Suhrkamp Verlag · 2020. 7. 27. · nach dem Dichter Stefan George »Denkbild« nannte, eine...

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Suhrkamp Howard Eiland Michael W. Jennings Walter Benjamin Eine Biographie

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  • Suhrkamp

    Howard Eiland Michael W. Jennings

    Walter BenjaminEine Biographie

  • SV

  • Howard Eiland und Michael W. Jennings

    Walter Benjamin

    Eine Biographie

    Aus dem Englischen von Ulrich Friesund Irmgard Müller

    Suhrkamp

  • Titel der Originalausgabe: Walter Benjamin: A Critical LifeDie Originalausgabe in englischer Sprache,

    die dieser Übersetzung zugrunde liegt, erschien erstmals beiThe Belknap Press of Harvard University Press,

    Cambridge (Mass.), LondonCopyright © by the President and Fellows of Harvard College

    Erste Auflage © dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowieder Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

    Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilmoder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

    reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Satz: Satz-Offizin Hümmer,WaldbüttelbrunnDruck: C.H. Beck, Nördlingen

    Printed in GermanyISBN ----

  • Für Elizabeth, Dorothea, Matthew und RudolphUnd für Sarah und Andrew

  • Inhalt

    Einführung

    Eine Berliner Kindheit-

    Metaphysik der JugendBerlin und Freiburg, -

    Der Begriff der KritikBerlin, München und Bern, -

    WahlverwandtschaftenBerlin und Heidelberg, -

    Ein akademischer NomadeFrankfurt, Berlin und Capri, -

    Ein Intellektueller in der Weimarer RepublikBerlin und Moskau, -

    Der destruktive CharakterBerlin, Paris und Ibiza, -

    ExilParis und Ibiza, -

    Die Pariser PassagenParis, San Remo und Skovsbostrand, -

    Baudelaire und die Straßen von ParisParis, San Remo und Skovsbostrand, -

    Der Engel der GeschichteParis, Nevers, Marseille und Port Bou, -

    Epilog

  • Verzeichnis der Siglen Anmerkungen Ausgewählte Bibliographie Dank Bildnachweise Personenregister

  • Einführung

    Der jüdisch-deutsche Literaturkritiker und Philosoph Wal-ter Benjamin (-) gilt heute allgemein als einer derwichtigsten Zeugen der europäischen Moderne. Trotz seiner kur-zen Schaffenszeit – sein Leben fand auf der Flucht vor den Nazisan der spanischen Grenze ein frühes Ende – hinterließ er ein inseiner Tiefe und Vielseitigkeit erstaunliches Werk. In den Jahrenseiner »Lehrzeit in deutscher Literatur«, wie er es nannte, legteBenjamin bleibende Studien zur Kunstkritik der Romantik, zuGoethe und zum barocken Trauerspiel vor und erarbeitete sichin den Zwanzigerjahren seinen eigenen Platz als kritisch urteilen-der Befürworter jener radikalen Kultur, die sich in der Sowjet-union entwickelte, wie auch der Avantgarde, die die literarischeSzene in Paris beherrschte. In der zweiten Hälfte der Zwanziger-jahre stand er im Zentrum vielfältiger Entwicklungen, die heuteals Kultur der Weimarer Republik zusammengefasst werden. Ge-meinsam mit Freunden wie Bertolt Brecht und László Moholy-Nagy trug er dazu bei, eine neue Perspektive des Sehens zu eta-blieren – einen avantgardistischen Realismus –, die sich von denorthodoxen Normen der Kunst und Literatur im deutschen Kai-serreich zu befreien suchte. In dieser Phase, als Benjamin ersteAnerkennung für seine Schriften fand, hegte er die nicht ganz un-begründete Hoffnung, einmal »le premier critique de la littéra-ture allemande«1 zu werden. Er war es auch, der zusammenmit sei-nem Freund Siegfried Kracauer erstmals die populäre Kultur zum

  • Gegenstand seriöser Untersuchung machte. Benjamin schrieb Es-says über Kinderliteratur, Spielzeuge,Wetten, Graphologie, Por-nographie, Reisen,Volkskunst, Lebensmittel, die Kunst von Rand-gruppen wie die der Geisteskranken und über eine Vielzahl vonMedien, wie Film, Radio, Fotografie und die Regenbogenpresse.In den letzten zehn Jahren seines Lebens, von denen er die meis-ten im Exil verbrachte, entstanden viele seiner Schriften als Ab-leger des Passagen-Werks, einer Kulturgeschichte des aufkommen-den städtischen Warenkapitalismus in Frankreich um die Mittedes . Jahrhunderts. Obwohl das Passagen-Werk ein monumen-taler »Torso« blieb, führten die darin enthaltenen Untersuchun-gen und Überlegungen zu einer Reihe bahnbrechender Studien,so die bedeutende ›Polemik‹ von , »Das Kunstwerk im Zeit-alter seiner technischen Reproduzierbarkeit«; so auch die Essaysüber Charles Baudelaire, denen dieser Dichter seine Stellung alsrepräsentativer Schriftsteller der Moderne verdankt. Aber Benja-min lässt sich nicht auf seine Rolle als herausragender Kritikerund revolutionärer Theoretiker einschränken: Er hinterließ einsubstantielles Œuvre im Grenzbereich von Fiktion, Reportage,Kulturanalyse und Memoiren. Sein »Montage-Buch« von Einbahnstraße und besonders Berliner Kindheit um Neunzehnhun-dert – nur Ersteres wurde zu seinen Lebzeiten veröffentlicht –sind moderne Meisterwerke. Im Grunde widersetzen sich vieleWerke Benjamins einer eindeutigen Zuordnung in traditionelleGattungsschemata. Unter seinen längeren oder kürzeren Prosa-werken finden sich Monographien, Aufsätze, Kritiken, Sammlun-gen philosophischer, historiographischer und autobiographischerVignetten, Hörspiele, von ihm edierte Briefe und andere literar-historische Dokumente, Kurzgeschichten, Dialoge wie Tagebü-cher. Darüber hinaus hat er aber auch Gedichte, Übersetzungenfranzösischer Prosa und Poesie und Tausende fragmentarischerÜberlegungen von unterschiedlicher Länge und Bedeutung hin-terlassen.

    Die auf den Seiten seiner Werke so verdichtet evozierten »Bild-

  • welten«2 werfen Licht auf die turbulenten Anfangsjahrzehnte des. Jahrhunderts. Aufgewachsen in einer assimilierten, wohlha-benden jüdischen Familie im Berlin der Jahrhundertwende, warBenjamin ein Kind des deutschen Kaiserreichs. Seine Aufzeich-nungen sind voller Erinnerungen an die vom Kaiser so geliebtemonumentale Architektur. Aber er war auch ein Kind der explo-siven urbanen kapitalistischen Moderne; Berlin war um Eu-ropas modernste Stadt, in der man überall auf neue technischeErrungenschaften stieß. Als junger Mann opponierte er gegenDeutschlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg; er entzog sichdem Wehrdienst und verbrachte in der Folge die meiste Zeit desKrieges in der Schweiz – dennoch durchziehen Visionen von Kriegund »Vernichtungsnächten«3 sein Werk. Im Laufe der knapp an-derthalb Dekaden der Weimarer Republik erlebte Benjamin zu-nächst in den Nachkriegsjahren den blutigen Konflikt zwischender radikalen Linken und der radikalen Rechten, dann die ver-heerende Hyperinflation in den frühen Jahren der jungen Demo-kratie und schließlich die lähmende Fragmentierung der poli-tischen Strukturen in den späten Zwanzigerjahren, die schließlich zur Machtergreifung Hitlers und der Nationalsozia-listen führte.Wie fast alle bedeutenden deutschen Intellektuellendieser Zeit floh Benjamin im Frühjahr aus Deutschland –und konnte niemals wiederkehren. Die letzten sieben Jahre sei-nes Lebens verbrachte er in Paris, isoliert und fast mittellos, wäh-rend die Möglichkeiten, seine Arbeiten zu veröffentlichen, immerdürftiger wurden. Es sollte sich bewahrheiten, dass es »Orte[gibt], an denen ich ein Minimum verdienen und solche, an de-nen ich von einem Minimum leben kann, aber nicht einen einzi-gen, auf den diese beiden Bedingungen zusammen zutreffen«.4

    In der letzten Periode seines Schaffens musste er erleben, wieder Schatten des kommenden Krieges sich über ganz Europa aus-breitete.

    Warum spricht Benjamins Werk mehr als siebzig Jahre nachseinem Tod immer noch so unwiderstehlich sowohl den Laien

  • wie den Gelehrten an? Da ist zuallererst die Kraft seiner Ideen:Sein Werk hat unser Verständnis für viele bedeutende Schriftstel-ler neu geformt, unser Verständnis von den Möglichkeiten desSchreibens selbst, vom Potential und von den Gefahren der techni-schen Medien und von der Stellung der europäischen Moderneals historisches Phänomen. Doch verkennt seine volle Bedeu-tung, wer seine dezidiert gestochene Sprache ignoriert – den mitnichts zu vergleichenden Benjamin’schen Stil. Schon kraft seinessprachlichen Vermögens kann Benjamin neben den subtilstenund scharfsinnigsten Schriftstellern seiner Zeit bestehen. Under war ein bahnbrechender Erneuerer der Form: Die Werke, dieihn am besten charakterisieren, basieren auf einer Form, die ernach dem Dichter Stefan George »Denkbild« nannte, eine apho-ristische Prosa, die philosophische Analyse mit einer konkretenBildersprache verbindet und so einen unverwechselbar persön-lichen und kritischen Darstellungsstil hervorbringt. Selbst seineoffensichtlich diskursiven Aufsätze sind oft insgeheim aus Se-quenzen dieser treffend scharfen Denkbilder zusammengesetztund nach den Montage-Prinzipien der Avantgarde arrangiert.Benjamins Genius schuf Formen von solcher Tiefe und Komple-xität, dass sie den Vergleich mit Zeitgenossen wie Heidegger undWittgenstein nicht zu scheuen brauchen, und seine unvergessli-che Prosa zieht den Leser vom ersten Wort an in seinen Bann undhallt im Gedächtnis nach. Deshalb ist Benjamin zu lesen ein glei-chermaßen sinnliches wie intellektuelles Erlebnis.Wie bei jenemersten Kosten der in den Tee getunkten Madeleine blühen vageerinnerte Welten in der Vorstellung auf. Und so wie Wörter undSätze nachklingen, sich neu ordnen und zu verwandeln begin-nen, passen sie sich auf subtile Weise einer neu erstehenden re-kombinatorischen Logik an und geben allmählich ihr destabilisie-rendes Potential frei.

    Doch bei aller brillanten Unmittelbarkeit seines Schreibensbleibt der Mensch Benjamin schwer zu fassen.Wie das vielseitigeŒuvre selbst machen seine Überzeugungen und Ansichten das

  • »widerspruchsvolle und bewegte Ganze« – so charakterisierte ersich selbst – seiner Persönlichkeit aus. Diese Formulierung, ausder sich ein Appell an die Geduld des Lesers heraushören lässt,bezeugt seinen vielgestaltigen und polyzentrischen Geist. Dasssich die Person Benjamins uns entzieht, liegt aber auch an seinerEigenart, sich einen möglichst hermetisch abgeschlossenen Frei-raum zum ›Experimentieren‹ offenzuhalten, ein Bestreben, daseine grundsätzliche Befangenheit verrät. Theodor W. Adorno be-merkte einmal, dass sein Freund »kaum je mit aufgedeckten Kar-ten spielte«,5 und diese außerordentliche Zurückhaltung unterZuhilfenahme eines ganzen Arsenals von Masken und andererDesinformationsstrategien setzte Benjamin dazu ein, sich seineInnerlichkeit an ihrem Ursprung zu bewahren. Auf diese Weisediente ihm seine vollendete, fast übertriebene Höflichkeit, wiesie von vielen Seiten bestätigt wurde, letzten Endes als ein kom-plexer Mechanismus, Distanz zu wahren. Daher rührte der An-schein einer gewichtigen Gereiftheit zu jeder Phase seines be-wussten Lebens, eine Gravität, die selbst beiläufigen Äußerungenetwas Orakelhaftes verlieh. Und auch seine erklärte Strategie,so weit wie möglich direkte Kontakte zwischen seinen Freundenzu verhindern, um jeden Einzelnen und jede Gruppe separat umso besser als Prüfstein für seine Ideen nutzen zu können, steht indiesem Kontext. Innerhalb dieses stets wechselnden Operations-feldes bewegte sich Benjamin von frühester Jugend an auf eineWeise, die ihm erlaubte, die »vielen in [ihm] angelegten Daseins-formen«6 zur Geltung zu bringen. Definierte Nietzsche das Selbstals ein aus vielen Willen bestehendes Sozialwesen, erklärte Benja-min, das »sogenannte innere Bild vom eigenen Wesen« sei »vonMinute zu Minute pure Improvisation«.7 Es tat seiner abgründi-gen inneren Dialektik keinen Abbruch, dass ein völliger Mangelan persönlichem Dogmatismus friedlich neben einer souveränenund gelegentlich schonungslosen Urteilskraft existierte. Denn dieausgeprägte Vielschichtigkeit des Phänomens Walter Benjaminschließt keineswegs das Vorhandensein einer inneren Systematik

  • oder strukturellen Konsistenz aus, so wie sie Adorno unter Ver-weis auf die außergewöhnliche Einheit des Bewusstseins seinesFreundes postulierte, eines Bewusstseins, das sich gerade dadurchkonstituiert, dass es sich »ins Mannigfaltige versenkte«.8

    Nur ein Geist von außergewöhnlicher Brillanz konnte zwi-schen den Disparitäten dieses widerspenstigen komplexen Cha-rakters vermitteln.Was an Berichten über den Menschen Benjaminvon Freunden und Bekannten auf uns gekommen ist, beginnt undendet mit der Bestätigung solcher Geistesgröße. Da wird aller-dings auch neben seiner steten intellektuellen Präsenz der seltsamunkörperliche Eindruck auf andere immer wieder hervorgeho-ben. Pierre Missac, der ihn erst in seinen späteren Jahren kennen-lernte, behauptete, Benjamin hätte es nicht ertragen, wenn einFreund ihm nur die Hand auf die Schultern legte. Und seine let-tische Geliebte Asja Lacis bemerkte einmal, dass man den Ein-druck hatte, als sei er gerade erst von einem anderen Planeteneingetroffen. Benjamin hat immer wieder von sich selbst alsMönch gesprochen; in so gut wie jedem Zimmer, das er allein be-wohnte – in seiner »Zelle«, wie er es gern nannte –, hängte er Bil-der von Heiligen an die Wand. Auch das verweist auf die zentraleRolle der Kontemplation in seinem Leben. Gleichzeitig aber gabes den Widerspruch zwischen diesem Anschein ätherischer Bril-lanz und seiner vitalen und zuzeiten leidenschaftlichen Sensuali-tät, bezeugt von Benjamins erotischen Abenteuern, seinem Inte-resse an Drogen und seiner Leidenschaft für Hasardspiele.

    Zwar hatte er einmal in dem Aufsatz über moralische Erzie-hung von geschrieben, »wir erwarten, daß alle Sittlichkeitund Religiosität aus dem Alleinsein mit Gott entspringe«;9 Benja-min jedoch, wie in manchen englischsprachigen Abhandlungengeschehen, als rein saturnische und in sich gekehrte Persönlich-keit zu charakterisieren, verfehlt ihn. Weder soll verschwiegenwerden, dass er immer wieder von langanhaltenden depressivenPhasen geplagt wurde, die ihn bis zur Immobilität einschränkten(ein Zug, in dem Verwandte Parallelen anderswo im Familien-

  • stammbaum erkannten), noch sollte übersehen werden, dass Ben-jamin in seinen Tagebüchern – und in Gesprächenmit guten Freun-den – wiederholt auf das Thema Selbstmord zu sprechen kam.Doch ihn als einen hoffnungslosen Melancholiker hinzustellenhieße, ihm nicht gerecht zu werden, ja, ihn zu karikieren. Zumeinen besaß er einen feinen, gelegentlich sogar beißenden Sinnfür Humor, und er konnte sich auf eine geradezu altväterlicheArt still amüsieren.Während die Beziehungen zu seinen intellek-tuellen Partnern – besonders zu Gershom Scholem, Ernst Bloch,Siegfried Kracauer und TheodorW. Adorno – oft angespannt wa-ren und zeitweise sogar in scharfen Kontroversen geführt wur-den, war er jenen, die er seit früher Jugend kannte, ein treuerund großzügiger Freund. Das Wohlergehen der Menschen diesesinneren Zirkels aus seiner Schulzeit – Alfred Cohn und seineSchwester Jula, Fritz Radt und seine Schwester Grete, ErnstSchoen und Egon Wissing – lag ihm am Herzen, und er handeltesofort, wenn er ihnen in schwierigen Situationen beistehen konn-te, auch später, als sie alle unter den Entbehrungen des Exils zuleiden hatten. Wenn solche Tugenden am deutlichsten in diesenFreundschaften zutage traten, waren seine Verlässlichkeit, seineausdauernde Geduld und sein eisernes Durchhaltevermögen imAngesicht von Widrigkeiten für alle, die ihn kannten, unüberseh-bar. Doch auch hier zeigen sich Widersprüche. Er sehnte sichnach Abgeschiedenheit – und klagte über Einsamkeit; er suchtedie Gemeinschaft, setzte sich selbst dafür ein, sie zu begründen –und war doch abgeneigt, sich an eine Gruppierung zu binden.Nachdem er sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als ak-tiver Organisator der Jugendbewegung engagiert hatte, zog ersich später fast ganz von öffentlichen Auftritten zurück. Die ein-zige Ausnahme von diesem de facto Rückzug – abgesehen vondem nicht zu übersehenden Einfluss, der von seinen Schriftenausging – war sein Versuch, anlässlich dreier sehr unterschied-licher Gelegenheiten eine Zeitschrift zu gründen. Keines der ge-planten Projekte schaffte es auch nur bis zu einer ersten Ausgabe,

  • wenn sie auch aus jeweils anderen Gründen scheiterten; doch derImpuls, gleichgesinnte Denker und Schriftsteller um sich zu ver-sammeln, war eine besondere Eigenschaft seiner philosophischenSensibilität, die immer wieder hervortrat.

    Eine Eigenschaft verdient, besonders erwähnt zu werden.Werihn kannte, erinnerte sich weniger an das äußerlich unvorteilhaf-te und etwas unbeholfene Bild, das er häufig abgegeben habenmuss, wohl aber an seine Risikobereitschaft. Ja, seine Spielleiden-schaft war aus heutiger Sicht eine Sucht; aber es war auch einvollkommener Ausdruck seines Willens, es mit dem Leben allenWidrigkeiten zum Trotz aufzunehmen und intellektuelle Positio-nen zu beziehen, deren Spannungen und Paradoxa ans Aporeti-sche grenzten.Walter Benjamin strebte das Leben eines Hommede Lettres unglücklicherweise zu eben der Zeit an, als dieserTypus von der Bühne Europas verschwand. Er verzichtete aufKomfort, finanzielle Sicherheit und öffentliche Anerkennung, umseine intellektuelle Freiheit zu wahren und Zeit und Freiraumzum Lesen, Denken und Schreiben zu haben. Wie sein FreundKracauer analysierte er die Umstände, die die Existenz genau je-nes Kulturmenschen, den er selbst verkörperte, bedrohten. Nichtnur seine Methodologie, sein ganzes Selbst schien einem dialekti-schen Rhythmus zu gehorchen, der ein unablässiges Hasardspielforderte. Sein Aussehen und Auftreten, seine expressiven Gesten,sein zögernder, an eine Schildkröte erinnernder Gang, seine me-lodische Stimme und druckreife Sprache; das Vergnügen, dasihm der physische Schreibvorgang oder auch das Warten berei-teten – oder das zwanghafte Sammeln und das Flanieren; seineidiosynkratischen Vorlieben und Rituale, deren Inszenierungenund sein exzentrischer weltstädtischer Charme: All das zeugteschon damals von einem Habitus aus vergangenen Tagen, alswäre er aus dem späten . Jahrhundert übrig geblieben. (Es gibtsehr wenige Fotografien von Walter Benjamin, auf denen er nichtmit bürgerlichem Schlips und Anzug erscheint.) Andererseits hat-te er ein waches Interesse an den neuen Medien wie Film und

  • Rundfunk und an den damaligen avantgardistischen Strömungenwie Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus. Seine radi-kale Grundeinstellung ließ ihn ins Gespräch mit Vertretern einerAvantgarde kommen, die es auf einen radikalen Neubeginn an-legten. Seine scharfsinnige Intensität, die schwer fassbare Denk-weise und die bodenlosen Abgründe in seinem intellektuellenLeben waren durchaus unvereinbar mit der großbürgerlichenBehaglichkeit des späten . Jahrhunderts – seine Sache musstedas Innovative sein.Wenn er von Charles Baudelaire behauptete,»Baudelaire war ein Geheimagent – ein Agent der geheimen Unzu-friedenheit seiner Klasse mit ihrer eigenen Herrschaft«,10 charakteri-sierte er sich damit auch selbst.

    Im Laufe von dreißig schicksalsträchtigen Jahren, vom dyna-mischen Idealismus seiner Studentenzeit bis zum dynamischenMaterialismus der Reife im Exil, entwickelte sich Benjamins Denk-weise in Form, Fokus und Ton ganz entschieden, aber seinenGrundtenor behielt er im Wesentlichen bei und erreichte amEnde eine höchst eigene Signatur. An jedem Punkt dieses Den-kens verschmelzen literarische, philosophische, politische undtheologische Elemente, doch kommt es nicht einfach zu einerVermischung. Jahre nach seinem Tod beschäftigt sich eine Se-kundärliteratur von beachtlichem Umfang mit Benjamins einma-liger Synthese – eine Fachliteratur, die für das Fehlen jeglicherÜbereinstimmung mit jedem beliebigen Punkt bekannt ist. Frü-here Studien zu diesem Schriftsteller, ob biographisch oder lite-raturhistorisch, tendierten dazu, mehr oder weniger selektiv zuverfahren, sie erlegten sich ein thematisches Vorgehen auf, dasdann ganze Bereiche seines Werks außer Acht ließ. Das resultiertenur zu oft in einem unvollständigen – oder schlimmer – mytho-logisierenden und verzerrten Porträt. Diese Biographie hat sicheine weiter gespannte Behandlung zum Ziel gesetzt, indem siestreng chronologisch vorgeht und den Fokus auf die tagtäglicheRealität legt, aus der Benjamins Schreiben erwächst; zudem willsie einen intellektuell-historischen Kontext für seine wichtigsten

  • Werke liefern. Ein solcher Ansatz ermöglicht es, sich der Histo-rizität in jeder Phase seines Lebens bewusst zu sein und damitauch der Historizität seiner Werke – ihrer Verwurzelung sowohlin ihrem spezifischen historischen Moment und in Benjaminseigenen intellektuellen Anliegen. Auf diese Weise können aberauch die wesentlichen Strömungen seines Denkens in ihrem gan-zen Verlauf verfolgt werden. Der von ihm permanent hinterfrag-te intellektuelle Entwicklungsverlauf ist zugleich getragen voneinem durchgängigen, tief verwurzelten, theologisch geprägtenGespür für eine latente Krise in den Institutionen des bürger-lichen Lebens, dem ein allgegenwärtiges ständiges Bewusstseinder ebendiesem Denkprozess eigenen Ambiguität entspricht. Da-her das Vorherrschen gewisser subtiler stilistischer Mittel in jederPhase seiner Arbeit: Er vermeidet im Allgemeinen eine direkteErzählweise und zeigt aus konzeptuellen Gründen eine Vorliebefür Metaphern und Parabeln und neigt dazu, in Bildern zu den-ken. Das Ergebnis ist ein Philosophieren, das dem modernenGebot zum Experiment vollkommen entspricht wie auch der die-sem vorhergehenden Erkenntnis, dass die Wahrheit keine zeitlo-se Universalie ist und die Philosophie immer gleichsam erst ander Schwelle und schon auf der Kippe steht. Benjamins Denkwei-se ist zu jedem Moment riskant und rigoros zugleich und immerzutiefst essayistisch.

    Drei Anliegen finden sich in allen Werken Benjamins, was im-mer sein Thema oder Gegenstand sein mag – und jedes An-liegen hat seinen Ausgangspunkt in der Problematik der tradi-tionellen Philosophie. Von den Anfängen bis zum Ende galt seinInteresse der Erfahrung, dem historischen Erinnern und der Kunstals dem privilegierten Medium dieser beiden. Auf die Theorieder Wahrnehmung zurückgehend, verweisen diese Themen aufKants kritischen Idealismus, und in ihrer fließenden Durchdrin-gung tragen sie den Stempel von Nietzsches dionysischer Lebens-philosophie; Benjamin hatte sich als Student in beide Systemevertieft. Es war Nietzsches Kritik an den klassischen Prinzipien

  • der Substanz – die Kritik an der Identität, der Kontinuität, derKausalität – und sein radikaler historischer »Eventismus«, der derGegenwart in allen historischen Interpretationen den Vorrangeinräumte und der der Generation, die in den künstlerisch explo-siven Jahren vor dem Ersten Weltkrieg heranwuchs, die theore-tische Grundlage (den grundlosen Grund) lieferte. Benjamin istdanach niemals der Herausforderung ausgewichen, gleichzeitiginnerhalb und außerhalb der Antinomien der traditionellen Me-taphysik zu denken, und er hat niemals die Interpretation derWirklichkeit als eines raumzeitlichen Meeres an Kräften preis-gegeben – mit all seinen sich ständig verändernden Tiefen undGezeiten. Auf der Suche nach der Physiognomie der modernenMetropolis jedoch betrat er schließlich Bereiche, die sowohl denidealistischen wie den romantischen Philosophien der Erfahrungfremd waren, und das Bild des Meeres wurde nun ergänzt durchdas einer labyrinthischen Architektur oder eines Bilderrätsels,mit dem man sich beschäftigen musste, wenn es sich schon nichtlösen ließ – in jedem Fall war da ein Text zu lesen, in einer Spra-che mit vielen Idiolekten.

    Einmalig ist wohl, dass der Leser und Denker Benjamin diesesich über mehrere Ebenen erstreckende philosophische Perspek-tive auf eine – wie Miriam Bratu Hansen es nannte – »Alltagsmo-dernität« anwendet. Zugegeben, nur ein relativ kleiner Teil sei-nes Werks, und besonders was nach entstand, ähnelt dem,was wir normalerweise unter Philosophie verstehen. Adorno ver-suchte schon , diesen Eindruck richtigzustellen, und zeigte,wie Benjamins Kulturkritik gleichzeitig als eine »Philosophiedes Objekts« zu betrachten sei. Seit analysierte BenjaminKulturobjekte jeglicher Couleur ohne Rücksicht auf die traditio-nelle Unterscheidung zwischen ›hohem‹ und ›niederem‹ Status,ja, er wählte sich typischerweise den »détritus«,11 den »Abhub«,der Geschichte zum Gegenstand, vornehmlich die vernachlässig-ten und unauffälligen Überreste eines entschwundenen Milieusoder vergessene Ereignisse. Er konzentrierte sich auf das Margi-