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Leseprobe Winkler, Josef Natura morta Eine römische Novelle © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 3575 978-3-518-45575-3 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Winkler, Josef

Natura morta

Eine römische Novelle

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 3575

978-3-518-45575-3

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuch 3575

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»Feigen, frische Feigen!« ruft vor den Toren des Vatikans eine dicke Römerin neben einem kahlgeschorenen Mann, der ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Mafia. Made in Italy« trägt und auf einem Stab einen kleinen Plastiknegerkopf in die Höhe hält, den er den vorbeigehenden Pilgern zeigt. Aufdringlich, geradezu überwältigend fühlbar, riechbar, hör- und sehbar beschreibt Josef Winkler in seiner »römischen Novelle« die Stadt, wo sie am lebendigsten ist: wochentags das Markttreiben auf der Piazza Vittorio Emanuele; sonntags das Warten und Lungern vor dem Vatikan.Unter den Wartenden befinden sich die Feigenverkäuferin und Piccoletto, ihr schöner Sohn, der sonst für einen Fischhänd-ler auf der Piazza Vittorio Emanuele arbeitet. Wie diese Welt – einen endlosen Augenblick lang – in den Sog von Piccolettos tödlichem Unfall gerissen wird, ist atemberaubend. Der Fisch-händler »nimmt die blutüberströmte Leiche auf seine Arme und rennt einen wie ungeheuer wirkenden Lauf von antikisch-monu-mentaler Eindringlichkeit über den Markt. Es ist eine mit sich und dem Tod rasende Pietà, erstmalig in der Kunstgeschichte in vollem Lauf, und zugleich ein homerisches Leichenschleifen über den Markt statt rund um Troja ...« Friedbert Aspetsberger

Josef Winkler, geboren 1953 in Kamering (Kärnten), lebt in Kla-genfurt. 1979 debütierte er aufsehenerregend mit dem Roman Menschenkind, der den ersten Teil seiner Trilogie Das wilde Kärnten (st 2477) bildet. Längere Aufenthalte in Italien (Fried-hof der bitteren Orangen, st 3191) und Indien (Domra. Am Ufer des Ganges, st 3094). Für Natura morta. Eine römische Novelle (st 3575) erhielt er 2001 den Alfred-Döblin-Preis. 2003 erschien ein Zyklus mit Prosaminiaturen: Leichnam, seine Familie belau-ernd (es 2442), 2007 Roppongi. Requiem für einen Vater und 2008 Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot (es 2556). 2008 erhält Josef Winkler die bedeutendste Auszeichnung der deutschsprachigen Literatur, den Georg-Büchner-Preis.

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Josef WinklerNatura morta

Eine römische Novelle

Suhrkamp

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Umschlagabbildung:Wandmalerei aus Akrotiri auf Thera (Santorini),

um 1700 v.Chr.© Thera Foundation, Petros M. Nomikos,

Foto: Serge Briez / Art’Hist

suhrkamp taschenbuch 3575Erste Auflage 2004

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasder Übersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunkund Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimUmschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

Printed in GermanyISBN 978-3-518-45575-3

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Natura morta I

Der Sohn der Feigenverkäuferin

Natura morta II

Li mortacci tua – Deine verfluchten Toten

Weißer Ginster

Roter Ginster

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»Ha un cesto di rugiadail ciarlatano del cielo«

»Er hat einen Korb aus Tauder Scharlatan des Himmels«

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NATURA MORTA I

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»›Nessuno, mamma, ha mai sofferto tanto …‹E il volto già scomparsoMa gli occhi ancora viviDal guanciale volgeva alla finestra,E riempivano passeri la stanzaVerso le briciole dal babbo sparsePer distrarre il suo bimbo …«

»›Niemand, Mutter, hat je soviel gelitten …‹Und sein Gesicht erlosch,Aber mit noch lebendigen AugenWandte er sich vom Kissen zum Fenster,Und Sperlinge erfüllten das Zimmer,Wo der Vater Krumen gestreut hatte,Um sein Kind zu zerstreuen …«

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MIT WEISSEN PFIRSICHEN und mit einem Straußroten Ginsters lief ein alter Mann einer gehbehinder-ten, auf einen Ubahneingang der Stazione Terminizuhumpelnden Frau nach, die in einem durchsichtigenPlastiksack zwischen frischem Gemüse die Cronacavera stecken hatte, überreichte ihr die Blumen und riefder überrascht sich umdrehenden, den Ginster inEmpfang nehmenden Frau »Auguri e tante belle cose!«zu, die sich für die Aufmerksamkeit bedankte, ehe sievorsichtig über die Treppe der Ubahn hinunterschlurf-te mit ihrem Pfirsichsäckchen, dem roten Ginster-strauß, den Liebesleid- und Unglücksgeschichten, denMord- und Selbstmordgeschichten in der Cronacavera. Vor der rollenden Ubahntreppe kniete ein ver-schmutzter, einen Pappdeckel mit der Aufschrift Hofame! Non ho una casa! haltender Bettler. Zu seinennackten Füßen lag ein großes Heiligenbild von GuidoReni, auf dem der Erzengel Michael mit einem Schwertauf den am Rande der Hölle liegenden Dämon nieder-sticht, der die Gesichtszüge des Kardinals Pamphilj,des späteren Papstes Innocenzo X, trug. Neben demHeiligenbild, auf dem ein paar zerknitterte Lirescheinelagen, flackerte eine Kerze in einem roten Plastikbe-hälter. Einer der drei über die rollende Ubahntreppekollernden Granatäpfel sprang auseinander, roteGranatäpfelkerne rieselten über die Betonstufen hin-unter. Unter den gruppenweise vor einem Blumenla-den in der Ubahnhalle umherstehenden, buntbekleide-ten Somalierinnen, die als Dienstboten in römischen

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Haushalten arbeiten, bei Bekannten wohnen und nochkeine Adresse haben, verteilte ein Mann ein dickesBündel Briefe mit arabischen Aufschriften. Einschwarzhaariger, ungefähr sechzehnjähriger Junge, derlange, fast seine mit Sommersprossen übersäten Wan-gen berührende Wimpern hatte und ein silbernes Kru-zifix um seinen Hals trug, las laut die Kritzelei von derWand der Ubahnstation Luisa ama Remo. Ti vogliobene da morire!In der Ubahn gab zur Begrüßung ein Mann einer Fraueinen Kuß und patschte mit seiner flachen Hand meh-rere Male auf ihre Kniescheiben, während sie mit derFaust ihrer rechten Hand auf seine Oberschenkelklopfte. Unmittelbar danach, bevor er bei der nächstenStation die Ubahn verließ, küßte er ihre geballte Faustund verabschiedete sich mit »Auguri!«. Neben seinerverknöcherten, eine glitzernde Sonnenbrille tragendenund einen schwarzen Fächer schwenkenden Groß-mutter saß mit hängendem Kopf ein schwachsinniger,einen leichten Bartflaum auf der Oberlippe tragenderKnabe. Sofort tastete er seinen Hosenschlitz ab undschaute, ob der Reißverschluß zugezogen war, als erbemerkte, daß ein Mann auf seine Hüften schaute. Anseinem rechten Handgelenk trug er ein Armband inden Farben Roms, auf dem Roma eingestickt war. Mitseinem rechten Zeigefinger befühlte er einen hohlenStiftzahn und beschmierte seine Lippen mit rosarotemLabello. Über dem Kopf des Jungen, auf einem Feuer-löscher, stand mit schwarzem Filzstift L’Aids nel mon-do, il Lazio in Italia!Der schwarzhaarige, sechzehnjährige Junge, der lange,

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fast seine Wangen berührende Wimpern hatte, ein sil-bernes Kruzifix um seinen Hals trug und in Begleitungseiner jüngeren Schwester in der Ubahn saß, mit der erzum Markt auf der Piazza Vittorio Emanuele unter-wegs war, drückte unter einem Werbeplakat für Pferde-fleisch eine weiße Hundewelpe an seine Brust. Ho sceltola carne equina, perché i bambini ne vanno matti standauf der linken Plakathälfte über der Abbildung einerbesorgt auf ihre Kinder schauenden Mutter. Auf derrechten Plakathälfte war ein fingerzeigender Arzt imweißen Mantel zu sehen, über dem geschrieben standConsiglio la carne equina, perché contiene ferro in mi-sura quasi doppio delle altre carni. Jedesmal wenn einejunge, solargebräunte, mit vergoldetem Schmuck über-ladene Frau ein neues Bild aus einem Kuvert zog, aufdem einjährige Zwillinge abgebildet waren, schluchztesie leise und zog an ihrer Nase. Bevor sie an der PiazzaVittorio aus der Ubahn stieg, streckte sie ihre zehnFinger aus und warf einen kontrollierenden Blick aufihre Ringe. Eine kleine, feine, rote Lederaktentaschefesthaltend, stieg ein Mann mit einem halbwüchsigenmarokkanischen Jungen aus der Ubahn und ging un-auffällig, ein paar Schritte hinter dem Knaben, dieRolltreppe zur Piazza Vittorio Emanuele hinauf.

EIN MACELLAIO auf der Piazza Vittorio, der überseine rechte Hand einen weißen Chirurgenhandschuhgestreift hatte, an seiner Linken zwei breite Goldringeund am Handgelenk eine goldene Uhr trug, brach denbereits mit einem Hackbeil gespalteten, enthäuteten

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Kopf eines Schafs auseinander, nahm das Gehirn ausdem Schädel und legte die beiden Gehirnteile sorgfältignebeneinander auf ein rosarotes Fettpapier mit Was-serzeichen. Im silberglänzenden rechten Augenhöh-lenknochen – die herausgeschälten Augäpfel lagen aufeinem Fleischabfallhaufen – lief eine violett schim-mernde Fliege. Ein rotes Stecktuch schaute aus derBrusttasche des blutbeschmierten Fleischhauerman-tels. Er wickelte die Schafsgehirne ein und steckte sieeiner Negerin in ein Plastiksäckchen. Im ausgeweidetenBauch eines mit blutigem Kopf nach unten an einemFleischerhaken befestigten Lamms staken frische Ros-marinzweige, und an dem in Goldpapier eingepacktenSchokoladehufeisen daneben war ein rotes Frauen-strumpfband angebunden. Eine an einem Draht befe-stigte Kunststoffsonne stak in den Augenhöhlen einesSchafkopfes, der auf einem Haufen gelber, neben- undübereinandergestapelter, mit Rosmarinzweigen ver-zierter Hühnerbeine lag. Mit geneigtem Kopf – mansah einen großen Leberfleck auf seinem Halswirbel –stopfte ein Fleischerjunge, angestrengt seine Zunge ausdem linken Mundwinkel streckend, Herz, Lunge,Milz und Nieren wahllos dem ausgeweideten Hasenwieder in den Rumpf hinein und legte ihn zurück in diemit Blutstropfen bespritzte Verkaufsvitrine. Durch-stochen am Unterkiefer, hing neben einem Wohnungs-schlüssel ein blutiger, schwarzer Ziegenkopf mit gebo-genen, schwarzen Hörnern.Das Kleinkind einer jungen Zigeunerin setzte sich eine Bierflasche an den Mund und trank Schluck fürSchluck. Rosarote Büstenhalter, die sie zum Verkauf

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anbot, hingen am rechten Unterarm der jugendlichenMutter. Sie wurde sofort von mehreren Frauen um-ringt, die Größe und Elastizität der rosaroten Büsten-halter prüften. Fleischhauer mit blutigen Händen tra-ten heran und reckten neugierig, pfeifend und dieWäsche kommentierend, ihre Köpfe über die Schul-tern der Frauen. Eine andere junge Zigeunerin – in derLücke ihrer Hasenscharte sah man zwei goldene Ober-kieferzähne – hob ihre rechte Brust ein wenig an undsteckte die Zitze ihrem Kind in den Mund, das vomEiter völlig verklebte Augenlider hatte. Mit den bluti-gen Messern gestikulierend und sich gegenseitig ani-mierend, riefen die Fleischhändler grinsend von Ver-kaufsstand zu Verkaufsstand immer lauter, einmal imTonfall katholischer Litaneien die Preise ihres Rind-und Schweinefleisches, einmal im Fußballerschlach-tenbummlerton die Preise ihres Lamm-, Schaf- undTruthahnfleisches aus. Nur die Zunge und die blutigeKinnspitze eines Lammschädels schauten aus einerPlastikeinkaufstasche heraus. Die Käuferin stellte dieschwere Last ab, um ein wenig auszuruhen, hob dieTasche mit der herausschauenden Lammschädelkinn-spitze wieder auf und ging weiter zwischen den Ver-kaufsständen entlang, auf die Geflügelfleischstände zu.

»VUOLE UN CHILO DI TACCHINO per 2500Lire«, rief der junge, eine enge, blutbefleckte Jeans tra-gende Geflügelfleischhändler, »forza, andiamo forza!«Während er noch einmal »forza!« rief, trat er einenSchritt zurück und warf das Schlachtmesser auf den

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Boden vor seinen Füßen. Lange pendelnd blieb dasMesser im Holzboden stecken. Während er auf ent-häutete Schenkel ein Truthahnetikett klebte, rief er mitgeneigtem Kopf »Prego, Madonna!« auf eine mehrereKilo Tacchino bestellende, schwarzgekleidete Nonnezu, die einen schwarzen Rosenkranz um ihr rechtesHandgelenk geschlungen hatte. Pollo diavolo nannte er die ausgestellten Hähnchenteile, die er mit blutigen,hellroten, breiten Hahnenkämmen garniert hatte. Zwi-schen den schmalen, kleineren Hühnerkämmen, die,an den Spitzen dunkelrot, auf enthäuteten Hühner-keulen und Hühnerbrüsten lagen, verzierte ein Zweigfrischer, grüner Rosmarin die Fleischteile. Auf einemsilbernen Tablett lag eine tote Gans – L’anitra muta –mit blutigen Löchern am Schnabel, garniert mit Trut-hahnherzen.Eine Haarshampoo verkaufende Zigeunerin, die anihrem Unterarm ein blaues Herz eintätowiert hatte,hockte neben anderen jungen, mit ihren Kindernrastenden Zigeunerinnen auf dem Boden. Ein Kind lagquer – der Kinderkopf hing über ihren Oberschenkelhinunter – auf dem Schoß der ein gelbes Eishampooin die Höhe haltenden und zum Verkauf anbietendenZigeunerin. Eine Frau blieb mit ihrer kleinen, glatt-rasierten Hündin, einer Mischung aus Dackel undPinscher, vor dem Verkaufsstand stehen. Nur an denOhren und am Schwanz hatte die Hündin noch einBüschel Haare, selbst die Zitzen waren glattrasiert.Der junge Hühnerfleischverkäufer preßte den Telefon-hörer mit Schlüsselbein und hochgehobener Schulteran Wange und Ohr und schlug, während er sich unter-

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hielt, einem lebenden, mit weit aufgerissenem Schna-bel vor sich hinstarrenden Huhn den Kopf ab. Denblutenden Schädel warf er zu den anderen auf demBoden liegenden Hühnerköpfen und Hühnerbeinen.Zur Belustigung der anderen Fleischhändler stopfte ergrinsend in den Bauch eines ausgeweideten Huhns eineFaustvoll Kirschen hinein.Der Rand eines mit frischen Eiern gefüllten Weidenru-tenkorbs war mit violetten Veilchen geschmückt. Diehalb zerbrochenen und angeknacksten Eier schlug dieHändlerin, die weiße Eier und lebende Hühner ver-kaufte, am Rand eines großen Einrexglases auseinan-der und ließ die Eidotter glucksend in das mit Eiweißund Dotterkugeln halb gefüllte Glas fallen. Rücklingslegte sie zwei lebende braune Hühner – die vier gel-ben, zusammengekrallten Hühnerfüße mit den langenschmutzigen Nägeln ragten in die Höhe – auf die Waage,steckte sie, hinter den Flügeln gefaßt, in eine Schachtelund gab sie einem jungen Inder. Eine junge Zigeune-rin, die ein lebendes Küken gekauft hatte, kratzte im-mer wieder, den Schrei des Kükens nachahmend, mitdem gelben Schnabel des Tieres an der Wange ihres ander Brustzitze saugenden Kleinkindes, das schwarzeAugen und einen verschleierten Blick hatte.Neben dem Stand des drogensüchtigen, mit lebendenTieren handelnden Verkäufers, unmittelbar vor deneingegitterten weißen Tauben und Meerschweinchen,saß die alte, zahnlose, halbblinde Rughettaverkäuferin,die an ihrer rechten Hand nur mehr Daumen undMittelfinger hatte, hielt ein Büschel mit ihrer invalidenHand in die Höhe und rief immer wieder »Signora,

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vuole rughetta?« Auf ihrem linken Handrücken warein schwarzes Kruzifix eintätowiert. Ununterbrochenhüpften die beiden blauen Paradiesvögel im Käfig vonder einen zur anderen Holzstange, während ein kran-ker Amazonaspapagei auf die fast schon federlosen,Körner aufpickenden, im selben Käfig mitgefangenenZwerghühner starrte. Junge, ebenfalls eingesperrte,kohlrabenschwarze Enten pickten rotes Fruchtfleischaus einer aufgeschnittenen Melone. Ein fünfjährigerKnabe und ein zehnjähriges Mädchen, deren MutterHühnerfleisch einkaufte, hatten eine große, rote Was-serspritzpistole. Bevor sie wegfuhren, rief der Knabe»Aspetti!« auf seine Mutter zu, setzte sich mehrereMale, am Abzug drückend, den Pistolenlauf in den of-fenen Mund und schwang sich, während Wasser ausseinem Mund übers Kinn rann, aufs Fahrrad.

EINE SCHWARZVERSCHLEIERTE Nonne hieltin der einen Hand mehrere mit Gurken, Aprikosenund Zwiebeln gefüllte Plastiksäcke und drückte mitder anderen zwei große, in Plastik eingepackte blond-haarige Barbiepuppen an ihre Brust, blieb beim Toma-tenhändler stehen, der sein Gemüsemesser an einerSchnur vom Hals hängen hatte, setzte die Puppen aufeiner Holzkiste ab und bestellte ein paar Kilo Strauch-tomaten. Die zum Verkauf angebotenen Kleider eineralten, schwarzgekleideten, auf dem Boden hockendenZigeunerin lagen in einem aufgespannten schwarzenRegenschirm. Der kleine Bruder verzog sein Gesicht,als ein sechzehnjähriges Zigeunermädchen aus einem

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Wäschebündel ein paar mit roten Herzen bedruckteBoxershorts herauszog, sie dem Knaben in die Handdrückte und ihn an der Schulter anstieß, er solle vonVerkaufsstand zu Verkaufsstand gehen, die Wäschezum Verkauf anbieten. Eine Frau fieselte vor einemoffenen Jutesack Lavendel von den Stengeln und ver-packte die stark duftenden, getrockneten Blüten inblaue, feinlöchrige Kunststoffsäckchen. Der Winddrehte trockene, weiße und rote, auf dem Boden lie-gende Zwiebelschalen im Kreis. Eine auf weißen undhellbraunen Zwiebelschalen stehende und Geld zäh-lende Zigeunerin schrie laut auf, als ihr ein spielenderZigeunerjunge eine kantig zerquetschte Coladose aufihren rechten Fußknöchel schoß. Mit Wintermantelund Hut – es hatte weit über dreißig Grad Celsius –ging ein alter Araber mit fünf in Zellophan verpacktenRosen an den Verkaufsständen entlang und bot sie denMarktbesuchern und Händlern an. Die rote Rübenund Erdäpfel verkaufende Frau machte mit ihren oran-gefarbenen Plastikhandschuhen ein Kreuzzeichen,als ein Heiligenbildchen verkaufender, bärtiger Mönchmit langer, brauner Kutte an ihrem Stand vorbeiging.Eine alte, schwarzgekleidete Zigeunerin schenkte demneapolitanischen Marktmusikanten, der, mit einerBierflasche in der Hand, singend und bettelnd durchden Markt ging, ein Hemd, das sie verkaufen wollte,aber nicht losgeworden war. Die stark behaartenUnterarme des Neapolitaners waren mit Schlangen-motiven und Pfeilen tätowiert, sein bärtiges Gesichtkrebsrot. Zwischen den Gemüseständen, bei ein paarneuwertigen, weggeworfenen Kleidungsstücken, fand

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er eine Jacke, die er, sich in einer spiegelnden Autofen-sterscheibe betrachtend, anprobierte. Seine alte, blaueTrainingsanzugjacke ließ er neben dem Kleiderhaufenliegen und ging, an der Bierflasche nippend, weiter anden Verkaufsständen entlang.

LUIGI, DER CAPO am Fischstand, der in den frühenMorgenstunden in Fiumicino bei einem Großhandelfrische Fische und Meerestiere eingekauft hatte, wurdevon seinen Mitarbeitern Principe genannt. Über einemKrebs auf seinem Leibchen stand in blauen LetternDamino Rosci. Pesce fresco. Piazza Vittorio. Der dicke,von Transvestiten schwärmende Fischverkäufer mitdem Dreitagebart, der ein graues Leibchen trug, aufdem Hawaii stand und das Bild eines Surfers mit hoch-erhobenen Händen aufgedruckt war, hörte auf denSpitznamen Frocio. Immer wieder berichtete er stolz,daß er auf der Piazza dei Cinquecento und auf derPiazza della Repubblica Transvestiten aufgabelt, in sei-nem Auto mitnimmt und mit ihnen in den Park derVilla Borghese fährt. Ein glatzköpfiger junger Fisch-händler, der sich nur dann am Fischstand aufhielt,wenn er nicht gerade in einem römischen Gefängniseinsaß, wurde Nazi-Skin genannt. Schließlich arbei-tete am Fischstand Damino auch der sechzehnjährigeSohn einer Feigenverkäuferin, die sonntags vor denToren des Vatikans den heranströmenden Touristenund Pilgern frische, grüne Feigen aus ihrem Gartenanbietet. Der Junge, der von seinen ArbeitskollegenPiccoletto gerufen wurde und lange, fast seine Wangen

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berührende Wimpern hatte, trug ein Kruzifix an einemgoldenen Kettchen um seinen Hals. Seine Wangen wa-ren mit unzähligen Sommersprossen übersät. Von sei-nem rechten Handgelenk pendelten mehrere farbige,kleine Kunststoffschnuller.»Signori, buon giorno!« rief Piccoletto, »un chilo disalmone originale, soltanto dieci mila Lire!« und knab-berte an seinen nach Schleim und Fischblut riechen-den, an den Rändern vom Tintenfisch schwarzgefärb-ten Fingernägeln. Der Junge, der grüne, kniehoheFischerstiefel und ein weißes Leibchen trug, auf demdie Rolling Stones abgebildet waren, faßte einen meh-rere Kilo schweren Lachs unter den weinroten Kiemenund legte ihn auf eine alte Waage. Sein nackter, rech-ter Oberschenkel war mit rostbrauner Fischgalle be-schmiert. Mit offenem Mund, angestrengt die Zungen-spitze zwischen den Lippen herausstreckend, schnitter dem Fisch mit einem kleinen, scharfen, leicht ge-krümmten Messer den Bauch auf, zog mit geschicktenHandbewegungen die Eingeweide heraus und wickel-te den ausgenommenen Fisch in weißes Fettpapier mitWasserzeichen. Aus einem Eimer schüttete er Wasserüber den Holzblock und schwemmte die Eingeweide-reste auf den Boden. Piccoletto erzählte in römischemDialekt, daß er an seinem gestrigen freien Tag mit sei-ner Vespa ans Meer nach Lapislazoli gefahren sei undeine schwarzgekleidete Nonne am Meeresufer gesehenhabe, die nackte mongoloide Kinder betreute. Ein mon-goloides Kind faßte eine Barbiepuppe am blondenSchopf und ging damit in die Fluten hinein. Eine geh-behinderte Frau, die ganz dünne Beine, aber einen

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mächtigen Oberkörper hatte, kroch auf Knien aus demMeer heraus, auf ihr am heißen Strand ausgebreitetesBadetuch zu. Ihre Brüste berührten den Schaum derMeereswellen und die weißen, heißen Sandkörner.Männer aus Bangladesh und Sri Lanka gingen an denFischständen entlang, boten Bic-Feuerzeuge, Knob-lauchzöpfe und die Maskottchen dieses Sommersan, farbige Kunststoffschnuller in den verschiedenstenGrößen. Bosnische Kriegsflüchtlinge verkauften ge-brauchte Fotoapparate, russische Puppen, grüneSpielzeugpanzer, alte Seifen und gefälschte Ikonen. Einjunger, serbokroatisch sprechender Mann bot dem diePreise der Fische ausrufenden Jungen mit den langen,schwarzen Wimpern und den vielen Sommersprossenauf seinen Wangen ein paar Chirurgenhandschuhe an.Eine alte, sich auf einen Stock stützende, schwarze Klei-der tragende Zigeunerin mit Zahnlücke und Gold-zähnen stand zwischen den Ständen und goß aus derentkapselten Bierflasche den ersten Schluck auf denBoden, bevor sie die Öffnung des Flaschenhalses an ih-ren Mund führte. Auf einen Spazierstock schraubte sieeinen Griff – einen vergoldeten Pferdekopf – und botihn den Fischhändlern an. Nicht die zehn, fünfzehngebrauchten Brillen, sondern ihr kleines Mädchen zumVerkauf anbietend, flüsterte eine Zigeunerin einemerschrocken ausweichenden männlichen Passanten zu»Quanto mi dai!«Weder Farn noch Tang deckte die fünf kleinen, zehnbis zwanzig Zentimeter langen, im weißen Sarg derPorozellkiste liegenden jungen, grauen Haifische mitihrer reibeisenrauhen Haut zu. Eine Biene saugte sich

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