Suhrkamp Verlag · J a, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte versuchen, nicht etwa...

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Suhrkamp Verlag Leseprobe Adorno, Theodor W. Aspekte des neuen Rechtsradikalismus Ein Vortrag Mit einem Nachwort von Volker Weiß © Suhrkamp Verlag 978-3-518-58737-9

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Suhrkamp VerlagLeseprobe

Adorno, Theodor W.Aspekte des neuen Rechtsradikalismus

Ein VortragMit einem Nachwort von Volker Weiß

© Suhrkamp Verlag978-3-518-58737-9

SV

Theodor W. AdornoAspekte des neuen Rechtsradikalismus

Ein Vortrag

Mit einem Nachwortvon Volker Weiß

Suhrkamp

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Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmISBN ----

Inhalt

Aspekte des neuen Rechtsradikalismus

Editorische Notiz

Nachwort

Über die Autoren

ASPEKTE DES NEUEN RECHTSRADIKALISMUS

Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren,ich möchte versuchen, nicht etwa mit dem An-

spruch auf Vollständigkeit Ihnen eine Theorie desRechtsradikalismus zu geben, sondern in losen Be-merkungen einige Dinge hervorzuheben, die viel-leicht Ihnen nicht allen so gegenwärtig sind. Ichmöchte damit also andere theoretische Interpreta-tionen nicht außer Kraft setzen, aber ich möchteeinfach versuchen, das, was man so allgemein überdiese Dinge denkt und weiß, ein bißchen zu ergän-zen.Ich habe im Jahr einen Vortrag gehalten,

»Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, indem ich die These entwickelt habe, daß der Rechts-radikalismus dadurch sich erklärt oder daß dasPotential eines solchen Rechtsradikalismus, der da-mals ja eigentlich noch nicht sichtbar war, dadurchsich erklärt, daß die gesellschaftlichen Vorausset-zungen des Faschismus nach wie vor fortbestehen.

Ichmöchte also davon ausgehen, meineDamen undHerren, daß die Voraussetzungen faschistischer Be-wegungen trotz des Zusammenbruchs gesellschaft-lich, wenn auch nicht unmittelbar politisch, nachwie vor fortbestehen. Dabei denke ich in ersterLinie an die nach wie vor herrschende Konzentra-tionstendenz des Kapitals, die man zwar durch allemöglichen statistischen Künste aus der Welt weg-rechnen kann, an der aber im Ernst kaum ein Zwei-fel ist. Diese Konzentrationstendenz bedeutet nachwie vor auf der anderen Seite die Möglichkeit derpermanenten Deklassierung von Schichten, die ih-rem subjektiven Klassenbewußtsein nach durchausbürgerlich waren, die ihre Privilegien, ihren sozia-len Status festhalten möchten und womöglich ihnverstärken. Diese Gruppen tendieren nach wie vorzu einemHaß auf den Sozialismus oder das, was sieSozialismus nennen, das heißt, sie verschieben dieSchuld an ihrer eigenen potentiellen Deklassierungnicht etwa auf die Apparatur, die das bewirkt, son-dern auf diejenigen, die dem System, in dem sie ein-mal Status besessen haben, jedenfalls nach traditio-nellen Vorstellungen, kritisch gegenübergestandenhaben. Ob sie das heute noch tun und ob ihre Pra-xis das heute noch ist, das ist eine andere Frage.

Nun, der Übergang zum Sozialismus oder, be-scheidener gesagt, auch nur zu sozialistischen Orga-nisationen ist diesen Gruppen von jeher sehr schwergeworden und ist heute, zumindest in Deutsch-land – und meine Erfahrungen beziehen sich na-turgemäß in erster Linie auf Deutschland –, nochviel schwerer, als das früher der Fall war. Vor allemdeswegen, weil ja die SPD, die deutsche sozialde-mokratische Partei, mit einem Keynesianismus, ei-nem Keynesschen Liberalismus, identifiziert ist, derauf der einen Seite zwar die Potentiale einer Verän-derung der Gesellschaftsstruktur, die in der klassi-schen Marxischen Theorie gelegen waren, abbiegt,andererseits aber doch die Bedrohung der Verar-mung, jedenfalls in der Konsequenz, für die Schich-ten, von denen ich gesprochen habe, verstärkt. Icherinnere an die einfache Tatsache der schleichen-den, aber doch sehr bemerkbaren Inflation, die jaeine Konsequenz eben des Keynesschen Expansio-nismus ist, und ich erinnere weiter an eine These,die ich eben auch in jener Arbeit vor acht Jahrenentwickelt habe und die unterdessen sich doch sehrzu aktualisieren beginnt, nämlich daß trotz Vollbe-schäftigung und trotz all dieser Prosperitätssymp-tome das Gespenst der technologischen Arbeitslo-

sigkeit nach wie vor umgeht in einem solchenMaß,daß im Zeitalter der Automatisierung, die ja in Zen-traleuropa noch zurück ist, aber ohne Frage nach-geholt werden wird, auch die Menschen, die imProduktionsprozeß drinstehen, sich bereits als po-tentiell überflüssig – ich habe das sehr extrem aus-gedrückt –, sich als potentielle Arbeitslose eigent-lich fühlen. Hinzu kommt natürlich noch die Angstvor dem Osten, ebenso wegen des niedrigeren Le-bensstandards dort wie wegen der Unfreiheit, dieja doch unmittelbar und sehr real von den Men-schen, auch von den Massen, erfahren wird, unddazu, jedenfalls bis vor kurzer Zeit, das Gefühlder außenpolitischen Bedrohung.Es ist nun an die eigentümliche Situation zu er-

innern, die herrscht mit Rücksicht auf das Problemdes Nationalismus im Zeitalter der großen Macht-blöcke. Innerhalb dieser Blöcke lebt nämlich derNationalismus doch fort als Organ der kollekti-ven Interessenvertretung innerhalb der in Rede ste-henden Großgruppen. Es ist gar kein Zweifel dar-an, daß sozialpsychologisch und auch real es einesehr verbreitete Angst davor gibt, in diesen Blöckenaufzugehen und dabei auch in der materiellen Exi-stenz schwer beeinträchtigt zu werden. Also, soweit

es sich etwa um das agrarische Potential des Rechts-radikalismus handelt, ist die Angst vor der EWG

und den Konsequenzen der EWG für den Agrar-markt hier sicher außerordentlich stark.Zugleich aber – und damit berühre ich den ant-

agonistischen Charakter, den der neue Nationalis-mus oder Rechtsradikalismus hat – hat er ange-sichts der Gruppierung der Welt heute in diese paarübergroßen Blöcke, in denen die einzelnen Natio-nen und Staaten eigentlich nur noch eine unter-geordnete Rolle spielen, etwas Fiktives. Es glaubteigentlich niemand mehr so ganz daran. Die ein-zelne Nation ist in ihrer Bewegungsfreiheit durchdie Integration in die großen Machtblöcke außer-ordentlich beschränkt. Man sollte nun daraus abernicht etwa die primitive Folgerung ziehen, daßdeswegen der Nationalismus, wegen dieser Über-holtheit, keine entscheidende Rolle mehr spielt, son-dern im Gegenteil, es ist ja sehr oft so, daß Über-zeugungen und Ideologien gerade dann, wenn sieeigentlich durch die objektive Situation nicht mehrrecht substantiell sind, ihr Dämonisches, ihr wahr-haft Zerstörerisches annehmen. DieHexenprozessehaben schließlich nicht stattgefunden in der Zeitdes Hochthomismus, sondern in der Zeit der Ge-

genreformation, und etwas Ähnliches dürfte es mitdem, wenn ich es so nennen darf, »pathischen« Na-tionalismus heute auch auf sich haben. Dieses Mo-ment des Angedrehten, sich selbst nicht ganz Glau-benden, hat er übrigens schon in der Hitlerzeitgehabt. Und dieses Schwanken, diese Ambivalenz,zwischen dem überdrehten Nationalismus und demZweifel daran, der dann wieder es notwendigmacht, ihn zu überspielen, damit man ihn sichselbst und anderen gleichsam einredet, das war da-mals auch schon zu beobachten.Nun, aus diesen recht simplen Thesen möchte

ich ein paar Konsequenzen zunächst einmal zie-hen. Ich glaube, es erklärt sich nämlich aus dem,was ich Ihnen gesagt habe, nämlich daß es sich imGrunde um eine Angst vor den Konsequenzen ge-samtgesellschaftlicher Entwicklungen handelt, das,was von Meinungsforschungsinstituten allseitig be-obachtet worden ist und was auch aus unsrer ei-genen Arbeit sich bestätigt hat, daß nämlich dieAnhänger des Alt- und Neufaschismus heute querdurch die Gesamtbevölkerung verteilt sind. Ichglaube, daß die sehr verbreitete Annahme, es han-dele sich bei alldem um spezifisch kleinbürgerlicheBewegungen, wie uns zuletzt noch im französi-

schen Poujadismus vor Augen gestanden hat, zwarin bezug auf, wenn ich so sagen darf, den Sozialcha-rakter dieser Bewegungen zutrifft, daß diese The-se sicherlich aber nicht zutrifft mit Rücksicht aufdie Verteilung, obwohl sicherlich gewisse kleinbür-gerliche Gruppen auch unter den Anfälligen sind,vor allem also kleine Einzelhändler, die durch dieKonzentration des Einzelhandels in Warenhäusernund ähnlichen Institutionen unmittelbar bedrohtsind. Außer den Kleinbürgern spielen sicher einehervorragende Rolle die Bauern, die sich ja in einerpermanenten Krise befinden, und ich würde den-ken, daß solange, wie es nicht wirklich gelingt, dasAgrarproblem auf eine radikale, nämlich nicht sub-ventionistische und künstliche und in sich wiederproblematische Weise zu lösen, solange man nichtwirklich zu einer vernünftigen und rationalen Kol-lektivierung der Landwirtschaft gelangt, daß die-ser schwelende Herd dauernd bestehen bleibt.Darüber hinaus gibt es aber auch in diesen Be-

wegungen insgesamt so etwas wie einen sich ver-schärfenden Gegensatz der Provinz gegen die Stadt.Auch bestimmte einzelne Gruppen, wie zum Bei-spiel die kleinen Winzer in der Pfalz in Deutsch-land, scheinen besonders anfällig zu sein. Soweit

es sich um die Frage nach dem industriellen backingdieser Bewegungen handelt, liegen bei uns bis jetztwirklich konkrete Belege dafür nicht vor.Manmußin all diesen Dingen sehr vorsichtig sein, daß mannicht zu schematisch denkt und etwa also mit demSchema von der Industrie, die den Faschismus for-ciert – man darf damit nicht so leichtfertig ope-rieren. Man muß sich dabei auch vergegenwärti-gen, daß ja der Faschismus, dessen Apparatur stetseine Tendenz hat, sich auch den tragenden ökono-mischen Interessen gegenüber zu verselbständigen,auch für die große Industrie ja keine Annehmlich-keit ist und daß man in Deutschland zum Faschis-mus als einer Ultima ratio geschritten ist, nämlichim Augenblick der nun wirklich ganz großenWirt-schaftskrise, die also für die damals bilanzmäßigbankrotte Ruhr-Industrie eine andere Möglichkeitoffenbar nicht gelassen hat.Natürlich gibt es Kaders alter Nazis. Aber auch

hier möchte ich sagen, und zwar einfach auf Grundvon Beobachtungen, die innerhalb der empirischenSozialforschung vorliegen, daß man nicht glaubensoll, daß es sich lediglich um die sogenannten Un-belehrbaren handelt, über die man dann so etwasdie Achseln zuckt. Es werden fraglos auch Junge

angezogen, insbesondere auch Typen der Art, die,sagen wir, so als Fünfzehnjährige um den Zu-sammenbruch erlebt haben und bei denen dannaußerordentlich stark so diesesGefühl liegt: »Deutsch-land muß wieder obenauf kommen.«Ich darf sozialpsychologisch hier vielleicht sagen,

obwohl ich weiß Gott diese Dinge nicht für primärpsychologische Fragen halte, daß ja im Jahr diewirkliche Panik, die wirkliche Auflösung der Iden-tifikationmit demRegime und derDisziplin, nicht,wie etwa in Italien, stattgefunden hat, sondern daßdas bis zuletzt kohärent geblieben ist. Die Identifi-kationmit dem System ist in Deutschland nie wirk-lich radikal zerstört worden, und darin liegt natür-lich auch eine der Möglichkeiten, daß gerade vonden Gruppen, von denen ich eben spreche, daranangeknüpft wird.Man hört ja sehr oft, gerade also mit Rücksicht

auf solche Kategorien wie »Die ewig Unbelehr-baren« und wie solche Trostphrasen sonst lautenmögen, die Behauptung, es gebe so einen Boden-satz von Unbelehrbaren oder von Narren, einen so-genannten lunatic fringe, wie man in Amerika esnennt, in jeder Demokratie. Und es steckt danndarin so ein gewisses quietistisch bürgerlich Trö-

stendes, wenn man sich das so vorsagt. Ich glaube,man kann darauf nur antworten: Gewiß sei in je-der sogenannten Demokratie auf der Welt etwasDerartiges in variierender Stärke zu beobachten,aber doch nur als Ausdruck dessen, daß dem In-halt nach, dem gesellschaftlich-ökonomischen In-halt nach, die Demokratie eben bis heute nirgendswirklich und ganz sich konkretisiert hat, sondernformal geblieben ist. Und die faschistischen Bewe-gungen könnte man in diesem Sinn als die Wund-male, als die Narben einer Demokratie bezeichnen,die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute nochnicht voll gerecht wird.Ich möchte weiter, wenn es sich darum handelt,

gewisse Klischeevorstellungen über diese Dinge zu-rechtzurücken, auch sagen, daß das Verhältnis die-ser Bewegungen zur Ökonomie ein strukturellesVerhältnis ist, daß es also eben in jener Konzentra-tionstendenz und der Tendenz zur Verelendungsteckt, daß man es sich aber nicht zu kurzfristigvorstellen kann und daß man, wenn man etwa ein-fach Rechtsradikalismus mit Konjunkturbewegun-gen gleichsetzt, zu sehr falschen Urteilen gelangenkann. So waren die Erfolge der NPD in Deutsch-land bereits einigermaßen alarmierend vor dem öko-

nomischen Rückschlag und haben diesen gewisser-maßen antizipiert oder, wenn Sie wollen, diskon-tiert. Sie haben gleichsam eine Angst und einenSchrecken vorweggenommen, wenn man so sagensoll, der dann erst ganz akut geworden ist.Mit diesem Wort des Antizipierens des Schrek-

kens glaube ich nun wirklich etwas sehr Zentralesberührt zu haben, das, soweit ich sehen kann, inden üblichen Ansichten über den Rechtsradikalis-mus viel zu wenig berücksichtigt wird, nämlichdie sehr komplexe und schwierige Beziehung, diehier herrscht, zu dem Gefühl der sozialen Katastro-phe. Man könnte reden von einer Verzerrung derMarxischen Zusammenbruchstheorie, die in die-sem sehr verkrüppelten und falschen Bewußtseinstattfindet. Auf der einen Seite wird nach der ratio-nalen Dimension hin gefragt: »Wie soll das wei-tergehen, wenn es etwa einmal eine große Krisegibt?« – und für diesen Fall empfehlen sich dieseBewegungen. Aber sie haben auf der andern Seiteetwas gemeinsam mit jener Art von manipulierterAstrologie von heute, die ich für ein sozialpsycholo-gisch außerordentlich wichtiges und charakteristi-sches Symptom halte, daß sie nämlich in gewisserWeise die Katastrophe wollen, daß sie von Welt-

untergangsphantasien sich nähren, so wie sie übri-gens, wie wir aus den Dokumenten wissen, auch derehemaligen Führungsclique der NSDAP gar nichtfremd gewesen sind.Wenn ich psychoanalytisch reden sollte, würde

ich sagen, es sei sicherlich nicht die geringste derKräfte, die hier mobilisiert werden, daß an den un-bewußten Wunsch nach Unheil, nach Katastrophein diesen Bewegungen appelliert wird. Aber ichmöchte doch dem hinzufügen – und ich sprechedamit gerade zu denen unter Ihnen, die mit Rechtgegen eine bloß psychologische Deutung gesell-schaftlicher und politischer Phänomene skeptischsind –, daß dieses Verhalten keineswegs nur psy-chologisch motiviert ist, sondern auch seine objek-tive Basis hat. Wer nichts vor sich sieht und werdie Veränderung der gesellschaftlichen Basis nichtwill, dem bleibt eigentlich gar nichts anderes üb-rig, als wie der Richard-Wagnersche Wotan zu sa-gen: »Weißt Du, was Wotan will? Das Ende« –, derwill aus seiner eigenen sozialen Situation herausden Untergang, nur eben dann nicht den Unter-gang der eigenen Gruppe, sondern wenn möglichden Untergang des Ganzen.Wenn ich noch etwas sagen darf über den spezi-