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Leseprobe Hofmann, Gunter Polen und Deutsche Der Weg zur europäischen Revolution 1989/90 © Suhrkamp Verlag 978-3-518-42234-2 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Hofmann, Gunter

Polen und Deutsche

Der Weg zur europäischen Revolution 1989/90

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-42234-2

Suhrkamp Verlag

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Gunter Hofmann

Polen und DeutscheDer Weg zur europ�ischen Revolution

1989/90

Suhrkamp

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Satz: H�mmer GmbH, Waldb�ttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

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Inhalt

1 Vorwort: Warum Gorbatschow nicht �ber Kohlsprechen will . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2 Zeithistoriker bei der Arbeit: D�tente oder Politikder St�rke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 »Die große Z�sur ist ohne 1969 nicht zu verstehen.

Aber 1969 fing nicht alles an«: Willy Brandt,Egon Bahr, Peter Bender, Erhard Eppler undHorst Ehmke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

4 »Die Einheit fiel 1989 nicht plçtzlich vom Himmel«:Hans-Dietrich Genscher . . . . . . . . . . . . . . . 122

5 »Ich wollte Deutschlands Einheit«: �ber einen SatzHelmut Kohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

6 »Wandel durch Ann�herung? Da war ja was dran!«Wolfgang Sch�uble, Horst Teltschik und HeinerGeißler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

7 »Wir mussten Bahr und Brandt doch schubsen«:Richard von Weizs�cker . . . . . . . . . . . . . . . 228

8 »Allein Gorbatschow lçste die Implosion aus,unsere Politik hatte keinerlei Einf luss darauf«:Helmut Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2899 »Die Lehren der soft power«: Bronisław Geremek . . . 291

10 »Nein, es war nicht Schmidts ›Realpolitik‹,wir waren die Realisten«: Tadeusz Mazowieckiund Adam Michnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306

11 »Schmidt war ein Realist, kein Romantiker«:Mieczysław Rakowski und Wojciech Jaruzelski . . . . 355

12 »Man muss mit seinen Biographien leben«:Der Runde Tisch in Polen . . . . . . . . . . . . . . 375

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1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38113 »Wir von der 68er/89er-Generation«: Werner Schulz,

Jens Reich, Markus Meckel, Lothar de Maizi�reund Dieter Segert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

14 »Venus hat den Kalten Krieg gewonnen« . . . . . . . 448

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469Biographische Skizzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

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»My idea of American policy toward the Soviet Union is simple, andsome would say simplistic. It is this: We win and they lose. What doyou think of that?«1 Ronald Reagan

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f�r B�rbel und Hansg�nther

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1 Vorwort:Warum Gorbatschow nicht �ber Kohl sprechen will

Michail Gorbatschow eilte in die Hotelsuite, in der das Interviewmit ihm stattfinden sollte. Hans-Dietrich Genscher und der rus-sische Dolmetscher begleiteten ihn. Unser Kamerateam hatteschon alles aufgebaut. Nur die Scheinwerfer mussten noch ange-knipst und das Licht �berpr�ft werden. »Was machen wir?«, warseine erste Frage, die er – ohne meine Reaktion abzuwarten – selbstbeantwortete. »Wir sprechen �ber meinen Freund!« Dabei zeigteer auf Hans-Dietrich Genscher. »Und wir sprechen �ber 1989,die deutsche Einheit und das Ende des Kalten Krieges. Aber fra-gen Sie mich nicht nach Helmut Kohl, kein Wort.«

Das hatte ich eigentlich gar nicht vor, aber warum betonte erdas so? Ich war von dieser strengen Vorgabe ziemlich �berrascht.Aber – kein Problem, abgemacht war tats�chlich nur ein gr�nd-liches Interview vor laufender Kamera mit ihm f�r einen Film an-l�sslich des 80. Geburtstages von Hans-Dietrich Genscher. Ichhatte bis dahin als Journalist Gorbatschow nie unmittelbar ken-nengelernt, nur war er in aller Munde, mit wem auch immer ich�ber den Mauerfall, das Ende des Kalten Krieges und die EinheitEuropas sprach. Immer noch umwehte ihn ein Hauch von Groß-macht. Ich glaubte zu sp�ren, warum er an die Parteispitze inMoskau gelangen und hoch pokern, ja das ganze Imperium aufeine Karte setzen konnte: Glasnost und Perestroika. Gab es etwas,was er ausdr�cklich nicht sagen wollte �ber Kohl, w�hrend er dieKooperation mit Genscher in den dramatischen Umbruchjahrenoffen w�rdigen konnte? Waren die beiden zweierlei »Freunde«f�r ihn? Es sah so aus.

Und bald best�tigte sich das. Als Michail Gorbatschow we-nig sp�ter seinen 75. Geburtstag in Moskau feierte, waren beideeingeladen, Genscher und Kohl. Das Kamerateam, noch immer

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auf Genschers Spuren, filmte die recht intimen Szenen. Der lang-j�hrige deutsche Außenminister war es, den Gorbatschow wieeinen alten Vertrauten umarmte, wie seinen engsten Freund ver-abschiedete er Genscher am sp�ten Abend, dagegen wirkte Hel-mut Kohl wie einer der zahlreichen G�ste: Freundlich willkom-men geheißen, respektiert, aber doch eine andere Liga.

Erneut kamen mir diese Randbeobachtungen in den Sinn,als sich Gorbatschow zu Helmut Kohls 80. Geburtstag im April2010 im deutschen Fernsehen auf ein Interview einließ. Freund-lich und seelenruhig sagte er: »Denken Sie ja nicht, wir h�tten unsimmer gut verstanden. Ich habe in meiner Autobiographie ge-schrieben, dass ich ihn gefragt habe, ob sich seine Meinung dennnie von der Washingtons unterscheide.«

�hnlich konnte man es bereits Ende Oktober 2009 im Berli-ner Admiralspalast beobachten, als er an der Seite George Bushsund Helmut Kohls an den 20. Jahrestag des Mauerfalls erinnerte.Bild und Adenauer-Stiftung hatten eingeladen, um die Verdiens-te des deutschen Kanzlers geb�hrend zu preisen. Gorbatschowaber rief freundlich lachend ins Ged�chtnis, wie empçrt er 1986�ber den Kanzler gewesen sei, als der ihn in einem Interview mitdem Propagandachef der Nationalsozialisten verglich, dem tes-tamentarisch zum Nachfolger des Reichskanzlers bestimmtenJoseph Goebbels. Und �berhaupt, f�gte er noch hinzu, in dieserdramatischen Zeit zwischen 1987 und 1991 h�tten nicht nur»große M�nner« Geschichte gemacht. Vielmehr habe die Ge-schichte sie auch �berrollt. Das heißt: Gorbatschow, der die gro-ße Revolution Ende des letzten Jahrhunderts auslçste, vernebeltenicht, was ihn vom damaligen Kanzler trennte, ausgerechnet ermachte sich klein, w�hrend Kohl so gerne »ich, ich, ich« sagte,wenn es um die Frage ging, auf wen 1989 wirklich zur�ckzuf�h-ren sei.

Warum also wollte Michail Gorbatschow in dem Interviewnicht nach Kohl gefragt werden? In seiner beil�ufigen Bemer-kung, schien mir, verbarg sich etwas. Kohl gilt als »Kanzler derEinheit«, und Genscher war Außenminister in dieser Zeit. Nach

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außen blieb das Bild haften, dass sie letztlich an einem Strang zo-gen. Offensichtlich aber war es komplizierter. In manchem stimm-ten sie �berein, in manchem gar nicht. Sie reagierten und verhiel-ten sich oft, als beurteilten sie die Entwicklungen vollkommenunterschiedlich und als verfolgten sie eine jeweils ganz andereMethode. Genscher, der ewig misstrauische, wirkte vertrauens-voll, wie er auf Moskau zuging. Kohl blieb in Hab-Acht-Stel-lung. Trau schau wem!

Solche heimlichen Differenzen – auch die versteckten Wahr-heiten �ber die Revolution in Europa und ihre Vorgeschichtehinter der Fassade – begannen mich zunehmend zu interessieren,nicht die einfachen Formeln dar�ber, wer »Sieger« und »Verlie-rer« sei. Von solchen glatten, oft platten Erkl�rungen hatte es An-fang der neunziger Jahre mehr als genug gegeben. Zwanzig Jahredanach, schien mir, kçnnte man sich neu ann�hern: Zeit wurdees, die Hypothesen aufzuf�chern, nicht einzudampfen, um plau-siblen Erkl�rungen n�her zu kommen. Mich fesselte zunehmend,dass in den Nuancen – nicht in der Superpower-Story mit ihreneinsamen Helden – offenkundig das Geheimnis verborgen lag.

Auf den kleinen Unterschied kam es an: Wie erkl�rten sich bei-spielsweise Akteure in Warschau oder Bonn den großen Umbruchdamals, und worauf f�hren sie ihn heute zur�ck? Wie sahen diealten Herren (und Herren waren es durchweg) sich selber zwan-zig Jahre sp�ter? War Tadeusz Mazowiecki erfreut, dass HelmutKohl ihn in Kreisau vor den Augen der internationalen Medienumarmte? Polen und die Bundesrepublik z�hlten nicht zu denGroßm�chten, aber beide bildeten sie in ihrem »Block« den je-weils einf lussreichsten Juniorpartner – Polen mit mehr Einwoh-nern als die anderen ostmitteleurop�ischen Satelliten Moskauszusammen (die DDR ausgenommen). Deutschland war die ein-zige zwischen West und Ost geteilte Nation, die Westrepublikwiederum bildete die m�chtigste Wirtschafts- und Exporteinheit.Polen, die Bundesrepublik und die DDR haben Geschichte ge-macht. Wird der politische Anteil der Akteure in Polen inzwi-schen hinreichend anerkannt? Aus westdeutscher, ostdeutscher

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und polnischer Sicht ist zu fragen: War wirklich »Sieger«, wer da-mals als Sieger galt? War »Verlierer«, wer als Verlierer betrachtetwurde?

�ber die Mçglichkeit dieser friedlichen Revolution sowie de-ren Verlauf entschieden die Großm�chte. Ohne sie w�re es nichtdazu gekommen. Den Rahmen gaben Washington und Moskauvor. Aber mich machte neugierig, wer zwischen den USA und derSowjetunion den Spielraum nutzte, ja selbst vielleicht die Rah-menbedingungen zwischen den Superm�chten beeinf lusste.

Keineswegs lçste die Opposition auf der Danziger Werft 1980und auf den Straßen Polens nur Solidarit�tsgef�hle aus, sie stçrtevielfach, auch wenn das selten ausgesprochen wurde. Selbst vielederjenigen, die sie priesen, nahmen sie oft nicht ernst, wollten sieaber benutzen. Moskau blieb unbelehrbar oder ratlos, siehe dasKriegsrecht in Polen! Nein, auch Gorbatschows neue Sprache �n-derte nichts an der bitteren Realit�t im real existierenden Ost-block! Demonstrative Besuche bei den Streikenden, vor allembei dem Demonstrationsf�hrer Lech Wałesa, wurden angemahnt,mit der notd�rftig kaschierten Absicht, daraus innenpolitischKapital zu schlagen: Seht her, wie die Sozialdemokraten mit denMachthabern heimlich fraternisieren. Vor Unordnung f�rchtetensich insgeheim fast alle, gleich welcher Partei.

Dennoch, allm�hlich bildete sich so etwas wie ein funktio-nierender Kern Europas heraus: informell, indirekt, aber immer-hin. Die Bonner Politik versuchte, die Dramatik in Polen zu be-greifen und die Entwicklung wenigstens nicht zu erschweren.Zwischen Bonn, Paris und Warschau spannten sich F�den, nochbevor der Eiserne Vorhang gefallen war. Das Nobelpreis-Komi-tee hatte 1971 Willy Brandt und 1983 Lech Wałesa den Friedens-preis zugesprochen, dem Ostpolitiker und dem Anf�hrer derSolidarit�t – und man kann darin nicht nur eine Unterst�tzung,sondern auch eine Symbolik f�r die Ver�nderungen in Zentral-europa sehen. Dass sich aber ein Ende der Systeme anbahnte, er-ahnten wahrscheinlich zuletzt die Deutschen. Das ist nicht alsVorwurf gemeint, auch daf�r finden sich triftige Gr�nde.

12 Vorwort

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Auf die drei Nachbarn in Europa kam es zunehmend an, daswar sp�rbar. Wer eine Neuordnung innerhalb Europas anpeil-te, musste Frankreich unbedingt ins Boot holen. VoraussetzungNummer eins war die aktive Mithilfe aus Paris. Aber innerhalbdes großen Rahmens, Washington und Moskau, konnten Spiel-r�ume genutzt werden. Bonn und Warschau spielten eine heraus-ragende Rolle dabei. Eine europ�ische Lektion steckt darin, diesich noch nicht herumgesprochen hat.

Konzentrieren will ich mich daher darauf, wie gerade die Ak-teure aus der Bundesrepublik und Polen zur�ckblicken. Ich glau-be, damit verkennt man nicht den Anteil der Großen, schm�lertaber auch nicht die Rolle der Kleinen, wie die der Charta 77 inPrag, des polnischen Papstes, der kleinen ungarischen F�hrungs-schicht um Mikls N�meth oder die der Opposition in der DDR

vom Herbst 1989. Klargemacht haben mir die Gespr�che in Po-len und hierzulande, so viel vorweg, um welche besondere Nach-barschaft es sich handelt, welche Rolle beide gemeinsam spieltenund was sich daraus f�r die Zukunft ableitet. Bonn und Warschauoperierten nebeneinander. Eine ganz andere Frage ist, ob sie sichals Nachbarn �berhaupt wahrnahmen oder ob man erst in derRetrospektive diese Frage ernster nimmt.

* * *

Europas Revolution: Zahlreiche zeithistorische B�cher wurdenhierzu publiziert, auffallend viele exzellente amerikanische Auto-ren sind darunter. Eine kleine Bibliothek f�llen allein die Auto-biographien, nahezu alle beteiligten Politiker, Botschafter, Beamtehaben ihre Sicht der Dinge aufgeschrieben: Michail Gorbatschow,Jimmy Carter und George Bush, s�mtliche amerikanischen Au-ßenminister, viele der Moskauer Verantwortlichen wie EduardSchewardnadse und die russischen Botschafter Valentin Falin oderJuli A. Kwizinski am Rhein, die Regierungschefs und Außenmi-nister aus Paris, London, Warschau, Budapest, Bukarest, Sofia,zahlreiche Diplomaten aus Ost und West, selbst die ostdeutscheNomenklatura von einst wie Markus Wolf, Egon Krenz, Kurt

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Hager. Vermutlich aus keiner Phase der Weltgeschichte liegenderart viele Selbstzeugnisse vor wie aus dieser. Manche wollenHelden gewesen sein und illuminieren sich entsprechend, anderew�nschen, wenigstens nicht als die Schlimmsten der Schurkenzu gelten. Dritte schreiben n�chtern auf, was war, soweit sie es�berblicken. In aller Regel werden die Autoren glauben, die Wahr-heit aus ihrer Sicht festgehalten zu haben.

Besonders genau sind inzwischen das Drama des Wendejahres1989 selbst, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990sowie der Sturz Gorbatschows und das Auseinanderbrechen desSowjetimperiums 1991 beschrieben worden. Allein schon die Stu-die Alexander von Platos2 �ber das Agieren der Superm�chte undder verantwortlichen Politiker beantwortet viele der offenen Fra-gen, nicht zuletzt anhand der inzwischen verçffentlichten Doku-mente aus dem Kreml. Von Plato belegt seine Annahmen mitvielen Protokollen von Gespr�chen, die er mit nahezu s�mtlichenVerantwortlichen �ber die dramatische Chronologie des Jahres1989 und die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zur »�ußeren Ein-heit« Deutschlands bis zum Sommer 1990 f�hrte.

Gr�ndliche historische Quellenstudien, teils R�ckerinnerun-gen von Journalisten mit Sinn f�r die historische Dimension desUmbruchs, widmen sich vor allem den Transformationsjahren1989 bis 1991: Sie behandeln Polen und Ostdeutschland, die sam-tene Revolution in Prag, die Exekution Nicolae Ceausescus inRum�nien, den Umsturz in Budapest, Sofia und Vilnius oder Ri-ga, die deutsche Vereinigung am 3. Oktober 1990 und den SturzMichail Gorbatschows ein Jahr darauf.

Als journalistischer Neuling kam ich nach Bonn in dem Mo-ment, in dem Willy Brandt gew�hlt worden war. Ein Jahr zuvorhatten sowjetische Panzer den Reformversuch in Prag niederge-walzt. Vom ersten Tag an ging es dem sozialdemokratischen Kanz-ler vor allem darum, dass die deutsche Politik glaubw�rdig Ver-antwortung f�r die eigene Vergangenheit �bernehmen und einenNeuanfang gegen�ber den Nachbarn im Osten, den Opfern desNationalsozialismus, durchsetzen werde – obwohl sich der Wes-

14 Vorwort

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ten mit dem Kommunismus in einer großen Systemauseinan-dersetzung befand. Auch die Bundesrepublik hatte sich seit denZeiten des ersten Kanzlers, Konrad Adenauer, lieber auf diesenneuen »Feind« als auf das Aufarbeiten der eigenen Vergangenheitkonzentriert. Das blieb der Code der beiden ersten Nachkriegs-jahrzehnte. Vergeblich rannte eine Minderheit an gegen diese will-kommene Ablenkung, die der Kalte Krieg bescherte, also gegendas große Verdr�ngen.

Brandt reagierte mit seiner Politik unmittelbar auf die Nieder-schlagung des Prager Fr�hlings, indirekt auch auf den Mauerbau,der acht Jahre zur�cklag. Seine Ostpolitik reifte in den sechzigerJahren, sie war bereits eine Antwort auf die Teilung Berlins undden Stacheldraht, der quer durch Deutschland verlief. Aber erstnach der neuerlichen Eskalation, dem Einzug der Panzer in Prag,konnte sie umgesetzt werden. Nicht Drohungen und Vergeltungk�ndigte Willy Brandt an, seine Politik wartete hingegen miteinem Versçhnungs- und Entspannungsangebot auf. Worin dassp�ter einmal m�nden sollte, sah man nicht, ahnte man nicht,auch Brandt vermutlich nicht. Jedenfalls weigerte er sich stetsund konsequent, �ber langfristige »Ziele« zu sprechen. Es geheum kleine Schritte, Punkt! Jedoch f�hrte der dialektische Gedan-ke seiner Ostpolitik weit dar�ber hinaus.

Beides, der Mauerbau und das Ende des Prager Fr�hlings, hat-te Folgen f�r die n�chsten Nachbarn: f�r Polen und die DDR imOstblock, f�r die Bundesrepublik im Westen. Im Herbst 1969kam es zum Machtwechsel in Bonn. Willy Brandt, bis dahin Au-ßenminister in der Großen Koalition, wurde zum ersten sozial-demokratischen Kanzler seit Gr�ndung der Republik gew�hlt.Seine Entspannungspolitik nahm – trotz oder wegen Prag? – denSchwung der jungen Protestgeneration gerade noch mit, die aufeine Neu- oder Umgr�ndung der Republik setzte. Ein knappesJahr darauf, 1970, wurde in Polen Władysław Gomułka von Ed-ward Gierek abgelçst, der mit Wirtschaftsreformen und begrenz-ter Liberalisierung nach innen bereits einen Rettungsversuch in-nerhalb des Systems starten sollte.

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Als fruchtlos, so sah Brandt es, hatte sich die Konfrontations-politik gegen�ber dem Osten erwiesen, festgefahren war die Po-litik der Nichtanerkennung des ostdeutschen Nachbarstaates, derDDR. Der Bonner Alleinvertretungsanspruch brçckelte. Dasseine Politik des »Dritten Weges«, ein »Sozialismus mit mensch-lichem Antlitz«, im Sowjetimperium nicht durchsetzbar sei, dashatte das Prager Beispiel gelehrt. Festbetoniert f�r ewig schiendie Breschnew-Doktrin von der eingeschr�nkten Souver�nit�t:kein Spielraum f�r einen der Pakt-Staaten, sofern das die Stabi-lit�t des Gesamtprojektes gef�hrdete. Im Westen richtete die Pro-testgeneration ihre Projektionen entt�uscht fortan kaum noch aufEuropa, sondern auf die Dritte Welt. Auch in der intellektuellenLinken blieben es Ausnahmestimmen und kleine Zirkel, die sichauf Osteuropa konzentrierten und heimliche Koalitionen zuschmieden suchten gegen die herrschende Orthodoxie. Zu sp�-ren bekam das in den achtziger Jahren die polnische Gewerk-schaftsbewegung: Carepakete auch aus der Bundesrepublik erhieltSolidarnosc in F�lle, aber die politische Solidarit�t hielt sich inGrenzen. Man wollte nicht noch einmal desillusioniert werdenwie in Prag. Auch deshalb bekam Brandts Kurs Unterst�tzung:Reformen m�ssen von »oben« kommen, nur mit und nicht ge-gen die Herrschenden, so bitter es auch ankommen mag. Diesen»historischen Kompromiss« ging die Ostpolitik bewusst ein. W�r-den die V�ter der Ostpolitik heute noch dazu stehen, wollte ichwissen. Die Opposition in Polen hingegen empfand das Verhal-ten der Deutschen in der zweiten H�lfte der achtziger Jahre als»Verrat« und sagte es auch. W�rde sie es Jahrzehnte danach an-ders beurteilen?

Geradezu militanten Widerstand gegen den Entspannungsver-such leistete die Bonner Opposition, tatkr�ftig unterst�tzt durchdie Medien. Uns jungen Journalisten erschien der Anstoß Brandtsund Egon Bahrs hingegen keineswegs als Anbiederung, imGegenteil, die Ostpolitik enthielt eine große Herausforderung:Unverhohlen handelte es sich um den Appell, den Kalten Kriegzu beenden. Auf beiden Seiten. F�r richtig hielten wir Bonner

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Neulinge diese Politik, auch wenn offenbar niemand genauer be-nennen konnte, wohin sie f�hren w�rde oder f�hren solle.

Diese Vorgeschichte war immer pr�sent, wenn ich mir 1989zu erkl�ren versuchte. Ja, man kann fragen, ob Geschichte �ber-haupt »Anf�nge« hat. 1968 konnte man nicht denken ohne 1956,den Einmarsch des Warschauer Pakts in Ungarn. Und Ungarnwar 1953 vorausgegangen, der Aufstand in Ostberlin und in meh-reren ostdeutschen St�dten. Das Kriegsrecht in Polen, 1981, er-innerte noch einmal daran. Hat man damals einfach nicht ernstgenommen, dass die Breschnew-Doktrin nicht mehr angewandtwurde, traute man dem Frieden nicht, konnte man sich das Ost-West-Verh�ltnis nicht mehr anders vorstellen? Erst Michail Gor-batschow sprach offen aus, dass jeder sein eigener Herr sei undohne »br�derliche Hilfe« auskommen m�sse, aber das Unvorstell-bare wurde naturgem�ß nicht richtig geglaubt.

Welche Politiken im Vorfeld zum Umbruch f�hrten, interes-siert mich besonders. Was hat aus der Sicht der damaligen Ak-teure die Revolution �berhaupt erst ermçglicht? Wann beginntf�r Deutsche und Polen, die damals Verantwortung trugen, derTeil der Vorgeschichte, der in die Wendezeit von 1989/90 m�nde-te und schließlich zum Erfolg, zur Einheit Europas, f�hrte?

Wissen wollte ich, ob sich im Laufe der Jahre das Urteil derVerantwortlichen von damals dar�ber ge�ndert hat, was beitrugzu der großen Z�sur. Was bedeutet f�r die Nachbarn, Polen undDeutsche, die Ostpolitik, Brandts Kniefall vor dem Ghetto-Mahnmal in Warschau 1970, die Konferenz f�r Sicherheit undZusammenarbeit (1975) und der gesamte Helsinki-Prozess? Wasder Konflikt um die »Nachr�stung« in der Bundesrepublik, derim selben Jahr eskalierte, als der Werftarbeiterstreik in Danzig1980 eine Lawine auslçste? Welches Gewicht hatten der polni-sche Papst, die katholische Kirche, das Kriegsrecht, der RundeTisch und die ersten freien Wahlen in Polen?

Wer wollte Deutschlands Einheit wirklich, zu der es 1990 kam,und f�r wen handelte es sich nur um ein Lippenbekenntnis? Wieerkl�rt sich, dass ausgerechnet einf lussreiche polnische Stimmen

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sich vor einem vereinten Deutschland nicht f�rchteten, sonderngeradezu Hoffnungen auf ein Ende der Teilung setzten, w�hrendwir schon lange nicht mehr damit rechneten? Ab wann gab es kei-ne Umkehr mehr? Wo hat wer geirrt? Was haben sie dazugelernt?Interessiert hat mich das Urteil derjenigen, die Politik gemachtund gedacht haben, die einen oben, die anderen unten, was siedamals �ber Ost und West, Polen und die »deutsche Frage« dach-ten und was sie heute denken – �ber sich und �ber die anderen.Drei Jahre lang habe ich sie aufgesucht, um zu hçren, was ihreWahrheit ist.

* * *

Jeder hat seine Erkl�rung, seine Wahrheit in der R�ckerinnerung.Ich finde das legitim. Zugegeben, auch ich habe, um dies vorweg-zunehmen, meinen eigenen Fixstern in dieser Vorgeschichte. Denentscheidenden historischen Moment f�r mich jedenfalls stelltBrandts Kniefall im Dezember 1970 vor dem Ghetto-Mahnmalin Warschau dar. Jedenfalls erscheint er mir als die umfassendeMetapher. Wortlos beugte er sich nieder. In Polen. Von da an,so fand ich vom ersten Augenblick an, gab es kein Zur�ck. Umeine Entwaffnung handelte es sich, eine Entfeindung, ein stum-mes Angebot. Aber das bleibt nat�rlich, zugegeben, eine deut-sche Perspektive. Polens Machthaber m�ssen den Sprengsatz er-ahnt haben, sonst h�tten sie sich die Peinlichkeit erspart, das Fotomit dem knienden Brandt zu zensieren. Ein Deutscher, der Ab-bitte leistet, das geht nicht, Revanchisten sind unbelehrbar! Alsoschnitten sie ungeniert den unteren Teil des Fotos mit dem knien-den Brandt ab, damit der Eindruck entstand, er stehe.

Das war ein dialektischer Moment. Der Kniefall war subver-siv, gerade weil er aus dem Muster des Kalten Krieges ausscher-te und sich einließ auf die andere Seite. Ich sehe Brandts Gesteauch als erste Station einer ganzen Abfolge von vertrauensbil-denden Momenten der Geschichte – nach Mauerbau, Kubakriseund den russischen Panzern in Prag im August 1968. Dazu mussman dann auch die deutsche Entscheidung z�hlen, die Konfe-

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renz f�r Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) 1975 in Hel-sinki im eigenen Interesse zu nutzen und zu forcieren. Oder dieRede Richard von Weizs�ckers zum 8. Mai 1985. Und das sehrallm�hliche, aber doch beharrliche Lernen der Deutschen, mitder eigenen Vergangenheit leidlich ehrlich umzugehen. Ja, mankçnnte die Geschichte der Bundesrepublik als einen permanen-ten Prozess der Vertrauenswerbung beschreiben. Daf�r steht derName des Daueraußenministers Hans-Dietrich Genscher, der18 Jahre amtierte, bis 1992. Man konnte ihn als stabilen, bere-chenbaren Faktor einordnen: Genschers Amtsdauer und die Artseiner Amtsaus�bung – wie sehr das beruhigte, sieht man erstaus der Distanz. Sich innerlich auf den Westen einzulassen, aufdie parlamentarische Demokratie, auf das Leitbild einer eman-zipierten B�rgerlichkeit, aus dem Zivilisationsbruch des eigenenLandes lernen zu wollen – das alles gehçrte zu dieser Vertrauens-bildung. Dem Osten, das hatte Brandt erkannt, musste man dar-�ber hinaus aber noch demonstrieren, dass man trotz dieses»langen Weges in den Westen« nicht nur eine abh�ngige VariableWashingtons oder der Allianz sei. Und das, ohne im Westen Miss-trauen zu erwecken. Darin bestand sein Balanceakt.

Auffallend viel zu Papier gebracht hat zur Z�sur in EuropaHelmut Kohl, der Zeitzeuge, den man nicht mehr sprechen kannund der nie eine Autobiographie schreiben wollte. Er konntenicht mehr dazu beitragen, als ich das Buch vorbereitete, ich ver-mute, er h�tte auch nicht gewollt. Sein Bild dieser Jahre hat erselbst gezeichnet. Er gab die Erlaubnis zur Vorabverçffentlichungvon Akten zur Deutschlandpolitik des Kanzleramtes, die ansich dreißig Jahre unter Verschluss bleiben – sorgf�ltig ausge-suchte Akten, von sorgf�ltig ausgesuchten Historikern gesichtetund klassifiziert. Wie wenige hat Kohl daf�r gesorgt, dass seinBild – oder ein bestimmtes Bild – von seiner Kanzlerschaft domi-niert, damit aber auch ein Bild davon, wie es zur Einheit Deutsch-lands und Europas kam. Er ist der eine steinerne Gast in diesemBuch.3

Der andere stumme, steinerne Gast: Willy Brandt. Zur deut-

Warum Gorbatschow nicht �ber Kohl sprechen will 19

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schen Einheit direkt hat er zu Lebzeiten kein Buch mehr zur�ck-gelassen, sich aber ge�ußert in zahlreichen Gespr�chen. EinigeB�cher hingegen verfasste er �ber die Vorgeschichte seit der Ost-politik, nicht zuletzt seine Memoiren unter dem Titel Links undfrei. Peter Merseburger hat eine vorz�gliche, gr�ndliche Biogra-phie �ber Brandt und sein Lebensthema vorgelegt, die Fragedes jungen Mannes, »wie soll Europa nach dem Krieg aussehen«,und die Frage des aktiven Kanzlers, was seine Entspannungspoli-tik in ihrer »seltenen Mischung aus Idealismus und Realismus«zum gemeinsamen Europa beitragen kçnne.4 Seit Beginn seinerKanzlerschaft, besonders aber in den achtziger Jahren, habe ichh�ufig als Journalist f�r die Zeit mit ihm gesprochen.5

Auch Willy Brandt hatte, vermute ich, irgendwann den Ge-danken aufgegeben, die deutsche Einheit sei realisierbar – sehrwohl aber hielt er die allm�hliche Vereinigung Europas f�r einrealistisches Ziel. Eine europ�ische Reliefkarte ohne Systemgren-ze hatte er immer vor dem inneren Auge. Unmittelbar nach demMauerfall freilich, in einer aufgew�hlten Atmosph�re, in der esum laute Bekenntnisse zur Einheit ging und seine SPD vor demverbreiteten vaterl�ndischen Pathos erschrak, dementierte er daseigene Wort, er habe die »Wiedervereinigung« f�r eine Lebens-l�ge gehalten. Die große Chance wollte er nicht aufs Spiel set-zen. Gleichwohl hielt er diese offiziçs propagierte Hoffnung f�rSelbstbetrug. Und er hatte Gr�nde, das so zu sehen.

Viele Versionen kursieren bei den Akteuren, mit denen sieEuropas Z�sur erkl�ren. Wahrscheinlich werde es dar�ber »nochmehr Deutungen geben als �ber 1914«, sagt mir Fritz Stern, derNew Yorker Historiker. Das fange schon damit an, dass »1989/90eine Chiffre f�r vieles, zu vieles zugleich« sei: deutsche Einheit,Z�sur in Europa, Ende des Kalten Krieges, Demokratie in Po-len, Erfolg Gorbatschows . . .

�berrascht hat mich, wie souver�n und selbstkritisch vieleder Verantwortlichen zwei Jahrzehnte danach mit der Erfahrungihres Lebens umgehen. Keineswegs stilisieren sie sich zu Heldenoder zu »Herren der Geschichte«, auch nicht zu »Helden des

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