Suhrkamp Verlag · Nach1989warenLandkartenplötzlichnichtlängerinMo-de. Die Grenzen sollten...

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Suhrkamp Verlag Leseprobe Krastev, Ivan Europadämmerung Ein Essay © Suhrkamp Verlag edition suhrkamp 2712 978-3-518-12712-4

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Suhrkamp VerlagLeseprobe

Krastev, IvanEuropadämmerung

Ein Essay

© Suhrkamp Verlagedition suhrkamp 2712

978-3-518-12712-4

edition suhrkamp 2712

Nach 1989 waren Landkartenplötzlichnicht länger in Mo-de. Die Grenzen sollten geöffnet werden für Menschen,Güter, Kapital und Ideen. An die Stelle der alten Kartentraten Graphiken, welche die ökonomische Verflechtunginnerhalb der EU illustrierten. Heute erleben wir einenideologischen Gezeitenwechsel: Wo die Mehrheit der Eu-ropäer noch vor einigen Jahren optimistisch auf die Globa-lisierung blickte, empfinden sie Migration und die Rück-kehr der Geopolitik als Quelle der Unsicherheit. IvanKrastev untersucht die Ursachen für diesen Wandel underörtert, welche Formen die europäische Desintegrationannehmen könnte. Ein Zerfall der EU, so Krastev, wäreeine Tragödie, die den Kontinent zu internationaler Bedeu-tungslosigkeit verurteilen würde.

Ivan Krastev, geboren 1965 im bulgarischen Lukovit, istVorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia undPermanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vomMenschen in Wien. Seit 2015 schreibt er regelmäßig Ana-lysen für die internationale Ausgabe der New York Times.

Ivan Krastev

Europadämmerung

Ein Essay

Aus dem Englischen von

Michael Bischoff

Suhrkamp

Die Originalausgabe dieses Buches erschien 2017 unter dem TitelAfter Europe bei University Pennsylvania Press (Philadelphia).

edition suhrkamp 2712Erste Auflage 2017

Deutsche Erstausgabe© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Berlin 2017

© Ivan Krastev 2017Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das desöffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Umschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Printed in GermanyISBN 978-3-518-012712-4

Inhalt

Einleitung: Ein Déjà-vu . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71. Wir, die Europäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232. Sie, das Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73Schluss: Überlegungen zur Zerbrechlichkeit und

Widerstandsfähigkeit Europas . . . . . . . . . . . . . 127

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

EinleitungEin Déjà-vu

An einem der letzten Tage im Juni 1914 traf in einer abge-legenen Garnisonsstadt des Habsburgerreiches ein Tele-gramm ein. Es bestand aus einem einzigen, in übergroßenBuchstaben geschriebenen Satz: »Thronfolger gerüchtwei-se in Sarajevo ermordet.« Zunächst noch ungläubig, beganneiner der Offiziere des Kaisers, Graf Battyanyi, sich inseiner ungarischen Muttersprache mit seinen Landsleutenüber denToddes Erzherzogs FranzFerdinandzu unterhal-ten, derals einseitiger Förderer der Slawen galt. RittmeisterJelacich, ein Slowene, der die Ungarnwegen ihrerangeblichmangelnden Kaisertreue nicht mochte, forderte die Her-ren auf, ihre Unterhaltung im gebräuchlicheren Deutschzu führen. Darauf erwiderte der ungarische Graf Benkyö,der gerade gesprochen hatte: »Ich will es auf deutsch sagen:Wir sind übereingekommen, meine Landsleute und ich,daß wir froh sein können, wann das Schwein hin is!«

Das war das Ende des habsburgischen Vielvölkerstaa-tes – zumindest wie Joseph Roth ihn in seinem meister-haften Roman Radetzkymarsch beschrieben hat.1 Der Un-tergang des Reichs war teils Schicksal, teils Mord, teilsSelbstmord und teils einfach nur Pech. Während die His-toriker sich uneins sind, ob das Reich eines natürlichenTodes aufgrund institutioneller Erschöpfung oder einesgewaltsamen Todes aufgrund des Ersten Weltkriegs starb,spukt der Geist des gescheiterten Habsburger-Experi-ments auch weiterhin in den Köpfen der Europäer. OszkárJászi – ein Historiker, der das Ende der Monarchie selbstmiterlebt hatte – traf 1929 es auf den Punkt, als er schrieb:

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»Wäre das österreichisch-ungarische Staatsexperiment tatsäch-lich erfolgreich gewesen, hätte die Habsburgermonarchie auf ih-rem Territorium das fundamentalste Problem des heutigen Euro-pa gelöst. […] Wie ist es möglich, Nationen mit unterschiedlichenIdealenund Traditionen trotz ihrer Individualität sozu einen, dassjede ihr besonderes Leben bewahren kann, zugleich aber die natio-nale Souveränität ausreichend zu beschränken, um eine friedlicheund erfolgreiche internationale Zusammenarbeit zu ermögli-chen?«2

Das Experiment gelangte bekanntlichnie zu einemendgül-tigen Abschluss, da es Europa misslang, sein dornigstesProblem zu lösen. Roths Geschichte ist ein überzeugenderBeleg dafür, dass vom Menschen geschaffene politische undkulturelle Artefakte,wenn sie denn verschwinden, dies ab-rupt tun. Das Ende ist eine natürliche Folge strukturellerMängel und hat zugleich Ähnlichkeit mit einem Verkehrs-unfall – nach Art einer unbeabsichtigten Folge etwa odereines schlafwandlerischen Vorgangs, eines besonderen Au-genblicks mit ganz eigener Dynamik. Das Ende ist sowohlunvermeidlich als auch unbeabsichtigt. Erleben wir heutein Europa einen ähnlichen »Zerfallsaugenblick«? Signali-siert die demokratische Entscheidung der Briten, die Uni-on zu verlassen (die in ökonomischer Hinsicht dem Aus-tritt der zwanzig kleineren EU-Staaten gleichkäme), imVerein mit dem Aufstieg euroskeptischer Parteien auf demKontinent das Ende unseres jüngsten Experiments zur Lö-sung des fundamentalsten Problems Europas? Ist die Eu-ropäische Union dazu verdammt, in ähnlicher Weise zuzerfallen wie einst das Habsburgerreich?

Jan Zielonka hat einmal treffend bemerkt: »Wir habenviele Theorien der europäischen Integration, aber prak-tisch keine Theorie der europäischen Desintegration.«3

Das ist kein Zufall. Die Architekten des europäischen Pro-

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jekts haben sich selbst vorgemacht, wenn sie nicht darübersprächen, könnten sie vermeiden, dass es zu einer Desinte-gration käme. In ihren Augen glich die Integration einemSchnellzug – niemals anhalten und niemals zurückblicken.Statt die Integration der Europäischen Union irreversibelzu machen, begnügte man sich lieber mit der Strategie, einenZerfall undenkbar erscheinen zu lassen. Es gibt indessennoch zwei weitere Gründe für das Fehlen von Theorienzur Desintegration. Der erste ist das Problem der Defini-tion: Wie kannman Desintegration von einer Reform odereinem Umbau der Unionunterscheiden? Wäre der Austritteiniger Länder aus der Eurozone oder aus der Union alsDesintegration zu verstehen? Oder wären der Rückgangdes globalen Einflusses der EU und die Rücknahme einigergroßer Errungenschaften der europäischen Integration (et-wa die Abschaffung der Personenfreizügigkeit oder einerInstitution wie des Europäischen Gerichtshofs) ein Be-weis für Desintegration? Bedeutet die Entstehung einesEuropas der zwei Geschwindigkeitenbereits eine Desinte-gration, oder ist dies ein Schritt hin zu einer engeren undvollkommeneren Gemeinschaft? Wäre es denkbar, dass ei-ne von illiberalen Demokratien bevölkerte Union dasselbepolitische Projekt weiterführte?

Ein zweiter Grund liegt in der Ironie, dass ausgerechnetzu einer Zeit, da politische Führer und Öffentlichkeit ge-lähmt sind von der Furcht vor der Desintegration, Europaso stark integriert ist wie niemals zuvor. Die Finanzkrisehat die Idee einer Bankenunion Realität werden lassen.Das Erfordernis einer wirkungsvollen Antwort auf diewachsende terroristische Bedrohung zwingt die Europäer,auf dem Gebiet der Sicherheit enger zusammenzuarbeitenals jemals zuvor. Und noch paradoxer: Die vielen Krisen,

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mit denen die Europäische Union gegenwärtig konfron-tiert ist, führen dazu, dass ganz gewöhnliche Deutschesich ganz ungewöhnlich für die Probleme der griechischenund italienischen Wirtschaft interessieren,und sie drängenPolenwie auch Ungarn, sich mit der deutschen Asylpolitikzu beschäftigen. Die Europäer leben in der Angst vor derDesintegration, während die Union mehr denn je als eineSchicksalsgemeinschaft erscheint.

Die europäische Desintegration ist auch nur sehr seltenzum Gegenstand fiktionaler Literatur gemacht worden.Unzählige Romane gehen der Frage nach, was geschehenwäre, wenn Nazideutschland den Zweiten Weltkrieg ge-wonnen hätte. Es mangelt auch nicht an Phantasien, waswohl geschehen wäre, wenn die Sowjets den Kalten Krieggewonnen hätten – oder wenn die kommunistische Revo-lution nicht in St. Petersburg, sondern in New York statt-gefunden hätte. Aber fast niemand hat sich dazu inspirie-ren lassen, den Zerfall der Europäischen Union literarischzu verarbeiten. Die einzige Ausnahme ist hier wahrschein-lich José Saramago. In seinem Roman Das steinerne Floßverschwindet ein Fluss, der von Frankreich nach Spa-nien fließt, im Boden, und die gesamte Iberische Halbinselbricht von Europa ab und treibt westwärts über den Atlan-tik.4

George Orwell hatte sicher recht mit seiner Bemerkung:»Zu sehen, was man direkt vor der Nase hat, bedarf einesständigen Kampfes.« Am 1. Januar 1992 wachte die Weltauf und erfuhr, dass die Sowjetunion von der Landkarteverschwunden war. Eine der beiden Supermächte warzusammengebrochen, und das ohne Krieg, ohne eine aus-ländische Invasion oder eine andere Katastrophe, wennman einmal von einem lächerlichen und erfolglosen

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Putschversuch absieht. Die Sowjetunion kollabierte ge-gen alle Erwartungen, wonach das Land zu groß zumScheitern, zu stabil für einen Zusammenbruch und ato-mar zu stark bewaffnet sei, um besiegt zu werden, undim Übrigen bereits zu viele Wirren überlebt hätte, um ein-fach zu implodieren. Noch 1990 erklärte eine Gruppe füh-render amerikanischer Fachleute: »Sensationsszenarienmögen eine anregende Lektüre sein, doch […] in der realenWelt gibt es diverse stabilisierende und retardierende Fak-toren. Gesellschaften erleben häufig Krisen, sogar schwe-re und gefährliche, aber sie begehen selten Selbstmord.«5

In Wirklichkeit begehen Gesellschaften sehr wohl zuwei-len Selbstmord, und sie tun es sogar mit einem gewissenElan.

Wie vor einem Jahrhundert leben die Europäer heute ineiner Zeit, in der eine lähmende Ungewissheit die Gesell-schaft erfasst hat. Politische Führer und einfache Bürgersind gleichermaßen hin- und hergerissen zwischen hekti-scher Aktivität und fatalistischer Passivität, und was bis-heralsundenkbargalt – die Auflösungder Union –, erscheintlangsam als unausweichlich. Narrative und Grundannah-men, die gestern noch unser Handeln leiteten, wirken in-zwischen nicht nur veraltet, sondern geradezu unverständ-lich. Dass etwas den Zeitgenossen absurd und irrationalvorkommt, bedeutet, wie wir aus der Geschichte wissen,durchaus nicht, dass es nicht geschehen könnte. Und diein Mitteleuropa immer noch vorhandene nostalgische Er-innerung an das liberale Habsburgerreich ist der beste Be-weis dafür, dass wir manches erst zu schätzen wissen, wennes nicht mehr da ist. Die Europäische Union war immereine Idee auf der Suche nach einer Realität. Aber die Sorge,dass das, was die Union einst zusammenhielt, seine Gel-

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tung verloren haben könnte, wächst. So ist die Erinnerungan den Zweiten Weltkrieg aus dem Blickfeld verschwunden.Ein Viertel aller fünfzehn- und sechzehnjährigen Gymna-siasten in Deutschland weiß nicht, dass Hitler ein Diktatorwar.6 Wie der 2011 erschienene satirische Roman Er ist wie-der da von Timur Vernes zeigt, lautet die Frage nicht mehr,ob eine Rückkehr Hitlers möglich wäre, sondern ob wirihn überhaupt erkennen würden. Der Roman erreichte inDeutschland Verkaufszahlen von mehr als einer Million.»Das Ende der Geschichte«, das Francis Fukuyama uns1989 versprach, ist vielleicht doch Wirklichkeit geworden,allerdings in dem perversen Sinne, dass geschichtliche Er-fahrung keine Rolle mehr spielt und nur wenige sich dafürinteressieren.7

Die geopolitische Begründung für die europäische Eini-gung ist mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ver-schwunden. Und Putins Russland, so bedrohlich es seinmag, vermag diese existenzielle Leere nicht zu füllen. DieEuropäer fühlen sich heute weniger sicherals in den letztenJahren des Kalten Kriegs. Nach Meinungsumfragen glaubtdie Mehrzahl der Briten, Deutschen und Franzosen, dieWelt stehe vor einem großen Krieg, doch die äußeren Be-drohungen, mit denen die EU sich auseinandersetzenmuss,einen den Kontinent nicht, sondern spalten ihn eher. Einekürzlich von Gallup International durchgeführte Studiehat ergeben, dass die Öffentlichkeit in mindestens drei EU-Mitgliedsstaaten (Bulgarien, Griechenland und Slowenien)im Fall einer größeren Sicherheitskrise eher bei Russlandals im Westen Beistand suchenwürde. Auch der Charakterder transatlantischen Beziehungen hat sich dramatisch ver-ändert. Donald Trump ist der erste amerikanische Prä-sident, der den Fortbestand der Europäischen Union nicht

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mehr für ein strategisches Ziel der amerikanischen Außen-politik hält.

Auch der Sozialstaat, einst Kernstück des politischenKonsenses der Nachkriegszeit, wird infrage gestellt. Euro-pa altert – das Medianalter wird auf dem Kontinent lautSchätzungen von 37,7 Jahren 2003 auf 52,3 Jahre 2050 stei-gen. Und der europäische Wohlstand kann für die Zukunftkaum als gesichert gelten. Die meisten Europäer glauben,das Leben ihrer Kinder werde schwieriger sein als das ihrereigenen Generation, und wie die Flüchtlingskrise beweist,ist es unwahrscheinlich, dass die demographische Schwä-che Europas durch Zuwanderung ausgeglichen werdenkönnte.

Aber nicht nur durch die Bevölkerungsentwicklung ge-rät der europäische Sozialstaat in eine prekäre Lage. NachAnsicht von Wolfgang Streeck, einem der führenden deut-schen Soziologen und ehemals Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, befindet sich das eu-ropäische Sozialstaatsmodell seit den siebziger Jahren inder Krise. Der Kapitalismus hat sich erfolgreich von denihm nach dem Zweiten Weltkrieg aufgezwungenen Insti-tutionen und Regulierungen befreit, und in der Folge hatsich der vielgelobte »Steuerstaat« in einen »Schuldenstaat«verwandelt. Statt durch Steuereinnahmen, die für eineUmverteilung von den Reichen zu den Armen sorgen, fi-nanzieren sich die europäischen Staaten nun in Gestalt derDefizitfinanzierung durch Anleihen bei den zukünftigenGenerationen. Die Wähler haben dadurch die Macht zueiner demokratischen Regulierung der Märkte verloren,was letztlich die Grundlagen des Sozialstaats der Nach-kriegszeit untergräbt.

Und schließlich wird die Europäische Union von wech-

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selnden ideologischen Moden heimgesucht. 2014 beschei-nigte man ihr eine, wie man es nennen könnte, »autistischeStörung«. Die Diagnose kam überraschend, aber die Symp-tome ließen sich unmöglich übersehen: Beeinträchtigungder sozialen Interaktion, Schwächung der Kommunika-tionsfähigkeit, eingeschränktes Interesse und repetitivesVerhalten. Die Union zeigte einen Mangel an jenem Ein-fühlungsvermögen, das viele bislang für selbstverständlichgehalten hatten. Besonders deutlich wurde das in der Ukrai-nekrise, als die EU lange so tat, als werde Russland nichtsgegen eine Bindung der Ukraine an die EU unternehmen,und dann überrascht war, als Putin die Krim mit Gewaltannektierte. Und es zeigte sich in der von Brüssel gernevertretenen These, die Entfremdung der Bürger gegenüberdem europäischen Projekt sei lediglich eine Folge unzurei-chender Kommunikation. Während der Ukrainekrise ge-langte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einem Tele-fongespräch mit Wladimir Putin zu dem Schluss, er lebein einer »anderen Welt«. Drei Jahre danach stellt sich dieFrage, wer von beiden in der »realen Welt« lebt.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Erweiterungder EU verliebte Brüssel sich Hals über Kopf in sein sozia-les und politisches Modell und übernahm eine äußerst un-kritische Sicht der von der Weltgeschichte eingeschlagenenRichtung. Die europäische Öffentlichkeit hatte angenom-men, die Globalisierung werde den Niedergang des Staa-tes als des wichtigsten internationalen Akteurs und desNationalismus als eines zentralen politischen Motivatorsbeschleunigen. Die Europäer deuteten ihre eigene Nach-kriegserfahrung mit der Überwindung des ethnischen Na-tionalismus und der politischen Theologie als Zeichen einesuniversellen Entwicklungstrends. Mark Leonard schrieb

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in seinem ehrgeizigen Buch Warum Europa die Zukunft ge-hört:

Europa verbindet Unternehmungsgeist und Freiheitsdurst – At-tribute des Liberalismus – mit Stabilitäts- und Wohlfahrtspolitik,Markenzeichen der Sozialdemokratie. Mit zunehmendem Wohl-stand auf der Welt und einer Lebensqualität, die über die Befrie-digungder Grundbedürfnisse (Nahrung,Wohnung, medizinischeVersorgung usw.) hinausgeht,wird der European Way of Life zumunschlagbaren Erfolgsmodell werden.8

Aber was gestern noch universell anwendbar erschien,wirkt heute eher wie eine Ausnahme. Schon ein flüchtigerBlick auf China, Indien und Russland, von der musli-mischen Welt ganz zu schweigen, macht deutlich, dass eth-nischer Nationalismus und Religion weiterhin wichtigeTriebkräfte der Weltpolitik darstellen. Die Postmoderne,der Postnationalismus und die Säkularisierung haben da-für gesorgt, dass Europa anders ist als der Rest der Welt,aber sie sind keine Vorboten dessen, was diese Welt unaus-weichlich erwartet. Im Kontext der Flüchtlingskrise wur-de außerdem deutlich, dass nationale Loyalitäten, die einstals tot und begraben galten, sich im heutigen Europa – miterstaunlicher Macht – zurückgemeldet haben.

In den letzten Jahren haben die Europäer erkannt, dassdas politische Modell der EU zwar bewundernswert ist,sich aber wahrscheinlich nicht weltweit oder auch nurbei den unmittelbaren Nachbarn ausbreiten wird. Hier han-delt es sich um eine europäische Variante des »Galapagos-Syndroms«, unter dem japanische Technologiekonzernezu leiden hatten. Vor einigen Jahren stellten diese Unter-nehmen fest, dass sie zwar die besten 3G-Smartphonesder Welt bauten, dafür aber keinen globalen Markt fanden,weil die Welt nicht mit den technologischen Innovationen

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dieser »perfekten« Geräte Schritt halten konnte. JapansSmartphones, in schützender Isolation von den Herausfor-derungen der Außenwelt entwickelt, waren nicht zu groß,um scheitern zu können, sie waren zu perfekt, um erfolg-reich zu sein. Nun erlebt Europa seinen eigenen »Galapa-gos-Moment«.9 Die postmoderne Ordnung Europas istmöglicherweise derart fortgeschritten und speziell an ihreeigene Umwelt angepasst, dass die anderen ihr nicht folgenkönnen.

Diese neue Realität war es, die mich ursprünglich ver-anlasste, Europa im Sinne eines »danach« zu denken.10

»Nach Europa« bedeutet, dass der alte Kontinent sowohlseine zentrale Stellung in der Weltpolitik als auch seine Zu-versicht verloren hat – die Zuversicht seiner Bürger, dassihre politischen Entscheidungen die Zukunft der Welt be-stimmen könnten. »Nach Europa« bedeutet, dass das eu-ropäische Projekt seinen teleologischen Reiz verloren hatund die Idee der »Vereinigten Staaten von Europa« weni-ger inspirierend wirkt als wohl zu irgendeinem anderenZeitpunkt in den letzten fünfzig Jahren. »Nach Europa«bedeutet, dass Europa an einer Identitätskrise leidet, inder sein christliches Erbe und das Vermächtnis der Aufklä-rung nicht mehr sicher sind. »Nach Europa« bedeutetnicht unbedingt, dass die Europäische Union am Ende ist,wohl aber, dass wir unsere naiven Hoffnungen und Erwar-tungen hinsichtlich der zukünftigen Gestaltung Europasund der Welt begraben müssen.

Die nachfolgenden Überlegungen zum Schicksal Euro-pas folgen im Stil Antonio Gramscis »Pessimismus desVerstandes, Optimismus des Willens«. Ich gehöre zu de-nen, die glauben, dass der Desintegrationszug den Brüsse-ler Hauptbahnhof bereits verlassen hat – und die befürch-

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ten, dass dies den Kontinent in Unordnung stürzen und zuglobaler Bedeutungslosigkeit verdammen wird. An dieStelle einer mitfühlend-toleranten und offenen wird da-durch wahrscheinlich eine von tyrannischer Engstirnig-keit geprägte Gesellschaft treten. Weitere Folgen sindmöglicherweise der Zusammenbruch liberaler Demokra-tien an den Rändern Europas und der Kollaps mehrererak-tueller Mitgliedsstaaten. Das wird nicht notwendig zumKrieg führen, wohl aber mit einiger Sicherheit zu Elendund Chaos beitragen. Die politische, kulturelle und wirt-schaftliche Zusammenarbeit wird man nicht vollständigeinstellen, aber der Traumeines freienund geeinten Europadürfte ausgeträumt sein.

Zugleich glaube ich, dass die Europäische Union nicht allihre Probleme lösen muss, um ihre Legitimation zurück-zugewinnen. Es ist notwendig, dass auch in fünf Jahrennoch die Europäer innerhalb Europas ungehindert reisenkönnen, dass der Euro als Gemeinschaftswährung zumin-dest einiger Mitgliedsstaaten überlebt und dass die Bürgerihre Regierungen frei wählen und sie vor dem Europäi-schen Gerichtshof für Menschenrechte verklagen können.»Wer spricht von Siegen?«, fragt der große deutsche Dich-ter Rainer Maria Rilke. »Überstehn ist alles!« Aber selbstdas Überstehen wird nicht einfach sein.

Falls die Union zusammenbricht, wird die Logik ihresZerfalls eher der Logik eines Bankenruns als der einer Re-volution ähneln. Die Implosion der EU muss nicht auseinem Sieg von »Exitern« über »Remainer« in einzelstaat-lichen Volksabstimmungen resultieren. Sie wird eher eineunbeabsichtigte Folge seit Langem bestehender (oder auchnur als solche empfundener) Funktionsstörungen der Uni-on sein, verbunden mit einer Fehlinterpretation der natio-

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nalenpolitischen Dynamik durch die Eliten. Aufgrund derBefürchtung,dieUnionwerdezerfallen,undindemWunsch,etwas dagegen zu unternehmen, werden viele europäischePolitiker und Regierungen Maßnahmen ergreifen, die denZusammenbruch des europäischen Projekts nur beschleu-nigen. Und wenn die Union dann zerfällt, wird das nichtgeschehen, weil die Peripherie davonläuft, sondern weil dasZentrum (Deutschland, Frankreich) rebelliert.

Dieses Buch will die EU weder retten noch betrauern. Esist kein weiterer Traktat über die Ätiologie der europäi-schen Krise und auch kein Pamphlet gegen die Korruptheitund das Unvermögen der europäischen Eliten. Und erstrecht ist es nicht das Buch eines Euroskeptikers. Es istschlicht und einfach eine Meditation über etwas, das nunwahrscheinlich bald geschehen wird, und es analysiert, wieunsere persönliche Erfahrung radikalen historischen Wan-dels unser gegenwärtiges Handeln prägt. Was mich faszi-niert, ist die politische Macht eines »Déjà-vu-Denkens«,wie ich es nennen möchte – eines Zustands, in dem mansich verfolgt fühlt von der Überzeugung, dass etwas heuteErlebtes die Wiederholung eines früheren Augenblicksoder einer früheren Episode der Geschichte sei.

In diesem Sinne ist Europa nicht nur gespalten in linksund rechts, Nord und Süd, große und kleine Staaten, insolche, die mehr Europa, und solche, die weniger (oder garkein) Europa wollen, sondern auch in jene, die Zerfall auseigener Anschauung, und jene, die ihn nur aus Lehrbüchernkennen. Das ist der Graben zwischen denen, die den Zu-sammenbruch des Kommunismus und den Zerfall deseinstmals mächtigen kommunistischen Blocks am eigenenLeibe erfahren haben, und jenen, die von solchen trauma-tischen Ereignissen verschont blieben.

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Die unterschiedlichen Erfahrungen sind letztlich ver-antwortlich für die äußerst unterschiedlichen Interpreta-tionen der aktuellen europäischen Krise, ob nun aus Buda-pester oder aus Pariser Sicht. Osteuropäer interpretierenden Stand der Dinge aus einem Gefühl von Angst oder so-gar Schrecken heraus, während Westeuropäer weiterhinglauben, alles werde schon gut werden. »Wennman AnfangDezember 1937 in Frankreich die Augen schloss und nur festgenug daran glaubte«, schreibt der Historiker BenjaminF. Martin, »konnte man fast glauben, dass alles in Ordnungwar – oder zumindest nicht schlimmer als vorher.«11 WennSie zu Beginn des Jahres 2017 die Augen schließen und festgenug daran glauben, könnten Sie dasselbe meinen. Aberaufgrund der persönlichen Erfahrungen der Osteuropäer– und ich bin einer von ihnen – ist der Vorschlag, die Augenzu schließen und zu glauben, dass alles in Ordnung sei, einsehr viel windigeres Unterfangen.

Man kann dieses Buch auch als Träumereien eines vonDéjà-vu-Erlebnissen ergriffenen Geistes lesen. Es warim letzten Jahr meines Philosophiestudiums in Sofia, als1989 die Welt plötzlich auf den Kopf gestellt wurde. Wieder russische Songwriter und Undergroundmusiker An-drei Makarevich so treffend bemerkt hat: »Es wäre mirnie in den Sinn gekommen, dass sich in der Sowjetunionjemals irgendetwas ändern oder dass sie gar verschwindenkönnte.«12 Im kommunistischen Bulgarien hatte ich dassel-be Gefühl. Die Erfahrung eines plötzlichen und gewalt-losen Endes von etwas, das wir für zweifellos dauerhafthielten (bis es plötzlich nicht mehr dawar), ist die prägendeErfahrung im Leben meiner Generation. Wir waren über-wältigt von den Möglichkeiten, die sich unversehens auf-taten, und von dem neu entdeckten Gefühl persönlicher

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Freiheit. Aber wir waren auch ergriffen von dem neu ent-deckten Gefühl der Zerbrechlichkeit aller politischen Ver-hältnisse.

Wer große Umbrüche erlebt, lernt mehrere Lektionen.Die wichtigste ist wohl, dass die Richtung der Geschichtezuweilen von einer Kette geringfügiger Ereignisse vor demHintergrund großer Ideen bestimmt wird. Die Historike-rin Mary Elise Sarotte behauptet in ihrem Buch Collapse,die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 sei»nicht das Ergebnis einer Entscheidung politischer Führerin Ostberlin […] oder einer Übereinkunft mit der west-deutschen Regierung gewesen«. Sie

war nicht das Ergebnis eines Plan der vier Mächte, die im geteiltenBerlin immer noch die höchste Autorität darstellten. […] Die Öff-nung war eine dramatische Überraschung, ein Augenblick, in demStrukturen buchstäblich und bildlich unerwartet zusammenbra-chen. Eine Reihe von Zufällen, einige davon so geringfügig, dasssie unter anderen Umständen als trivial gegolten hätten.13

So findet denn das Ende des Kommunismus eine weit we-niger überzeugende Erklärung in Francis Fukuyamas Nar-rativ vom »Ende der Geschichte« als in Harold Macmil-lans »Ereignisse, mein Junge, Ereignisse«.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Erfah-rung, die in Myriaden Aspekten bestimmt, wie Osteuro-päer das aktuelle Geschehen wahrnehmen. Angesichts derpolitischen Turbulenzen in Europa haben wir das Gefühl,dass wir all das schon einmal erlebt haben – mit dem ein-zigen Unterschied, dass es damals deren Welt war, die zu-sammenbrach. Nun ist es unsere. In Europa ist es heuteüblich, die Krise der Union entweder auf fundamentaleMängel ihrer institutionellen Architektur (zum Beispielauf die Einführung einer Gemeinschaftswährung ohne ei-

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