Suhrkamp Verlag · Ganz selbstverständlich gehen wir davon aus, autonom zu sein. Und...

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Suhrkamp Verlag Leseprobe Rössler, Beate Autonomie Ein Versuch über das gelungene Leben © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2274 978-3-518-29874-9

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Suhrkamp VerlagLeseprobe

Rössler, BeateAutonomie

Ein Versuch über das gelungene Leben

© Suhrkamp Verlagsuhrkamp taschenbuch wissenschaft 2274

978-3-518-29874-9

suhrkamp taschenbuchwissenschaft

Ganz selbstverständlich gehen wir davon aus, autonom zu sein. Undwir denken, dass ein Leben, in dem wir wichtige Dinge gegen unserenWillen tun müssten, kein gelungenes sein kann. Beate Rössler erkun-det die Spannung zwischen unserem normativen Selbstverständnisund den Erfahrungen, die wir machen, wenn wir versuchen, ein auto-nomes Leben zu führen. Aus verschiedenen Perspektiven und imRückgriff auf literarische Texte beleuchtet sie die dabei auftretendenWiderstände, untersucht die Rolle von Selbsterkenntnis und Selbst-täuschung und arbeitet die sozialen und politischen Bedingungenfür Autonomie heraus. Eine eindrucksvolle Verteidigung der Autono-mie.

Beate Rössler ist Professorin für Philosophie an der Universität Ams-terdam und leitet dort außerdem die Fachgruppe »Philosophy andPublic Affairs«. Zuletzt erschienen: Der Wert des Privaten (stw )und Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen (hg.zus. mit Axel Honneth, stw ).

Beate RösslerAutonomieEin Versuch über

das gelungene Leben

Suhrkamp

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suhrkamp taschenbuch wissenschaft Erste Auflage

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Umschlag nach Entwürfenvon Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyISBN ----

Für Rebecca

Me wherever my life is lived, O to be self-balanced forcontingencies

(Walt Whitman)

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Einführung: Autonomie im täglichen Leben . . . . . . .

Was ist Autonomie?Eine begriffliche Annäherung . . . . . . . . . . . . . . .

. Bemerkungen zur Geschichte des Begriffs . . . . .

. Negative Freiheit, positive Freiheit, Autonomie .

. Bedingungen individueller Autonomie . . . . . . .

. Autonomie und vernünftige Pläne . . . . . . . . . .

Ambivalenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. Verschiedene Formen der Ambivalenz . . . . . . . .

. Ambivalenz als Krankheit des Willens . . . . . . . .

. Ist der ambivalente Wille der gesunde Wille? . . .

. Das ambivalente Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . .

. Ambivalenzkonflikte als Identitätskonflikte . . . .

. Autonomie und die Akzeptanz von Konflikten . .

Autonomie und der Sinn des Lebens . . . . . . . . . .

. Warum schätzen wir Autonomie? . . . . . . . . . . .

. Der zufriedene Sisyphus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liegt in der Wunschbefriedigung der Sinn des

Lebens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der objektive Sinn des Lebens . . . . . . . . . . . . .

. Mills Krise und der subjektive Sinn des Lebens . . Wann entsteht die Sinnfrage? . . . . . . . . . . . . .

Autonomie, Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung .

. Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung . . . . . .

. Wie kann ich mich irren über mich selbst?Selbsttäuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. Wie kann Selbsterkenntnis scheitern?Fundamentale epistemische Verunsicherungen . .

. Das quantifizierte Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . .

Autonomie, Selbstthematisierung, Selbst-beobachtung: vom Tagebuch zum Blog . . . . . . . . . . Selbstbeobachtung, Selbstkontrolle, Reflexion . . . Warum Tagebücher? Und welche Tagebücher? . . . Autonomie im Tagebuch: Beispiele . . . . . . . . .

. Blogs und die neuen Technologien derSelbstbeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. In welchem Rahmen steht Autonomie? . . . . . . .

Autonom wählen und das gute Leben . . . . . . . . . . . Die Frage nach dem guten Leben und der

Perfektionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glück, Autonomie und Sinn . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung des Wählens: Bedingungen einer

autonomen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer wählt eigentlich und in welchem Kontext? .

. Entfremdung (und Authentizität) . . . . . . . . . . . . Tugend und Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . .

Das private Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. Warum Privatheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. Dimensionen des Privaten . . . . . . . . . . . . . . . . Informationelle Privatheit, soziale Beziehungen

und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autonome Personen in Beziehungen () . . . . . .

. Autonomie und häusliche Privatheit: AutonomePersonen in Beziehungen ( ) . . . . . . . . . . . . .

. Privatheit und die demokratische Gesellschaft . .

Soziale Voraussetzungen von Autonomie . . . . . . . .

. Was sind soziale Bedingungen? . . . . . . . . . . . . . Die soziale Konstitution von Autonomie . . . . . . . Autonomie, Ideologien und adaptierte

Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesellschaftliche Optionen und Gerechtigkeit . .

. Zwischen Autonomie und Unterdrückung:Grenzfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die Wirklichkeit von Autonomie . . . . . . . . . . . . . Autonomie ist keine Illusion . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung sozialer Praktiken . . . . . . . . . . . Gesellschaftliche Unfreiheit und implizite

Vorurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinsichten moralischer Verantwortung . . . . . . . . Autonomie und das gelungene Leben . . . . . . . .

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Vorwort

In diesem Buch geht es um Widersprüche oder Spannungenzwischen unserem Selbstverständnis als autonome Personenund den alltäglichen Erfahrungen eines nicht sonderlichselbstbestimmten Lebens. Dabei versteht es sich nicht als wis-senschaftliche Abhandlung im strengen Sinn, sondern willauch solchen Leserinnen und Lesern zugänglich sein, die sichfür Autonomie und das gelungene Leben interessieren, ohnePhilosophie studiert zu haben. Deshalb habe ich versucht, dasBuch im Ganzen anders zu schreiben als nur für philosophi-sche Kolleginnen und Kollegen; dies ist mir in einigen Kapi-teln leichter gefallen und gewiss besser gelungen als in ande-ren. Überdies verwende ich häufig ein inklusives »Wir«, dassich in der Hoffnung gründet, tatsächlich für die Personenzu schreiben, die dieses Buch in die Hand nehmen und sichin solch einem Wir wiederfinden könnten.

Mit dem Problem der Autonomie beschäftige ich mich seitvielen Jahren; während dieser Zeit hatte ich häufig Gelegen-heit, Vorträge über die Themen dieses Buches zu halten – vonden Diskussionen habe ich sehr profitiert und den Teilneh-merinnen und Teilnehmern danke ich für ihre Kritik und ihreAnregungen. Dank schulde ich jedoch vor allem den Freun-dinnen und Freunden und den Kolleginnen und Kollegen,die frühere Versionen von Kapiteln gelesen, und denen, dieimmer wieder geduldig mit mir über die vielfältigen Proble-me diskutiert haben: Joel Anderson, Katharina Bauer, Gijsvan Donselaar, James Gledhill, Eva Groen-Reijman, Elisa-beth Holzleithner, Naomi Kloosterboer, Thomas Nys, An-drew Roberts, Kati Röttger, Holmer Steinfath und Henri

Wijsbek. Ihre konstruktiven Kommentare waren mir einegroße Hilfe.

Gesondert nennen und gesondert danken will ich RobinCelikates und Stefan Gosepath, die durchgehend ausgespro-chen kritische Leser waren. Zusammen mit Catriona Macken-zie und John Christman gehören beide überdies zu unsererAutonomie-Arbeitsgruppe, deren Treffen und Diskussionenjedes Mal sehr lehrreich für mich waren. Auch die langen Ge-spräche mit Catriona Mackenzie über Autonomie und denSinn des Lebens – in Amsterdam und Sydney ebenso wie inder australischen Wüste – haben mir immer wieder entschei-dend geholfen.

Meinen Brüdern Martin Rössler und Johannes Rösslerdanke ich für den gewissenhaften Einsatz ihrer jeweiligen Ex-pertise, Elke Rutzenhöfer für ihren Rat ebenso wie für ihrefreundschaftliche Loyalität.

Große Teile dieses Buches sind in der philosophischenBibliothek der Amsterdamer Universität entstanden: Sie bie-tet vor allem imSommer einenwunderbar ruhigenArbeitsplatz,und ich bin Lidie Koeneman zu großem Dank verpflichtetfür ihre schnelle Hilfe bei bibliographischen Notfällen. Ganzzu Anfang hat mir Lara von Dehnmit technischen Details ge-holfen, den weitaus größten Anteil an der Überarbeitung allerKapitel hat jedoch Johannes Sudau – ich danke ihm sehr fürseine Sorgfalt ebenso wie für seine hilfreichen Übersetzungs-vorschläge. Schließlich danke ich Eva Gilmer für ihre kriti-sche Lektüre und für ihre zahlreichen Verbesserungsvorschlä-ge und Philipp Hölzing für seine Geduld beim Abschluss desBuches.

Amsterdam, im Dezember

Einführung: Autonomie im täglichen Leben

Dass wir autonom sind, davon gehen wir in westlichen, libe-ralen Gesellschaften im Allgemeinen aus. Wir halten es füreine Selbstverständlichkeit, dass wir das Recht haben, autono-me Entscheidungen zu treffen und ein selbstbestimmtes Le-ben zu leben; und wir glauben, dass wir die Fähigkeiten ha-ben, ein solches Leben zu leben, darüber nachzudenken, waswir tun und wie wir leben wollen, und dies dann auch indie Tat umzusetzen. Das schätzen wir auch: Denn ein Leben,in dem ich existentiell wichtige Dinge gegen meinen Willen,gegen meine eigenen Entscheidungen tun und leben müsste,ein heteronomes Leben in diesem Sinn könnte niemals ein ge-lungenes, ein gutes Leben sein.

Autonomie ist – insbesondere seit der Philosophie Kants –ein Grundthema der Philosophie: So gibt es in der gegenwär-tigen Theorienlandschaft auf der einen Seite normative Theo-rien, die detaillierte – häufig idealisierte – Bedingungen be-schreiben, unter denen ein autonomes Leben möglich ist;und natürlich auch Theorien, die die Problemlosigkeit einesautonomen Lebens behaupten. Doch auf der anderen Seitefinden sich fundamentale Zweifel an der Möglichkeit unddem Sinn von Autonomie, etwa in Positionen, die die Un-durchführbarkeit des autonomen Lebens zu beweisen suchen,indem sie uns vor Augen führen, wie sehr jeder und jede vonuns in nicht gewählten Abhängigkeiten lebt. So ist Autono-mie zwar moralisch und rechtlich grundlegend für unsere Ge-sellschaften; doch was dies genau für unser autonomes Lebenbedeutet, bleibt häufig unklar. Das wirft die Frage auf, wiesich ein plausibler Begriff von Autonomie zwischen den de-

taillierten normativen Theorien und Verteidigern einerseitsund den fundamentalen Zweiflern andererseits entwickelnund begründen lässt. Interessant ist dabei nämlich, dass sichbeides, der normative Begriff ebenso wie der grundlegendeZweifel, aus der Perspektive der autonomen Person selbst be-schreiben lässt – und dann geht es nicht mehr nur um zweisich gegenüberstehende Theorien, sondern um die Spannungzwischen unserem normativen Selbstverständnis und unseren all-täglichen Erfahrungen.

Obgleich wir also zumeist einfach von der Möglichkeitausgehen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, gibtes zahllose Aspekte unseres Lebens und Situationen, die wirgerade nicht gewählt haben, bei denen wir uns fragen, wiees so kommen konnte, bei denen wir das Schicksal oder auch,simpler, unsere Unvorsichtigkeit beschuldigen. Die Möglich-keit, das Gelingen ebenso wie die Unmöglichkeit, das Miss-lingen von Selbstbestimmung gehört zu unseren alltäglichenErfahrungen. Die Gründe dafür, warummit der Idee von Au-tonomie jene Spannung verbunden ist, sind indes ganz unter-schiedlich. Auf der einen Seite lässt sie sich beschreiben alseine zwischen dem individuellen Streben nach Selbstbestim-mung und dem Geschehen, das immer schon stattfindet,das einfach passiert und uns vor vollendete Tatsachen zu stel-len scheint. Auf der anderen Seite ist diese Spannung spezi-fischer eine, die unsere Verankerung in soziale Beziehungenbetrifft und die daraus erwachsenen Verpflichtungen und An-sprüche anderer, von denen wir uns nicht freimachen können,nicht freimachenwollen, aber die doch häufig subjektiv als einMisslingen von Autonomie begriffen werden können.1

Es geht mir hier jedoch nicht um das mutmaßlich bei Kant zu fin-dende Paradox der Autonomie, das behauptet, das Ideal selbst ließesich gar nicht erst widerspruchsfrei artikulieren; ich komme hieraufzurück; vgl. etwa die Beiträge in Khurana, Paradoxien der Autonomie;

Diesen so skizzierten unterschiedlichen Formen des Wi-derstreits zwischen der Möglichkeit und der Unmöglichkeitvon Selbstbestimmung, zwischen der Idee und dem täglichenLeben will ich in diesem Buch aus verschiedenen Perspektivennachgehen. Individuelle Selbstbestimmung oder Autonomieist als normatives Ideal konstitutiv für unser Selbstverständ-nis ebenso wie für unsere Idee von Recht und Politik; indivi-duelle Selbstbestimmung jedenfalls in dem Sinn, dass wir dar-über nachdenken können, was wir wirklich wollen im Leben,dass wir uns reflektierend zu unseren Wünschen und Über-zeugungen verhalten können. Dass diese Autonomie häufigim Alltag nicht erreicht werden kann, aus welchen Gründennicht und in welchen Kontexten nicht, und warum dieseSchwierigkeit trotzdemnichts an derNotwendigkeit undÜber-zeugungskraft von Autonomie ändert, dies sind die Grund-themen dieses Buches.

Man kann diese Spannung zwischenunserem Streben nachAutonomie und unseren alltäglichen Erfahrungen mittels derLiteratur verdeutlichen: Denn gerade hier, bei der Phänome-nologie unserer Alltagsverstrickungen, könnenuns literarischeTexte bei derDeutung häufig besser helfen als die Philosophie.Die Autorin, die ich hier zunächst zu Rate ziehen will, ist IrisMurdoch, zugleich Schriftstellerin und Philosophin.2

So ist es nicht. Man schaut nicht einfach hin und wählt et-was und schaut, wo man hingehen könnte, man steckt im-mer schon bis zum Hals in seinem Leben, oder ich zumin-dest. Man kann nicht schwimmen in einem Sumpf oderim Treibsand. Erst wenn mir die Dinge passieren, weiß

vgl. kritisch gegenüber diesem angenommenen Paradox Kleingeld/Willaschek, »Kantian Autonomy without Self-Legislation of theMoral Law«.

Viel gelernt habe ich von Antonia Byatts Buch über die Romane IrisMurdochs, Degrees of Freedom.

ich, was ich offenbar wollte, nicht davor! Ich begreife eserst, wenn es keinen Weg zurück gibt. Es ist ein Durchein-ander, ich verstehe es nicht einmal selbst.3

Dieser Hilferuf aus dem Chaos des Lebens, dieses Ringenmitder Idee der Bestimmbarkeit des eigenen Lebens ist ein zen-trales Thema der Romane Murdochs. Die Wirklichkeit, inder wir immer schon bis zum Halse stecken, ist, so schreibtsie, »grundsätzlich unverständlich«; und an anderer Stelleheißt es: »Die Botschaft lautet: Alles ist zufällig. Es gibt keinetiefen Fundamente. Unser Leben stützt sich auf Chaos undGeröll und alles, was wir versuchen können, ist, gut zu sein.«4

Chaos und Geröll bilden den Gegensatz zu Selbstbestim-mung und Begründbarkeit: Dies ist zunächst ein Verweisauf die schicksalhaften Zufälle des Lebens, die MurdochsProtagonisten häufig so unheilvoll und verzweifelt in die Un-ordnung des Lebens stürzen und verwickeln. Diese Zufällig-keiten bringen denMangel an Planbarkeit des eigenen Lebenszum Ausdruck, werden als überwältigende Macht erfahren,als Umstände, mit denen wir im Laufe unseres Lebens kon-frontiert werden oder die wir immer schon einfach hinneh-men müssen. Es ist diese Spannung, die ich oben als erste be-schrieben habe, zwischen der Idee der Selbstbestimmung unddem Gefühl, immer schon vor vollendete Tatsachen gestelltzu sein. Dabei hat Murdoch nicht so sehr die Zufälligkeitenvon Geburt und Herkunft vor Augen, sondern diejenige so-zialer Verstrickungen, mit denen wir im Laufe unseres er-wachsenen Lebens konfrontiert werden, in der Form unvor-hergesehener, unseliger Ereignisse oder auch in der Form

Murdoch,Nuns and Soldiers, S. . Wenn keine deutschsprachigenQuellen angegeben werden, stammen sämtliche Übersetzungen indiesem Buch von mir, B.R.

Linda Wertheimer, »All Things Considered«.

der Konsequenzen unseres eigenenHandelns, die wir so nichtabsehen konnten und jedenfalls so nicht wollten und die wir(deshalb) häufig als schicksalhaft erleben.

Betrachten wir, zum Beispiel, Hilary Burde, den Protago-nisten in Murdochs Roman A Word Child. Hilary Burdestammt aus sehr kleinen, geradezu armseligen Verhältnissenund hat sich durch seine besondere Sprachbegabung hochar-beiten können: Er wird Student in Oxford, gewinnt jedennur möglichen Preis, macht ein glänzendes Abschlussexamenund wird Fellow an einem der Colleges. Dann verliebt er sichin die Frau seines Gönners und Doktorvaters, Anne Jopling,die beiden haben eine leidenschaftliche Affäre. Sie endet miteinem Autounfall, an demHilary schuld ist und bei dem Annestirbt. Hilary muss, selbstverständlich, seine Stelle amCollegeaufgeben. Zwanzig Jahre später – Jahre, die er als kleiner Be-amter in einer unbedeutenden Londoner Behörde, in einemtristen Leben verbracht hat – trifft er auf seinen damaligenDoktorvater Jopling, der mittlerweile wieder geheiratet hat.Wieder verliebt er sich, vollständig gegen seine eigenen Ab-sichten, in dessen Frau, Kitty. Wieder kommt es zu intimenBegegnungen, wieder endet es mit einem Unglück und mitdem Tod der Frau.

Warum dies für den Kontext des Zweifels an der Planbar-keit des eigenen Lebens interessant ist, beschreibt Murdochmit den Worten von Hilary Burde in einer Passage:

Und doch geschehen Menschen solche Dinge, werden Le-ben so ruiniert, verdorben und düster und unwiderruflichzerstört, werden falsche Abzweigungen genommen undbeharrlich verfolgt, und die, die nur einen Fehler machen,richten auch den Rest zugrunde, aus Wahn oder vielleichtaus Groll.5

Murdoch, AWord Child, S. (»Yet such things happen to men,

Die Ereignisse, mit denen Burde konfrontiert wird, sind gera-dezu übertrieben schicksalhaft, scheinen nicht in seiner Handzu liegen, zeigen Zufälle, die ein bestimmbares, ein selbstbe-stimmtes Leben deshalb verunmöglichen, weil gänzlich un-klar wird, was eigentlich noch autonome, authentische Ent-scheidungen unter solch katastrophalen Bedingungen seinsollen, was eigentlich Handeln, mit Zielen und Plänen, hei-ßen sollte. »Und doch geschehen Menschen solche Dinge« –Dinge, die uns passieren, bilden gerade das Gegenteil der As-pekte des Lebens, die wir selbst bestimmen.

Doch die Sache mit dem Schicksal, auch das suggeriertMurdoch, ist nicht so einfach. Der Philosophund Psychoana-lytiker Jonathan Lear schreibt: »Das Eigenartige am Schicksalist, dass es auf keine Seite der Trennung zwischen Ich undNicht-Ich richtig passt.«6 Inwieweit diese Ereignisse nicht al-so auch unserem eigenen Handeln, unseren eigenen schwieri-gen und komplexen Identitäten geschuldet sind, bleibt aufbeunruhigende Weise offen. Der Zwang zur Wiederholungbeispielsweise, kann vielleicht doch in höherem Maße, alsHilary Burde dies sieht und gerne sehen würde, seinen eige-nen Obsessionen zugeschrieben werden. Nun sind ohnehindiese außergewöhnlichen Zufälle – leidenschaftliche Affären,tragische Unglücke, katastrophische Wiederholungen – nurdie eine Seite. Die andere, wichtigere Form von Kontingenz– oder schlechter Planung – ist die ganz gewöhnliche, vertrau-te, die die Protagonisten auf unterschiedliche und lehrreicheWeise in ihr je persönliches unaufgeregtes Chaos, in ihren je-weiligen persönlichen, ganz normalen Alltag verwickelt und

lives are thus ruined, thus tainted and darkened and irrevocablyspoilt, wrong turnings are taken and persisted in, and those whomake one mistake wreck all the rest out of frenzy, even out ofpique.«); vgl. auch S. .

Lear, »The Freudian Sabbath«, S. .

bindet. Und es ist vor allem diese alltägliche Problematik, mitden eigenen Entscheidungen, Absichten, Wahlmöglichkei-ten, sozialen Beziehungen und sozialen Verpflichtungen re-flektiert und vernünftig umzugehen, die ein skeptisches Lichtauf die Reichweite von Selbstbestimmung wirft.

Besonders deutlich wird dieses »fatalistische Gefühl derHilflosigkeit«, wieMurdoch sagt, bei einem anderen ihrer un-glücklichen Protagonisten, nämlich bei John Rainborough,einem mittleren Beamten in einer dubiosen staatlichen Ver-waltungsstelle, aus Murdochs Roman Die Flucht vor demZauberer.

Rainborough saß in seinem Wohnzimmer und versuchtesich durchzuringen, Agnes Casement anzurufen. Er hatteversprochen, sie am Nachmittag anzurufen, aber er schobes immer wieder auf. Jetzt wurde es langsam gleicherma-ßen notwendig wie unmöglich, dass er es sofort tat; undwährend er darüber nachdachte und ein Problem meta-physischen Ausmaßes daraus machte, bekam er ein Bildseines ganzen Lebens vorgehalten. Rainborough war jetztnämlich mit Agnes Casement verlobt. Wie das passiertwar, konnte er nicht so recht sagen. Es war aber passiert,dachte er entschlossen, ganz unausweichlich. So viel warsicher. Muss mich meinen Verpflichtungen stellen, dachteRainborough vage, während sein Blick auf dem Telephonlag. Brauche Ballast. All dieses Umherziehen zu nichts nüt-ze. Muss mich im Leben wurzeln. Kinder und so weiter.Ehe genau was ich brauche. Muss Mut haben, mich festzu-legen, ist natürlich schmerzvoll. Aber wirklich das Aller-beste. Dies ist meinWeg, ich hab’s die ganze Zeit gewusst.7

Rainboroughs Reflexionen kommen zu spät: Er steckt schonmitten in einem Durcheinander, von dem ihm nicht völlig

Murdoch, Die Flucht vor dem Zauberer, S. .

klar ist, wie er hineingeraten ist; das fatalistische Gefühl vonHilflosigkeit führt zu Ex-post-Rationalisierungen (»Mussmichim Leben wurzeln. Kinder und so weiter. Ehe genau was ichbrauche«), die natürlich nicht sonderlich authentisch sind,weil sie Entscheidungen nur vortäuschen und Wünsche fan-tasieren, die jedenfalls nicht vollkommen die eigenen sind.Rainborough weiß offensichtlich, dass er sein Leben auchund gerade in diesen sozialen Beziehungen bestimmen, dasser handeln müsste. Aber er tut es nicht. Dafür ist es immerschon zu spät.

Nun könnte man einwenden, dies zeige einfach einenMangel an Reflexion und Vernunft, also ein schlichtes Versa-gen der bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Akteure Mur-dochs. Es seien Personen, die scheitern, weil sie dem ihnenselbst sehr wohl möglichen Standard nicht entsprechen. Die-ser Standard von Reflexion und guten Handlungsgründen,von Entschlusskraft und Willensstärke sei keineswegs zu an-spruchsvoll, ihm könnten im Prinzip alle durchschnittlichvernünftigen Personen genügen, und täten sie es nicht, seies ihr Versagen. Es seien Akteure, die sich selbst nicht gut ge-nug kennen, obwohl sie dies könnten, wenn sie sich hinrei-chendMühe gäben; die von sich selbst entfremdet, nicht einsmit sich, nicht authentisch seien – obwohl sie dies könnten.

Doch dieser Einwand greift zu kurz, ist jedenfalls nicht dieganze Wahrheit: Denn die lebensnahe Verstricktheit der Pro-tagonisten und Protagonistinnen zeigt, dass die Konfronta-tion mit den Kontingenzen und sozialen Komplikationendes eigenen Lebens durchaus zu einem berechtigten Zweifelan dessen Bestimmbarkeit führen kann. Es ist gerade die All-täglichkeit der Akteure und ihres Erlebens, die das Gelingender Selbstbestimmtheit des Handelns in Frage stellt. Dennwenn es nicht meine Entscheidungen sind, wenn es nichtmeinHandeln ist, das mein Leben bestimmt, sondern Zufälleund Unbestimmtheiten, soziale Bindungen und Beziehun-