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Vom Anfang und vom Ende Zwei Essays Bearbeitet von Ludger Lütkehaus 1. Auflage 2008. Buch. 92 S. Hardcover ISBN 978 3 458 17395 3 Format (B x L): 13,2 x 22 cm Gewicht: 188 g Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft > Metaphysik, Ontologie > Ethik, Moralphilosophie schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Vom Anfang und vom Ende

Zwei Essays

Bearbeitet vonLudger Lütkehaus

1. Auflage 2008. Buch. 92 S. HardcoverISBN 978 3 458 17395 3

Format (B x L): 13,2 x 22 cmGewicht: 188 g

Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft >Metaphysik, Ontologie > Ethik, Moralphilosophie

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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Leseprobe

Lütkehaus, Ludger

Vom Anfang und vom Ende

Zwei Essays

Bibliothek der Lebenskunst

© Insel Verlag

978-3-458-17395-3

Insel Verlag

B

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2

Ludger LÅtkehaus

Vom Anfangund vom Ende

Zwei Essays

Insel Verlag

3

Einbandabbildung: Ingrid von Kruse

F Insel VerlagFrankfurt am Main und Leipzig 2008

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasder �bersetzung, des Çffentlichen Vortrags sowie

der �bertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: Libro, KriftelDruck: Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyErste Auflage 2008

ISBN 978-3-458-17395-3

1 2 3 4 5 6 – 13 12 11 10 09 08

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Vom Anfang und vom Anfangen . . . . . . . . . 13

I. Ex occidente lux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

II. Philosophie der Initialit�t . . . . . . . . . . . . . . . 17

III. Diktat der Geburt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

IV. Vom Besten und vom Zweitbesten . . . . . . . . 30

V. Vom Geschenk-als-ob . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Vom Enden und vom Ende . . . . . . . . . . . . . 47

I. Vorspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

II. Die Sprache spricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

III. »Sans issue« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

IV. Der Tod-Feind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

V. In der HÇlle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

VI. Eine große Gnade ist die Nacht . . . . . . . . . . 66

VII. Vom ganzen Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

VIII. Praemeditatio mortis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

IX. Der Tod des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

X. Vom �berleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

XI. Vom Tod der Liebenden . . . . . . . . . . . . . . . 82

XII. GlÅckliche Tage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

XIII. Endspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

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FÅr Wolfgang H.

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Einleitung

Lebenskunst ist Sterbenskunst. Auch. So jedenfalls hat esdie abendl�ndische Philosophie von Platons Dialog »Phai-don« Åber Montaignes »Essais« bis zu Heideggers – freilichaller Prop�deutik abgeneigtem – »Vorlaufen in den Tod«gelehrt. Philosophieren heißt Sterbenlernen. Philosophieist die EinÅbung in den guten Tod, gleichsam die existen-tielle Prothese, die Orthop�die von Wesen, die schon frÅh,als Kinder, gelernt haben zu gehen, mit Bewußtsein in denTod zu gehen indessen noch lernen mÅssen.

Die herausragende Gestalt der griechischen Philosophie-geschichte, der Philosophiegeschichte Åberhaupt: Sokrates,steht im Denken wie in der exemplarischen LebenspraxisfÅr dieses philosophische Sterbenlehren und -lernen. DerTod des Sokrates ist das Denkmal, die bewundernswerteIkone einer gelassenen und einverst�ndigen Freiheit zumTode geworden, die das von den Sterblichen einzuÅbendeSterbenlernen sogleich zur Meisterschaft gebracht hat –und zwar ohne der Verheißung eines Weiterlebens, gar ei-nes ewigen Lebens, irgendwie sicher oder auch nur auf sieangewiesen zu sein. Das skeptische Offenlassen der Alter-native, ob der frei in den auferlegten Tod Gehende aufhÇheren und besseren jenseitigen R�ngen zu gerechterenRichtern versammelt werde oder in einen traumlosentieferen Schlaf ohne Erwachen eingehe, der von einemwÅnschbaren schÇnen Nichts nicht zu unterscheiden w�re,gewinnt dem Tod vielmehr unter allen Umst�nden die Ver-sÇhnung ab.

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Wie nie zuvor und seither nicht mehr, auch nicht inErlÇsergestalten, deren Tod von Anfang an der Stachel ge-nommen ist, weil sie sich der Auferstehung und des ewigenLebens teilhaftig glauben dÅrfen, wird im Tod des Sokratesanstelle des oktroyierten Naturgeschicks ein anderer Todgeboren.

Lebenskunst aber entfaltet sich auch und in der Tat vorabals jene »Geburtshilfe«, »Hebammenkunst«, die wieder So-krates als den »maieutischen« Anfang der Philosophie undals Pendant der philosophischen Sterbehilfe bestimmt hat.Freilich handelt es sich dabei um eine ganz spezifische Artder Geburtshilfe.

Die Sokratische »Maieutik« beginnt schon vor der Ge-burt. Sie stiftet die rechten Ehen, denkt in riskanter WeiseÅber die Handhabung mÇglicher »Fehlgeburten« nach undversucht, die »schwere Geburt« so zu erleichtern, daß siewirklich den Namen einer »Geburtshilfe« verdient.

Prononcierter noch als die Philosophie des SterbelehrersSokrates, daß der Tod unter keinen Umst�nden ein �belsei, geht sie gleichwohl davon aus, daß Geburt prinzipiellpositiv sei. Die Frage nach dem »ob und warum Åberhaupt«der Geburt wird grunds�tzlich nicht gestellt, nur im Hin-blick auf die eugenischen Fragen bei einer mÇglichen»Fehlgeburt«. Die Sokratische ironische Skepsis hat hierkeinen Platz. Die Alternative eines dem Leben und Weiter-leben �quivalenten Nichtseins kennt die »Maieutik«, die»Hebammenkunst«, nicht.

Auch geht es in ihr nicht im wÇrtlichen Sinn um »Ge-burtshilfe«. Sie bleibt vielmehr Metapher. Dem Plato-nischen Sokrates ist es in der »Maieutik« prim�r um die

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Geburt der Erkenntnis zu tun, die nur indirekt von exi-stentiellem geburtsphilosophischem Interesse ist. �berdiesdementiert sie im Zeichen der Platonischen Lehre von der»Anamnesis«, der Wiedererinnerung und Wiedergeburtder Erkenntnis, ebenjenen anf�nglichen Anfang, den dieGeburt setzt.

Beides ist symptomatisch fÅr die geburtsphilosophischeAmnesie, an der die abendl�ndische Philosophie seit ihrenAnf�ngen, selbst bei ihrer Sokratischen Avantgarde, leidet.Nur in einigen großen Ausnahmen hat sie es zu einereigentlichen und ergebnisoffenen Philosophie der Geburtgebracht. »Geburtsvergessenheit« markiert komplement�rzur Todesversessenheit ihr zentrales Defizit. Eine »Nato-logie« als Pendant zur bisher dominanten »Thanatologie«hat sie systematisch erst noch zu entwickeln.

Und nicht nur philosophisch mÅssen es die »Sterbli-chen« erst noch lernen, sich zur Geburt zu verhalten, wennsie wollen, daß das verg�ngliche, »gegebene« und »genom-mene« Dasein zwischen Geburt und Tod, anf�nglichemAnfang und endlichem Ende, ein bewußt gefÅhrtes undder Lebenskunst zug�ngliches Dasein ist.

Das aber fordert von den »GebÅrtigen«, daß sie die Ge-burt als das bisher zumeist Selbstverst�ndliche, das imhÇchsten Maße NatÅrliche – schon etymologisch ist »Na-tur« der Inbegriff des »Geborenen« – gleichsam entselbst-verst�ndlichen.

Der Tod als der bisherige prim�re Platzhalter der Philo-sophie macht die Menschen zu provisorischen Wesen: alsterminiertes Sein auf Zeit. Zugleich konfrontiert er siemit dem ihnen gewissesten, unausweichlichen, allgemei-nen, ausnahmslos gÅltigen Geschick. FÅr die Sterblichen,

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die sich durch den Tod fraglich werden, ist er in diesemSinn, sieht man von der freilich um so mehr irritierendenMÇglichkeit des freien Todes ab, das Fraglose. Wer »A« sagt,muß nicht notwendigerweise »B« sagen. Wer aber »Leben«sagt, der sagt unvermeidlich auch »Tod«.

Die Geburt hingegen scheint sich zwar als das NatÅr-lichste von selber zu verstehen. Im Unterschied zum Tod,der als das in der gewissen, aber noch unbestimmten Zu-kunft Liegende das Sein der Sterblichen von Grund auferschÅttert, ist sie als das fÅr die Geborenen immer schonZurÅckliegende von jener Irritationsfreiheit, die jedes »faitaccompli« gew�hrt. RÅckblick liegt im Åbrigen ferner alsVorblick, das »memento natum esse« ferner als das »me-mento mori«.

Doch selbst die zurÅckliegende Geburt kann fÅr dieGeborenen in ihrem Selbstverh�ltnis zur Frage werden:als das, was sich nicht von selber verstanden hat und ver-steht. Ihr Tod muß sein. Warum sollte aber ihre Geburtsein?

Mehr noch indessen wird die Geburt als EntscheidungÅber eine unentschiedene, offene Zukunft von potentiel-len Eltern und Kindern zur Frage. Angesichts der MÇg-lichkeit, daß Åber sie alternativ entschieden werden kÇnn-te, werden wiederum in einer Art »RÅcklaufen in die Ge-burt«, dem Pendant des Heideggerschen »Vorlaufen in denTod«, frÅhere Geburtsentscheidungen problematisiert.

Ohne Geburt aber auch kein Tod. Sie ist der Anfangvom Ende, der Archimedische Punkt, von dem alle weite-ren Daseinsfragen abh�ngen, die Bedingung aller Lebens-mÇglichkeit und -wirklichkeit und damit auch der Un-mÇglichkeit aller weiteren MÇglichkeit, die der Tod ist.

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»Rittlings geb�ren sie Åber dem Grabe und eine schwereGeburt« – so die Verklammerung von Geburt und Tod inSamuel Becketts Warten auf Godot, der zusammen mit demEndspiel das prek�re Gewinnspiel des Lebens wie kein an-derer Autor auf die BÅhne des Lebenstheaters gebracht hat.

Den »GebÅrtigen« als den natalen Zwillingen der»Sterblichen« fehlt es also nicht an Motiven und AnstÇßen,die Geburt zu problematisieren, sie gleichsam zu entnatu-ralisieren. Diese Arbeit scheinen ihnen derzeit freilich dieBiowissenschaften und -technologien wie die Pr�- undPerinatalmedizin abzunehmen – mit der Einschr�nkungnur, daß noch der fortgeschrittenste Fortschritt zur »an-thropotechnisch« verstandenen »optionalen Geburt« von�ltesten Gewißheiten ausgehen zu kÇnnen glaubt: daßdas Leben prinzipiell ein »Geschenk« und die Welt ein»Licht« sei. So wollten und so wollen es die Leitmetapherndes »gebÅrtigen« Lebens, in denen sich bisher zumeist eindankbares und Dankbarkeit forderndes LebensgefÅhl aus-gesprochen hat.

Soweit es philosophisch wurde, n�hrte es sich aus demGrund-Satz der abendl�ndischen Metaphysik, fÅr die dasSein per se das Gute, ja, das hÇchste aller GÅter war. Der»gebÅrtliche« Weg zum Sein konnte unter dieser Voraus-setzung nicht fraglich werden. SchÇpfung und Geburt wa-ren vielmehr folgerichtig das WÅnschenswerteste, eben»Geschenk des Lebens«, der Weg ins Licht.

Mit diesem abendl�ndischen Seinspositivismus – imwertenden Sinn verstanden – ging freilich ein forcierterNegativismus einher: Tod und Sterben waren gleichbe-deutend mit der Beraubung des Geschenks, der Verdunke-lung des Lichts.

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Doch gerade hier liegt die Verheißung einer neuenLebenskunst, die der abendl�ndischen Tradition und ihrenPositiv- und Negativkonnotationen von Geburt und Todentgegenzustellen ist: Zwischen der bisher federfÅhrendennatalen Euphorie und der zugehÇrigen letalen Depressionkann sie einen mittleren Weg erÇffnen.

Die folgenden zwei Essays handeln in dieser Intention»vom Anfang und vom Ende, von Geburt und Tod«. Dererste schließt in revidierter und komprimierter Form anmein 2006 erschienenes Buch Natalit�t. Philosophie der Ge-burt (Die Graue Edition, Kusterdingen) an. Beide EssaysfÅhren Fragestellungen meines 1999 in der Erstausgabe,2006 in der siebenten Auflage erschienenen Buchs Nichts.Abschied vom Sein. Ende der Angst (Haffmans Verlag beiZweitausendeins) fort.

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Vom Anfang und vom Anfangen

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I. Ex occidente lux

Orientiert man sich an den Metaphern, welche die Him-melsrichtungen der Weltkulturen bezeichnen, so scheintder Orient den Anfang, den Sonnenaufgang, zu verheißen:

»Ex oriente lux, aus dem Osten das Licht«.

Der Okzident hingegen deutet auf das Ende, das Tages-ende, den Sonnenuntergang. Aber diese Metaphern fÅhrenin die Irre. Der Orient, der buddhistische jedenfalls, isteher dem »ErlÇschen«, im Sanskrit: dem »Nirwana«, derBefreiung aus dem Kreislauf der Geburten, zugeneigt. Er-lÇsen und ErlÇschen bilden den Reim, den er sich auf dasleidhafte Dasein macht, auf den »Durst«, immer wiederdavon zu trinken. Der Okzident, das von der griechisch-rÇmischen Antike und dem Christentum gepr�gte soge-nannte »Abendland«, setzt weit mehr auf die Anf�nge, auchwenn es manchmal vom »Ende der Geschichte«, traditio-nell sogar vom »Ende aller Dinge«, von GÇtter- undMenschheitsd�mmerung, ja, von seinem eigenen Unter-gang, gesprochen hat. Doch lieber sagt es:

»Es werde Licht! Ex occidente lux!«Die Metaphysik des Abendlandes ist Lichtmetaphysik.

Und noch seine Apokalypsen verwindet es in dem trium-phierenden Anfang und Aufgang eines neuen, des wahren,des ewig w�hrenden letzten �ons, in dem nach seinerEschatologie, der Lehre vom �ußersten, Ende und Voll-endung endlich zusammenfallen werden.

Aus der Genesis wiederum, dem Buch der SchÇpfung,

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deren Echo vom Anfang des Johannes-Evangeliums bis zuHaydns SchÇpfungsmusik, ja, bis zu Friedrich Nietzschesund Richard Strauss’ nur scheinbar gottesmÇrderischerZarathustra-Tondichtungwiderhallt, sprichtdasAufbruchs-pathos einer kosmischen, einer ontologischen OuvertÅre.Wo vorher das Tohuwabohu oder gar nichts gewesen war,hatte der SchÇpfergott seinen Lichtbefehl gegeben. Undalles Geschaffene war – er hatte das jedenfalls so gesehen –»sehr gut« (»panta kala lian«), sowohl was von ihm geschaf-fen worden war, wie, daß er Åberhaupt etwas geschaffenhatte. Die im Zeichen der Genesis stehende Frohe Bot-schaft ist die des »Logos«, der »im Anfang« das vom GeisterfÅllte schÇpferische Wort war. Und das von ihm geschaf-fene Leben war das Licht, das den Menschen leuchtete. Dieheilige Dreifalt von Logos, Licht und Leben steht Åbereiner SchÇpfung, die der Beginn eines Lichtfestes ist.Nur die Finsternis hat das Licht ihrem Wesen gem�ß nichtergriffen.

Doch diese Finsternis, wie sie vor der SchÇpfung warund zum Ende hin fÅr einen eschatologisch riskanten Mo-ment zu obsiegen droht, ist bestimmt, vom Licht besiegt zuwerden. Ende wie Anfang sind auf denselben »Lichtton«gestimmt, den selbst Paul Celan in der Welt der Todesfugenoch als seine »Fadensonnen Åber der grauschwarzen �d-nis« leuchten l�ßt:

Ein baum-hoher Gedankegreift sich den Lichtton: es sindnoch Lieder zu singen jenseitsder Menschen.

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II. Philosophie der Initialit�t

Jenseits aller geschichtlichen Verschattungen leuchtet dasokzidentale Licht Åber der individuellen Genesis: Mit je-dem einzelnen geht eine Sonne auf. Und Åber jedem ein-zelnen geht die Sonne des Lebens auf. Der vom manich�i-schen Licht-Dunkel-Dualismus bekehrte KirchenvaterAugustinus hat den Dreiklang von Leben, Licht und An-fang verkÅndet:

»Hoc (initium) ergo ut esset, creatus est homo, ante quemnullus fiut«, »damit ein Anfang sei, wurde der Mensch ge-schaffen, vor dem es niemand gab«, heißt es im zwÇlftenBuch De Civitate Dei. Das ist der Augustinische Initialsatzder Geburtsphilosophie.

In der »imitatio creatoris«, der Nachfolge des SchÇpfers,standen auch die menschlichen GeschÇpfe untereinandergem�ß dem von ihm erlassenen Fruchtbarkeits- undMehrungsgebot in einem rundum positiven, gottgewoll-ten Schaffenszusammenhang. Die Eltern als geschaffeneSekund�rschÇpfer »schenkten« ihren Kindern als Sekun-d�rgeschÇpfen »das Leben«, auf daß diese in der Stunde derGeburt frohgemut »das Licht der Welt« erblickten.

Noch eineinhalb Jahrtausende nach Augustinus schließteine jÅdische Philosophin, die genug von der DÅsternis desLebens in der Unheilsgeschichte, vom Verenden der Opferund der bÇsen Banalit�t der MÇrder gesehen hat, an dieAugustinische Premierenfeier der SchÇpfung an: HannahArendt. In der von Augustinus so nachdrÅcklich betontenAnf�nglichkeit findet sie das Gegengewicht gegen den To-talitarismus der Epoche, zumal den des NS-Systems, das

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den individuellen Menschen von seiner rassischen Zuge-hÇrigkeit her definiert und so jede Anf�nglichkeit demen-tiert. Schon als Doktorandin bei Augustinus in die Schuleseines Liebesbegriffs gegangen, hat Hannah Arendt sichvon seinem Anfangspathos begeistern lassen.

Mit Erstaunen registriert sie die Geburtsvergessenheitder abendl�ndischen Philosophie:

»MerkwÅrdigerweise hat [. . .] noch keine Philosophie,auch keine politische Philosophie, sich dazu vermocht,den Menschen auf seine ›GebÅrtlichkeit‹ hin anzuspre-chen.« H�tte Augustinus nur die Folgerungen aus seinemInitialsatz gezogen, »so h�tte er die Menschen nicht, wiedie Griechen, als Sterbliche definiert, sondern als ›Gebo-rene‹«. Eben das tut Hannah Arendt. »GebÅrtlichkeit« istfÅr sie »ein so entscheidendes, Kategorien-bildendes Fak-tum [. . .], wie die Sterblichkeit seit eh und je und imAbendland zumindest seit Platon der Tatbestand war, andem metaphysisch-philosophisches Denken sich entzÅn-dete«.

Seinen schÇnsten Ausdruck findet Arendts Entdeckungder »GebÅrtlichkeit« mit der frei angeeigneten messia-nisch-christlichen wie der rÇmischen Tradition der viertenEkloge Vergils in dem Satz:

»Ein Kind ist uns geboren.«Doch fÅr Hannah Arendt ist dieses Kind in allen »Neu-

ankÇmmlingen« geboren. Der Welt obliegt es, sie will-kommen zu heißen und ihre Anf�nglichkeit nicht zu ne-gieren.

Die Lehre von der »Natalit�t«, die Hannah Arendt derFavorisierung der Mortalit�t, des »Seins zum Tode« in derPhilosophie ihres ehemaligen Geliebten Martin Heideg-

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ger, entgegenstellt, steht sogar im Zeichen einer poten-zierten Anf�nglichkeit:

»Seine [des Menschen] Erschaffung ist nicht der Beginnvon etwas, das, ist es erst einmal erschaffen, in seinemWesen da ist, sich entwickelt, andauert oder auch vergeht,sondern das Anfangen eines Wesens, das selbst im Besitzder F�higkeit ist anzufangen: es ist der Anfang des Anfangsoder des Anfangens selbst. Mit der Erschaffung des Men-schen erschien das Prinzip des Anfangs, das bei der SchÇp-fung der Welt noch gleichsam in der Hand Gottes unddamit außerhalb der Welt verblieb, in der Welt selbst[. . .] Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Weltder Menschen ein [. . .], und diese Einschaltung ist wie einezweite Geburt [. . .] Dem Anfang [. . .], der mit unsererGeburt in die Welt kam«, entsprechen wir dadurch, »daßwir selbst aus eigener Initiative etwas Neues anfangen.«

Wenn also SchÇpfung immer Anfang ist, so ist die Erschaf-fung, die Geburt des Menschen der Anfang eines im Han-deln selber anfangenden Anfangs. In einem auszeichnen-den Wechselverh�ltnis korrespondieren die Anf�nge ein-ander: Die Geburt ist weniger die Bedingung als dieErÇffnung einer im emphatischen Sinn »initiativen« Exi-stenz – so wie diese als solche die Geburt best�tigt, ja feiert.Geburt ist Anfang – Anfang Geburt. Die Menschen als die»GebÅrtigen« sind gleichsam Initiale des Lebens. Und dieseInitialit�t l�ßt sie an einer fortw�hrenden SchÇpfung teil-haben, die den Namen der »vita activa« tr�gt. Der Anfangsiegt Åber das Ende, das ErÇffnende Åber das De-Finierte.

Initialit�t ist zugleich die Kategorie, in deren Zeichen

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auch alle Neuanf�nge in Geschichte und Politik – Revolu-tionen, Reformen – stehen. Restaurationen hingegen sindpolitische Abtreibungsversuche des Anf�nglichen undNeuen; Diktaturen, Totalitarismen gleich welcher Prove-nienz der Mord daran. �ber Welt und Geschichte – soHannah Arendts fast Blochsche frohe Botschaft vom No-vum, welches die Wiederkehr des schlechten Gleichenbricht – liegt der Glanz, ja die Aureole eines gleichsam»ab ovo«, a novo datierenden Neuanfangs, der sich derGnade – nicht der sp�ten, sondern der initialen Geburtund des initiativen Handelns verdankt: des Anfangs, dendie Menschen als die »GebÅrtigen« haben, den sie ma-chen und der sie sind.

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