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Hermann Hesse Der Steppenwolf Suhrkamp

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Hermann HesseDer Steppenwolf

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»Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf.Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, abereigentlich war er doch eben ein Steppenwolf.« Tagsüber imZwiegespräch mit Goethe in der Studierstube, nachts rastlosunterwegs in billigen Kneipen: Harry Haller bringt diese beidenSeiten seiner Existenz nicht mehr zusammen. »Die eine Hälftewill fressen, saufen, morden und dergleichen einfache Dinge,die andere will denken, Mozart hören und so weiter . . .« DemSelbstmord nah, lernt Haller im »Schwarzen Adler« Herminekennen. Die Kurtisane nimmt sich seiner an, lehrt ihn tanzenund führt ihm Frauen zu. Ein exzessives Feierleben beginnt,zu dessen Höhepunkt Haller die Erkenntnis kommt: Es gibtnicht nur das eine oder das andere, der Mensch ist eine unend-liche innere Vielheit, die nur mit Humor gelebt werden kann.

»Der Steppenwolf zeigt am besten die Einzigartigkeit der vonHesse im Lauf seines langen Lebens erschaffenen Welt und dieseines umfangreichen Werkes.« Mario Vargas Llosa

Hermann Hesse, geb. am 2. 7. 1877 in Calw/Württemberg, starbam 9. 8. 1962 in Montagnola bei Lugano. Er wurde 1946 mit demNobelpreis für Literatur, 1955 mit dem Friedenspreis des Deut-schen Buchhandels ausgezeichnet. Er ist einer der bekanntestendeutschen Autoren des 20. Jahrhunderts.

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Hermann HesseDer Steppenwolf

Mit Texten und Entwürfenzur Entstehung des Romans

Mit einem Nachwortvon Volker Michels

Suhrkamp

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Umschlagfoto:Shinzo Maeda/Tankei

Erste Auflage 2012

suhrkamp taschenbuch 4355© Suhrkamp Verlag Berlin 2012Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten,insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyUmschlag: Michels, Göllner, Zegarzewski

ISBN 978-3-518-46355-0

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Der Steppenwolf

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Entstanden 1925-1927.Erste Buchausgabe: Berlin 1927

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Vorwort des Herausgebers

Dieses Buch enthält die uns gebliebenen Aufzeich-nungen jenes Mannes, welchen wir mit einem

Ausdruck, den er selbst mehrmals gebrauchte, den»Steppenwolf« nannten. Ob sein Manuskript eineseinführenden Vorwortes bedürfe, sei dahingestellt;mir jedenfalls ist es ein Bedürfnis, den Blättern desSteppenwolfes einige beizufügen, auf denen ich ver-suche, meine Erinnerung an ihn aufzuzeichnen. Esist nur wenig, was ich über ihn weiß, und namentlichist seine ganze Vergangenheit und Herkunft mir un-bekannt geblieben. Doch habe ich von seiner Persön-lichkeit einen starken und, wie ich trotz allem sagenmuß, sympathischen Eindruck behalten.

Der Steppenwolf war ein Mann von annäherndfünfzig Jahren, der vor einigen Jahren eines Tagesim Hause meiner Tante vorsprach und nach einemmöblierten Zimmer suchte. Er mietete die Mansardeoben im Dachstock und die kleine Schlafkammer da-neben, kam nach einigen Tagen mit zwei Koffern undeiner großen Bücherkiste wieder und hat neun oderzehn Monate bei uns gewohnt. Er lebte sehr still undfür sich, und wenn nicht die nachbarliche Lage uns-rer Schlafräume manche zufällige Begegnung auf

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Treppe und Korridor herbeigeführt hätte, wären wirwohl überhaupt nicht miteinander bekannt gewor-den, denn gesellig war dieser Mann nicht, er war ineinem hohen, von mir bisher bei niemandem beob-achteten Grade ungesellig, er war wirklich, wie ersich zuweilen nannte, ein Steppenwolf, ein fremdes,wildes und auch scheues, sogar sehr scheues Wesenaus einer anderen Welt als der meinigen. In wie tiefeVereinsamung er sich auf Grund seiner Anlage undseines Schicksals hineingelebt hatte und wie bewußter diese Vereinsamung als sein Schicksal erkannte,dies erfuhr ich allerdings erst aus den von ihm hierzurückgelassenen Aufzeichnungen; doch habe ich ihnimmerhin schon vorher durch manche kleine Begeg-nungen und Gespräche einigermaßen kennengelerntund fand das Bild, das ich aus seinen Aufzeichnun-gen von ihm gewann, im Grunde übereinstimmendmit dem freilich blasseren und lückenhafteren, wiees sich mir aus unsrer persönlichen Bekanntschaft er-geben hatte.

Zufällig war ich in dem Augenblick zugegen, woder Steppenwolf zum erstenmal unser Haus betratund bei meiner Tante sich einmietete. Er kam in derMittagszeit, die Teller standen noch auf dem Tisch,und ich hatte noch eine halbe Stunde Freizeit, eheich in mein Büro gehen mußte. Ich habe den sonder-baren und sehr zwiespältigen Eindruck nicht verges-sen, den er mir beim ersten Begegnen machte. Er kam

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durch die Glastür, wo er vorher die Glocke gezogenhatte, herein, und die Tante fragte ihn im halbdun-keln Flur, was er wünsche. Er aber, der Steppenwolf,hatte seinen scharfen kurzhaarigen Kopf witternd indie Höhe gereckt, schnupperte mit der nervösen Na-se um sich her und sagte, noch ehe er Antwort gaboder seinen Namen nannte: »O, hier riecht es gut.«Er lächelte dazu, und meine gute Tante lächelte auch,ich aber fand diese Begrüßungsworte eher komischund hatte etwas gegen ihn.

»Nun ja«, sagte er, »ich komme wegen des Zim-mers, das Sie zu vermieten haben.«

Erst als wir alle drei die Treppe zum Dachbodenhinaufstiegen, konnte ich den Mann genauer anse-hen. Er war nicht sehr groß, hatte aber den Gangund die Kopfhaltung von großgewachsenen Men-schen, er trug einen modernen bequemen Winter-mantel und war im übrigen anständig, aber unsorg-fältig gekleidet, glatt rasiert und mit ganz kurzemKopfhaar, das hier und dort ein wenig grau flimmer-te. Sein Gang gefiel mir anfangs gar nicht, er hatte et-was Mühsames und Unentschlossenes, das nicht zudem scharfen, heftigen Profil und auch nicht zumTon und Temperament seiner Rede paßte. Erst spä-ter merkte und erfuhr ich, daß er krank war unddaß das Gehen ihm Mühe machte. Mit einem eigen-tümlichen Lächeln, das mir damals ebenfalls unange-nehm war, betrachtete er die Treppe, die Wände und

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Fenster und die alten hohen Schränke im Treppen-haus, dies alles schien ihm zu gefallen und schienihm doch zugleich irgendwie lächerlich. Überhauptmachte der ganze Mann den Eindruck, als kommeer aus einer fremden Welt, etwa aus überseeischenLändern, zu uns und finde hier alles zwar hübsch,aber ein wenig komisch. Er war, wie ich nicht anderssagen kann, höflich, ja freundlich, er war auch mitdem Haus, dem Zimmer, dem Preis für Miete undFrühstück und allem sofort und ohne Einwände ein-verstanden, und dennoch war um den ganzen Mannherum eine fremde und, wie mir scheinen wollte, un-gute oder feindliche Atmosphäre. Er mietete das Zim-mer, mietete noch die Schlafkammer zu, ließ sichüber Heizung,Wasser, Bedienung und Hausordnungunterrichten, hörte alles aufmerksam und freundlichan, war mit allem einverstanden, bot auch sogleicheine Vorauszahlung auf die Miete an, und doch schiener bei alledem nicht recht dabei zu sein, schien sichselber in seinem Tun komisch zu finden und nichternst zu nehmen, so, als sei es ihm seltsam und neu,ein Zimmer zu mieten und mit Leuten Deutsch zusprechen, während er eigentlich und im Innern mitganz anderen Sachen beschäftigt wäre. So etwa warmein Eindruck, und er wäre kein guter gewesen, wenner nicht durch allerlei kleine Züge durchkreuzt undkorrigiert worden wäre. Vor allem war es das Gesichtdes Mannes, das mir von Anfang an gefiel; trotz jenes

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Ausdruckes von Fremdheit gefiel es mir, es war einvielleicht etwas eigenartiges und auch trauriges Ge-sicht, aber ein waches, sehr gedankenvolles, durch-gearbeitetes und vergeistigtes. Und dann kam, ummich versöhnlicher zu stimmen, dazu, daß seineArt von Höflichkeit und Freundlichkeit, obwohl sieihm etwas Mühe zu machen schien, doch ganz ohneHochmut war – im Gegenteil, es war darin etwas bei-nah Rührendes, etwas wie Flehendes, wofür ich erstspäter die Erklärung fand, das mich aber sofort einwenig für ihn einnahm.

Noch ehe die Besichtigung der beiden Räume unddie andern Verhandlungen beendet waren, war mei-ne Mittagszeit abgelaufen, und ich mußte in meinGeschäft gehen. Ich empfahl mich und überließ ihnder Tante. Als ich am Abend wiederkam, erzähltesie mir, der Fremde habe gemietet und werde dieserTage einziehen, er habe nur darum gebeten, seine An-kunft nicht polizeilich zu melden, da ihm, einemkränklichen Mann, diese Formalitäten und das Her-umstehen in Polizeischreibstuben und so weiter un-erträglich seien. Ich erinnere mich noch genau daran,wie das mich damals stutzig machte und wie ich mei-ne Tante davor warnte, auf diese Bedingung einzuge-hen. Gerade zu dem Unvertrauten und Fremden, dasder Mann an sich hatte, schien mir diese Scheu vorder Polizei allzu gut zu passen, um nicht als verdäch-tig aufzufallen. Ich legte meiner Tante dar, daß sie auf

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dies ohnehin etwas eigentümliche Ansinnen, dessenErfüllung unter Umständen recht widerliche Folgenfür sie haben könne, einem völlig Fremden gegen-über unter keinen Umständen eingehen dürfe. Aberda stellte sich heraus, daß die Tante ihm die Erfüllungseines Wunsches schon zugesagt hatte, und daß sieüberhaupt sich von dem fremden Menschen schonhatte einfangen und bezaubern lassen; denn sie hatniemals Mieter aufgenommen, zu denen sie nichtin irgendein menschliches, freundliches und tanten-haftes oder vielmehr mütterliches Verhältnis tretenkonnte, was denn auch von manchen früheren Mie-tern reichlich ausgenützt worden ist. Und in den er-sten Wochen blieb es denn auch so, daß ich an demneuen Mieter mancherlei auszusetzen hatte, wäh-rend meine Tante ihn jedesmal mit Wärme in Schutznahm.

Da diese Sache mit dem Unterlassen der polizei-lichen Meldung mir nicht gefiel, wollte ich wenig-stens erfahren, was die Tante über den Fremden, überseine Herkunft und Absichten wisse. Und da wußtesie schon dies und jenes, obwohl er nach meinemWeggang um Mittag nur noch ganz kurz dagebliebenwar. Er hatte ihr gesagt, er gedenke sich einige Mona-te in unsrer Stadt aufzuhalten, die Bibliotheken zubenützen und die Altertümer der Stadt anzusehen.Eigentlich paßte es der Tante nicht, daß er nur fürso kurze Zeit mieten wollte, aber er hatte sie offenbar

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schon für sich gewonnen, trotz seines etwas sonder-baren Auftretens. Kurz, die Zimmer waren vermietet,und meine Einwände kamen zu spät.

»Warum hat er wohl das gesagt, daß es hier so gutrieche?« fragte ich.

Da sagte meine Tante, welche manchmal recht gu-te Ahnungen hatte: »Das weiß ich ganz genau. Esriecht hier bei uns nach Sauberkeit und Ordnungund nach einem freundlichen und anständigen Le-ben, und das hat ihm gefallen. Er sieht aus, wie wenner daran nicht mehr gewöhnt wäre und es entbehrthätte.«

Nun ja, dachte ich, meinetwegen. »Aber«, sagte ich,»wenn er an ein ordentliches und anständiges Lebennicht gewöhnt ist, wie soll dann das werden? Waswillst du machen, wenn er unreinlich ist und allesverdreckt oder wenn er zu allen Nachtstunden besof-fen heimkommt?«

»Das werden wir ja sehen«, sagte sie und lachte,und ich ließ es gut sein.

Und in der Tat waren meine Befürchtungen un-begründet. Der Mieter, obwohl er keineswegs ein or-dentliches und vernünftiges Leben führte, hat unsnicht belästigt noch geschädigt, wir denken nochheute gerne an ihn. Im Innern aber, in der Seele,hat dieser Mann uns beide, die Tante und mich, dochsehr viel gestört und belästigt, und offen gesagt, binich noch lange nicht mit ihm fertig. Ich träume

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nachts manchmal von ihm und fühle mich durchihn, durch die bloße Existenz eines solchen Wesens,im Grunde gestört und beunruhigt, obwohl er mirgeradezu lieb geworden ist.

Zwei Tage später brachte ein Fuhrmann die Sachendes Fremden, der Harry Haller hieß. Ein sehr schö-ner Lederkoffer machte mir einen guten Eindruck,und ein großer flacher Kabinenkoffer schien auf frü-here weite Reisen zu deuten, wenigstens war er be-klebt mit den vergilbten Firmenzetteln von Hotelsund Transportgesellschaften verschiedener, auchüberseeischer Länder.

Dann erschien er selbst, und es begann die Zeit, inder ich diesen sonderbaren Mann allmählich ken-nenlernte. Anfangs tat ich von meiner Seite nichts da-zu. Obwohl ich mich für Haller von der ersten Minu-te an, in der ich ihn sah, interessierte, tat ich in denersten paar Wochen doch keinen Schritt, um ihn an-zutreffen oder ins Gespräch mit ihm zu kommen.Dagegen habe ich allerdings, dies muß ich gestehen,schon von allem Anfang an den Mann ein wenig be-obachtet, auch zuweilen während seiner Abwesen-heit sein Zimmer betreten und überhaupt aus Neu-gierde ein klein wenig Spionage getrieben.

Über das Äußere des Steppenwolfes habe ich eini-ge Angaben schon gemacht. Er machte durchaus undgleich beim ersten Anblick den Eindruck eines be-

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deutenden, eines seltenen und ungewöhnlich begab-ten Menschen, sein Gesicht war voll Geist, und dasaußerordentlich zarte und bewegliche Spiel seinerZüge spiegelte ein interessantes, höchst bewegtes, un-gemein zartes und sensibles Seelenleben. Wenn manmit ihm sprach und er, was nicht immer der Fall war,die Grenzen des Konventionellen überschritt und ausseiner Fremdheit heraus persönliche, eigene Wortesagte, dann mußte unsereiner sich ihm ohne weiteresunterordnen, er hatte mehr gedacht als andre Men-schen und hatte in geistigen Angelegenheiten jenebeinah kühle Sachlichkeit, jenes sichere Gedacht-haben und Wissen, wie es nur wahrhaft geistige Men-schen haben, welchen jeder Ehrgeiz fehlt, welche nie-mals zu glänzen oder den andern zu überreden oderrecht zu behalten wünschen.

Eines solchen Ausspruches, welcher aber nicht ein-mal ein Ausspruch war, sondern lediglich in einemBlick bestand, erinnere ich mich aus der letzten Zeitseines Hierseins. Da hatte ein berühmter Geschichts-philosoph und Kulturkritiker, ein Mann von euro-päischem Namen, einen Vortrag in der Aula ange-kündigt, und es war mir gelungen, den Steppenwolf,der erst gar keine Lust dazu hatte, zum Besuch desVortrags zu überreden. Wir gingen zusammen hinund saßen im Hörsaal nebeneinander. Als der Red-ner seine Kanzel bestieg und seine Ansprache be-gann, enttäuschte er manche Zuhörer, welche eine

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Art von Propheten in ihm vermutet hatten, durch dieetwas geschniegelte und eitle Art seines Auftretens.Als er nun zu reden begann und zum Beginn den Zu-hörern einige Schmeicheleien sagte und für ihr zahl-reiches Erscheinen dankte, da warf mir der Steppen-wolf einen ganz kurzen Blick zu, einen Blick der Kri-tik über diese Worte und über die ganze Person desRedners, o, einen unvergeßlichen und furchtbarenBlick, über dessen Bedeutung man ein ganzes Buchschreiben könnte! Der Blick kritisierte nicht bloß je-nen Redner und machte den berühmten Mann durchseine zwingende, obwohl sanfte Ironie zunichte, daswar das Wenigste daran. Der Blick war viel eher trau-rig als ironisch, er war sogar abgründig und hoff-nungslos traurig; eine stille, gewissermaßen sichere,gewissermaßen schon Gewohnheit und Form gewor-dene Verzweiflung war der Inhalt dieses Blickes. Erdurchleuchtete mit seiner verzweifelten Helligkeitnicht bloß die Person des eitlen Redners, ironisierteund erledigte die Situation des Augenblicks, die Er-wartung und Stimmung des Publikums, den etwasanmaßenden Titel der angekündigten Ansprache –nein, der Blick des Steppenwolfes durchdrang unsreganze Zeit, das ganze betriebsame Getue, die ganzeStreberei, die ganze Eitelkeit, das ganze oberfläch-liche Spiel einer eingebildeten, seichten Geistigkeit –ach, und leider ging der Blick noch tiefer, ging nochviel weiter als bloß auf Mängel und Hoffnungslosig-

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keiten unsrer Zeit, unsrer Geistigkeit, unsrer Kultur.Er ging bis ins Herz alles Menschentums, er sprachberedt in einer einzigen Sekunde den ganzen Zwei-fel eines Denkers, eines vielleicht Wissenden aus ander Würde, am Sinn des Menschenlebens überhaupt.Dieser Blick sagte: »Schau, solche Affen sind wir!Schau, so ist der Mensch!« und alle Berühmtheit, al-le Gescheitheit, alle Errungenschaften des Geistes,alle Anläufe zu Erhabenheit, Größe und Dauer imMenschlichen fielen zusammen und waren ein Affen-spiel!

Ich habe damit weit vorgegriffen und, eigentlichgegen meinen Plan und Willen, im Grunde schondas Wesentliche über Haller gesagt, während es ur-sprünglich meine Absicht war, sein Bild nur allmäh-lich, im Erzählen meines stufenweisen Bekanntwer-dens mit ihm, zu enthüllen.

Nachdem ich nun denn so vorgegriffen habe, erüb-rigt es sich, noch weiter über die rätselhafte »Fremd-heit« Hallers zu sprechen und im einzelnen zu be-richten, wie ich allmählich die Gründe und Bedeu-tungen dieser Fremdheit, dieser außerordentlichenund furchtbaren Vereinsamung ahnte und erkannte.Es ist besser so, denn ich möchte meine eigene Per-son möglichst im Hintergrunde lassen. Ich will nichtmeine Bekenntnisse vortragen oder Novellen erzäh-len oder Psychologie treiben, sondern lediglich alsAugenzeuge etwas zum Bild des eigentümlichen Man-

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nes beitragen, der diese Steppenwolfmanuskripte hin-terlassen hat.

Schon beim allerersten Anblick, als er durch dieGlastür der Tante hereintrat, den Kopf so vogelartigreckte und den guten Geruch des Hauses rühmte,war mir irgendwie das Besondere an diesem Manneaufgefallen, und meine erste naive Reaktion daraufwar Widerwille gewesen. Ich spürte (und meine Tan-te, die im Gegensatz zu mir ja ganz und gar kein in-tellektueller Mensch ist, spürte ziemlich genau das-selbe) – ich spürte, daß der Mann krank sei, aufirgendeine Art geistes- oder gemüts- oder charakter-krank, und wehrte mich dagegen mit dem Instinktdes Gesunden. Diese Abwehr wurde im Lauf der Zeitabgelöst durch Sympathie, beruhend auf einem gro-ßen Mitleid mit diesem tief und dauernd Leidenden,dessen Vereinsamung und inneres Sterben ich mitansah. In dieser Periode kam mir mehr und mehrzum Bewußtsein, daß die Krankheit dieses Leiden-den nicht auf irgendwelchen Mängeln seiner Naturberuhe, sondern im Gegenteil nur auf dem nichtzur Harmonie gelangten großen Reichtum seiner Ga-ben und Kräfte. Ich erkannte, daß Haller ein Geniedes Leidens sei, daß er, im Sinne mancher Aussprü-che Nietzsches, in sich eine geniale, eine unbegrenzte,furchtbare Leidensfähigkeit herangebildet habe. Zu-gleich erkannte ich, daß nicht Weltverachtung, son-dern Selbstverachtung die Basis seines Pessimismus

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sei, denn so schonungslos und vernichtend er von In-stitutionen oder Personen reden konnte, nie schloßer sich aus, immer war er selbst der erste, gegenden er seine Pfeile richtete, war er selbst der erste,den er haßte und verneinte . . .

Hier muß ich eine psychologische Anmerkung ein-fügen. Obgleich ich über das Leben des Steppenwol-fes sehr wenig weiß, habe ich doch allen Grund zuvermuten, daß er von liebevollen, aber strengen undsehr frommen Eltern und Lehrern in jenem Sinneerzogen wurde, der das »Brechen des Willens« zurGrundlage der Erziehung macht. Dieses Vernichtender Persönlichkeit und Brechen des Willens nunwar bei diesem Schüler nicht gelungen, dazu war erviel zu stark und hart, viel zu stolz und geistig. Stattseine Persönlichkeit zu vernichten, war es nur gelun-gen, ihn sich selbst hassen zu lehren. Gegen sich sel-ber, gegen dies unschuldige und edle Objekt richteteer nun zeitlebens die ganze Genialität seiner Phanta-sie, die ganze Stärke seines Denkvermögens. Denndarin war er, trotz allem, durch und durch Christund durch und durch Märtyrer, daß er jede Schärfe,jede Kritik, jede Bosheit, jeden Haß, dessen er fähigwar, vor allem und zuerst auf sich selbst losließ. Wasdie anderen, was die Umwelt betraf, so machte er be-ständig die heldenhaftesten und ernstesten Versuche,sie zu lieben, ihnen gerecht zu werden, ihnen nichtweh zu tun, denn das »Liebe deinen Nächsten« war

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