Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin...

21
Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner Aus dem Englischen von Volker Oldenburg © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 4886 978-3-518-46886-9

Transcript of Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin...

Page 1: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

Suhrkamp VerlagLeseprobe

Fitzharris, LindseyDer Horror der frühen Medizin

Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und KnochenklempnerAus dem Englischen von Volker Oldenburg

© Suhrkamp Verlagsuhrkamp taschenbuch 4886

978-3-518-46886-9

Page 2: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

suhrkamp taschenbuch

Page 3: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner
Page 4: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

Lindsey FitzharrisDER HORROR DERFRÜHEN MEDIZIN

Joseph Listers Kampfgegen Kurpfuscher,

Quacksalber & Knochenklempner

Aus dem Englischen vonVolker Oldenburg

Suhrkamp

Page 5: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

Die englische Originalausgabe erschien unter dem TitelThe Butchering Art. Joseph Lister’s Quest to Transform the Grisly World

of Victorian Medicinebei Farrar, Straus and Giroux, New York.

Erste Auflage suhrkamp taschenbuch

Deutsche Erstausgabe© Suhrkamp Verlag Berlin

Copyright © by Lindsey FitzharrisAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Umschlagabbildungen aus Diderots Enzyklopädie,

Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers,hg. von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert, -

Umschlaggestaltung: Rothfus & Gabler, Hamburg:Satz: Satz-Offizin Hümmer, Waldbüttelbrunn

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN ----

Page 6: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

DER HORRORDER FRÜHEN MEDIZIN

Joseph Listers Kampf gegenKurpfuscher, Quacksalber & Knochenklempner

Page 7: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner
Page 8: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

Inhalt

Prolog: Das Zeitalter der Qualen

. Durch das Objektiv

. Das Todeshaus

. Der genähte Darm

. Der Altar der Wissenschaft

. Der Napoleon der Chirurgie

. Froschschenkel

. Sauberkeit und kaltes Wasser

. Alle sind tot

. Der Sturm

. Der Glasgarten

. Der Abszess der Königin

Epilog: Der dunkle Vorhang hebt sich

Anmerkungen

Danksagung

Page 9: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner
Page 10: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

Prolog

DAS ZEITALTERDER QUALEN

Wenn ein angesehener, aber älterer Wissenschaftlerbehauptet, dass etwas möglich ist, hat er mit an Sicherheitgrenzender Wahrscheinlichkeit recht. Wenn er behauptet,

dass etwas unmöglich ist, hat er höchstwahrscheinlich unrecht.Arthur C. Clarke

p

Hunderte von Männern strömten am . Dezember in den Operationssaal des University College Hospital,

wo sich der berühmteste Chirurg Londons anschickte, seinPublikum mit einer Oberschenkelamputation zu fesseln. Nie-mand ahnte, dass sich an diesemNachmittag einer der bedeu-tendsten Momente der Medizingeschichte ereignen würde.

Der Saal war gerammelt voll, und die meisten Zuschauerhatten den Straßenschmutz des viktorianischen Londons her-eingetragen. Der Chirurg John Flint South schrieb, das Geran-gel um die Plätze im Operationssaal habe sich genauso wild ab-gespielt wie im Theater. Die Leute »standen wie die Heringe«,die Zuschauer in den hinteren Reihen reckten die Hälse undriefen »Kopf weg, Kopf weg«, wenn ein Vordermann ihnendie Sicht nahm. Manchmal herrschte am Operationstisch so

Page 11: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

dichtes Gedränge, dass der Saal teilweise geräumt werdenmusste, ehe der Chirurg mit dem Eingriff beginnen konnte.Die Luft war zum Schneiden, und obwohl Dezember war, wares fast unerträglich heiß.

Das Publikum bestand aus einer bunten Mischung vonLeuten. Die ersten beiden Reihen waren in der Regel für dieAssistenten reserviert, die den Chirurgen mit ihren Verbands-koffern bei der Visite begleiteten und sich umdieWunden derPatienten kümmerten. Dahinter drängten sich die Studenten,die die ganze Zeit aufgeregt miteinander tuschelten, sowieEhrengäste und andere Privatpersonen.

Voyeuristische Sensationsgier war nicht neu in der Medi-zin. Sie begann in den schummrigen anatomischen Theaternder Renaissance, wo die Leichen hingerichteter Verbrecherseziert wurden, um sie zusätzlich für ihre Übeltaten zu bestra-fen. Das begeisterte Publikum sah gebannt zu, wie der Anatomdie aufgeblähten Bäuche verwesender Leichname aufschnitt,aus denen Blut und stinkender Eiter quoll. Manchmal wurdedas makabre Schauspiel von lieblicher Flötenmusik begleitet.Öffentliche Sektionen waren Theateraufführungen, eine eben-so beliebte Form der Unterhaltung wie Bearbaiting oder Hah-nenkämpfe. Aber nicht jeder fand Gefallen an der grausigenDarbietung. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rous-seau schrieb über das Erlebnis: »Welch eine schaurige Angele-genheit ist doch ein Anatomiesaal! Stinkende Leichname, fah-les, feuchtbrandiges Fleisch, Blut, eklige Därme, scheußlicheGerippe, pestilenzartige Dünste! Nein, dort wird sich – meinWort darauf – Jean-Jacques seinen Zeitvertreib nicht suchen.«

Der Operationssaal im University College Hospital sahnicht viel anders aus als alle anderen in der Stadt. Er bestandaus einer Bühne mit halbrunden Zuschauertribünen. Dieseerstreckten sich bis hinauf zu einem großen Oberlicht, dereinzigen natürlichen Lichtquelle. War es an stark bewölktenTagen zu dunkel im Saal, wurden große Kerzen angezündet.

Page 12: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

Der fleckige Holztisch in der Mitte war übersät mit den Spu-ren früherer Schlachtorgien. Sägespäne auf dem Boden soll-ten das Blut aufsaugen, das in Kürze aus dem abgetrenntenBein strömen würde. Meistens übertönten die grauenhaftenSchmerzensschreie der wehrlosen Patienten die hereindrin-genden Straßengeräusche: Kinderlachen, Passantengesprä-che, vorbeirumpelnde Kutschen.

In den ern waren Operationen eine schmutzige, hoch-gefährliche Angelegenheit und unter allen Umständen zu ver-meiden. Viele Chirurgen weigerten sich aufgrund der Risikenstrikt zu operieren und beschränkten sich auf die Behandlungvon äußeren Leiden wie Hautkrankheiten und oberfläch-lichen Wunden. Operationen waren eine Seltenheit, und soströmten die Menschen in Scharen herbei, wenn eine aufdem Programm stand. In der Glasgower Royal Infirmary zumBeispiel wurden nur hundertzwanzig chirurgische Ein-griffe durchgeführt. Der Griff zum Skalpell war immer derletzte Ausweg im Kampf um Leben und Tod.

Der Arzt Thomas Percival empfahl allen Chirurgen, zwi-schen den Eingriffen den Kittel zu wechseln und den Tischsowie die Instrumente zu reinigen, allerdings nicht aus Grün-den der Hygiene, sondern um »alles zu vermeiden, was Schre-cken hervorrufen könnte«. Nur die wenigsten befolgten seinenRat. Die Chirurgen der damaligen Zeit trugen blutverkrusteteKittel, wuschen sich nur selten die Hände, arbeiteten mit un-sauberen Instrumenten und brachten den unverwechselba-ren Gestank von verfaultem Fleisch mit in den Saal, den dieÄrzte fröhlich als den »guten, alten Krankenhausmief« be-zeichneten.

Damals galt Eiter unter Chirurgen nicht als unheilvollesZeichen einer Sepsis, sondern als natürliche Begleiterschei-nung des Heilungsprozesses, und die meisten Patienten star-ben an postoperativen Infektionen. Der Operationssaal warein Tor zum Tod. Es war sicherer, sich in den eigenen vier

Page 13: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

Wänden operieren zu lassen, als in einem Krankenhaus, wodie Mortalität drei- bis fünfmal so hoch war wie in der häus-lichen Umgebung. Doch erst stellte Florence Nightingalefest: »Die Sterblichkeit in den Krankenhäusern, besonders indenen in großen, dicht besiedelten Städten, ist inWahrheit umein Vielfaches höher, als die Schätzungen vermuten lassen,die wir aufgrund der Sterblichkeit bei außerhalb des Kranken-hauses behandelten Patienten mit denselben Erkrankungenangestellt haben.« Allerdings konnten es sich nur die wenigs-ten leisten, den Chirurgen zu sich nach Hause zu bestellen.

Schmutz und Infektionen waren keineswegs das einzigeProblem. Operationen waren schmerzhaft. Schon seit Jahr-hunderten suchte man in der Medizin nach Wegen, das Leidder Patienten zu lindern. Obwohl die betäubende und schmerz-stillende Wirkung von Lachgas (Distickstoffmonoxid) be-kannt war, seit der Chemiker Joseph Priestley es erstmalsrein dargestellt hatte, wurde es aufgrund seiner unzuverläs-sigen Wirkung nur selten bei Operationen eingesetzt. Auchder Mesmerismus – benannt nach dem deutschen Arzt FranzAnton Mesmer, der dieses Hypnoseverfahren in den ernentwickelt hatte, konnte sich in der Schulmedizin des . Jahr-hunderts nicht durchsetzen. Mesmer und seine Anhängerglaubten, durch Handauflegen oder sogenannte Luftstricheließen sich magnetische Heilströme auf den Patienten über-tragen. Dies sollte sich nicht nur positiv auf den Heilungspro-zess auswirken, sondern auch übersinnliche Kräfte wecken.Die meisten Ärzte blieben skeptisch.

In den ern erlebte der Mesmerismus in Großbritan-nien durch den Arzt John Elliotson noch einmal einen kurzenAufschwung. Elliotson veranstaltete im University College Hos-pital öffentliche Mesmerismus-Sitzungen mit zwei seinerPatientinnen, den Schwestern Elizabeth und Jane Okey, dieangeblich das Schicksal anderer Krankenhauspatienten vor-hersagen konnten. Nachdem Elliotson die Schwestern hypno-

Page 14: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

tisiert hatte, behaupteten sie, über den Betten der Patienten,die kurz darauf tatsächlich starben, den Todesengel zu sehen.Aber der Spuk währte nicht lange. gelang es dem Chef-redakteur der weltweit führenden medizinischen Fachzeit-schrift The Lancet, den Okey-Schwestern ein Betrugsgeständ-nis zu entlocken. Damit war Elliotson als Scharlatan entlarvt.

Dieser Skandal war den Zuschauern im Saal noch in besterErinnerung, als der berühmteChirurg andiesem . Dezemberbekanntgab, er wolle an dem Patienten die Wirksamkeit vonÄther testen. »Meine Herren, wir werden heute einen Yankee-Trick ausprobieren, der denMenschen schmerzunempfindlichmacht!«, verkündete er, als er zum Operationstisch schritt.Im Saal herrschte verblüffte Stille. Äther galt wie der Mesme-rismusals dubiose ausländischeMethode, umMenschen indenDämmerzustand zu versetzen und willenlos zu machen. DieBezeichnung »Yankee-Trick« war darauf zurückzuführen, dassdie erste Äthernarkose in Amerika durchgeführt worden war.Entdeckt wurde Äther bereits , doch seine betäubendeWirkung wurde erst erkannt, als der deutsche Botaniker undArzt Valerius Cordus aus Ethanol und Schwefelsäure Di-ethylether herstellte. Sein Zeitgenosse Paracelsus führte mitÄther Versuche an Hühnern durch und beobachtete, dass dieTiere, wenn sie die Flüssigkeit getrunken hatten, einschliefenund nach einiger Zeit ohne jeden Schadenwieder aufwachten.Er kam zu dem Schluss, dass die Substanz »alle Leiden ein-schränkt ohne irgendeinen Nachteil, jeden Schmerz betäubt,jedes Fieber mildert und Komplikationen verhütet.« Doches sollten noch Jahrhunderte vergehen, bis das Narkotikumzum ersten Mal an Menschen erprobt wurde.

war es schließlich so weit. Der amerikanische ArztCrawfordWilliamson Long aus Jefferson, Georgia war der ers-te Mediziner, der Äther als Narkosemittel einsetzte, als ereinem Patienten einen Tumor aus dem Hals entfernte. Leiderdokumentierte Long die Ergebnisse seines Experiments erst

Page 15: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

. Zwei Jahre zuvor, im September , war der BostonerZahnarzt William T.G. Morton dadurch zu Ruhm gelangt,dass er einen Patienten vor dem Ziehen eines vereiterten Ba-ckenzahns mit Äther betäubt hatte. Eine Zeitung berichteteüber den erfolgreichen schmerzlosen Eingriff, und ein renom-mierter Chirurg vom Massachusetts General Hospital batMorton daraufhin, ihm bei der Operation eines Patientenzu assistieren, dem ein großer oberflächlicher Tumor am Un-terkiefer entfernt werden musste.

Am . November schrieb der Chirurg Henry JacobBigelow im Boston Medical and Surgical Journal über diesesbahnbrechende Ereignis: »Seit Langem gehört es zu denwich-tigsten Aufgaben der Heilkunde, eine Methode zu ersinnen,die bei chirurgischen Eingriffen den Schmerz lindert. Endlichist ein Mittel gefunden, das diesen Zweck effizient erfüllt.« Bi-gelow schilderte in seinem Artikel, wie Morton den Patientenvor Operationsbeginn die Dämpfe eines Gases inhalieren ließ.Der Zahnarzt hatte es »Letheon« genannt, nach Lethe, demFluss des Vergessens in der griechischen Mythologie. Die ge-naue Zusammensetzung hielt Morton, der sich den Wirkstoffnach dem Eingriff patentieren ließ, sogar vor den Chirurgengeheim. Bigelow schrieb jedoch, er habe den widerlich süßenGeruch von Äther gerochen. Die Nachricht von dem geheim-nisvollen Mittel, das den Patienten während der Operationin Bewusstlosigkeit versetzte, verbreitete sich wie ein Lauf-feuer, und Chirurgen auf der ganzen Welt machten sich be-geistert daran, die Wirksamkeit von Äther an ihren eigenenPatienten auszuprobieren.

Bigelow schrieb an den in London praktizierenden ame-rikanischen Arzt Francis Boott und schilderte ihm das epo-chale Ereignis in allen Einzelheiten. Boott war fasziniert undüberredete den Zahnchirurgen James Robinson, eine Zahn-extraktion unter Äther durchzuführen. Das Experiment verliefso erfolgreich, dass Boott noch am selben Tag ins University

Page 16: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

College Hospital eilte, um Robert Liston davon zu berich-ten.

Liston war skeptisch, aber er wollte sich auf keinen Fall dieGelegenheit entgehen lassen, etwas Neues im Operationssaalauszuprobieren. Eine Äthernarkose würde auf jeden Fall fürAufsehen sorgen, und für seine spektakulären Vorstellungenwar er schließlich im ganzen Land berühmt. Er erklärte sichbereit, das Experiment bei seiner nächsten, für den übernächs-ten Tag angesetzten Operation zu wagen.

Als Liston nach London kam, war der akademisch ausgebilde-te Arzt (physician) ein Gentleman, der in der Welt der Heil-kunst über enormeMacht und hohen Einfluss verfügte. Ärztegehörten zur gesellschaftlichen Elite und standen ganz obenin der Medizinhierarchie. Dementsprechend streng wachtensie über ihre Zunft und nahmen nurMänner aus angesehenerFamilie und von tadellosem Ruf in ihren erlauchten Kreis auf.Sie waren Gelehrte ohne nennenswerte praktische Ausbildung,derenWissen aus dem Studium griechischer und lateinischerSchriften stammte. Sie arbeiteten nicht mit den Händen, son-dernmit demVerstand. Es war damals nichts Besonderes, dassein Arzt eine Behandlung verordnete, ohne den Patienten vor-her zu untersuchen. Manche bekamen ihre Patienten sogarnie zuGesicht, sondern erteilten ihrenmedizinischen Rat aus-schließlich mittels schriftlicher Korrespondenz.

Der Chirurg war hingegen jahrhundertelang ein praktischausgebildeterHandwerkergewesen.DieChirurgie gehörtenichtzu den Lehrfächern an der Universität, und wer Chirurg wer-den wollte, musste bei einem anderen Wundarzt in die Lehregehen. Bis ins . Jahrhundert hinein hatten viele Chirurgennie eine Universität von innen gesehen. Manche waren sogarAnalphabeten. Direkt unter den Chirurgen standen die Apo-theker, die Arzneimittel zubereiteten. In der Theorie warendie beiden Berufe klar voneinander abgegrenzt. In der Praxis

Page 17: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

aber konnte ein Mann, der das Chirurgenhandwerk erlernthatte, auch als Apotheker tätig sein und umgekehrt. Dadurchentstand in England der Beruf des surgeon-apothecary, dersich vielleicht mit dem modernen praktischen Arzt verglei-chen lässt. Der »Chirurg-Apotheker« war vor allem außerhalbder Großstädte die erste ärztliche Anlaufstelle für die Ar-men.

Mit der Zeit regte sich Widerstand gegen die klassischeTrennung von Arzt und Chirurg, und wurde in Großbri-tannien ein einheitliches medizinisches Ausbildungssystemeingeführt. Fortan mussten die Londoner Studenten der Chi-rurgie Vorlesungen besuchen und mindestens sechs Monatelang im Krankenhaus arbeiten, bevor sie vom Royal Collegeof Surgeons, dem Berufsverband der Chirurgen, ihre Appro-bation erhielten. Überall in der Hauptstadt entstanden Lehr-krankenhäuser, zuerst das Charing Cross Hospital, dann das University College Hospital und schließlich dasKing’s College Hospital. Wer nach mehr strebte und Mitglieddes Royal College of Surgeons werden wollte, musste sechsJahre studieren – davon drei an einem Krankenhaus –, min-destens sechs klinische Fallberichte vorweisen und eine au-ßerordentlich anstrengende zweitägige Examensprüfung ab-legen, zu der unter anderem anatomische Sektionen und dasOperieren von Leichen gehörte.

So begann in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts die Ent-wicklung des Chirurgen vom schlecht ausgebildeten Hand-werker zum modernen Facharzt. Als Professor für klinischeChirurgie an einem Londoner Lehrkrankenhaus war RobertListon maßgeblich an diesem Professionalisierungsprozessbeteiligt.

Mit seinen ,Meter war Liston zwanzig Zentimeter grö-ßer als der britische Durchschnittsmann. Rohe Gewalt undSchnelligkeit waren sein Markenzeichen, beides unerlässlich,um in der damaligen Zeit die Überlebenschancen des Patien-

Page 18: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

ten zu erhöhen.Wer bei seinenOperationen zusah, lief Gefahr,das Entscheidende zu verpassen, wenn er nur einen winzigenMoment den Blick abwandte. Seine Kollegen sagten über sei-ne Amputationen: »Dem Aufblitzen des Messers folgte so un-verzüglich das Geräusch der Säge, dass es fast so schien, alsgeschähe beides gleichzeitig.« Angeblich hatte er so viel Kraftin der linken Hand, dass er sie als Tourniquet einsetzte, um dasBlut zu stauen, während er mit der rechten Hand das Messerschwang. Das erforderte nicht nurMuskelkraft, sondern auchgroßes Geschick, da sich viele Patienten aus Angst vor denSchmerzen heftig gegen dieMesserattacke des Chirurgenwehr-ten. Liston konnte ein Bein in weniger als dreißig Sekundenamputieren, und damit er bei der Arbeit beide Hände frei hat-te, klemmte er sich das blutige Messer mit Vorliebe zwischendie Zähne.

Aber Listons Schnelligkeit war nicht immer ein Segen. Ein-mal schnitt er einem Patienten versehentlich nicht nur dasBein ab, sondern auch einen Hoden. Sein berühmtestes (aller-dings nicht eindeutig belegtes) Missgeschick unterlief ihm, alser während einer Operation so rasant das Messer schwang,dass er seinem Assistenten drei Finger abtrennte und einemdabeistehenden Zuschauer den Rock aufschlitzte. Der unglück-liche Zuschauer erlitt vor Ort einen tödlichen Schreck, Assis-tent und Patient starben später an Wundbrand. Es handeltsich um die einzige Operation in der Medizingeschichte miteiner Mortalität von dreihundert Prozent.

Bevor die Narkose Einzug in die Operationssäle hielt, wa-ren die Möglichkeiten der Chirurgie aufgrund der SchmerzenunddrohendenSchockreaktionenderPatienten stark begrenzt.Ein chirurgisches Lehrbuch aus dem . Jahrhundert drücktees so aus: »Schmerzhafte Maßnahmen sind für einen Mann,der sein Fach gründlich beherrscht, immer das letzte Mittel;doch sie sind das erste oder vielmehr das einzige Mittel desje-nigen, dessen Wissen auf das Handwerk des Operierens be-

Page 19: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

schränkt ist.« Wer gezwungen war, sich unters Messer zu le-gen, musste unvorstellbare Qualen erdulden.

Die grauenhaften Szenen, die sich im Operationssaal ab-spielten, waren auch für so manchen Studenten im Publikumzu viel. Der schottische Geburtshilfearzt James Young Simp-son ergriff panisch die Flucht, als er während seines Studiumsan der Universität Edinburgh bei einer Mastektomie zusah.Als das Weichgewebe mit einem hakenähnlichen Instrumentangehoben wurde und der Chirurg sich anschickte, die Brustmit zwei schwungvollen Schnitten zu entfernen, hielt Simp-son es nicht mehr aus. Er drängte sich durch die Menge, stürz-te aus dem Saal und eilte vomKrankenhaus direkt zumParlia-ment Square, wo er atemlos verkündete, er wolle künftig Jurastudieren. ZumGlück für die Nachwelt konnte Simpson – derspäter die Chloroform-Anästhesie erfand – von seinemVorha-ben abgebracht werden.

Liston wusste natürlich, was seine Patienten auf dem Ope-rationstisch erwartete, doch er spielte die Schrecken oft her-unter, um die Nerven der Gepeinigten zu schonen. Nur weni-ge Monate vor seinem Äther-Experiment lag der zwölfjährigeHenry Pace auf Listons Tisch, dem aufgrund einer tuberkulö-sen Geschwulst im Knie das rechte Bein abgenommen wer-denmusste. Als der Junge fragte, ob der Eingriff wehtunwerde,antwortete Liston: »Nicht mehr als das Ziehen eines Zahns.«Am Tag der Amputation wurde Pace mit verbundenen Augenin den Saal gebracht und von Listons Assistenten festgehalten.Der Junge zählte sechs Streiche mit der Säge, bevor sein Beinabfiel. Das schreckliche Erlebnis war Pace zweifellos noch leb-haft in Erinnerung, als er die Geschichte sechzig Jahre spätervorMedizinstudenten amUniversity College London erzählte,demselben Krankenhaus, an dem er einst sein Bein verlorenhatte.

Wie diemeisten Chirurgen der Prä-Narkosezeit war Listonimmun gegen das Protestgeschrei der an den blutbespritzten

Page 20: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

Operationstisch Gefesselten. Einmal nahm ein Patient, demein Blasenstein entfernt werden sollte, kurz vor dem EingriffReißaus und schloss sich im Waschraum ein. Liston rannteihm hinterher, brach die Tür auf und zerrte den Schreiendenzurück in den Operationssaal. Nachdem er den Mann an denTisch fixiert hatte, führte er ihm ein gebogenes Metallrohr inden Penis ein und schob es durch die Harnröhre in die Blase.Dann drang er mit dem Finger ins Rektum ein und tastetenach dem Stein. Als er ihn gefunden hatte, zog sein Assistentdas Metallrohr heraus und ersetzte es durch einen Holzstab.Dieser diente dem Chirurgen als Orientierungshilfe, damiter beim Schneiden in die Blase weder Rektum noch innere Or-gane verletzte. Als der Stab richtig positioniert war, schnittListon diagonal durch den Dammmuskel, bis er auf den Holz-stab stieß. Dann dehnte er die Öffnungmit einer Sonde, wobeidie Prostata aufriss. Der Holzstab wurde herausgezogen, undListon holte den Stein mit einer Zange aus der Blase.

All das erledigte Liston, der den Beinamen »das schnellsteMesser im West End« trug, in unter sechzig Sekunden.

p

Als Liston an diesem Tag kurz vor Weihnachten im neuenOperationssaal des University College London vor sein

Publikum trat, hielt er einen Glaskolben mit der klaren Flüs-sigkeit hoch, die den Chirurgen möglicherweise vom Zwang desschnellen Operierens befreite. Wenn die Äthernarkose tatsäch-lich sowirksamwar, wie die Amerikaner behaupteten, könntedas die Chirurgie von Grund auf verändern. Doch der Starchi-rurg war weiterhin skeptisch, ob es sich bei dem Wundermit-tel nicht wieder einmal um einen Schwindel handelte, der fürdie Chirurgie wenig oder gar keinen Nutzwert hatte.

Die Spannung war groß. Eine Viertelstunde vor ListonsAuftritt hatte sich sein KollegeWilliam Squire an die dicht ge-

Page 21: Suhrkamp Verlag · Suhrkamp Verlag Leseprobe Fitzharris, Lindsey Der Horror der frühen Medizin Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner

drängte Zuschauermenge gewandt und um einen freiwilligenProbanden gebeten. Nervöses Getuschel machte sich breit.Squire hielt einen gläsernen Apparat mit Gummischlauch undglockenförmiger Maske in der Hand, der einer arabischenWasserpfeife ähnelte. Das Gerät war eine Erfindung von Squi-res Onkel, einem Londoner Apotheker, und erst zwei Tage vor-her erstmals von dem Zahnchirurgen James Robinson bei ei-ner Zahnextraktion eingesetzt worden. Dem Publikum wardas sonderbare Ding nicht geheuer. Niemand wollte das Ver-suchskaninchen spielen.

In seinem Zorn verdonnerte Squire den Saaldiener Shell-drake, sich als Demonstrationsobjekt zur Verfügung zu stel-len. Shelldrake war kein geeigneter Kandidat, denn er war»fettleibig, rotgesichtig und seine Leber zweifellos gewöhntan große Mengen starken Alkohols.« Vorsichtig legte Squiredie Maske auf das fleischige Gesicht des Saaldieners. Nach-dem Shelldrake ein paar Mal tief eingeatmet hatte, spranger angeblich vom Tisch und stürmte unter wüsten Beschimp-fungen von Arzt und Publikum aus dem Saal.

Damit war die Testphase beendet. Der unausweichlicheMoment war gekommen.

Um fünf vor halb drei wurde Frederick Churchill, ein -jähriger Butler aus der Harley Street, auf einer Trage herein-gebracht. Der junge Mann litt unter einer chronischen Osteo-myelitis des Schienbeins, einer infektiösen Knochenentzün-dung, durch die sein rechtes Knie stark angeschwollen unddeformiert war. Bei seiner ersten Operation drei Jahre zuvorhatte man den entzündeten Bereich aufgeschnitten und »meh-rere unregelmäßig geformte, erbsen- bis saubohnengroßeFremdkörper« entfernt. Am . November war Churchillerneut ins Krankenhaus gekommen. Diesmal nahm Listoneine Inzision vor und führte eine Sonde in das Knie ein. Mitungewaschenen Händen vergewisserte er sich, dass sich derKnochen nicht gelöst hatte. Er ließ die Wunde mit warmem