100 %, sondern leichtdarunter oder dar�ber liegt.

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Schoeller · Pflichtverteidigung Aufs�tze

Verteidigungsmandats gegen�ber Staatsanwaltschaft oder Gerichtund jeder Beschluss zur Bestellung eines Pflichtverteidigers hat somiteinen z�hlbaren Wert ausgel�st. Damit sind auch solche Mandatsver-h�ltnisse in dem Zahlenwerk enthalten, die nur von kurzer Dauerwaren. Hat der Aktenbefund beispielsweise eine Verteidigungsanzeigeausgewiesen, auf die drei Wochen sp�ter bereits die Mandatsnieder-legung erfolgte,40 so wurde dies als ein (Wahlverteidigungs-)mandatgewertet. Dieser Umstand hat dazu veranlasst, das Verh�ltnis vonWahl- zu Pflichtverteidigungen zus�tzlich mit Bezug zu einem ganzbestimmten Verfahrenszeitpunkt zu untersuchen. Als Zeitpunkt vonerheblicher Bedeutung f�r die Interessen des Beschuldigten bot sichhierf�r der Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung an. Bei derpunktuellen Sicht auf die Entscheidung erster Instanz war davon aus-zugehen, dass das ermittelte statistische Verh�ltnis um nur kurzeitigbestehende Mandatsverh�ltnisse, denen gegebenenfalls gar keine in-haltliche Befassung des Verteidigers mit dem Mandat zu Grunde ge-legen hat, weitgehend bereinigt sein w�rde.

Von insgesamt 979 zum Zeitpunkt der Entscheidung ersterInstanz bestehenden »laufenden« Mandatsverh�ltnissen ent-fielen 767 und damit 78 % auf Pflichtmandate, w�hrend essich bei 212 und damit 22 % um Wahlverteidigungen han-delte. Bei den vorangegangenen Auswertungen ist zu ber�ck-sichtigen, dass ein Beschuldigter zu unterschiedlichen Ver-fahrenszeitpunkten oder auch gleichzeitig Mandatsverh�lt-nisse zu verschiedenen Verteidigern unterhalten kann. Umnoch pr�gnantere Zahlen zu der Frage zu erhalten, in wel-cher Anzahl Verfahren gegen einen Beschuldigten g�nzlichohne die Inanspruchnahme eines Pflichtverteidigers vor-kommen, wurden die Beschuldigten gez�hlt, die sich w�h-rend des gesamten Verfahrensverlaufs ausschließlich durch ei-nen (oder mehrere) Wahlverteidiger verteidigen ließen. Demwurden diejenigen Beschuldigten gegen�bergestellt, die aus-schließlich durch Pflichtverteidiger verteidigt wurden. Fer-ner wurde eine Mischgruppe derjenigen Beschuldigten ge-bildet, die in einem Verfahren sowohl Pflichtverteidigungs-als auch Wahlverteidigungsverh�ltnisse unterhielten.

Die Auswertung hierzu ergab folgendes Bild: Von den insge-samt 886 gez�hlten Beschuldigten wurden 601 und damit68 % ausschließlich durch Pflichtverteidiger verteidigt. 117Beschuldigte und damit 13 % ließen sich ausschließlich durchWahlverteidiger verteidigen. Die restlichen 168 Beschuldigtenund somit 19 % wurden durch Pflichtverteidiger verteidigtund unterhielten im Verlauf des Verfahrens auch eine Man-datsbeziehung zu mindestens einem Wahlverteidiger. Die jahr-gangsspezifischen Untersuchungen haben ein tendenziellesAnsteigen der Pflichtverteidigung zur Wahlverteidigung erge-ben.41 Bei den regionalspezifischen Untersuchungen habensich deutlich h�here Wahlverteidigungsquoten in den westli-chen im Gegensatz zu den �stlichen, wie auch bei den s�dli-chen im Gegensatz zu den n�rdlichen Landgerichtsbezirkengezeigt.42 Ein Befund, der auf die unterschiedlichen Lebens-verh�ltnisse in den Landgerichtsbezirken zur�ckgef�hrt wer-den konnte.43 Populationsspezifisch konnte in den großst�d-tischen Landgerichtsbezirken ein deutlich h�herer Anteil vonWahlverteidigungen gegen�ber den mittleren und l�ndlichenLandgerichtsbezirken ausgemacht werden.44

II. Verh�ltnis zwischen Wahlpflichtverteidigern undrichterlich ausgew�hlten PflichtverteidigernDie Untersuchung hat ergeben, dass 75 % aller 880 unter-suchten Pflichtverteidigungsmandatsverh�ltnisse solche wa-ren, in denen der Beschuldigte origin�r die Auswahl des Ver-

teidigers vorgenommen hat; der bestellende Richter dem ge-�ußerten Wunsch des Beschuldigten auf Bestellung des vonihm bezeichneten Verteidigers also entsprochen hat. In 25 %aller Pflichtverteidigungsmandate hat nicht der Beschuldigtedie Person des Verteidigers bestimmt. Mit diesen Ergebnis-sen zeigt sich, dass die »konflikttr�chtige Problematik« des»Verteidigers des Vertrauens des Gerichts oder des Beschul-digten«,45 sich bei einem Viertel der Pflichtverteidigungs-mandate stellt, da – je nach Sichtweise – »nur« oder »immer-hin« in diesem Umfang die Richter origin�r die Person desVerteidigers bestimmt haben. Innerhalb der genanntenGruppe von 25 % richterlicher Verteidigerauswahl war fest-zustellen, dass nur 2,2 % dieser F�lle echte »Zwangsverteidi-gungen« waren, in denen die Auswahl des Verteidigers durchden Richter tats�chlich gegen den ge�ußerten Willen des Be-schuldigten erfolgte. In den �brigen 97,8 % der F�lle hat derBeschuldigte keinen Auswahlwillen erkennen lassen.

III. H�ufigkeit und Erfolgsquote von Widerrufsantr�-gen46

Die Quote der Widerrufsantr�ge im Verh�ltnis zu den Wahl-pflichtverteidigungen ist mit jahrgangs�bergreifend 6,1 %gering. Mit jahrgangs�bergreifend 27,5 % lag die Quoteder F�lle, in denen dem Antrag des Beschuldigten, das be-gr�ndete Pflichtverteidigungsmandat aufzuheben, bei im-merhin �ber einem Viertel. Bei den richterlich ausgew�hltenPflichtverteidigern ist jahrgangs�bergreifend eine Widerrufs-antragsquote von 11,2 % festgestellt worden. Indessenkonnte in der recht kleinen Stichprobe (N=25) von Wider-rufsantr�gen kein einziger Fall festgestellt werden, bei demdem Anliegen des Beschuldigten auf Aufhebung der Pflicht-verteidigung nicht nachgekommen worden ist.

Zun�chst ist in diesen Werten im Vergleich zu den Wertenbei der Wahlpflichtverteidigung eine deutliche Erh�hung anWiderrufsbegehren bei denjenigen Pflichtmandaten zu er-kennen, bei denen der Richter die Person des Verteidigersgew�hlt hat. Das zeigt, dass die Akzeptanz des Verteidigersdurch den Beschuldigten auch �ber den weiteren Lauf desVerteidigungsmandats hinweg deutlich h�her ist, wenn derVerteidiger von dem Beschuldigten selbst gew�hlt wurde.Die Quote der Widerrufsantr�ge indiziert, dass die Beschul-digten nach der Bestellung des richterlich ausgew�hlten Ver-teidigers gewissermaßen versp�tet ihr Recht zur Auswahl desVerteidigers aus�ben. Nach den Ergebnissen im Bereich derWahlpflichtverteidigung sind in deren Bereich die F�lle ab-gelehnter Widerrufsbegehren eher zu finden, als im Bereichder Pflichtverteidigung mit richterlicher Verteidigerauswahl.In dieser Gruppe sind jedenfalls im Rahmen dieser Untersu-

40 Ein Befund, der beispielsweise seine Ursache darin haben kann, dass ein Be-schuldigter einen Wahlverteidiger zun�chst beauftragt, dieser das zur Akte an-zeigt, sodann aber die Zahlung des angeforderten Geb�hrenvorschusses aus-bleibt.

41 Schoeller (Fn. 1), Kap. 3.4.3.1.42 Schoeller (Fn. 1), Kap. 3.4.3.2.43 Schoeller (Fn. 1), Kap. 3.5.44 Schoeller (Fn. 1), Kap. 3.4.3.3.45 Ingo M�ller StV 1981, 570 (571).46 In Anlehnung an den Sprachgebrauch des Verwaltungsrechts, wonach die Auf-

hebung eines rechtm�ßigen Verwaltungsaktes als Widerruf bezeichnet wird,erscheint der Terminus »Widerruf« f�r die Aufhebung einer rechtm�ßigenPflichtverteidigerbestellung gl�cklicher als »R�cknahme«, so auch HilgendorfNStZ 1996, 1; Kett-Straub NStZ 2006, 361 (362); krit. Theiß, Die Aufhebungder Pflichtverteidigerbestellung de lege lata und de lege ferenda, 2004, S. 33.

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Aufs�tze Schoeller · Pflichtverteidigung

chung solche F�lle gar nicht festgestellt worden. Aus Be-schuldigtensicht ist es daher »schwieriger« ein Wahlpflicht-verteidigungsmandat zur Aufhebung zu bringen, als einPflichtverteidigungsmandat, bei dem der Verteidiger durchden Richter ausgew�hlt wurde. Anzumerken ist neben derf�r diese Auswertungen z.T. recht schmalen Datenbasis aller-dings, dass die hiesige Untersuchung nicht aufzeigen kann,welcher Weg und welche Zugest�ndnisse gegebenenfalls sei-tens der Beschuldigten gemacht werden mussten, um denWiderruf des richterlich ausgew�hlten Verteidigers zu errei-chen. Die hier gewonnenen Werte k�nnen daher so interpre-tiert werden, dass tendenziell dem Willen des Beschuldigtenzur Aufhebung der Bestellung eines richterlich ausgew�hltenVerteidigers stattgegeben wird; sie k�nnen indessen nicht soverstanden werden, dass dies »problemlos« m�glich ist.

F�r den isolierten Bereich der U-Haft-Mandate konnte fest-gestellt werden, dass die Widerrufsantragsquote in U-Haft-Sachen h�her ist als allgemein.47 Mit Besonderheit gilt diesf�r die F�lle der richterlichen Pflichtverteidigerauswahl. In19,3 % der Pflichtverteidigungsmandate in diesem Bereichwurde der Widerruf der Pflichtverteidigerbestellung bean-tragt. Die erh�hte Quote im U-Haft-Bereich d�rfte daraufzur�ckzuf�hren sein, dass in den U-Haft-F�llen eine fr�hzei-tigere Festlegung auf die Person des Verteidigers erfolgt, alsin den Nicht-U-Haft-F�llen. Die fr�hzeitige Festlegung aufeinen Pflichtverteidiger in U-Haft-Sachen war sicherlich be-reits vor Inkrafttreten der Rechts�nderungen mit dem Un-tersuchungshaft�nderungsgesetz ein Thema, weil der Druck,sich schnell verteidigen zu m�ssen, f�r den inhaftierten Be-schuldigten naturgem�ß gr�ßer ist, als f�r den nicht inhaf-tierten Beschuldigten. Nach Inkrafttreten des Gebots zur un-verz�glichen Beiordnung bei U-Haft-Vollstreckung gem.§§ 140 Abs. 1 Nr., 141 Abs. 3 S. 4 StPO hat sich die dies-bez�gliche Wirkung allerdings deutlich verst�rkt. Eine indem Jahrgang 2010 angestiegene Widerrufsantragsquotevon �ber 10 % bei den Wahlpflichtverteidigungen und fast30 % bei den richterlich gew�hlten Verteidigern zeigt dasgestiegene Bed�rfnis der Beschuldigten, sich von den unver-z�glich beigeordneten Verteidigern wieder trennen zu wol-len. Allerdings ist hier zu sehen, dass den Widerrufsbegehrender Beschuldigten im Ergebnis regelm�ßig auch stattgegebenwurde und somit letztlich der Beschuldigtenwille Ausdruckgefunden hat. Speziell f�r den Bereich der Wahlpflichtvertei-digung deutet dies auf eine großz�gigere Gew�hrung derWiderrufsm�glichkeiten zum Zweck des Pflichtverteidiger-wechsels, als Folge des mit der unverz�glichen Bestellung desPflichtverteidigers gem. §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3S. 4 StPO gestiegenen Bed�rfnisses des Pflichtverteidiger-wechsels in F�llen fehlerhafter Anh�rung oder Verlegenheits-wahl48 hin.

IV. Untersuchungsergebnisse zur Auswahl desPflichtverteidigersDie Auswahl des Pflichtverteidigers wurde im Hinblick aufdas Verfahren zur Auswahl und ferner im Hinblick auf diebei der Auswahl des Verteidigers angelegten Kriterien unter-sucht.

1. Das AuswahlverfahrenJahrgangs�bergreifend wurde in 15 % der 367 F�lle erfor-derlicher49 Anh�rung dieselbe unterlassen, in 13 % der F�llewurde das Anh�rungsrecht durch den Beschuldigten »ad

hoc«50 ausge�bt oder es wurde auf die Aus�bung sofort ver-zichtet. In 45 % der F�lle hat der Richter eine Anh�rungs-frist von bis zu 7 Tagen bestimmt und in den verbleibenden27 % wurde eine l�ngere Anh�rungsfrist bestimmt. Die ent-sprechende, auf die F�lle erforderlicher Anh�rung beiU-Haft-Mandaten begrenzte, Auswertung hat folgendesBild ergeben: Jahrgangs�bergreifend wurde die Anh�rungin 20 % der F�lle unterlassen, in 40 % erfolgte eine sofortigeAus�bung des bzw. ein sofortiger Verzicht auf das Bezeich-nungsrecht. In 34 % der F�lle wurden Anh�rungsfristen biszu 7 Tagen und in 6 % der F�lle l�ngere Anh�rungsfristenbestimmt.

Jahrgangsspezifisch wurden folgende Werte ermittelt: 2005 wurdeeine Quote unterlassener Anh�rungen von 35 % und 10 % sofor-tige Aus�bung bzw. sofortiger Verzicht festgestellt. In der H�lfte derF�lle wurde im Jahr 2005 eine Frist von bis zu 7 Tagen bestimmt,in 5 % der F�lle wurden l�ngere Fristen bestimmt. Im Jahr 2009 lagdie festgestellte Quote unterlassener Anh�rungen bei 20 % und dieAd-Hoc-Aus�bung des Bezeichnungsrechts einschließlich der F�lledes Sofortverzichts bei 25 %. In 40 % der F�lle wurden Fristen vonbis zu 7 Tagen und in 15 % der F�lle Fristen �ber 7 Tagen be-stimmt. Im Jahrgang 2010 wurde die Anh�rung in 15 % der F�lleunterlassen, 55 % der F�lle entfielen auf die sofortige Aus�bung desbzw. den sofortigen Verzicht auf die Aus�bung des Bezeichnungs-rechts. In 27 % der F�lle wurden Fristen von bis zu 7 Tagen und in3 % der F�lle l�ngere Fristen bestimmt.

Aus den Auswertungen kann die Erkenntnis gezogen wer-den, dass die statistisch relativ gr�ßte Variante des Anh�-rungsverfahrens in der Bestimmung einer bis zu 7 Tage lan-gen Anh�rungsfrist gelegen hat. Dies hat sich im Bereich derU-Haft-Mandate ab dem Jahrgang 2010 jedoch merklichver�ndert: In deutlich mehr als der H�lfte der untersuchtenMandatsverh�ltnisse, in denen die Anh�rung zum Bezeich-nungsrecht erforderlich wurde, wurde dieses Recht durchden Beschuldigten sofort ausge�bt oder es wurde auf seineAus�bung verzichtet. Ber�cksichtigt man noch die Quotevon 15 % unterlassenen Anh�rungen, ergibt sich, dass es

47 Schoeller (Fn. 1), Kap. 4.5.2.1 f.48 Zu Erleichterungen des Pflichtverteidigerwechsels bei Bestellung gem. § 141

Abs. 1 Nr. 4 StPO vgl. KG StV 2012, 656 (657); OLG Braunschweig StraFo2013, 115 (116); OLG Celle StV 2012, 720; OLG Dresden NStZ-RR 2012,213; OLG D�sseldorf StV 2010, 350 f. m. Anm. Burhoff StRR 2010, 223 u.Anm. Wollschl�ger jurisPR extra 2010, OLG Karlsruhe StV 2010, 179; OLGJena StraFo 2012, 138 (139); LG Bochum StV 2011, 155; LG Erfurt StV2011, 665; LG Frankfurt (O.) StV 2010, 235 (236); LG Landau (Pfalz) StV2015, 23 f.; LG Krefeld StV 2011, 274; Lam/Meyer-Mews NJW 2012, 177(180); HK-StPO/Julius, 4. Aufl. 2009, § 141 Rn. 9; AnwK-U-Haft/St. K�nig,2011, § 141 Rn. 10; LR-StPO/L�derssen/Jahn (Fn. 3), Nachtr. 2014, § 140Rn. 21; Jahn FS Rissing-van Saan, 2011, S. 275 (287); Schlothauer FS Samson,2010, S. 709 (715); Herrmann StraFo 2011, 133 (137); Heydenreich StRR2009, 444 (446); ders. StraFo 2011, 264 (270), St. K�nig AnwBl. 2010, 50(51).

49 Die Anh�rung ist (nur) dann entbehrlich, wenn der Beschuldigte zu dem f�rdie Anh�rung vorgesehenen Zeitpunkt der Anh�rung bereits durch einenWahlverteidiger verteidigt wird, es sei denn, der Pflichtverteidiger soll zus�tz-lich neben den Wahlverteidiger treten. F�r die Erforderlichkeit der Anh�rungbei beabsichtigter Bestellung eines Pflichtverteidigers neben dem Wahlvertei-diger: BVerfG NJW 2001, 3695 (3696 f.); KG wistra 2006, 74; StV 2010, 63(64); OLG Frankfurt StV 2009, 402; OLG D�sseldorf NStZ 1994, 599; StV2000, 412 (413); Wohlers StV 2010, 151 (153). Gerade in F�llen der Bestel-lung von Sicherungsverteidigern wird eine »rechtswidrige Gerichtspraxis« derunterlassenen Anh�rung zum Bezeichnungsrecht beobachtet: AK-StPO/Stern,1992, Vor § 140 Rn. 50. Außerdem ist die Anh�rung entbehrlich, wenn derBeschuldigte bereits vor dem Anh�rungszeitpunkt einen Verteidiger benannthat, dessen Beiordnung er w�nscht, so auch BayObLG StV 1988, 97 f.

50 D.h. der Beschuldigte hat sein Recht zur Bezeichnung eines Pflichtverteidigerssofort bei der (m�ndlichen) Anh�rung hier�ber ausge�bt.

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Schoeller · Pflichtverteidigung Aufs�tze

bei den U-Haft-Mandaten im Jahrgang 2010 �berhaupt nurin 30 % der F�lle zur Bestimmung einer Frist zur Aus�bungdes Bezeichnungsrechts gekommen ist. Das Ergebnis legt na-he, dass mit der durch das Untersuchungshaft�nderungsge-setz erfolgten Einf�hrung der notwendigen Verteidigung abHaftvollstreckung und dem Gebot der unverz�glichen Be-stellung eines Pflichtverteidigers eine starke Tendenz einge-treten ist, die Versorgung des im Haftvorf�hrungsterminnoch unverteidigten Beschuldigten mit einem Verteidigerm�glichst sofort und an Ort und Stelle abschließend zu re-geln.

Es l�sst sich mit den Mitteln der Aktenanalyse nicht beant-worten, ob es die Beschuldigten selbst sind, die angesichtsder seit 2010 bestehenden Rechtslage diese Tendenz bef�r-dern oder ob es die Richter sind, die das im Haftvorf�h-rungstermin m�ndlich durchgef�hrte Anh�rungsverfahrenin einer Weise leiten und lenken, dass es in der Mehrzahlder F�lle zur sofortigen Aus�bung des Bezeichnungsrechtsdurch die Beschuldigten f�hrt. Die Ad-Hoc-Entscheidungdes Beschuldigten hat f�r den zust�ndigen Richter den nichtvon der Hand zu weisenden Reiz, dass �ber die Pflichtver-teidigerbestellung sogleich und »in einem Aufwasch« imHaftvorf�hrungstermin entschieden werden kann, womitsich eine Wiedervorlage der Akte Tage nach dem Haftvor-f�hrungstermin zum Zweck des Beschlusses zur Beiordnungeines Pflichtverteidigers er�brigt.51 Eine solche Tendenzkann aber nicht nur durch das Interesse an einem effizienten»Workflow« beg�nstigt werden, sondern auch durch diem�glicherweise fehlerhafte Interpretation des Unverz�glich-keitsgebots gem. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO dahingehend, dassdem Beschuldigten sofort mit Beginn der Haftvollstreckungein Verteidiger bestellt werden m�sse.52 Festzustellen ist so-mit, dass die Praxis in Haftsachen seit dem Jahr 2010 nichtim Sinne einer reiflich �berlegten Auswahl des Beschuldig-ten zur Bestimmung seines Vertrauensverteidigers ausge�btwird. Diese Feststellung korrespondiert durchaus auch mitder seit 2010 erh�hten Quote der Widerrufsantr�ge inU-Haft-Sachen.53 Daran zeigt sich, dass die schnelle Erledi-gung der Pflichtverteidigerfrage das Risiko einer sp�terenUnzufriedenheit des Beschuldigten mit dem vorschnell aus-gew�hlten Verteidiger merklich erh�ht.

2. Effekte des Gebots zur unverz�glichen Pflichtvertei-digerbestellung bei U-Haft-Vollstreckung auf die Versor-gung des Beschuldigten mit einem VerteidigerIm Hinblick auf die Frage, ob und in welchem Ausmaß derEinf�hrung der notwendigen Verteidigung in Haftsachengem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ein Beschleunigungseffektzur Versorgung bei Inhaftierung unverteidigter Beschuldigtezukommt, wurden verschiedene Untersuchungen durchge-f�hrt.54 Die Auswertungsergebnisse haben einen solchen Be-schleunigungseffekt best�tigt: So konnte etwa festgestelltwerden, dass in den Jahrg�ngen vor Inkrafttreten des Unter-suchungshaft�nderungsgesetzes ca. 50 % der Erstmandateinnerhalb der ersten Woche seit Beginn der Haftvollstre-ckung begr�ndet wurden, w�hrend es im Jahrgang nach In-krafttreten des Gesetzes fast 80 % gewesen sind, bei deneninnerhalb der ersten Woche das erste Verteidigungsmandatbegr�ndet wurde. Demgegen�ber haben F�lle, bei denen Be-schuldigte �ber 14 Tage lang unverteidigt Haft vollstreckthaben von 33 % in 2005 und 26 % in 2009 deutlich auf

nur noch 8 % im Jahr 2010 abgenommen. Andererseits istaufgrund dieser Auswertung aber auch festzustellen, dassauch vor Inkrafttreten des Untersuchungshaft�nderungsge-setzes immerhin ca. 50 % der Erstmandate innerhalb derersten Woche der Haftvollstreckung begr�ndet wurden. Be-r�cksichtigt man hierbei, dass angesichts der in diesen Jahr-g�ngen nicht »drohenden« unverz�glichen Pflichtverteidi-gerbestellung jedenfalls f�r einen Teil der Beschuldigten sub-jektiv weniger Zeitdruck empfunden worden sein mag, umeinen Vertrauensverteidiger zu beauftragen, muss man ausdiesen Werten den Schluss ziehen, dass es sich auch vor2010 f�r Beschuldigte im Regelfall jedenfalls nicht als Pro-blem erwiesen hat, binnen einer Woche ein Verteidigungs-mandat zu begr�nden. Aus diesem Grund erscheint die An-sicht zutreffend, dass eine Frist von regelm�ßig einer Wochef�r die Aus�bung des Bezeichnungsrechts zur Verwirkli-chung des Gebots der unverz�glichen Beiordnung gem.§ 141 Abs. 3 S. 4 StPO die Beschuldigten vor keine unl�s-baren Aufgaben stellt und daher nicht unangemessen kurzist.55 Es zeigt sich aber auch die Notwendigkeit, den Be-schuldigten eine Fristverl�ngerungsoption zu gew�hren, fallsdie Woche im Einzelfall zur Aus�bung des Wahlrechts nichtausreicht. Dem Beschuldigten sollte daher aus Gr�nden derRechtsklarheit eine einw�chige Frist gesetzt werden, wobeier darauf hingewiesen werden sollte, dass diese Frist auf sei-nen Antrag hin verl�ngert werden kann. Eine von vorneher-ein l�ngere Frist als eine Woche scheint mit dem Unverz�g-lichkeitsgebot des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO schwerlichkompatibel zu sein.56 Eine auf Antrag des Beschuldigten ver-l�ngerte Frist d�rfte demgegen�ber kein »schuldhaftes Z�-gern« ausl�sen, weshalb in diesem Fall auch eine sp�tere Bei-ordnung noch »unverz�glich« w�re.

3. Das AuswahlverhaltenIn Bezug auf die umfangreichen Auswertungen zum Aus-wahlverhalten57 von Richtern k�nnen im Rahmen diesesBeitrags zwei Untersuchungen vorgestellt werden: DieUntersuchung zur wiederholten Bestellung derselben Vertei-diger durch dieselben Richter in verschiedenen Verfahrenmit verschiedenen Beschuldigten sowie die Untersuchung�ber die H�ufigkeit der Auswahl von Fachanw�lten f�r Straf-recht.

51 Hierf�r sprechen auch die Ergebnisse der Studie Jahns (Fn. 12), S. 76, wonach91,3 % der befragten Ermittlungsrichter eine sofortige Bestellung des Pflicht-verteidigers als sachgerecht erachten.

52 Hierzu Jahn (Fn. 12), S. 76, der den Bericht eines der in der Studie befragtenErmittlungsrichters wiedergibt, wonach in der Praxis der Gerichte und Staats-anwaltschaften Unklarheiten best�nden, wie im Hinblick auf das Unverz�g-lichkeitsgebot der Pflichtverteidigerbestellung zu verfahren sei. Die Problema-tik d�rfte sich indessen mit der inzwischen l�ngeren Praxis des Gesetzesvollzugsentsch�rft haben.

53 S. Fn. 47.54 Schoeller (Fn. 1), Kap. 5.1.10 ff.55 F�r eine »starre« einw�chige Frist LR/L�derssen/Jahn (Fn. 3), § 141 Rn. 14a;

dies. Nachtr. (Fn. 48), § 141 Rn. 19; BRAK StV 2010, 544 (545); LammerAnwBl. 2013, 325 (328). F�r eine regelm�ßig einw�chige FristAnwK-U-Haft/K�nig (Fn. 48), § 141 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 6),§ 141 Rn. 3a; DAV Stellungnahme Nr. 55/2009, 5 f.; Brocke/Heller StraFo2011, 1 (7); St. K�nig AnwBl. 2010, 50 (51); a.A. (zweiw�chige Frist) LGStendal StV 2015, 543; HK/Julius (Fn. 48), § 141 Rn. 9; Heydenreich StRR2009, 444 (446); ders. StraFo 2011, 263 (265); Lam/Meyer-Mews NJW 2012,177 (180); Fanny Schmidt NJ 2012; 284 (286); StrafverteidigervereinigungenStV 2010, 109; Thielmann NJW 2011, 1927 (1928); Wohlers StV 2010, 151(153), der f�r eine weitere Verl�ngerungsoption in Sonderf�llen eintritt.

56 Zutr. LR-StPO/L�derssen/Jahn (Fn. 48), Nachtr. § 141 Rn. 15; Radtke/Hoh-mann/Reinhart, StPO, 2011, § 142 Rn. 8.

57 Schoeller (Fn. 1), Kap. 5.7 ff.

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Aufs�tze Schoeller · Pflichtverteidigung

a) Verh�ltnis der wiederholten Beiordnungen eines Richterszur Gesamtzahl der Beiordnungen mit Personenauswahl desRichtersVon Interesse war die �berpr�fung der Wahrnehmung,Richter w�rden h�ufig dieselben »�blichen Verd�chtigen«58

als Pflichtverteidiger ausw�hlen. Im Rahmen der aktenana-lytischen Auswertung war insoweit jedenfalls �berpr�fbar, inwelchem Ausmaß es zu wiederholten Bestellungen derselbenVerteidiger durch jeweils dieselben Richter in unterschiedli-chen F�llen mit unterschiedlichen Beschuldigten gekommenist. Dabei war auch differenzierbar, ob die entnommeneStichprobe der Verfahren zur Feststellung der zweifachenoder sogar mehr als zweifachen Bestellung desselben Vertei-digers in bestimmten Verfahrenszeitr�umen gef�hrt hat.59

�berdies konnte bei den einzelnen Richtern, die wiederholtdieselben Verteidiger ausgew�hlt haben, festgestellt werden,zu welchem Anteil bei diesen Richtern wiederholte und zuwelchem Anteil singul�re Auswahlen der Verteidiger erfolgtsind.60 Die Auswertung der hierf�r gebildeten Sonderstich-probe61 hat bei einer Gesamtzahl von 85 Beiordnungen mitrichterlicher Auswahl des Verteidigers in den gesondert aus-gewerteten Spruchk�rpern ergeben, dass bei 32 % dieserPflichtverteidigungsmandate wiederholte Beiordnungen vor-gelegen haben. Die Differenzierung nach der H�ufigkeit derwiederholten Bestellung hat ergeben, dass in 16 % der F�llerichterlicher Auswahl des Pflichtverteidigers die zweifacheAuswahl desselben Verteidigers durch denselben Richter fest-zustellen war. In 11 % der F�lle lag die dreifache Auswahldesselben Verteidigers durch denselben Richter vor. In 5 %der F�lle wurde derselbe Verteidiger viermal durch densel-ben Richter ausgew�hlt. Die Auswertungen zeigen, dass esdurchaus eine Basis f�r die Behauptung gibt, Richter w�rdenwiederholt dieselben Verteidiger ausw�hlen, denn immerhinentfiel in dieser Stichprobe fast jedes 3. Pflichtmandat,62 beidem ein Richter die Auswahl des Verteidigers getroffen hat,auf einen wiederholt durch denselben Richter gew�hltenVerteidiger.

Die aktenanalytische Auswertung kann nur bedingt aufkl�-ren, worin die Gr�nde f�r die wiederholte Ber�cksichtigungderselben Verteidiger durch dieselben Richter gelegen habenm�gen. Das Argument, dass eine Knappheit an zur Verf�-gung stehenden (Pflicht-)verteidigern die Richter zur mehr-fachen Auswahl derselben Verteidiger n�tige, erscheint aller-dings auch im Hinblick auf l�ndliche Landgerichtsbezirkeangesichts der Zulassungszahlen von Rechtsanw�lten wenig�berzeugend.63 Weitere Untersuchungen, die hier nicht imEinzelnen dargestellt werden, haben gezeigt, dass das Ph�no-men wiederholter Auswahl desselben Verteidigers durch den-selben Richter mit Ausnahme des Landgerichtsbezirks M�n-chen I64 an s�mtlichen Untersuchungsbezirken festgestelltwerden konnte. Auff�llig ist an der Auswertung, dass dieQuote wiederholter Bestellungen mit Ausnahme von einemder festgestellten Richter, die wiederholt dieselben Verteidi-ger ausgew�hlt haben, jeweils �ber 50 % der Gesamtzahl derPflichtverteidigerbestellungen mit Personenauswahl diesesjeweiligen Richters betragen hat.65 Man wird aus den dies-bez�glichen Auswertungen die Erkenntnis ziehen k�nnen,dass es Regionen �bergreifend eine nicht unerhebliche An-zahl von Richtern gibt, die in der Mehrheit der von ihnenvergebenen Pflichtmandate wiederholt dieselben Verteidigerausw�hlen und bestellen.

b) Das Auswahlverhalten in Bezug auf Fachanw�lte f�rStrafrechtDie unter anderem erfolgte Auswertung des Auswahlverhal-tens in Bezug auf den sich in der Bezeichnung »Fachanwaltf�r Strafrecht« manifestierenden Professionalisierungsgradder Verteidiger hat zu dem Ergebnis gef�hrt, dass in Bezugauf die Gesamtheit der 1.321 untersuchten Verteidigungs-mandate in 31 % der F�lle die Verteidigung durch einenFachanwalt f�r Strafrecht gef�hrt wurde.

In der Gruppe der Wahlverteidigungsmandate lag die Quote der Ver-teidigungen durch Fachanw�lte f�r Strafrecht bei ebenfalls 31 %. Beiden Wahlpflichtverteidigungsmandaten lag die Quote der Verteidi-gungen durch Fachanw�lte f�r Strafrecht bei 34 %. Die Verteidi-gungsmandate, bei denen Richter die Person des Verteidigers ausge-w�hlt haben, wurden zu einem Anteil von 19 % durch Fachanw�ltef�r Strafrecht gef�hrt. Die Auswertung des Anteils der vorgenanntenGruppe, bei dem die Verteidigung durch wiederholt von demselbenRichter ausgew�hlte Pflichtverteidiger gef�hrt wurde, weist einenMandatsanteil mit Fachanw�lten von 20 % auf.

Die Auswertung liefert ein klares Ergebnis: Richter habendeutlich seltener Fachanw�lte f�r Strafrecht f�r die Pflicht-verteidigungen ausgew�hlt, als Beschuldigte dies getan ha-ben. Dies best�tigt entsprechende Wahrnehmungen66 undkann als Indiz daf�r gewertet werden, dass Richter die Ver-teidigung durch im Strafrecht professionalisierte Rechtsan-w�lte eher meiden. In Bezug auf den Professionalisierungs-grad ist demnach ein deutlich differentes Auswahlverhaltenvon Beschuldigten einerseits und Richtern andererseits fest-zustellen. Auf der Grundlage der hiesigen Untersuchungser-gebnisse l�sst sich bei einem Anteil von 19 % Fachanw�ltenf�r Strafrecht sicher nicht vertreten, dass fachliche Kriterienbei der richterlichen Pflichtverteidigerauswahl keinerlei Rol-le spielen; es ist aber anhand des deutlich h�heren Fachan-waltsanteils in den Mandaten, bei denen die Beschuldigtenden Verteidiger gew�hlt haben, indiziell best�tigt, dass fach-liche Kriterien f�r den Richter eine geringere Rolle spielenals f�r den Beschuldigten.67 Die Untersuchungen hinsicht-

58 Thielmann StraFo 2006, 358 (362); in dieselbe Richtung gehend Ahmed StV2015, 65 (68).

59 Der Auswertung lagen ausschließlich die F�lle zu Grunde, bei denen die Rich-ter die origin�re Auswahl des Verteidigers getroffen haben und somit keineF�lle von Wahlpflichtverteidigungen.

60 Wobei nochmals darauf hinzuweisen ist, dass der Untersuchung eine Stichpro-benauswahl zu Grunde gelegen hat. Eine »singul�re« Auswahl ist daher einesolche der Stichprobe; nicht auszuschließen ist, dass es sich tats�chlich ebenfallsum eine wiederholte Auswahl gehandelt hat.

61 Hierzu Schoeller (Fn. 1), Kap. 5.7.1.62 Unter Zugrundelegung der ausgewerteten Sonderstichprobe.63 F�r die in hiesigen Untersuchungsbezirken zust�ndigen Rechtsanwaltskam-

mern waren im Jahr 2011 folgende Zulassungszahlen (Allgemein/Fachanw�ltef�r Strafrecht) registriert: Hamburg (9.209/98), Brandenburg (2.315/55),Sachsen (4.635/93), M�nchen (18.990/262), Karlsruhe (4.425/73), Freiburg(3.369/51): Kilian/Dreske, Statistisches Jahrbuch der Anwaltschaft 2011/2012, S. 42 ff., 83.

64 Dass die wiederholte Auswahl an diesem Landgerichtsbezirk nicht festgestelltwerden konnte, kann insbesondere damit zusammenh�ngen, dass aus diesemLandgerichtsbezirk nicht die notwendigen Daten erlangt werden konnten, umeinen Anteil der Stichprobenauswahl der untersuchten Verfahren aus speziellenStrafkammern respektive Sch�ffengerichtsabteilungen zu gewinnen, s. Schoeller(Fn. 1), Kap. 2.4.9.

65 Schoeller (Fn. 1), Kap. 5.7.2.66 Thielmann NJW 2011, 1927.67 Selbstverst�ndlich kann eine Auswahlentscheidung auch dann von fachlichen

Kriterien geleitet sein, wenn sie nicht auf einen Fachanwalt f�r Strafrecht f�llt.Bei einem Unterschied vom 34 % Wahlpflichtmandaten mit Fachanw�lteneinerseits und nur 19 % fachanwaltlich gef�hrten Mandaten bei richterlicherAuswahl andererseits, d�rfte der indizielle R�ckschluss auf einer geringerenBedeutung fachlicher Kriterien bei richterlicher Auswahl jedoch erlaubt sein.

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Schoeller · Pflichtverteidigung Aufs�tze

lich des Auswahlkriteriums »Fachanwalt f�r Strafrecht« wur-den erg�nzt durch eine differenzierte Betrachtung innerhalbbestimmter vordefinierter Richtergruppen. Danach w�hltenz.B. die unter 40j�hrigen Richter in 42 % der Mandatsver-h�ltnisse Fachanw�lte f�r Strafrecht als Verteidiger aus; dieRichter der mittleren Altersklasse zwischen 40 bis einschließ-lich 54 Jahren w�hlten in 15 % Fachanw�lte f�r Strafrechtund bei den mindestens 55 Jahre alten Richtern hat dieQuote der Fachanw�lte f�r Strafrecht 7 % betragen. In die-ser Auswertung ist ein eindeutiger Beleg des Zusammen-hangs zwischen der Berufserfahrung der Richter und demAuswahlkriterium der Verteidigerkompetenz zu erkennen:Je erfahrener die Richter sind, desto seltener w�hlen sie Ver-teidiger mit einem durch Fachanwaltsbezeichnung ausgewie-senen Professionalisierungsgrad f�r die Verteidigung.

Nun mag man in Einzelf�llen in Frage stellen, ob mit der Berechti-gung, sich als Fachanwalt f�r Strafrecht bezeichnen zu d�rfen, ein Aus-weis besonderer Verteidigerexpertise verbunden ist. Angesichts derAnforderungen, die die Fachanwaltsordnung an den Erwerb der Be-zeichnung in theoretischer und praktischer Hinsicht stellt, wird mandiesemKriteriumimRahmenstatistischerErhebung aberdieValidit�tf�r eine Aussage �ber die besondere Fachkunde eines Verteidigers si-cher nicht absprechen k�nnen. Die vielleicht naheliegende Annahme,das Ergebnis k�nne deshalb verzerrt sein, weil �ltere Richter zu einemgr�ßeren Anteil Verteidiger ihrer eigenen Altersklasse ausw�hlen undin dieser Altersklasse das Tragen von Fachanwaltsbezeichnungen nichtso verbreitet ist, wie in j�ngeren Altersklassen, kann mit weiteren Er-gebnissen aus der Untersuchung entgegnet werden: Es ist n�mlich kei-neswegs so, dass �ltere Richter zu einem gr�ßeren Anteil �ltere Vertei-diger ausw�hlen als j�ngere Richter dies tun. Bei den unter 40j�hrigenRichtern, die ausgew�hlt haben, hat der Anteil derjenigen Verteidiger,die bereits mindestens 25 Jahre zugelassen sind, 10 % betragen, w�h-renddieseVerteidigergruppebeiden�ber54j�hrigenRichternnurmiteiner Quote von 5 % ausgew�hlt wurde.

V. Zusammenh�nge zwischen dem Verteidigertypusund Verlauf des StrafverfahrensSoweit dies aktenanalytischen Erhebungen zug�nglich war,wurde untersucht, welche Zusammenh�nge zwischen dem je-weilig in dem Verfahren legitimierten Verteidigertypus zu be-stimmten Entwicklungen des Strafverfahrens festzustellen wa-ren. Als aktenanalytisch bewertbar kamen hierf�r unter ande-rem Untersuchungen hinsichtlich des Umgangs mitRechtsmitteln und Rechtsmittelverzichtserkl�rungen in Bezugauf erstinstanzliche Entscheidungen in Betracht. In der Ge-samtheit betrachtet haben 29 % der Beschuldigten Rechtsmit-tel gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegt. In der Gruppederjenigen Beschuldigten, die ausschließlich durch Wahlver-teidiger verteidigt waren, hat die Rechtsmittelquote 21 % be-tragen. Bei den ausschließlich pflichtverteidigten Beschuldig-ten wurde f�r 27 % der Beschuldigten Rechtsmittel eingelegt.In der Gruppe der ausschließlich wahlpflichtverteidigten Be-schuldigten hat die Rechtsmittelquote 30 % betragen. F�r Be-schuldigte, die ausschließlich durch Pflichtverteidiger vertei-digt wurden, die von Richtern ausgew�hlt wurden, wurde in20 % der F�lle Rechtsmittel eingelegt. In der Gruppe derpflichtverteidigten Beschuldigten, die ausschließlich durchPflichtverteidiger verteidigt wurden, die mehrfach von dem-selben Richter als Pflichtverteidiger ausgew�hlt wurden, hatdie Quote der eingelegten Rechtsmittel 16 % betragen.

Soweit zu erkennen ist, dass f�r die ausschließlich wahlver-teidigten Beschuldigten mit 21 % deutlich seltener Rechts-

mittel eingelegt wurde, als bei den wahlpflichtverteidigtenBeschuldigten, muss neben anderen, im Rahmen dieses Bei-trags nicht weiter diskutierbaren Gr�nden,68 der Effekt be-achtet werden, dass ein von dem bislang erstinstanzlichwahlverteidigten Beschuldigten als notwendig erachtetesRechtsmittel und die daraus resultierende finanzielle Belas-tung den Beschuldigten gegebenenfalls dazu n�tigen k�n-nen, entweder seinen bisherigen Wahlverteidiger zu bitten,nunmehr als Wahlpflichtverteidiger t�tig zu werden odersich durch einen anderen Verteidiger als Pflichtverteidigerverteidigen zu lassen. In beiden F�llen fiele der Beschuldigteaus der Gruppe der ausschließlich wahlverteidigten Beschul-digten heraus. Im ersten der beiden genannten F�lle fiele derBeschuldigte damit in die Gruppe der ausschließlich wahl-pflichtverteidigten Beschuldigten.69 Was die Unterschiedeinnerhalb der Gruppierungen ausschließlich pflichtvertei-digter Beschuldigter anbetrifft, k�nnen diese als indizielleBest�tigung f�r einen Zusammenhang der Auswahlentschei-dung des Richters mit dem Verteidigungs- und Beratungs-verhalten des Verteidigers angesehen werden. Es ist ausge-sprochen auff�llig, dass f�r die Beschuldigten, die ausschließ-lich durch richterlich gew�hlte Verteidiger verteidigtwurden, mit 20 % deutlich seltener Rechtsmittel eingelegtwurde, als dies mit 30 % in der Gruppe der ausschließlichwahlpflichtverteidigten Beschuldigten der Fall gewesen ist.Dies kann in der Gruppe der richterlich gew�hlten Verteidi-ger durchaus die Folge einer Verteidigung bzw. Beratung desBeschuldigten gewesen sein, die am Erwartungshorizont desan einer rechtskr�ftigen Entscheidung interessierten Richtersausgerichtet wurde. Hierf�r spricht insbesondere auch dasErgebnis in der Gruppe derjenigen Beschuldigten, die aus-schließlich durch wiederholt richterlich ausgew�hlte Vertei-diger verteidigt wurden. Denn hier liegt die Rechtsmittel-quote mit 16 % nochmals deutlich niedriger als ohnehinin der Gruppe der Beschuldigten mit Verteidigern richterli-cher Auswahl. Ein Zusammenhang zwischen der Auswahldes Verteidigers durch den Richter und der Verfahrenstatsa-che der Rechtsmitteleinlegung ist daher nicht von der Handzu weisen.

Andererseits ist nat�rlich augenf�llig, dass die Quote derRechtmitteleinlegung in der Gruppe der Beschuldigten mitrichterlich gew�hlten Verteidigern fast genau der Rechtsmit-telquote der Beschuldigten mit Wahlverteidigern entspricht.Insofern w�re ein Urteil dar�ber, ob das Verteidigungs- undBeratungsverhalten der Verteidiger, die von Richtern ausge-w�hlt wurden, den auch unter Kostengesichtspunkten zu se-henden Beschuldigteninteressen widerspricht, letztlich spe-kulativ. Die Auswertung zur Rechtsmittelverzichtsquote hatzwar ergeben, dass bei Beschuldigten, die durch richterlichausgew�hlte Verteidiger verteidigt wurden, mit 37 % insge-samt 6 %-Punkte �ber der Rechtsmittelverzichtsquote beiwahlpflichtverteidigten Beschuldigten liegt. Allerdings weistdie Auswertung mit 36 % eine �hnlich hohe Rechtsmittel-verzichtsquote auch bei der Gruppe der ausschließlich wahl-verteidigten Beschuldigten aus. Zudem ist festzustellen, dassdie Rechtsmittelverzichtsquote bei den durch wiederholt von

68 Hierzu Schoeller (Fn. 1), Kap. 5.10.1.69 Der �bergang von der Wahlverteidigung zur Wahlpflichtverteidigung bei

demselben Verteidiger f�hrt zur Wertung des Verteidigers als Wahlpflichtver-teidiger des 1. Typs. Dies gilt nach der hiesigen Auswertung unabh�ngig vomZeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung im Verfahren.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 203/212] 4

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Aufs�tze Buchert/Buchert · Anwaltliche Ombudspersonen

demselben Richter ausgew�hlten und bestellten Pflichtver-teidigern wiederum knapp unter der Quote der Obergruppemit den richterlich gew�hlten Verteidigern liegt.70 DieWahrnehmung,71 dass im Speziellen die immer wieder vonRichtern gew�hlten Verteidiger solche mit »eingebautemRechtsmittelverzicht« seien, wird durch das Untersuchungs-ergebnis nicht gest�tzt.

VI. Die wesentlichen UntersuchungsergebnisseEine vertiefte dogmatische oder auch rechtspolitische Dis-kussion der erhobenen Befunde kann und soll nicht Inhaltdieses Beitrags sein. Sie liefern vielleicht einen Beitrag zurVersachlichung der Jahrzehnte alten Debatte um die Praxisder Beiordnung zu Pflichtverteidigern. Die ganz wesentli-chen Ergebnisse der Untersuchung lassen sich wie folgt zu-sammenfassen:

1. Dominanz der Pflichtverteidigung gegen�ber derWahlverteidigungDie Ergebnisse der Untersuchungen zeigen eine deutlicheDominanz der Pflichtverteidigung im Verh�ltnis zur Wahl-verteidigung im deutschen Strafprozess. Eine Quote aus-schließlich wahlverteidigter Beschuldigter von nur 13 %und in manchen Regionen nur 5 % oder 6 % bed�rfen kri-tischer Beachtung.

2. Dominanz der Wahlpflichtverteidigung gegen�ber derrichterlichen PflichtverteidigungDie Untersuchungsergebnisse zum Verh�ltnis richterlichausgew�hlter Pflichtverteidiger gegen�ber Wahlpflichtvertei-digern und zu den Rechtstatsachen betreffend den Widerrufvon Pflichtverteidigerbestellungen zeigen im Grundsatz, dassim Bereich der Pflichtverteidigung grunds�tzlich der Be-

schuldigtenwille die Auswahl des Verteidigers bestimmt.Nicht zu vernachl�ssigen sind aber die von diesem Grund-satz bestehenden Ausnahmen, die sich insbesondere bei Wi-derrufsbegehren wahlpflichtverteidigter Beschuldigter ge-zeigt haben.

3. Mangelbehafteter Vollzug des BestellungsverfahrensDas Auswahlverfahren zur Bestellung der Pflichtverteidigerhat einen wesentlichen Vollzugsmangel insoweit aufgezeigt,als immerhin in 15 % der F�lle erforderlicher Anh�rungzum Bezeichnungsrecht, diese unterblieben ist. Insbesonderein U-Haftsachen seit dem Jahr 2010 ist ein ganz �berwie-gender Anteil von nicht reiflich �berlegten Stegreifauswah-len der Beschuldigten im Haftvorf�hrungstermin zu bemer-ken, was zu einem erh�hten Widerrufsinteresse f�hrt.

4. Problematische Auswahlkriterien bei richterlicherVerteidigerauswahlRichter neigen bei ihrer Auswahl des Pflichtverteidigers da-zu, dem durch Fachanwaltschaft ausgewiesenen Professiona-lisierungsgrad des Verteidigers weniger Bedeutung beizumes-sen, als Beschuldigte dies tun. Es kann belegt werden, dassRichter in einem nicht unerheblichen Umfang wiederholtdieselben Verteidiger beiordnen. Richterlich ausgew�hltePflichtverteidiger legen merklich seltener Rechtsmittel gegenerstinstanzliche Urteile ein, als Wahlpflichtverteidiger diestun. Am Niedrigsten ist die Rechtsmittelquote bei den vonRichtern wiederholt beigeordneten Pflichtverteidigern.

Privilegien anwaltlicher Ombudspersonen im Strafverfahren– zugleich Besprechung von LG Bochum, Beschl. v. 16.03.2016 – II-6 Qs 1/16, StV 2017,171 (in diesem Heft) –

Rechtsanwalt Dr. Rainer Buchert, Frankfurt/M., und Staatsanwalt Dr. Christoph Buchert, Stuttgart1

Das LG Bochum hat in einer viel beachteten Entschei-dung2 einen Beschlagnahmeschutz von Rechtsanw�l-ten verneint, wenn diese als Compliance-Ombudsper-sonen t�tig werden. Ombudspersonen sind als exter-ne Anlaufstelle f�r Hinweisgeber (Whistleblower) einwichtiger Baustein eines funktionierenden Compli-ance-Management-Systems. Die durch Ombudsper-sonen erlangten Hinweise dienen der Aufkl�rungvon Straftaten und schwerwiegenden Regelverst�-ßen. Die Entscheidung gibt daher Anlass, sich vertieftmit den Privilegien von Ombudspersonen zu besch�f-tigen. Der Beitrag zeigt, dass die Entscheidung derBochumer Kammer – wie immer man sie auch be-leuchtet – vor dem Hintergrund der §§ 97, 160aStPO und den hierzu entwickelten Grunds�tzen inder Compliance-Rechtsprechung nicht �berzeugt.Die Strukturen eines Ombudsmann-Mandats werdenunzureichend wahrgenommen und unzutreffend ge-w�rdigt.

A. Einf�hrung

I. Entscheidung des LG Bochum, StV 2017, 171Der Vorsitzende der Gesch�ftsf�hrung eines Unternehmensstand in dem Verdacht, sich einer Bestechlichkeit im ge-sch�ftlichen Verkehr sowie einer Untreue zum Nachteil derGesellschaft strafbar gemacht zu haben. Im Zuge der Ermitt-lungen war eine E-Mail der Integrit�tsbeauftragten des Un-ternehmens an den Beschuldigten sichergestellt worden, derein unvollst�ndiger Scan einer anonymen3 Anzeige beigef�gtwar, in der massive Untreuevorw�rfe gegen den Beschuldig-

70 Schoeller (Fn. 1), Kap. 5.10.2.71 S.o. Fn. 15.

1 Der Erstverf. R. Buchert vertritt Unternehmen als Ombudsmann zur Bek�mp-fung von Korruption und Wirtschaftskriminalit�t, der Zweitverf. Chr. Buchertist Dezernent bei der StA Stuttgart, Schwerpunktabteilung f�r Wirtschafts-strafsachen. Der Beitrag gibt ausschließlich die pers�nliche Meinung beiderAutoren wieder.

2 Vgl. nur Handelsblatt v. 11.10.2016 (»Whistleblower in Gefahr – Ein Urteilverschreckt Hinweisgeber und Ombudsleute aus Unternehmen«).

3 Unklar ist, ob die E-Mail auch f�r die Anw�ltin anonym war oder ob sie denHinweis eines ihr bekannten Hinweisgebers anonymisiert hat.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 204/212] 4

204 StV 3 · 2017

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Buchert/Buchert · Anwaltliche Ombudspersonen Aufs�tze

ten erhoben wurden. Dieser Hinweis war zuvor von derOmbudsfrau des Unternehmens, einer Rechtsanw�ltin, andie Integrit�tsbeauftragte �bermittelt worden. Um in denBesitz der vollst�ndigen E-Mail zu gelangen, erwirkte dieStA daraufhin einen Durchsuchungsbeschluss f�r die Ge-sch�ftsr�ume der Ombudsfrau und beschlagnahmte dieE-Mail. Gegen diesen Beschluss legte die Ombudsfrau unterVerweis auf das anwaltliche Beschlagnahmeprivileg Be-schwerde ein. Die Kammer verneinte eine Beschlagnahme-freiheit der Unterlagen, weil

j § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO dahingehend einschr�nkend aus-zulegen sei, dass allein das Vertrauensverh�ltnis zum Be-schuldigten gesch�tzt werde,

j zwischen Hinweisgebern und Compliance-Ombudsleuten»kein schutzw�rdiges mandats�hnliches Vertrauensver-h�ltnis« bestehe und

j kein Beschlagnahmeschutz nach § 160a Abs. 1 StPO grei-fe.

II. Bedeutung und Funktion von Ombudspersonen(Ombudsmann-System)Das Erlangen von Hinweisen aufStraftaten und schwerwiegen-de Regelverst�ße ist f�r das Erkennen von Risiken und die Ab-wehr daraus erwachsener Gefahren f�r ein Unternehmen ele-mentar.4 Die langj�hrige Erfahrung zeigt, dass es vielfach nurdurch vertraulich preisgegebenes Insiderwissen m�glich ist,�berhaupt solche Kenntnisse zu erlangen und pr�ventiv nutz-bar zu machen.5 Es ist somit Aufgabe und Pflicht der Unter-nehmensleitung Maßnahmen zu treffen, um entsprechendeHinweise zu generieren und auszuwerten.6 In der Praxis hatdies – vor allem im letzten Jahrzehnt – zu einer zunehmendenImplementierung von Hinweisgebersystemen gef�hrt, die Ein-richtung einer externen Ombudsstelle in Person eines selbst-st�ndigen Rechtsanwalts gilt als state of the art.7

Anwaltliche Ombudspersonen werden mandatiert, um Infor-mationen �ber Wirtschaftskriminalit�t oder andere schwer-wiegende Regelverst�ße vertraulich entgegenzunehmen. We-sentlich an dem Ombudsmann-System ist, dass Hinweisgebersich der anwaltlichen Ombudsperson anvertrauen k�nnen.Die Weitergabe des Hinweises an das Unternehmen unter Ein-haltung der datenschutzrechtlichen Anforderungen8 erfolgtnur nach ausdr�cklicher, schriftlicher Befreiung des Ombuds-manns von der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht durchden Hinweisgeber.9 Dabei sch�tzt die Ombudsperson dieIdentit�t des ihr gegen�ber regelm�ßig nicht anonymen Hin-weisgebers. Auf diese Weise wird die Aussagebereitschaft desHinweisgebers gef�rdert, weil die bei Whistleblowing im Re-gelfall bef�rchteten (und leider nicht seltenen) Repressalienoder Nachteile sicher vermieden werden.

Die �ber den Ombudsmann jederzeit m�gliche wechselseitige Kom-munikation verbessert die Qualit�t der Hinweisgewinnung. Die Om-budsperson filtert Hinweise zwar grunds�tzlich nicht nach Relevanzoder Bedeutung, f�hrt im Dialog mit dem Hinweisgeber aber dienotwendige Vollst�ndigkeit und Schl�ssigkeit herbei, die in diesemStadium m�glich ist. Sie identifiziert wirtschaftskriminelles oder inanderer Weise rechtlich relevantes (Fehl-)Verhalten, stellt eine kom-petente Bewertung der Hinweise sicher und beurteilt die Glaubhaf-tigkeit des Sachverhalts und die Glaubw�rdigkeit des Hinweisgebers.Entsprechend werthaltig sind die so aufbereiteten und der zust�ndi-gen Stelle des Unternehmens �bermittelten Hinweise. Nach einerj�ngeren Entwicklung werden anwaltliche Ombudspersonen auch

als Schnittstelle zwischen dem elektronischen Meldesystem BKMSund Unternehmen eingesetzt und fungieren nach den Eigenerfahrun-gen des Erstverf. gewinnbringend als Ansprechpartner bei Amnestie-programmen. Der Ombudsmann ist daher ein unverzichtbares Ele-ment eines effektiven Compliance-Management-Systems zur Ver-meidung und Bek�mpfung von Wirtschaftskriminalit�t.

B. Die §§ 97, 148, 160a StPO als Grundlage einesBeschlagnahmeverbots

I. Maßgebliche NormenSchriftliche Berichte einer Ombudsperson �ber ihr zugetra-gene Sachverhalte wecken bei den Strafverfolgungsbeh�rdennaturgem�ß große Begehrlichkeiten. Die §§ 94 ff. StPO bie-ten den Strafverfolgungsorganen die M�glichkeit, auf ent-sprechende Unterlagen wie die in Rede stehende E-Mail zu-zugreifen und Einblick in das interne Vorgehen eines Unter-nehmens zu erhalten. Dieses Zugriffsrecht findet seineGrenze im Beschlagnahmeverbot des § 97 StPO. Durchdie Zentralnorm der Beweiserhebungsverbote erkennt derGesetzgeber an, dass die Zeugnisverweigerungsrechte der§§ 52, 53 StPO allein nicht ausreichen, um das notwendigeVertrauensverh�ltnis innerhalb der pers�nlichen und beruf-lichen Beziehungen zu garantieren und normiert erg�nzendein Beschlagnahmeverbot f�r schriftlich niedergelegtes Wis-sen aus diesen Beziehungen.10 Daneben sind die Vorschrif-ten der §§ 148 StPO und 160a StPO zu beachten.

II. Kein absoluter Schutz �ber § 160a StPODa sich die Durchsuchungsmaßnahme vorliegend gegen eineRechtsanw�ltin richtete, sei vorangestellt, dass § 160a StPOnach der zutreffenden herrschenden Meinung keinen absolu-ten Beschlagnahmeschutz f�r mandatsbezogene Unterlagenim Gewahrsam eines Rechtsanwaltes entfaltet.11 Die Regelung

4 G�pfert/Merten/Siegrist NJW 2008, 1703 (1704); Schemmel/Ruhmannseder/Witzigmann, Hinweisgebersysteme, 2012, S. 74 Rn. 15 ff.

5 Dies findet seine Begr�ndung zum einen in der fehlenden T�ter-Opfer-Struk-tur der Korruptionsdelikte, die im Verh�ltnis zur Gesamtzahl der innerbetrieb-lichen Wirtschaftsstraftaten eine herausgehobene Position einnehmen. Zumanderen sind innerbetriebliche Verflechtungen und Arbeitsprozesse auch f�rbetriebsinterne Kontrolleure oftmals nicht durchschaubar.

6 Grdlg. zur Pflicht der Mitglieder einer Gesch�ftsleitung, im Vorfeld einer Ent-scheidung »alle verf�gbaren Erkenntnisquellen« auszusch�pfen, BGH NJW2008, 3361 (3363).

7 Vgl. zur Funktion und Bedeutung von Hinweisgebersystemen Knierim/R�-benstahl/Tsambikakis/R. Buchert/Jacob-Hofbauer, Internal Investigations,2016, S. 223 ff.; B�rkle/Hauschka/R. Buchert, Compliance Officer, 2015,§ 10 Rn. 1 ff.; Schemmel/Ruhmannseder/Witzigmann (Fn. 4), S. 157 ff., 170;R. Buchert CCZ 2008, 148. Aufgrund der Erfolge der betrieblichen Hinweis-gewinnung setzen inzwischen auch staatliche Institutionen auf die Gewinnungvon Insiderinformationen zur Aufkl�rung wirtschaftskrimineller Handlungen,vgl. dazu C. Buchert CCZ 2013, 144.

8 Der Ombudsmann ist als eigenverantwortliche Stelle im Sinne des § 3 Abs. 7BDSG zur datenschutzrechtlichen Pr�fung verpflichtet. Er muss eigenst�ndigpr�fen, auf welcher Rechtsgrundlage der Hinweis entgegengenommen unddarin enthaltene personenbezogene Daten erhoben, verarbeitet und genutztwerden d�rfen und ob eine Weiterleitung auch unter dem Grundsatz der Ver-h�ltnism�ßigkeit zul�ssig ist.

9 Ombudsmann-Systeme ohne diese besondere Beschr�nkung werden dem Na-men des Systems nicht gerecht. Wird der Ombudsmann zu einer Weiterleitungdes Hinweises verpflichtet, ist der Ombudsmann nichts weiter als eine Außen-meldestelle des Unternehmens. Gleichwohl sind infolge fehlender oder unzu-reichender Beratung auch heutzutage noch derartige Ausgestaltungen anzutref-fen.

10 So treffend Oesterle StV 2016, 118; grdlg. zum Umgehungsschutz des § 97StPO BVerfGE 20, 162 (188); 32, 373 (385); BGHSt 38, 144 (146) = StV1992, 106.

11 LG Mannheim StV 2013, 616 m. zust. Anm. Jahn/Kirsch; LG Bochum NStZ2016, 500 m. zust. Anm. Sotelsek; LR-StPO/Erb, 26. Aufl. Nachtr. 2013,§ 160a Rn. 55 ff.; M�Ko-StPO/K�lbel, 2016, § 160a Rn. 7 ff.; Jahn/Kirsch

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kann bereits nach ihrer Konzeption nicht weiter gehen, alsdas Zeugnisverweigerungsrecht des Berufsgeheimnistr�gersreicht.12 Soweit § 97 StPO die Beweiserhebung im Verh�ltniszu Berufsgeheimnistr�gern regelt, kommt dem dort normier-ten Regelungssystem auch gegen�ber § 160a StPO der Vor-rang zu. Dieses Verh�ltnis der Vorschriften folgt bereits ausdem Wortlaut des § 160a Abs. 5 StPO (»bleibt unber�hrt«).Daneben sieht § 97 StPO Ausnahmen vom Beschlagnahme-privileg vor, die f�r eine funktionierende Strafrechtspflege un-verzichtbar sind. So ist den Strafverfolgungsbeh�rden nach§ 97 Abs. 2 S. 3 StPO stets der Zugriff auf Deliktsgegenst�ndegestattet, w�hrend § 160a Abs. 4 StPO – deutlich niedrigsch-welliger – Beschlagnahmehandlungen gegen�ber Rechtsan-w�lten allein bei deren krimineller Verstrickung erlaubt. W�r-de man der Vorschrift des § 160a StPO einen absoluten Schutzentnehmen m�ssen, best�nde f�r den Beweismittelinhaber diegesetzliche M�glichkeit, einen Beweisgegenstand (z.B. eine ge-f�lschte Urkunde) dem Zugriff der Strafverfolgungsbeh�rdenzu entziehen, indem er diesen in die Gewahrsamssph�re einesgutgl�ubigen Berufsgeheimnistr�gers verlagert.13 Dass der Ge-setzgeber derart massive Auswirkungen auf das Regelungsge-f�ge von § 97 StPO durch eine Generalklausel revidieren woll-te ohne dies in der Gesetzesbegr�ndung zu dokumentieren,d�rfte auszuschließen sein.14

C. Beschlagnahmeschutz bei Rechtsanw�lten alsOmbudspersonenMit Blick auf die dargelegte Struktur des Ombuds-mann-Mandats kommen f�r einen Beschlagnahmeschutzzwei Ankn�pfungspunkte in Betracht: Die Vertrauensbezie-hung zum Unternehmen aufgrund des Ombudsmann-Man-dats und die unmittelbare Vertrauensbeziehung zu dem sichoffenbarenden Hinweisgeber. Interessanterweise hat dieKammer des LG Bochum im genannten Beschluss nur dasVerh�ltnis des Ombudsmanns zum Hinweisgeber in denBlick genommen, obwohl ein Beschlagnahmeschutz aufGrundlage des unstreitig bestehenden Mandats zwischenUnternehmen und Ombudsmann n�her gelegen h�tte.

I. Beschlagnahmeschutz aufgrund des Mandats zumUnternehmenNach dem Vertrag ist die Ombudsperson ein externer Rechts-anwalt mit dem Auftrag, Hinweise auf einen Verdacht vonStraftaten und schwere Regelverst�ße vertraulich entgegenzu-nehmen. Sie ist damit in der Grundausrichtung mit externenRechtsanw�lten gleichzusetzen, die seitens des Unternehmensbeim Verdacht auf Regelverst�ße gezielt zur Sachverhaltsauf-kl�rung eingesetzt werden, weshalb die zur Durchf�hrung vonsogenannten Internal Investigations entwickelten Grunds�tzeder Compliance-Rechtsprechung15 fruchtbar gemacht werdenk�nnen. Auch wenn die Ombudsperson grunds�tzlich keine(weiteren) internen Ermittlungen f�hren sollte, so legt sie mitder Entgegennahme und Aufbereitung von Hinweisen die we-sentlichen Grundlagen daf�r. Dies zugrunde gelegt h�ngt derBeschlagnahmeschutz der anwaltlichen Ombudsperson zu-n�chst und zumindest auch von der strafprozessualen Stellungdes Unternehmens ab.16

1. Beschlagnahmeschutz �ber §§ 97, 148 StPO (Verteidi-gungsunterlagen)Das LG Braunschweig hat j�ngst klargestellt, dass Maßnahmenzur Aufkl�rung des Sachverhalts essentieller Bestandteil einer

effektiven Verteidigung des Unternehmens sind und in diesemZusammenhang gefertigte Unterlagen dem Beschlagnahme-schutz der §§ 97, 148 StPO unterfallen.17 Maßgeblich f�rdie Einstufung einer Verteidigungsunterlage ist die Vorschriftdes § 148 StPO, die den Schutz des Verteidigungsverh�ltnisseskonstituiert.18 Die Regelung erweitert den Beschlagnahme-schutz des § 97 StPO dahingehend, dass Verteidigungsunter-lagen auch dann gesch�tzt sind, wenn sich diese im Gewahr-sam des Beschuldigten befinden.19 Das besondere Schutzpri-vileg gilt aber nur f�r die Kommunikation des Beschuldigtenmit seinem Verteidiger,20 woran auch § 160a StPO nichts �n-dert. Voraussetzung f�r die Erweiterung des Beschlagnahme-schutzes nach §§ 97, 148 StPO ist daher zum einen ein Ver-teidigungsverh�ltnis. Zum anderen m�ssen die gefertigtenUnterlagen auch unmittelbar zum Zwecke der Verteidigungerstellt worden sein.21

a) VerteidigungssituationEine Verteidigungssituation liegt vor, wenn das Unternehmenselbst im Fokus von Ermittlungen steht, z.B., weil die Aufer-legung einer Verbandsgeldbuße droht22 und diesem als Ne-benbeteiligten des Strafverfahrens nach §§ 434 Abs. 1 S. 2bzw. § 442 Abs. 1 S. 2 StPO dieselben Schutzrechte wie einernat�rlichen Person in der Lage eines Beschuldigten zukom-men.23 Die f�rmliche Einleitung eines Ermittlungsverfahrensist f�r die Annahme einer Verteidigungssituation nach vor-zugsw�rdiger Ansicht nicht erforderlich.24 Ebenso wie bei na-t�rlichen Personen ist f�r den Beschuldigtenstatus das Vorlie-

StV 2011, 151 (154); Erb FS K�hne, 2013, S. 171 (176); Hartmut SchneiderNStZ 2016, 309 (310); Klengel/C. Buchert NStZ 2016, 383 (384). Zur Ge-genansicht, die der Vorschrift des § 160a StPO einen absoluten Beschlagnah-meschutz entnimmt, vgl. etwa Bertheau StV 2012, 303 (306); F. P. SchusterNZWiSt 2012, 28 (29 ff.); Ballo NZWiSt 2013, 46; Knauer ZWH 2012, 81.

12 Zur Konzeption der Vorschrift Scharenberg, Der Schutz des Vertrauensverh�lt-nisses zum Berufsgeheimnistr�ger gem�ß § 160a StPO, 2016, S. 16 ff.

13 Dabei ist zu beachten, dass gerade bei Unternehmensmandaten der Rechtsan-walt regelm�ßig nicht in der Lage ist, den zu beurteilenden Sachverhalt nebstden jeweiligen betrieblichen Verflechtungen in seiner Gesamtheit zu erfassenund er stets auf Informationen des Unternehmens angewiesen ist.

14 So zutr. bereits Erb FS K�hne (Fn. 11), S. 171 (176); siehe auch Rotsch/Bitt-mann, Criminal Compliance, 2015, § 34 Rn. 160; �hnl. auch LG MannheimStV 2013, 616 m. zust. Anm. Jahn/Kirsch.

15 Grdlg. LG Mannheim StV 2013, 616; LG Braunschweig wistra 2016, 40. DieEntscheidung LG Hamburg StV 2011, 148 ist dagegen �berholt, da diese vorder Neuregelung des § 160a StPO ergangen ist.

16 �hnl. Schmid/Wengenroth NZWiSt 2016, 404 (405).17 LG Braunschweig wistra 2016, 40 (42), siehe auch Klengel/C. Buchert NStZ

2016, 383 (386).18 Zu den Voraussetzungen einer sog. Verteidigungsunterlage Klengel/C. Buchert

NStZ 2016, 383 (385).19 Grdlg. BGHSt 44, 46 (47 ff.) = StV 1998, 246; vgl. auch SK-StPO/Wohlers,

5. Aufl. 2016, § 148 Rn. 1 ff., 27 ff. m.w.N.20 BVerfGE 49, 48; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO, 59. Aufl. 2016, § 148 Rn. 2

m.w.N.21 Eingehend zu diesem Kriterium LR-StPO/L�derssen/Jahn, 26. Aufl. 2013,

§ 148 Rn. 17 m.w.N.22 Nach § 30 OWiG kann gegen ein Unternehmen als juristische Person eine

Geldbuße verh�ngt werden, wenn eine ihrer Leitungspersonen eine Straftatoder Ordnungswidrigkeit begangen hat, die in einem Zurechnungszusammen-hang zum Unternehmen steht, weil durch sie Pflichten der juristischen Personverletzt wurden oder eine Bereicherung der juristischen Person erreicht werdensollte oder wurde.

23 Dazu n�her Rotsch/Jahn, Criminal Compliance vor den Aufgaben der Zu-kunft, 2012, 111 (112 ff.) m.w.N.

24 LG Braunschweig wistra 2016, 40 (42), LG Gießen wistra 2012, 409 (410);Jahn/Kirsch NZWiSt 2016, 39 (40); Klengel/C. Buchert NStZ 2016, 383(386); F. P. Schuster NZKart 2013, 191 (194); Wessing ZWH 2012, 6 (9 ff.);a.A. LG Bonn NZWiSt 2013, 21 (24 ff.) m. abl. Anm. Jahn/Kirsch; Mey-er-Goßner/Schmitt (Fn. 20), § 97 Rn. 10c; Wimmer WiJ 2013, 102 (104);differenzierend mit jeweils beachtlicher Argumentation Oesterle, Die Beschlag-nahme anwaltlicher Unterlagen und ihre Bedeutung f�r die Compliance-Or-

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206 StV 3 · 2017

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Buchert/Buchert · Anwaltliche Ombudspersonen Aufs�tze

gen eines entsprechend starken Verdachtsgrades entscheidend.Ausreichend ist daher, wenn nach den Gesamtumst�nden dieEinleitung eines Ermittlungsverfahrens nicht fern liegt und einbeauftragter Rechtsanwalt aus diesem Grunde sein T�tigwer-den auch als Teil der Verteidigung des Unternehmens begrei-fen muss.25 Dies ist aufgrund des Zusammenspiels der §§ 130,30 OWiG jedenfalls der Fall, wenn Leitungspersonen des Un-ternehmens Straftaten im vermeintlichen Unternehmensinter-esse begangen haben und die »Fr�chte« der Tat dem Unter-nehmen zugutegekommen sind, beispielsweise in Form vonAuftr�gen oder ersparten Aufwendungen infolge von Beste-chungshandlungen.26 Auch in dem der Entscheidung des LGBochum zugrundeliegendem Sachverhalt lag es aufgrund derTatbegehung durch den Vorsitzenden der Gesch�ftsf�hrungsomit nahe, das Vorliegen einer Verteidigungssituation anzu-nehmen.27

b) Erstellen der Unterlagen zum Zwecke der VerteidigungEine sachgerechte Verteidigung schließt ein, schriftliche Auf-zeichnungen anzufertigen.28 Dies betrifft nicht nur Vorg�ngeaus der eigenen Wahrnehmung, sondern auch die im Rahmender Verteidigung erfolgten Anstrengungen zur Aufkl�rungund Rekonstruktion des Sachverhalts.29 Nur, wenn das Unter-nehmen den konkreten Sachverhalt kennt, ist es in der Lage zureagieren und sich angemessen zu verteidigen. Wie eingangsdargelegt, ist die zielgerichtete Generierung von Insiderwissenf�r die Aufkl�rung des Sachverhalts unverzichtbar. Die anwalt-liche Ombudsperson ist daher in dieser Konstellation zugleichBestandteil einer effektiven Unternehmensverteidigung. Dieseitens der anwaltlichen Ombudsperson gefertigten Berichte�ber die ihr zugetragenen Hinweise auf im Raum stehendeUnregelm�ßigkeiten dienen bei einem (zumindest auch) ziel-gerichteten Einsatz der Ombudsperson der Verteidigung. Siesind daher in dieser Situation regelm�ßig als Verteidigungsun-terlagen einzustufen und d�rfen unabh�ngig von ihrem Auf-bewahrungsort nicht beschlagnahmt werden.30

c) Kein Schutz von Unterlagen DritterDass die Bochumer Kammer auf das Vorliegen einer Vertei-digungsunterlage nicht einging, ist zwar misslich, nach denDarlegungen aber auch nicht zwingend geboten. Denn diebeschlagnahmte anonyme Original E-Mail ist keine Unter-lage, die unmittelbar der Verteidigungssph�re entstammtund daher nach h.M. nicht gesch�tzt. Die E-Mail wurdeweder von der Ombudsperson selbst noch von einem Unter-nehmensangeh�rigen zum Zwecke der Verteidigung erstellt,sondern von dritter Seite in diese Sph�re eingebracht. Andersw�re die Lage indes zu beurteilen, wenn die Ombudsfrau ineinem von ihr gefertigten Bericht schlicht �ber einen einge-gangenen Hinweis berichtet h�tte, ohne die E-Mail als sol-che zu erw�hnen. Hier w�re der Bericht bei tats�chlichemVorliegen einer Verteidigungssituation �ber §§ 97, 148StPO gesch�tzt, ein Zugriff auf die E-Mail mangels entspre-chender Anhaltspunkte der Strafverfolgungsbeh�rden austats�chlichen Gr�nden abgeschnitten, da Hinweise regelm�-ßig auch m�ndlich eingehen und Maßnahmen »ins Blauehinein« unzul�ssig sind.

2. Beschlagnahmeschutz außerhalb einer Vertrauensbe-ziehung zu einem BeschuldigtenFehlt es dagegen an einer Vertrauensbeziehung zu einem Be-schuldigten oder liegt aus anderen Gr�nden keine Verteidi-gungsunterlage vor, scheidet ein R�ckgriff auf § 148 StPO

aus. Die normative Antwort auf die Frage einer Beschlag-nahmefreiheit kann sich dann nur aus der hierf�r vorgesehenVorschrift des § 97 StPO ergeben.

a) Geltungsbereich des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPODamit r�ckt die Streitfrage in den Raum, ob § 97 Abs. 1 Nr. 3StPO entgegen seinem Wortlaut so auszulegen sei, dass auchdiese Regelung (wie die �brigen Ziffern der Norm) ausschließ-lich das Vertrauensverh�ltnis des Rechtsanwalts zum Beschul-digten erfasse. Insbesondere die Rechtsprechung hat diesfr�her einm�tig bejaht und § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO trotz desfehlenden Verweises auf einen Beschuldigtenstatus im Geset-zestext nur als sachliche Erweiterung der vorgenannten Ziffernauf »sonstige Gegenst�nde« aufgefasst.31 Vermag dies gesetzes-systematisch nahe zu liegen,32 f�hrt die eingeschr�nkte An-wendung des § 97 Abs. 1 StPO dazu, dass es an einer Kongru-enz mit dem – als solches nicht auf eine Beziehung zum Be-schuldigten beschr�nkten – Zeugnisverweigerungsrecht fehlt.S�mtliche Unterlagen, die ein Berufsgeheimnistr�ger in Aus-�bung seiner anwaltlichen T�tigkeit f�r einen Dritten erstellt,w�ren demnach dem staatlichen Zugriff preisgegeben. Ber�ck-sichtigt man �berdies, dass die meisten der nach § 53 StPOPrivilegierten die ihnen obliegenden T�tigkeiten nicht ohnedas Anfertigen von Unterlagen ordnungsgem�ß ausf�hrenk�nnen, f�hrt eine Verengung des Tatbestandes zu einer voll-st�ndigen Aush�hlung des anwaltlichen Zeugnisverweige-rungsrechts außerhalb von Beziehungen zum Beschuldigten.Ungeachtet dieses teleologischen Widerspruchs ist einer der-artigen Entwertung des anwaltlichen Beschlagnahmeprivilegsnach § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO, aber jedenfalls mit der Einf�h-rung des § 160a StPO, die Grundlage entzogen worden, wasauch das LG Mannheim33 erkannt und sich gegen die fr�hereh.M. positioniert hat.34 Zwar kann § 160a StPO wegen derdargelegten Vorrangstellung des § 97 StPO keine normativeWirkung entfalten. Der in der Regelung verk�rperte und inder Gesetzesbegr�ndung dokumentierte Wille des Gesetzge-bers nach einem absoluten Schutz des Anwaltsmandats35 istaber bei der Auslegung des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO zwingendzu ber�cksichtigen.36

ganisation von Unternehmen, 2016, S. 237 ff., 240 sowie Hartmut SchneiderNStZ 2016, 309 (311).

25 LG Braunschweig wistra 2016, 40 (42), LG Gießen wistra 2012, 409 (410);Jahn/Kirsch NZWiSt 2016, 39 (40); Klengel/C. Buchert NStZ 2016, 383 (386)m.w.N.

26 R�tters/Schneider GA 2014, 160 (163); Klengel/C. Buchert NStZ 2016, 383(386).

27 Ebenso Schmid/Wengenroth NZWiSt 2016, 404 (408).28 BGHSt 44, 46 (49) = StV 1998, 246.29 R�ttgers/Schneider GA 2014, 160 (163); Klengel/C. Buchert NStZ 2016, 383

(386).30 Ebenso Schmid/Wengenroth NZWiSt 2016, 404 (408); zum Begriff der sog.

Verteidigungsunterlage Klengel/C. Buchert NStZ 2016, 383 (386).31 Vgl. nur LG Hamburg StV 2011, 148 m. abl. Anm. Jahn/Kirsch; LG Bonn

NZWiSt 2013, 21 (24); siehe auch Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 20), § 97Rn. 10a m.w.N.

32 F�r die fr�her h.M. spricht, dass man bei einem Verzicht auf das Erforderniseines Beschuldigtenstatus dem Auffangtatbestand eine solche Reichweite ver-leihen w�rde, dass die tatbestandliche Verengung auf den Beschuldigten inNr. 1 und Nr. 2 Alt. 1 der Norm �berfl�ssig w�re.

33 LG Mannheim StV 2013, 616 m. zust. Anm. Jahn/Kirsch.34 �hnlich Schmid/Wengenroth NZWiSt 2016, 404 (406 ff.).35 Vgl. BT-Drs. 17/71, S. 7707. Ein entsprechender Wille des Gesetzgebers

kommt im �brigen auch im aktuellen Regierungsentwurf zur Neufassungdes Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) zum Ausdruck, aus-f�hrlich dazu unten unter C.II.3.

36 Ebenso B. Gercke FS Wolter, 2013, S. 931 (945); C. Buchert, Die unterneh-mensinterne Befragung von Mitarbeitern im Zuge repressiver Compli-ance-Untersuchungen aus strafrechtlicher Sicht (im Erscheinen), S. 176 ff.

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Aufs�tze Buchert/Buchert · Anwaltliche Ombudspersonen

Die Vorschrift des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO kann daher nur soverstanden werden, dass schriftlich fixierte Kommunikati-onsinhalte ebenso wie im Zusammenhang mit diesem Auf-trag vorgenommene Erhebungen durch den Berufsgeheim-nistr�ger auch dann vor einem staatlichen Zugriff abge-schirmt sind, wenn keine Vertrauensbeziehung zu einemBeschuldigten besteht.37 Anders verh�lt es sich hingegenbei Gegenst�nden bzw. Unterlagen, die dem Rechtsanwaltvon seinem Mandanten �berlassen werden. Zwar erfasst diesprachliche Wendung des Anvertrauens auch die �bergabeeines Gegenstandes. Privaten Dritten ohne Beschuldigtensta-tus darf aber nicht die M�glichkeit er�ffnet werden, poten-zielle Beweismittel einem Strafverfahren zu entziehen undhierdurch die staatliche Wahrheitsfindung (ggfs. sogar zumNachteil des Beschuldigten) zu verf�lschen.38

b) Genereller Beschlagnahmeschutz anwaltlich erstellterMandats-UnterlagenDies bedeutet, dass unabh�ngig von dem Beschuldigtenstatusdes Mandanten s�mtliche von anwaltlicher Seite im Rahmendes Mandats angefertigten Unterlagen beschlagnahmefreisind, wenn sie sich im Gewahrsam der anwaltlichen Ombuds-person befinden. Soweit anwaltliche Ombudspersonen Be-richte und Aufzeichnungen �ber die Ihnen im Rahmen desOmbudsmann-Mandates zugetragenen Sachverhalte anferti-gen, d�rfen diese folglich nicht beschlagnahmt werden, solan-ge sie die anwaltliche Sph�re nicht verlassen. Liegen die Berich-te hingegen beim Unternehmen ist eine Beschlagnahme au-ßerhalb einer Verteidigungssituation stets m�glich. In derPraxis ist es daher �blich, dem Unternehmen – im Einver-st�ndnis mit dem Hinweisgeber – nur die Sachinformationzuzuleiten, zumal die Person des Hinweisgebers f�r die interneAufkl�rung etwaiger Missst�nde regelm�ßig keine Rolle spielt.

II. Beschlagnahmeschutz aufgrund einer Vertrauens-beziehung zum HinweisgeberDie von der Bochumer Kammer besonders in den Blick ge-nommene Beziehung des Hinweisgebers zur Ombudspersondarf auch nach den bereits erfolgten Darlegungen nichtaußen vor gelassen werden, da die Ombudsperson nichtnur Anwalt des Unternehmens ist, sondern im Rahmen desMandats sich eine von den Parteien gewollte Vertrauensbe-ziehung entwickelt. Soweit sich hieraus eine eigenst�ndig zusch�tzende Vertrauensbeziehung zu dem Hinweisgeber er-gibt, muss der Ombudsmann diese in gleicher Weise beach-ten. Das LG Bochum hat ein schutzw�rdiges mandats�hnli-ches Vertrauensverh�ltnis in seiner Entscheidung recht apo-diktisch verneint. Es habe im konkreten Fall an einerbesonderen, individuell-begr�ndeten Vertrauensbeziehunggefehlt und ein Hinweisgebermandat rufe �berdies eine Kol-lision mit den gegenl�ufigen Interessen des Unternehmenshervor. Der nicht verallgemeinbare Einzelfall kann insoweitnicht abschließend beurteilt werden, die aufgeworfenen Fra-gen bed�rfen jedoch n�herer grunds�tzlicher Beleuchtung.

1. Anvertrauen des HinweisgebersDas durch ein Beschlagnahmeverbot nach 97 StPO abgesi-cherte Zeugnisverweigerungsrecht dient dem Schutz des Ver-trauensverh�ltnisses zwischen dem Berufsgeheimnistr�gerund denen, die ihre Hilfe und Sachkunde in Anspruch neh-men.39 Ein rechtliches Mandat ist keine Voraussetzung.Maßgeblich ist, dass sich der Offenbarende dem Berufsge-heimnistr�ger anvertraut d.h. entweder ausdr�cklich Ge-

heimhaltung verlangt oder diese mit Recht stillschweigenderwarten darf.40 Dies zugrunde gelegt, ist im Regelfall einAnvertrauen des Hinweisgebers gegen�ber der anwaltlichenOmbudsperson anzunehmen.

Hinweisgeber offenbaren der anwaltlichen Ombudsperson ihrWissen �ber vermutete Unregelm�ßigkeiten und regelm�ßigauch ihre Identit�t. Sie m�chten in einem gesch�tzten Raumihr Wissen teilen, das sie oftmals auch psychisch belastet. Hin-weisgeber sind typischerweise Mitarbeiter des Unternehmensoder Dritte, die eine irgendwie geartete N�he zu den Personenhaben, die im Verdacht stehen, das Unternehmen durch kri-minelle Handlungen zu sch�digen. Sie haben daher begr�nde-te Angst vor Repressalien und bed�rfen Vertraulichkeit undSchutz. In den meisten F�llen haben Hinweisgeber zudemauch eingehenden Beratungsbedarf. Das beginnt mit der Fragenach dem Schutz Ihrer Identit�t. Oft besch�ftigt sie auch, obsie sich durch bisheriges Schweigen strafbar gemacht habenk�nnten. Hinweisgeber vertrauen sich daher der Ombudsper-son insbesondere und gerade in der Funktion und Eigenschaftals Rechtsanwalt an. Grundlage der anwaltlichen Vertraulich-keitszusage ist die gesetzliche und auch im Ombudsvertragaufgenommene Verschwiegenheitspflicht, die einer umf�ngli-chen oder Teilentbindung bedarf. In diesem Bewusstsein brin-gen Hinweisgeber der anwaltlichen Ombudsperson Vertrauenentgegen, das sie – aus welchen Gr�nden auch immer – gegen-�ber den internen Stellen im Unternehmen gerade nicht ha-ben. Dass der Ombudsmann auch gegen�ber dem Hinweisge-ber eine typische anwaltliche Funktion wahrnimmt, verstehtsich danach von selbst.41

Anderes muss aber gelten, wenn der Hinweisgeber nicht dieanwaltliche N�he sucht, sondern die Funktion der Ombuds-person als Meldestelle ausnutzt, um eine gezielte Denunzie-rung oder einen anonymen Hinweis abzusetzen. Die ersterenF�lle sind rechtsmissbr�uchlich und k�nnen mangels Ver-trauensbeziehung von vornherein keinen rechtlichen Schutzbeanspruchen. Sie stellen in der Praxis aber eine »quantit�negliable« dar.42 Nicht eindeutig liegen die Dinge dagegenbei der vom LG Bochum mutmaßlich zu beurteilenden Kon-stellation eines anonymen Hinweises. Hier ist richtigerweisedanach zu differenzieren, ob ein Hinweisgeber bewusst denanwaltlichen Rat sucht und beim ersten Kontakt (z.B. amTelefon) nur seine Identit�t nicht offenlegt, dies aber nach-holt, sobald er Vertrauen gefasst hat. Oder aber ob er nuranonym und ohne weiteren Kontakt einen Hinweis �berdie Institution des Hinweisgebersystems gibt. Im letzten

37 Jahn/Kirsch StV 2011, 151 (154); Jahn ZIS 2011, 453 (457 ff.); Erb FS K�hne(Fn. 11), S. 171 (176); B. Gercke FS Wolter (Fn. 36), S. 931 (943 ff.); C. Bu-chert (Fn. 36), S. 178 ff.

38 LG Mannheim NStZ 2012, 713 (715 ff.) = StV 2013, 616; Erb FS K�hne(Fn. 11), S. 171 (182); C. Buchert (Fn. 36), S. 183 ff.

39 Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 20), § 53 Rn. 1, vgl. auch BVerfGE 38, 312 (323)= NJW 1975, 588.

40 RGSt 66, 273 (274); BGH NJW 1990, 510 (512); Meyer-Goßner/Schmitt(Fn. 20), § 53 Rn. 8.

41 Auch die gesamte T�tigkeit des Ombudsmanns ist von anwaltlicher Pr�gung:Der Ombudsmann ist nicht nur verpflichtet, den an ihn herangetragenenSachverhalt unter verschiedensten rechtlichen Blickwinkeln zu pr�fen undauf dieser Grundlage das ihn mandatierende Unternehmen zu beraten. Er istauch eigenverantwortliche Stelle im Sinne des § 3 Abs. 7 BDSG (siehe auchFn. 8).

42 Dem Erstverf. sind in �ber 15j�hriger Ombudsmann-Praxis bei mehr als 2.000Hinweisen und Hinweisgebern keine nachweislichen F�lle von Denunzierun-gen bekannt geworden, soweit mit den Hinweisgebern pers�nliche Gespr�chegef�hrt worden sind.

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Fall scheidet ein Anvertrauen in der Regel aus, da hier keinBezug zur anwaltlichen T�tigkeit besteht. In den �brigenF�llen ist dagegen eine Interpretation des Hinweises undder zum Ausdruck kommenden Intention erforderlich.43

Der Hinweisgeber kann daher nicht auf die strafprozessualeRolle eines Zeugen reduziert werden und der Ombudsmannist auch kein einfacher Bote des Unternehmens, der nur alsMeldestelle fungiert.44 Derartig verallgemeinernde Bewer-tungen gehen an der Lebenswirklichkeit vorbei und lassenden Blick �ber den Tellerrand des atypischen Einzelfalls hi-naus vermissen.

2. Mandats�hnliches Verh�ltnis und InteressenkollisionEntgegen der Ansicht des LG Bochum entsteht bei richtigerAusgestaltung des Vertrags45 zwischen Unternehmen undOmbudsperson zu dem Hinweisgeber auch ein Verh�ltnis,das mandats�hnliche Z�ge hat. Durch den Vertrag wirdder (potenzielle) Hinweisgeber als wesentlicher Dritter be-wusst in den Vertrag einbezogen. Die Ombudsperson wirdvon dem Unternehmen beauftragt, den Kontakt suchendenHinweisgeber anzuh�ren, ihn in engen, n�her beschriebenenGrenzen zu beraten und seine Identit�t zu sch�tzen. DasMandat mit der Ombudsperson tr�gt dem entstehendenVertrauensverh�ltnis zwischen Hinweisgeber und Ombuds-person ausdr�cklich Rechnung.

Dem h�lt das LG Bochum allerdings entgegen, dass ein man-dats�hnliches Verh�ltnis den Interessen des beauftragendenUnternehmens zuwiderl�uft.46 Diese Annahme ist unzutref-fend. Ein derartiger Konflikt im Sinne einer strukturellenInteressenkollision ist bei der �blichen Mandatierung vonanwaltlichen Ombudspersonen und den typischen Fallge-staltungen nicht gegeben, was sich durch eine n�here Be-trachtung des Ombudsmann-Vertrages erschließt: Der Hin-weisgeber m�chte einen Hinweis zu einem Verdacht abgebenund das Unternehmen m�chte ihn erlangen. Im Ombuds-mann-Vertrag wird der beidseitig gewollte Schutz des Hin-weisgebers mit einem ausdr�cklichen und unwiderruflichenVerzicht des Unternehmens flankiert, die Herausgabe vonUnterlagen und die Preisgabe der Identit�t des Hinweisge-bers zu verlangen.47 Soweit der Hinweisgeber der Weitergabeseines Hinweises nicht zustimmt und ausnahmsweise keineBefreiung von der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht er-folgt,48 wird die Nichterlangung eines Hinweises so gesehen,dass dies dann (�bergeordnet) dem Funktionieren des Hin-weisgebersystems geschuldet ist. Die Situation eint Hinweis-geber und Unternehmen, eine Interessenkollision ist nachder dokumentierten Interessenlage fernliegend, zumal dersich offenbarende Hinweisgeber entgegen landl�ufiger Vor-stellungen regelm�ßig nicht zum Beschuldigtenkreis z�hlt.Sollte sich im Einzelfall ein nicht vorhersehbarer Interessen-konflikt ergeben, m�sste der Ombudsmann – wie jederRechtsanwalt, der im Verlauf des Mandats einen Interessen-konflikt feststellt – seine T�tigkeit einstellen.

3. KonsequenzSoweit danach ein mandats�hnliches Vertrauensverh�ltniszwischen Ombudsperson und Hinweisgeber entsteht, ist die-ses von der anwaltlichen Ombudsperson in gleicher Weise zubeachten. Auch aus dieser Sph�re heraus sch�tzt § 97 Abs. 1Nr. 3 StPO nach den dargelegten �berlegungen s�mtlichevon anwaltlicher Seite erstellte Unterlagen, soweit sich dieseim anwaltlichen Gewahrsam befinden. Nicht gesch�tzt sind

dagegen Gegenst�nde, die dem Ombudsmann durch denHinweisgeber nur �berlassen werden. Die staatliche Wahr-heitsfindung genießt auch hier Vorrang und muss vor Ein-flussnahme gesch�tzt werden. Dies zugrunde gelegt er-scheint es aber angezeigt, verschriftete Unterlagen des Hin-weisgebers als beschlagnahmefrei einzustufen. Schließlichmacht es keinen Unterschied, ob sich ein Hinweisgeberdem Ombudsmann m�ndlich offenbart, oder ihm seinenHinweis schriftlich �bermittelt. Dies entspricht im �brigenauch dem konkreten Willen des Gesetzgebers, der im aktu-ellen Entwurf zur Neufassung des Deutschen CorporateGovernance Kodex (DCGK) den Vorstand eines Unterneh-mens nicht nur zur Einrichtung eines Compliance Manage-ment Systems verpflichtet, sondern diesen in gleicher Weiseanh�lt, Besch�ftigten und Dritten die M�glichkeit einzur�u-men, »gesch�tzt Hinweise auf Fehlverhalten im Unterneh-men zu geben.«49

D. FazitUnabh�ngig vom Ergebnis hat das LG Bochum die Funktionder anwaltlichen Ombudsperson in einem Compliance-Ma-nagement-System unzureichend gew�rdigt und infolge einerMissachtung der Wertungen des § 160a StPO ferner auchdie Reichweite des § 97 StPO bei nicht verteidigendenRechtsanw�lten verkannt. Anwaltlich erstellte Unterlagensind unabh�ngig von einem Beschuldigtenstatus stets �ber§§ 97, 160a StPO gesch�tzt, soweit sich diese im anwaltli-chen Gewahrsam befinden, gefertigte Berichte der anwaltli-chen Ombudsperson eingeschlossen. Soweit entsprechendeBerichte als Verteidigungsunterlagen anzusehen sind, giltdieser Beschlagnahmeschutz �ber §§ 97, 148 StPO auch un-abh�ngig vom Verwahrort. Daneben kann infolge eines An-vertrauens auch ein mandats�hnliches Verh�ltnis zwischenOmbudsperson und Hinweisgeber entstehen, das in gleicherWeise zu beachten ist. Hiervon ausgehend erscheint esschließlich folgerichtig, auch verschriftete Unterlagen vonHinweisgebern dem Beschlagnahmeschutz zu unterstellen,wenn und soweit sich das Zeugnisverweigerungsrecht aufsie bezieht und sich diese in der Sph�re der anwaltlichenOmbudsperson befinden. Dessen ungeachtet w�re es krimi-nalpolitisch w�nschenswert, den Schutz von Hinweisgeberndurch eine eigenst�ndige Regelung zu st�rken. Der Gesetz-geber ist insoweit aufgerufen, seinem erkl�rten Willen nor-mative Taten folgen zu lassen.

43 Eingehend dazu B�rkle/Hauschka/R. Buchert (Fn. 7), § 10 Rn. 56 ff.44 So aber Sotelsek NStZ 2016, 502 (503 ff.).45 Zu den Elementen eines Ombudsmann-Vertrages Hauschka/B�rkle/R. Bu-

chert (Fn. 7), § 10 Rn. 52.46 LG Bochum NStZ 2016, 500 unter ausdr�cklichen Verweis auf Meyer-Goß-

ner/Schmitt (Fn. 20), § 97 Rn. 10b; s. auch LG Hamburg StV 2011, 148 sowieBauer StV 2012, 277.

47 Etwas Anderes gilt nat�rlich, wenn der Hinweisgeber dem zustimmt.48 Die F�lle, dass nach einem Kontakt mit dem Ombudsmann eine Befreiung

von der Verschwiegenheitspflicht nicht erfolgt sind unterschiedlich motiviert,zahlenm�ßig aber selten und daher vernachl�ssigbar.

49 Vgl. Regierungskommission, �nderungsvorschl�ge und Erl�uterungen zumDCGK, Stand: Oktober 2016, Ziff. 4.1.3, unter http://www.dcgk.de/de/kom-mission/die-kommission-im-dialog/deteilansicht/vorschlaege-fuer-kodexaen-derungen-2017.html.

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Dokumentation

Stuttgarter Fr�chteIm Anschluss an den Abdruck des Beschlusses des OLGStuttgart v. 14.12.2015 – 2 Ws 203/15, StV 2016, 479 m.krit. Anm. Koch im Augustheft des letzten Jahrgangs do-kumentieren wir nachfolgend eine E-Mail des stellvertre-tenden Vorsitzenden des Staatsschutzsenats des OLGStuttgart an zwei Verteidiger aus dem Juli 2016 – d. Red.

Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt X.,sehr geehrter Herr Rechtsanwalt Y.,

zun�chst darf ich mir erlauben, ein schweres rechtlichesMissverst�ndnis aufzukl�ren, dem Sie offenbar beide unter-liegen. Die Bestellung von zwei Pflichtverteidigern befreitnicht von der generellen Anwesenheitspflicht jedes einzelnenVerteidigers. Mit �bernahme der Pflichtverteidigung habenSie beide sicherzustellen, dass Sie die Hauptverhandlungs-termine wahrnehmen k�nnen (vgl. OLG Stuttgart v.14.12.2015 – 2 Ws 203/15 mit zahlreichen weiteren Nach-weisen). Das Missverst�ndnis in der Absprache zwischen Ih-nen beiden ist daher in der Sache v�llig belanglos.

Im �brigen ist festzustellen, dass RA X. seit November 2015durch die ihm �bersandten »organisatorischen Hinweisezum Strafverfahren gegen Z. u.a.« �ber die Terminierung(Di, Do) und die beabsichtigte Ferienregelung informiertwar. Die Terminierung wurde dann durch Verf�gung vom21.03.2016 bis zum 29.09.2016 konkretisiert (sp�testensdies muss auch RA Y. zum Zeitpunkt seines Bestellungsan-trags bekannt gewesen sein). Die dort enthaltene dreiw�chi-ge Unterbrechung ab Mitte Juli bis Anfang August h�tteausreichende M�glichkeit gegeben, die Urlaubsplanung an-

zupassen. Dies w�re auch unter Ber�cksichtigung der Schul-ferien in NRW (09.07. bis 23.08) problemlos m�glich ge-wesen. Die Planung des Jahresurlaubs bei Ihnen beiden abdem 09.07. ist daher f�r den Senat nicht nachvollziehbar.

Ein Fall, in dem eine Vertretung gerechtfertigt w�re, liegtsomit nicht vor. Dies bedeutete an sich, dass Sie zum Er-scheinen an den Hauptverhandlungsterminen am 12. und14.07. (ggf. auch durch Anreise vom Urlaubsort auf eigeneKosten) verpflichtet w�ren. Die Genehmigung der Vertre-tung w�re daher ein Akt großz�giger Freundlichkeit. Insbe-sondere angesichts der Art und Weise, wie sich insbesondereRA X. mir gegen�ber in den Hauptverhandlungsterminenmehrfach geriert und ge�ußert hat, gibt es dazu an sich kei-nen Anlass. Auch wenn meine bisherigen Erfahrungen mitStrafverteidigern dagegen sprechen, bleibt aber meine Hoff-nung, dass Freundlichkeit ansteckend wirkt. Aus diesemGrund sichere ich Ihnen – in Absprache mit Herrn Dr. A.– zu, die Vertretung h�chstausnahmsweise zu genehmigen,wenn Sie mir eine Erkl�rung des Angeklagten B. vorlegen,dass er mit der Vertretung einverstanden ist. Soweit Sie mir�ber ihr B�ro bis Montag Nachmittag eine entsprechendeErkl�rung Ihres Mandanten zukommen lassen, werde ichSie beide von der Anwesenheitspflicht an beiden Terminenentbinden und die Vertretung genehmigen.

F�r diesen Fall w�nsche ich Ihnen und Ihren Familien, dief�r Ihre Fehlplanung nichts k�nnen, (trotz allem) einensch�nen Urlaub und hoffe, dass der Vorgang in vielerlei Hin-sicht zum Nachdenken anregt.

Mit freundlichen Gr�ßen [...]

Zeitschriften

Auslese wichtiger Fachzeitschriftenbeitr�geZusammengestellt von Rechtsanwalt Prof. Dr. Reinhold Schlothauer, Bremen

Hinweis: Einen aktuellen �berblick �ber strafrechtliche Beitr�ge in Fachzeitschriften des Vormonats finden Sie imInternet unter www.stv-online.de

Verfahrensrecht

GG Art. 103 Abs. 1; BVerfGG § 90 Abs. 2; EMRK Art. 5Abs. 1 S. 2 lit. c; StPO § 33aSubsidiarit�t der Verfassungsbeschwerde und Anh�-rungsr�geEsser NJW 2016, 604

Nach der Rspr. des BVerfG erfordert das Prinzip der materi-ellen Subsidiarit�t einer Verfassungsbeschwerde, dass der Be-

schwerdef�hrer eine sog. Anh�rungsr�ge auch in den F�llen(erfolglos) erhoben hat, in denen das Instanzgericht die ein-schl�gige Rspr. des EGMR oder die EMRK nicht ber�cksich-tigt oder dies zumindest nicht in den Gr�nden seiner Ent-scheidung dokumentiert habe. Der Beitrag f�hrt aus, dass diehohen Anforderungen, die das BVerfG hier stelle, zu einernicht zu vertretenden Mehrarbeit der Gerichte und damitzu einer Zeitverz�gerung f�hrten, womit niemandem gehol-fen sei.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 210/212] 4

210 StV 3 · 2017

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Zeitschriften

StPO §§ 48 Abs. 3, 158 Abs. 4, 161a Abs. 5, 163Abs. 3, 171, 397, 406d, 406h Abs. 1 S. 1 Nr. 5; GVG§ 1853. OpferrechtsreformgesetzFerber NJW 2016, 279

Der Beitrag befasst sich mit dem am 31.12.2015 in Kraftgetretenen 3. Opferrechtsreformgesetz, das eine St�rkungder Verletztenrechte im Strafverfahren intendiert. Schwer-punkt des Beitrags ist der »Meilenstein« in Form einer psy-chosozialen Prozessbegleitung f�r Verletzte.

StPO §§ 81, 112, 203, 102Anfangsverdacht, hinreichender und dringender Tat-verdachtPfordte StraFo 2016, 53

Aus den im Ermittlungsverfahren nach Verdachtsgraden un-terschiedlich ausgestalteten Eingriffskompetenzen der Er-mittlungsbeh�rden ergeben sich f�r den Verteidiger unter-schiedliche Handlungsm�glichkeiten. Allerdings l�sst sichin der Praxis eine trennscharfe Abgrenzung zwischen den un-terschiedlichen Verdachtsgraden nicht feststellen. Dies f�hreu.a. zur Problematik sog. Vorermittlungen, wenn ein zur Ein-leitung eines Ermittlungsverfahrens erforderlicher Anfangs-verdacht nicht bestehe. Vor diesem Hintergrund sei eine kla-re gesetzliche Regelung der Zul�ssigkeit von Vorermittlungenund ihren Grenzen zu fordern.

StPO §§ 100g, 100j, 101, 101a, 101b; TKG §§ 113a ff.;StGB § 202dDie neue VorratsdatenspeicherungRossnagel NJW 2016, 533

Der Beitrag befasst sich mit der Wiedereinf�hrung der Vor-ratsdatenspeicherung, die im Verh�ltnis zu Vorl�uferregelun-gen nur noch eingeschr�nkt zul�ssig sei. Im Mittelpunktsteht eine Erl�uterung der einzelnen Regelungen. Fernerwird der Schutz von Berufsgeheimnissen thematisiert undder in unmittelbarem Zusammenhang stehende neue Straf-tatbestand der Datenhehlerei (§ 202d StGB) einer W�rdi-gung unterzogen.

StPO § 105Richterliche Pr�fung von Durchsuchungsantr�genKolz NZWiSt 2016, 58

Vor dem Hintergrund der Entscheidung des BVerfG vom16.06.2015 (StV 2015, 606 m. Anm. Park StV 2016, 68)entwickelt der Verf. einen Vorschlag de lege ferenda mitdem Modell einer abgestuften richterlichen Pr�fung staats-anwaltschaftlicher Durchsuchungsantr�ge, das insbes. demh�ufig bestehenden Zeitdruck Rechnung tragen k�nne.

StPO §§ 116, 120, 123Untersuchungshaft, Rechtskraft und § 116 StPOBarthe NStZ 2016, 71

Der Beitrag befasst sich mit der Frage nach dem Schicksalvon Haftverschonungsauflagen nach rechtskr�ftigem Verfah-rensabschluss. Zwar spreche viel f�r einen L�sungsansatz,wonach bei dem Haftgrund der Fluchtgefahr Haftbefehlund Haftverschonungsauflage auch noch nach rechtskr�fti-gem Verfahrensabschluss Bestand haben m�ssten, wenndies der Sicherung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe die-ne. W�nschenswert sei aber ein gesetzgeberisches Eingreifen,

um die in der Praxis bestehende Unsicherheit mit dem Um-gang dieses Problems zu beenden.

StPO § 145aDie Zustellungsvollmacht im StrafprozessrechtM. Mayer NStZ 2016, 76

Der Beitrag befasst sich mit Wirksamkeitsvoraussetzungenund Reichweite sowie Anwendungsbereichen der Zustel-lungsvollmacht im Strafprozess.

StPO §§ 152 ff.Das Ermittlungsverfahren – Sonderopfer des Tatver-d�chtigenBockem�hl StraFo 2016, 60

Der Beitrag weist darauf hin, dass Betroffene eines Ermitt-lungsverfahrens diesem weitgehend rechtlos ausgesetzt seien,weil weder dessen Einleitung noch der Zeitpunkt seiner Be-endigung einer gerichtlichen Kontrolle unterl�ge.

StPO §§ 163 Abs. 3, 163aVernehmungstaktik: SuggestivfragenReinhold/Schweizer/ScheerKriminalistik 2016, 120

Der Beitrag warnt vor den Folgen der beeinflussenden Wir-kung von Suggestivfragen in Form unbewusst falscher Aus-sagen, was weitreichende Folgen haben k�nne.

StPO §§ 243 Abs. 4, 257c, 337Pflicht zur Mitteilung verst�ndigungsbezogener Er�r-terungen (Bespr. von BGH StV 2016, 81)Strate NJW 2016, 450

Der Besprechungsaufsatz setzt sich krit. mit der sich von derKammerrechtsprechung des BVerfG zu §§ 243 Abs. 4, 337StPO distanzierenden Entscheidungspraxis des 3. Strafsenatsauseinander. Danach beruhe nicht jedes Urteil auf einer Ver-letzung des § 243 Abs. 4 StPO wenn nichts daf�r ersichtlichsei, wie der Schuldspruch des angefochtenen Urteils mit derunterbliebenen Mitteilung in einem urs�chlichen Zusam-menhang stehen k�nne.

StPO § 257cProzessabsprache, Wahrheitsermittlung und Prozess-strukturGreco GA 2016, 1

Die von dem Verf. ge�bte Kritik an Prozessabsprachen wird aufdie Prozessstruktur des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfah-rens zur�ckgef�hrt. Eine Korrektur der Absprachepraxis habeam Vorverfahren anzusetzen in Form des Ausbaus und der in-stitutionellen Absicherung von Verteidigungsrechten. Weiter-hin m�sse die Identit�t von er�ffnendem und urteilendem Ge-richt ebenso �berdacht werden, wie die Aktenkenntnis desVorsitzenden und der sonstigen Berufsrichter. Die Empfeh-lungen der Expertenkommission des BMJV zur Reform desStrafprozessrechts seien schon von ihrer Intention her nichtgeeignet, derartige Reformerwartungen zu erf�llen.

StPO E §§ 29, 58a, 244, 265Die Vorschl�ge der Expertenkommission des BMJV zurReform des StrafprozessesSch�nemann StraFo 2016, 45

Der Beitrag setzt sich teils krit. teils zustimmend mit deninsgesamt aber als unzureichend charakterisierten Vorschl�-

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 211/212] 4

StV 3 · 2017 211

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gen der Expertenkommission des BMJV zur Reform desStrafprozesses auseinander.

Vollzugsrecht

StVollzG § 119a; StGB § 66c Abs. 2, Abs. 1 Nr. 1Sicherungsverwahrung: Das strafvollzugsbegleitendegerichtliche Kontrollverfahren nach § 119a StVollzGPeglau JR 2016, 45

Durch das strafvollzugsbegleitende gerichtliche Kontrollver-fahren gem. § 119a StVollzG soll schon w�hrend des Straf-vollzugs sichergestellt werden, dass eine Betreuung angebo-ten wird, die zum Ziel hat, die Gef�hrlichkeit des Verurteil-ten f�r die Allgemeinheit soweit zu mindern, dass dieVollstreckung der Maßregel m�glichst bald zur Bew�hrungausgesetzt oder f�r erledigt erkl�rt werden kann bzw. die vor-behaltene Sicherungsverwahrung gar nicht angeordnet wer-den muss. �ber § 130 StVollzG gilt § 119a StVollzG auchf�r den Vollzug der Sicherungsverwahrung selbst. Der Bei-trag befasst sich mit den beiden in § 119a StVollzG enthal-tenen Verfahrensarten.

BtMG § 29Strafbarkeit des Umgangs mit neuen psychoaktivenSubstanzenOglakcıoglu NK 2016, 19

Der Beitrag setzt sich mit einem Referentenentwurf des Bun-desgesundheitsministeriums auseinander, der den Umgangmit neuen, psychoaktiven Substanzen unter Strafe stellensoll. Dem Ph�nomen der »legal highs« soll danach mit einerListe ganzer Stoffkombinationen begegnet werden, welchepotenzielle »Zutaten« f�r Designerdrogen umfasst. Der Bei-trag weist darauf hin, dass die antizipierte Aufnahme vonStoffen, deren Wirkweise man nur vermuten k�nne, bereitsf�r sich gesehen problematisch sei; auch komme man aufdiese Weise dem Ph�nomen der Designerdrogen nicht bei.

Sonstiges

StGB § 64Sinnhaftigkeit und Effektivit�t der Behandlung vonsuchtkranken Straft�tern gem�ß § 64 StGBHartl/Schlauderer/Schl�gel/Mache MschrKrim 2015, 513

Der Beitrag stellt die Behandlungsergebnisse von suchtkran-ken Rechtsbrechern vor im Vergleich zwischen regul�r ent-lassenen Patienten und Therapie-Abbrechern.

Verteidigung und RechtspolitikSandkuhl StraFo 2016, 97

Der Beitrag weist auf Schw�chen der Gesetzgebung hin, diesich in der �berst�rzten und nicht immer durchdachtenSchaffung neuer Rechtsg�ter, unzureichenden Gesetzesbe-gr�ndungen und der Vernachl�ssigung des ultima ratio Prin-zips und der Verh�ltnism�ßigkeit niederschlage.

Religion, M�nnlichkeit, Ehre und Liberalit�t bei Men-schen mit und ohne MigrationshintergrundWegel/Stroezel/Kerner Kriminalistik 2016, 147

Der Beitrag fasst Erkenntnisse einer empirischen Erhebung�ber kriminologisch relevante Befunde zum Verhalten vonMenschen und dem Verh�ltnis zwischen den Gruppen mit

und ohne Migrationshintergrund zusammen. Bezogen aufnach Deutschland zugewanderte »Deutsch-T�rken« werdenderen Einstellungs- und Verhaltensmuster in Beziehung ge-setzt zu in der T�rkei lebenden und in Deutschland lebendenBefragten. Der Beitrag gibt Anlass f�r eine differenziertereBetrachtung der sog. Werteorientierung und f�r �berlegun-gen zum Umgang mit unterschiedlich gepr�gten Vorstellun-gen.

Islam- und Muslimfeindlichkeit in Deutschland undEuropaLogvinov Kriminalistik 2016, 157 (Teil 1)

In dem ersten Teil des Beitrages analysiert der Verf. Studienzur Frage, ob von einem »Feindbild Islam« in Deutschlandgesprochen werden k�nne und an welchen Kriterien eine »Is-lamfeindlichkeit« festgemacht werde.

Kriminelle Fußballfans?Albers/Feltes/Ruch MschrKrim 2015, 481

Der Beitrag analysiert die Ergebnisse einer empirischen Un-tersuchung zu Stadionverboten und registrierter Delinquenz.

BGB § 823; GG Art. 5Geldentsch�digung bei vorverurteilenden �ußerun-gen durch Medien oder JustizGunnar/Gounalakis NJW 2016, 737

Der Beitrag thematisiert die Problematik vor verurteilender�ußerungen, die in gewisser Regelm�ßigkeit in der Medien-berichterstattung anzutreffen sind, aber auch gelegentlich inPresseinformationen Eingang finden, welche die Justiz, ins-bes. die Staatsanwaltschaft, an die Medien und damit an die�ffentlichkeit gibt. Der Beitrag beleuchtet – aufbauend aufGrunds�tzen zul�ssiger Verdachtsberichtserstattung in Me-dien und Justiz – speziell die Problematik der medialen undjustiziellen Vorverurteilung und hinterfragt die Judikatur zurGeldentsch�digung f�r immaterielle Beeintr�chtigungen kri-tisch.

EMRK Art. 6 Abs. 3Fairness im Strafverfahren? Eine empirische Untersu-chungSummers/Studer ZStrR 2016, 45

Der Beitrag ist eine empirische Studie �ber beobachteteHauptverhandlungen. Maßstab f�r die untersuchte Verfah-rensfairness war die Verletzung von Verteidigungsrechten.Als Defizit wurde festgestellt, dass die rechtliche Unterregu-lierung des Vorverfahrens angesichts seines urteilspr�gendenCharakters negative Einfl�sse auf die Verfahrensfairness h�tte.

StGB § 177Epidemiologie und Strafverfolgung sexueller Gewaltgegen Frauen in DeutschlandHellmann/Pfeiffer MschrKrim 2015, 527

Der Beitrag referiert Studien des Kriminologischen For-schungsinstituts Niedersachsen, denen zufolge sich die Ver-breitung sexueller Gewalt gegen Frauen in Deutschland von1992 bis 2011 nahezu halbiert habe. Allerdings sei die Dun-kelziffer hoch. Auffallend seien auch erhebliche regionaleUnterschiede, die erkl�rungsbed�rftig seien. Dem Thema»Sexuelle �bergriffe im �ffentlichen Raum« widmet sichder Beitrag von Lembke KJ 2016, 3.

WKD/StV, 03/2017 #8790 02.02.2017, 09:19 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Innenteil.3d [S. 212/212] 4

212 StV 3 · 2017

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Impressum

Beirat

Rechtsanw�ltinnen und Rechtsanw�lte:Nicolas Becker, Berlin . Wolfgang Bendler, M�nchen . BertramB�rner, Hannover . Dr. h.c. R�diger Deckers, D�sseldorf . Prof.Norbert Gatzweiler, K�ln . Kurt Groenewold, Hamburg . Prof. Dr.Rainer Hamm, Frankfurt a.M. . Dr. Heinrich Hannover, Bremen .

Erich Joester, Bremen . Eberhard Kempf, Frankfurt a.M. . UweMaeffert, Hamburg . Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn/Berlin . Dr. ReginaMichalke, Frankfurt a.M. . Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund . Prof.Dr. Tido Park, Dortmund . Dr. Imme Roxin, M�nchen . Prof. Dr. FranzSalditt, Neuwied . Dr. Jan Schl�sser, Berlin . Prof. Dr. ReinholdSchlothauer, Bremen . Johann Schwenn, Hamburg . Dr. h.c. GerhardStrate, Hamburg . Prof. Dr. J�rgen Taschke, Frankfurt a.M. . Prof. Dr.G�nter Tondorf, D�sseldorf . Prof. Dr. Gerson Tr�g, Freiburg . Prof. Dr.Michael Tsambikakis, K�ln . Klaus-Ulrich Ventzke, Hamburg . Dr.Anne Wehnert, D�sseldorf . Ulrike Zecher, Berlin . Dr. Matthias Zieger,Berlin

Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer:Prof. Dr. Stephan Barton, Universit�t Bielefeld . Prof. Dr. KlausBernsmann, Ruhr-Universit�t Bochum . Prof. Dr. Werner Beulke,

Universit�t Passau . Prof. Dr. Jochen Bung, M.A., Universit�t Hamburg. Prof. Dr. Friedrich Dencker, Westf�lische Wilhelms-Universit�tM�nster . Prof. em. Dr. Erhard Denninger, Goethe-Universit�t Frank-furt a.M. . Prof. Dr. Robert Esser, Passau . Prof. Dr. Karsten Gaede,Bucerius Law School, Hamburg . Prof. Dr. Sabine Gless, Universit�tBasel . Prof. Dr. Bernhard Haffke, Universit�t Passau . Prof. em. Dr.Arthur Kreuzer, Justus-Liebig-Universit�t Gießen . Prof. Dr. MichaelLindemann, Universit�t Bielefeld . Prof. Dr. Henning Ernst M�ller,Universit�t Regensburg . Prof. em. Dr. Ingo M�ller, Hochschule derPolizei Hamburg . Prof. Dr. Cornelius Nestler, Universit�t zu K�ln .

Prof. Dr. Heribert Ostendorf, Christian-Albrechts-Universit�t zu Kiel .

Prof. Dr. Hans-Ullrich Paeffgen, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Univer-sit�t Bonn . Prof. Dr. Cornelius Prittwitz, Goethe-Universit�t Frankfurta.M. . Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Sch�nemann, Ludwig-Maximi-lians-Universit�t M�nchen . Prof. em. Dr. Karl F. Schumann, Univer-sit�t Bremen . Prof. Dr. Hans Theile, LL.M., Universit�t Konstanz . Prof.em. Dr. Heinz Wagner, Christian-Albrechts-Universit�t zu Kiel . Prof.Dr. Thomas Weigend, Universit�t zu K�ln . Prof. Dr. Wolfgang Woh-lers, Universit�t Basel

Zitierweise: StV

Redaktion:Rechtsanwalt Prof. Dr. Bj�rn Gercke, Hohenstaufenring 62,50674 K�ln, Tel.: 0221/4 76 70 60, Fax: 0221/47 67 06 10, E-Mail:[email protected]. Dr. Matthias Jahn, Lehrstuhl f�r Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirt-schaftsstrafrecht und Rechtstheorie/Forschungsstelle Recht und Praxis derStrafverteidigung (RuPS), Goethe-Universit�t Frankfurt, Theodor-W.-Adorno-Platz 4, 60629 Frankfurt/M., Tel.: 0 69/798-3 43 36, Fax:0 69/798-3 45 21; E-Mail: [email protected] Dr. habil. Helmut Poll�hne, Willy-Brandt-Platz 3, 28215Bremen, Tel.: 04 21/33 51 66, Fax: 04 21/3 35 16 88, E-Mail: [email protected]

Verlag und Redaktionsanschrift:Wolters Kluwer Deutschland GmbHLuxemburger Str. 44950939 K�lnAngela B�hs, Tel.: 02 21/9 43 73-71 26

Beratender Redakteur (bis 2016):Prof. Dr. Klaus L�derssen =

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Anschrift f�r Aufs�tze, Anmerkungen und Rezensionen:Wolters Kluwer Deutschland GmbHRedaktion STRAFVERTEIDIGERLuxemburger Str. 44950939 K�lnE-Mail: [email protected]

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Erscheinungsweise:12mal j�hrlich Anfang des Kalendermonats

Bezugspreise:Im Jahresabonnement E 280,–, Einzelheft E 28,– zzgl. Versandkosten(E 21,60 Inland / E 35,40 Ausland).Vorzugspreis f�r Studenten und Refe-rendare (gegen j�hrl. Nachweis) E 181,– zzgl. Versandkosten (E 21,60Inland / E 35,40 Ausland). Das Abonnement der Zeitschrift Strafverteidi-ger ist schriftlich mit einer Frist von 6 Wochen zum Ende des Kalender-jahres k�ndbar.

Anzeigenverkauf:Karsten K�hn, Wolters Kluwer Deutschland GmbHLuxemburger Str. 44950939 K�lnTel. 02 21/9 43 73 77 97, Fax 02 21/94 37 31 77 97E-Mail: [email protected]

Anzeigendisposition:Karin Odening, Wolters Kluwer Deutschland GmbHLuxemburger Str. 44950939 K�lnTel. 02 21/9 43 73 77 60E-Mail: [email protected]. Zt. gilt die Preisliste Nr. 21 vom 01.01.2017.

Umschlag und Layout:Martina Busch, Grafikdesign, Homburg Kirrberg

Druck: Williams Lea & Tag GmbH, M�nchen

Satz: rdz GmbH, St. Augustin

ISSN 0720-1605www.stv-online.de

WKD/StV, 03/2017 #8790 03.02.2017, 10:25 Uhr – st –S:/3D/wkd/Zeitschriften/StV/2017_03/wkd_stv_2017_03_Roemer.3d [S. 5/12] 4

StV 3 . 2017 V

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