Suhrkamp VerlagDie Revolte der Satten... 146 Hin zu einer anderen Sexualmoral 152 1935 Das...

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Leseprobe Cioran, E. M. Über Deutschland Aufsätze aus den Jahren 1931–1937 Aus dem Rumänischen und mit einem Nachwort von Ferdinand Leopold © Suhrkamp Verlag 978-3-518-42197-0 Suhrkamp Verlag

Transcript of Suhrkamp VerlagDie Revolte der Satten... 146 Hin zu einer anderen Sexualmoral 152 1935 Das...

  • Leseprobe

    Cioran, E. M.Über Deutschland

    Aufsätze aus den Jahren 1931–1937 Aus dem Rumänischen und mit einem Nachwort von Ferdinand Leopold

    © Suhrkamp Verlag978-3-518-42197-0

    Suhrkamp Verlag

  • SV

  • E. M. CioranÜber Deutschland

    Aufsätzeaus den Jahren 1931-1937

    Herausgegeben,aus dem Rumänischen übersetzt

    und mit einer Nachbemerkung versehenvon Ferdinand Leopold

    Suhrkamp

  • Trotz sorgfältiger Recherchen konnten nicht alleRechteinhaber ermittelt werden. Berechtigte Ansprüche

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    © der deutschsprachigen AusgabeSuhrkamp Verlag Berlin 2011

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    Druck: Memminger MedienCentrum AGPrinted in GermanyErste Auflage 2011

    ISBN 978-3-518-42197-0

    1 2 3 4 5 6 - 16 15 14 13 12 11

  • Inhalt

    1931

    Oskar Kokoschka 9Erwin Reisner und die religiöse Auffassung der

    Geschichte 13

    1932

    Dürers »Melancholie« 26Die Vision des Todes in der Kunst des Nordens 31Karl Jaspers: »Psychologie der Weltanschauungen« 37Wir und Hegel 45Wohin geht die Jugend? 57Ferdinand Bruckner 62

    1933

    Die Apologie Deutschlands 65Deutscher Brief 73Blicke auf Deutschland 79Streifzüge durch die Berliner Universität 88Berliner Aspekte 95Deutschland und Frankreich oder die Illusion des

    Friedens 102

    1934

    Briefe aus Deutschland. Die ethische Problematik inDeutschland 125

  • Bayerische Melancholien 132Eindrücke aus München. Hitler im Bewußtsein der

    Deutschen 140Briefe aus Deutschland. Die Revolte der

    Satten . . . 146Hin zu einer anderen Sexualmoral 152

    1935

    Das Christentum und das Ärgernis, das es in die Weltbrachte 158

    1936

    Das Opfer der Massen 168

    1937

    Am Vorabend der Diktatur 179Der Verzicht auf Freiheit 189Internationalismus und Universalismus 196Zwischen europäischem und nationalem Bewußt-

    sein 204

    Quellen 214

    Nachbemerkung 217

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  • Über Deutschland

  • Oskar Kokoschka

    Wenn Picasso für unsere Zeit (worunter wir die letztenJahrzehnte verstehen) wegen der Beweglichkeit und desproteischen Geistes charakteristisch ist, womit er eineganze Reihe von Strömungen durchläuft, außerstande,einen geistigen Halt zu finden, ist Kokoschka kraftAngst und Aufwirbelung, denen er einen dramatischenAusdruck gegeben hat, nicht weniger repräsentativ. Esgibt in seinem ganzen Werk eine unausgesetzte Unbe-friedigtheit, eine Weltangst, ein Grauen vor der Zu-kunft, die den Eindruck vermitteln, daß in KokoschkasVision der Mensch nicht der Welt entspringt, sondernverwirrt in ein seiner Art fremdes Dasein gestürzt ist.Die Angst ist dermaßen stark, daß sie selbständig, alsautonomer Ausdruck, wobei der sie erlebende Einzelnelediglich Sinnbild für einen wesenhaften Seelenzustandwird, Bedeutung gewinnt. Nur in diesem Sinne kannman bei Kokoschka von abstrakter Kunst sprechen, wo-bei wir uns auf die Absolutsetzung des Ausdrucks bezie-hen, nicht auf formale Reinheit oder linearen Schema-tismus. Denn es ist die Eigenart dieser Kunst, daß siedas Lineare bis hin zur Verneinung einschränkt. Es istnur dort vorhanden, wo ein Ausdruck oder ein ErlebenForm annimmt, wo es eine Entsprechung zwischen for-malen Begrenzungen und objektiviertem Inhalt gibt.

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  • Die Anwesenheit des Linearen zeigt fast immer inneresGleichgewicht, innere Beherrschtheit und möglicheHarmonie. Es ist ein geschlossenes Dasein, das Res-sourcen und Möglichkeiten in sich selbst findet. Dieklassischen Epochen haben stets ein Aufblühen des Li-nearen gekannt. Wo die Linien verschwinden und derUmriß trügerisch wird, dort wird jedes Ideal des Klassi-schen unmöglich. Das anarchisch gewordene Bewußt-sein Kokoschkas (den wir hier nur als Maler, nicht alsDramatiker betrachten) hat den seelischen Halt desMenschen zerstört und uns diesen als Gefangenen imWirbeln eines Chaos gezeigt. Qual und innerer Wirbelwerden für die Außenwelt grundlegend. Es ist also nichtallein ein inneres Chaos, sondern auch ein äußeres. Indieser Hinsicht ist Kokoschka kein Einzelfall. Ich kannüber diese Dinge nicht reden, ohne daß vor meinen Au-gen das faszinierende Gemälde Apokalyptische Land-schaft von Ludwig Meidner1 erscheint, das die Vision ei-ner Welt darstellt, in der die Gegenstände ihre normaleEinbettung verlassen haben, um sich in einen absurdenElan zu stürzen, in dem das Chaos Norm und derWahnsinn Absicht ist. Diese Apokalyptik ist nicht reli-giös, sie weist nicht auf einen Erlösungsvorgang, son-dern ist die Frucht der Verzweiflung. In dem Dunkel,das durch diese Vision enthüllt wird, erscheint keinLicht, ebensowenig wie in der von Verzweiflung erfaß-

    1 Apokalyptische Landschaften, mehrere Fassungen seit 1913.

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  • ten Seele die Hoffnung auf Erlösung auftritt. Kokosch-kas Kunst ist ein Ausdruck des Seelenzerfalls. Findethier die Abwesenheit des Linearen nicht ihre tiefereRechtfertigung? Seelenzerfall verschmäht die formaleKonsistenz und hebt jeden Umriß auf. Dafür ist Fluidi-tät des Malerischen, Ineinanderdringen der Elemente ineiner qualitativen Kontinuität und Mobilität nötig. Je-doch hat das Malerische hier zu paroxystischem Aus-druck gefunden. Bis jetzt stellte es eine Art und Weisedar, Nuancen hervorzuheben, worin das Individuelle aneinem qualitativen Ganzen teilhatte, ohne eine Isolie-rung in jenem Ganzen darzustellen. Bei Kokoschka gibtes eine Auflehnung, eine Ausdehnung aller Elemente inirrsinniger Spannung, eine qualitative Explosion desganzen Kontinents. Welchen Sinn hat da noch dasGleichgewicht der Nuancen? Keinen. Aus diesemGrunde kann man von einem Verfall des Malerischen inder Malerei der letzten Jahrzehnte sprechen, der demLinearen die Möglichkeit zum Wiedererstarken gebenwird, einem Wiedererstarken, wie es in den neuen Ten-denzen der funktionalen Architektur sichtbar ist.

    Die Unzulänglichkeiten der formalen Technik in Ko-koschkas Werk hängen nicht, wie irrtümlicherweise be-hauptet wurde, mit einer künstlerischen Unfähigkeitzusammen, sondern sind durch eine ursprünglicheWeltsicht bedingt und hervorgerufen. Der – für diesePerspektive wesentliche – Sprung ins Chaos und insNichts schaltet jede Problematik des Formalen aus.

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  • Thematisch gesehen, macht Der irrende Ritter1 jedwedeRücksicht auf Form zunichte. Das Schweben im Chaos,das die Substanz dieses Gemäldes bildet, enthüllt unseine Wollust in der Verzweiflung, ein wahnsinnigesEntzücken im Vorgang des eigenen Absturzes, eine Ver-zückung des Nichts.

    Ein metaphysischer Masochismus mengt Wollust indas Phänomen des Zerfalls und findet Freude im kosmi-schen Chaos. Das Erleben des Nichts in der Kunstzeugt von einer vollständigen Zerrüttung des Lebens-gleichgewichts. Alles, was Kokoschka geschaffen hat,offenbart ein Sichabspalten vom Leben, ein Quälen undFoltern der Lebenskraft bis dahin, wo sich die Tragödiemit der Karikatur und das Grauen mit dem Groteskenvermischt. Stete Angst ist der sicherste Weg ins Chaosund ins Nichts.

    1 Der irrende Ritter, 1915, New York, Solomon R. Guggenheim Mu-seum.

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  • Erwin Reisner und die religiöse Auffassung der Geschichte

    Wichtig ist ein Werk nicht nur wegen der Lösungen, diees für die Herausbildung einer Haltung oder die Über-windung eines Ungleichgewichts findet, sondern auchwegen der eigenen Art und Weise, Fragen aufzuwerfen,Zusammenhänge aufzuspüren oder Verwandtschaftenaufzuzeigen. Von Belang ist in diesem Fall weniger derInhalt, der einen Sinn enthüllt, als die Perspektive, dieauf jenen Inhalt weist. Dieser Vorgang der Entzweiung,der das Konkrete und Substantielle vom Formalen undSchematischen trennt, entfaltet sich beim Lesen jenerBücher, denen man wenig verwandt ist, die einem je-doch nicht gleichgültig sein können, weil sie wesentlichsind für eine Haltung, deren Außensein gegenüber ei-nem subjektiven und spezifischen Erleben die Anerken-nung ihres Wertes nicht ausschließt. Die Betrachtungenhistorischer und psychologischer Art erscheinen in die-sem Fall, da sie nie einer lebendigen und immanentenTeilhabe an einem Lebensinhalt oder einem Buch ent-springen, als Objektivationen eines Erlebens – wobeidie Teilhabe allerdings ein Ideal darstellt, dessen Ver-wirklichung aussichtslos ist.

    Erwin Reisners1 Buch Die Geschichte als Sündenfall

    1 Erwin Reisner (1890-1966), Philosoph, Theologe. Geboren in Wien,

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  • und Weg zum Gericht. Grundlegung einer christlichen Me-

    taphysik der Geschichte (1929)1 gehört zu den angespro-chenen Büchern, die wesentlich für eine Haltung unddemnach als solche von Interesse sind. Die BedeutungReisners besteht vor allem darin, daß er die Ungewiß-heiten unserer Zeit inbrünstig und tragisch erlebt, daßer zu extremen Überzeugungen gegriffen hat, um denKompromiß zu umgehen. Der Mut zu den Ideen führtan Grenzen; nur wer innere Möglichkeiten hat, kannstandhalten. Eklektizismus ist stets Anzeichen eines in-neren Mangels, der Abwesenheit lebendiger Schöpfer-kraft, an deren Stelle ein umfassendes, aber, vom Schöp-ferischen aus gesehen, fruchtloses Verstehen getretenist. Reisner hat alle Schlußfolgerungen des Antiintellek-tualismus gezogen. Bereits in einem vorangehendenWerk: Das Selbstopfer der Erkenntnis (1927) hat er ge-zeigt, daß der Intellekt das Organ des Problematischenund des Todes ist, daß es nur ein Problem gibt, nämlichdas des Todes, wobei der einzige Gegenstand der Er-kenntnis ebendies ist. Das Leben kennt kein Problem,

    lebte nach dem Ersten Weltkrieg bis 1935 in Siebenbürgen, wo Cioranihn kennenlernte; nach dem Zweiten Weltkrieg Professor für Syste-matik und Philosophie an der Kirchlichen Hochschule in Berlin. Reis-ners erstes philosophisch-theologisches Werk: Die Erlösung im Geist.Das philosophische Bekenntnis eines Ungelehrten, Wien, Leipzig 1924;sein letztes Buch erschien kurz vor seinem Tod: Die Juden und dasDeutsche Reich. Vgl. Peter Orban, Vorbemerkung zur Neuausgabe vonReisners Der Dämon und sein Bild, Frankfurt am Main: Suhrkamp,1989, S.9-18.

    1 München, Berlin: R. Oldenbourg, 1929.

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  • denn außerhalb seiner ist nichts. In seinem neuen Werkerklärt er, die philosophische Denkweise sei dadurch ge-kennzeichnet, daß sie den Mangel der Dinge an unmit-telbarem und ursprünglichem Wesen dem intellektuel-len Ich zuschreibe, dem auf diese Weise bewußt werde,daß die Abwertung des Objektiven in ihm selbst liege.Das wissenschaftliche Denken beraubt die Dinge ihrerEigenschaften, um sie intelligibel zu machen; das philo-sophische Denken findet, indem es über das Subjekt re-flektiert, ebendarin den Ursprung der Verneinung undverneint das Subjekt, ebenso wie dieses ehedem die Ge-genstände verneinte. Das philosophische Bewußtseinmuß sich mit diesem Ich befassen, das verneint und dassich selbst verneint, ohne einen Wert von außen anzuer-kennen. Aus diesem Grunde wird jegliche Wertphiloso-phie unmöglich. Die Philosophie muß sich darauf be-schränken, zu zeigen, daß sich alles, was negativ, desLebendigen ledig ist, der intellektualen Apperzeptionverdankt; sie muß auf diese Weise die Phänomenalitätder kategorialen Naturgesetze bestimmen. Der Akt derSelbstbehauptung des Ichs in der Reflexion löst eineWertminderung des Du, der Welt aus, das heißt derObjektivation eines ebenso gerechtfertigten, ursprüngli-chen Elements. Der Urzustand setzt ein Gleichgewichtzwischen Ich und Du voraus, eine Wertgleichheit, wiesie nur in der Liebe möglich ist. Durch die Subjekt-Ob-jekt-Spaltung kam es zu Bedingendem und Bedingtem,zur Zerstörung der Eigenart des Objektiven. Darin liegt

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  • die Illusion des Ichs, die von der Philosophie aufgezeigtwerden muß. Der ganze Sinn der philosophischen Hal-tung besteht in diesem Verzicht auf Selbsttäuschungund in der Überzeugung von der Unmöglichkeit derexistentiellen Tat. Die Geschichte geht aus dem Zu-sammenbruch des Urgleichgewichts hervor, aus demVorgang des Auseinanderstrebens der ursprünglich un-geschiedenen Elemente. Sie ist nichts als ein Weg desUngleichgewichts. Die Geschichte ist, wie Reisner sagt,der achte Tag, der auf den Sündenfall folgte. Der para-diesische Zustand setzt Harmonie zwischen Gott undDu voraus, die nicht kalte, transzendente Objektivitätbedeutete, sondern in einem immanenten, auf struktu-reller Gleichheit beruhenden Einssein mit dem Ich be-stand.

    Diese Perspektive der Geschichte ist der gewöhnli-chen entgegengesetzt. Auch der Historiker geht unbe-dingt von der Vorstellung einer ursprünglichen Gleich-artigkeit und Ungeschiedenheit aus; die Divergenzzwischen der religiösen und der gängigen Vision er-scheint erst, wenn die Frage der Wertung aufgeworfenwird. Denn wenn in der religiösen Auffassung der Urzu-stand einer der Vollkommenheit, der vollendeten Ein-heit, der paradiesischen Harmonie ist, so sind dies derhistorischen Auffassung nach Dinge, die sich erst imVerlauf des geschichtlichen Lebens entwickeln. So hatbeispielsweise die Freiheit in der gängigen Auffassungnur insofern einen Sinn, als sie sich in einem fortschrei-

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  • tenden Vorgang verwirklicht. Reisner zufolge, der die inder religiösen Metaphysik des Christentums herrschen-de Auffassung von der Geschichte zusammenfaßt, wer-den alle Vorstellungen, Ideale und Werte, die wir indie geschichtliche Vergangenheit oder in die Zukunftprojizieren, aus dem historischen Rahmen in das derGeschichte vorausgehende Phänomen verlegt. Der Ur-sprung der Geschichte besteht in der Sünde. Deshalb istdie Bedeutung der Geschichte die einer Sühnung. DieSünde Adams ist nicht die eines Einzelnen; wir alle sindAdam. Im Augenblick seines Sündigens ebenso wie indem seines Todes erscheint Adam sich selbst nicht alsEinzelperson, sondern er fühlt sich in Raum und Zeit,in die Vielfalt sterblicher Einzelner verstreut. Der Sün-denfall bringt wegen der Teilhabe am Zeitstrom denVerlust der Ewigkeit mit sich. Aus der Phänomenalitätleitet die Zeit den Phänomenalismus der Geschichteher.1 Für Reisner, wie für jeden religiösen Menschen, ist

    1 E. Reisner, Die Geschichte als Sündenfall und Weg zum Gericht. Grundle-gung einer christlichen Metaphysik der Geschichte, München, Berlin 1929,S. 175-180, besonders S. 176: »Die philosophia perennis, der wir entge-gengehen und die heute bereits da und dort aufzudämmern beginnt,ist also der Phänomenalismus der Zeit, oder was dasselbe bedeu-tet, der Phänomenalismus der Geschichte.« – S. 178: »Die Schöp-fung des Unten, der Ferne und der Zeit kehrt sich im Phänomenalis-mus der Geschichte gegen ihn allein. Dieser letzte Phänomenalismusschließt, da ja die Zeit das umfassendste objektive Prinzip ist, alle bis-herigen phänomenalistischen Systeme in sich ein.« – S. 179: »Der voll-endete Phänomenalismus der Zeit, der tatsächliche Augenblick desErwachens kann selbstverständlich nicht das Endglied einer Ge-schehniskette sein, gehört überhaupt nicht der zeitlichen Welt an,sondern bedeutet den Einbruch der Ewigkeit in die Zeit bzw. die ne-

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  • die Neigung kennzeichnend, die Zeit zu überwinden,über sie hinauszugehen. Der religiöse Mensch liebt dasWerden als solches nicht, dessen irrationales Fließen,den immanenten Vorgang stetiger Entfaltung, die Dä-monie des Schöpfens und Zerstörens ohne transzenden-te Letztbestimmung. Das Erleben im Augenblick, inder Gegenwart, denn Augenblick und Gegenwart erwa-chen im noumenalen, zeitlos verwirklichten Gefüge desWerdens zum Leben – dies ist das Ziel des religiösenMenschen. Die religiöse Kontemplation lebt den Wertum seinetwillen, jenseits der Relativität. Das Leben inder Zeit, in der Geschichte ist ein Leben im Relativen.Religion hat nur insoweit Sinn, als sie jenseits der Ge-schichtlichkeit liegt. Diese Ansicht Karl Barths beruhtauch darauf, daß die Religion, wenn sie im Bewußtseinihrer historischen Einbezogenheit als eine zeitlich ver-wirklichte Gegebenheit gelebt wird, ihr Wesen und ih-ren metaphysischen Sinn verfälscht. Die Trennung, dieReisner zwischen Religion und Zivilisation vornimmt –und die für die dialektische Theologie charakteristischist (Barth, Gogarten, Brunner) –, ist sehr bezeichnend.Er weist Spenglers Auffassung von dem polaren Gegen-satz zwischen Kultur und Zivilisation zurück.1 Die Kul-tur ist ein Kompromiß. Sie ist Halbreligion, Halbzivili-

    gative Ansichtsseite dieses Einbruches, das heißt der Wiederherstel-lung des Anfanges, der gleichfalls nichts mit der Zeit zu tun hat.«

    1 E. Reisner, Die Geschichte als Sündenfall und Weg zum Gericht, Mün-chen, Berlin 1929, S. 77 f.

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  • sation. Inmitten einer technischen Welt schafft sieWerte als eine Art Entschädigung, als Ausgleich für et-was Verlorenes, für dessen Rückgewinnung und Wie-derherstellung ein größeres und radikaleres Opfer er-wartet wird. Die Kultur entsteht in dem Augenblick, dasich der Mensch genötigt sieht, ein Opfer zu bringen;sie vollzieht das Opfer jedoch nicht vollständig. DerVerfallsgrad der Menschheit zeigt auch den Grad anKultur an. Zivilisation und Religion befinden sich je-doch in einem unversöhnlichen Dualismus. WährendReligion auf die Ewigkeit weist, ist Zivilisation reineZeitlichkeit. Die Religion setzt Dienen voraus, die Kul-tur Schöpfung, die Zivilisation – Arbeit.

    Im Verfolg des geschichtlichen Vorgangs unterschei-det Reisner drei klassische Epochen, deren Eigenart ernach dem Verhältnis zu Gott, zum Du und zum Ich be-stimmt.

    Nach dem paradiesischen Urzustand folgt das ersteklassische Zeitalter (Altertum) oder die Sünde widerGott; das zweite klassische Zeitalter (Mittelalter) oderdie Sünde wider das Du; und das dritte (der deutscheIdealismus) oder die Sünde wider das Ich.

    Kennzeichnend für die Haltung des Altertums ge-genüber Gott ist die Bewunderung und das Entzückenangesichts des Prometheus-Mythos. Prometheus stelltdie erste illusionistische Reaktion wider die Gottheitdar. Die kollektivistische Ausrichtung hin zur Gemein-schaft, zum Ich, hat für den Menschen die Perspektive

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  • der Transzendenz zerstört. Aber wie ist dann die Sklave-rei im Altertum zu erklären? Sklaverei ist nur dort mög-lich, wo es keine Entzweiung von Ich und Du gibt, wodem Verhältnis zum Nächsten eine tiefere Problematikfehlt. »Der ›Sklave‹ des Altertums ist gar nicht der Ver-gewaltigte, für den wir ihn halten. Er wäre das nur dann,wenn er unser Sklave wäre.«1

    Im Mittelalter verliert die Gemeinschaft ihren Sinnals Vermittlerin, die den Einzelnen in seinem Aufstiegzur Gottheit fördern sollte. Wo sich die Gemeinschaftals rein irdische Institution zu verstehen beginnt, verla-gert sie ihre Letztbestimmung aus sich selbst, um sie aufdie Einzelnen zu beziehen. In der modernen Welt ha-ben die Vorherrschaft der Musik, der Protestantismus,die Kantische Philosophie zu einem übermäßigen Indi-vidualismus geführt, der im Grunde die Verneinung desIndividuums voraussetzt.

    Wir gehen nicht auf die einzelnen Darlegungen ein,die sehr subtil und originell sind, weil sie uns über denSinn des geschichtlichen Vorgangs, wie Reisner ihn ver-steht, nicht wesentlich aufklären.

    Weist der historische Prozeß die Konvergenz auf, vonder Reisner spricht? Ist die Bezugnahme auf einige we-nige Elemente gerechtfertigt? Um diese Fragestellunggenauer zu fassen, ist die Bestimmung der anthropologi-schen Auffassung der Religion nötig. Dieser zufolge hat

    1 Ebd., S.82.

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