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Leseprobe Ziege, Eva-Maria Antisemitismus und Gesellschaftstheorie Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1913 978-3-518-29513-7 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Ziege, Eva-Maria

Antisemitismus und Gesellschaftstheorie

Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1913

978-3-518-29513-7

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuchwissenschaft 1913

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W�hrend Horkheimer und Adorno an der Dialektik der Aufkl�rung schrie-ben, begannen sie mit Vorarbeiten zu einem heute vergessenen empirischenGroßprojekt: 1944 untersuchte das Institut f�r Sozialforschung in engerKooperation mit dem Jewish Labor Committee, wie sich der Weltkrieg undder Vçlkermord an den Juden Europas auf den amerikanischen Antisemitis-mus auswirkten. Diese Konfrontation mit der Gesellschaft ihres Exils veran-laßte die Protagonisten der Kritischen Theorie zu einer wesentlichen Ver�n-derung ihrer Theoriebildung. Zieges Buch deckt das »missing link« zwischender Dialektik der Aufkl�rung und The Authoritarian Personality auf. Es re-konstruiert die Exilarbeiten der Frankfurter Schule nicht nur im wissen-schaftlichen, sondern auch im politischen Feld und macht sichtbar, wie sichdie »amerikanische Erfahrung« produktiv in ihren Werken niederschlug.

Eva-Maria Ziege ist Soziologin und DAAD Visiting Associate Professor ander University of Washington in Seattle. Zuvor war sie Wissenschaftliche Mit-arbeiterin am Seminar f�r Kulturwissenschaft der Humboldt-Universit�t zuBerlin.

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Eva-Maria ZiegeAntisemitismus

und GesellschaftstheorieDie Frankfurter Schuleim amerikanischen Exil

Suhrkamp

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f�r Angelo

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in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet �ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1913Erste Auflage 2009

� der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyUmschlag nach Entw�rfen

von Willy Fleckhaus und Rolf StaudtISBN 978-3-518-29513-7

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil . . . . . . . 19Splendid Isolation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19Autonomie und Heteronomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 24Empirie und Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30Die Frankfurter Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34Verallt�glichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

II. Antisemitismus und Anti-Antisemitismus in den USA . . . 52Roosevelts »New Deal« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52»Jew Deal« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54American Jewish Committee . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61Jewish Labor Committee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72Fl�chtlinge und Zwangsmigration . . . . . . . . . . . . . . . 82Weltkrieg und Vçlkermord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

III. »Elemente des Antisemitismus« in der Dialektik derAufkl�rung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Die Dialektik der Aufkl�rung . . . . . . . . . . . . . . . . . 95Antisemitismus und Kapitalismuskritik . . . . . . . . . . . . 108Das Antisemitismusthema im philosophischen Spezial-diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119»Elemente des Antisemitismus« (1944) . . . . . . . . . . . . 123Ticketdenken (1947) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

IV. Faschismusgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136»Auf dem Weg zu einer Theorie des Antisemitismus?« . . . 136»Kartell« und »selbst�ndiger Kleinbetrieb« . . . . . . . . . . 152Produktionsbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156Maximalprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160»This can happen here« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

V. Kulturanthropologie der Gastgesellschaft . . . . . . . . . . . 180Kulturelles Muster: antisemitisch . . . . . . . . . . . . . . . 180Feldforschung unter amerikanischen Arbeitern . . . . . . . 186

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Das Paradigma der Fabrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190Der Fabrikarbeiter als Interviewer . . . . . . . . . . . . . . . 195»The Dumb Rebel« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202Kriegsablehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207Vçlkermord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211Juden und Schwarze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218»Totalitarismus« versus »Amerikanismus« . . . . . . . . . . . 221Der »potentielle Faschist« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

VI. Vorurteilsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229Vom Auftragnehmer zum Auftraggeber . . . . . . . . . . . . 229Studies in Prejudice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233Kriegsveteranen nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . 237Antisemitismus als Massenware . . . . . . . . . . . . . . . . 243»Pre-Nazi Architects of Hitler’s Atrocities« . . . . . . . . . . 247Transatlantischer Wissenstransfer . . . . . . . . . . . . . . . 252Geschenk und Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256Aktionsforschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260Europ�ische Konzepte und amerikanische Methoden . . . . 264The Authoritarian Personality . . . . . . . . . . . . . . . . . 270Reemigration und Neugr�ndung in Westdeutschland . . . 278US-Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Abk�rzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . 285

AnhangA. Inhaltsverzeichnis Antisemitism among American Labor . 323B. Detailliertes Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . 325C. Der Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338D. Auszug: Portrait of a Potential American Fascist . . . . . 342

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346

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Einleitung

Am 9. Mai 1945, anl�ßlich der Befreiung Deutschlands von der NS-Diktatur, schreibt Theodor W. Adorno an Max Horkheimer:

Lieber Max, ich habe das Bed�rfnis, Ihnen heute ein paar Zeilen zu schrei-ben, ohne daß eine ›pragmatische‹ Notwendigkeit vorl�ge, lediglich weil esschade ist, daß wir das Ende der Nazis nicht zusammen erlebt haben. Schließ-lich ist das Hitlerregime die unmittelbare Ursache aller �ußeren Entwicklun-gen in unserem Leben w�hrend der letzten zwçlf Jahre und die Erwartung,daß es anders kommen mçchte, eine der entscheidenden Kr�fte, die unsam Leben hielten, w�hrend andererseits die Tatsache, daß unser beider Lebenein gemeinsames geworden ist, vom Faschismus gar nicht getrennt werdenkann, so daß Gl�ck und Ungl�ck durch diese Phase sich f�r uns unauf lçslichverschr�nkt haben. Und es ist merkw�rdig, daß dann doch das Leben ein sol-ches Eigengewicht annimmt, daß jene Veranlassung im Bewußtsein ganz zu-r�cktritt, so wie im Laufe der langen Existenz des Faust die Wette in Verges-senheit ger�t, an die sein Schicksal gekn�pft war, und die dann nur am Endenotd�rftig und eilig dem Mephistopheles nochmals einf�llt, der sie im Grun-de gewinnt, ohne daß das aber gegen�ber dem verselbst�ndigten Leben wirk-lich noch etwas Entscheidendes bedeutet.1

Ein Jahrzehnt, von 1939 bis 1949, arbeitet die Gruppe �berwiegenddeutsch-j�discher Intellektueller um Max Horkheimers FrankfurterInstitut f�r Sozialforschung zum Thema des Antisemitismus in dermodernen Gesellschaft. 1932/33 verl�ßt sie, fast geschlossen, das na-tionalsozialistische Deutschland und emigriert ab 1934 mit Statio-nen in Genf, Paris oder London sukzessive in die USA, wo sie inder intellektuellenfreundlichen Atmosph�re der Roosevelt-�ra groß-z�gig aufgenommen und ihr Institut an die New Yorker ColumbiaUniversity angebunden wird. Mit dem Beginn des Zweiten Welt-kriegs und des deutschen Vçlkermords an den europ�ischen Judenwird der Antisemitismus in das Zentrum der Institutsarbeit r�cken.Das geschieht aufgrund von drei zeitgeschichtlichen Erfahrungen,

die sie, wie die linken Intellektuellen ihrer Generation insgesamt, pr�-gen: »die politischen Entt�uschungen �ber die ausgebliebene Revolu-tion im Westen, �ber die stalinistische Entwicklung in Sowjetruß-

1 Adorno an Horkheimer, 9. 5. 1945, Nr. 357, Horkheimer/Adorno, Briefwechsel, Bd.III: 1945-1969, Frankfurt/M. 2005, S. 100f.

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land und �ber den Sieg des Faschismus in Deutschland«.2 Ihr Ziel:Eine kritische Theorie der Gesellschaft, die auf der Annahme beruht,die Gesellschaft bestehe aus sozialen Klassen und ihre Dynamikwerde von Klassenk�mpfen gepr�gt. Die marxistische Prognose, diedaraus resultierende Dynamik werde zu einer revolution�ren Umw�l-zung f�hren, deren Form die einer »Diktatur des Proletariats« seinkçnnte, schl�gt fehl. Trotzdem bricht die Gruppe nicht mit den mar-xistischen Intentionen,3 damit die Menschheit und ihre Kultur nichtunter einer Diktatur von milit�rischen, industriellen und administra-tiven B�rokratien verkomme.4

Zentrale Arbeitshypothese der fr�hen 40er Jahre ist, daß der Anti-semitismus zwar nur durch die Gesellschaft verstanden werden kann,aber die Gesellschaft nunmehr nur noch durch den Antisemitismuszu verstehen ist. »Kritische Theorie« wird mit einem ber�hmten Auf-satz Horkheimers zu einem denMarxismus verdeckenden Euphemis-mus f�r Gesellschaftswissenschaft, die die Gesellschaft ver�ndernwill, sich aber von der Arbeiterklasse als revolution�rem Subjekt ver-abschiedet hat.5

Erst seit den sp�ten 60er Jahren wird das Institut f�r Sozialfor-schung als »Frankfurter Schule« weltber�hmt. Bis heute ist sie ein-zigartig, nicht nur wegen ihres normativen Anspruchs f�r die Gei-steswissenschaften und wegen der systematischen Bedeutung derSoziologie und Sozialpsychologie des Antisemitismus f�r die Gesell-schaftstheorie. Einzigartig ist auch die personelle Konstellation vonkaum zu �bersch�tzender Ausstrahlungskraft. In ihrem Mittelpunktsteht Max Horkheimer als zentrale Figur der kleinen Arbeitsgemein-schaft. Mit leichter Ironie bezeichnet er sein Direktorat an dem vonihm seit 1930 geleiteten Institut f�r Sozialforschung als »Diktaturdes Direktors«. Er will erkl�rtermaßen das interdisziplin�re Mitein-ander von Philosophie und Soziologie in planvolle Arbeit verwan-deln und Theorie und Empirie miteinander verbinden.6 Theodor

2 Habermas, J�rgen, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwçlf Vorlesungen,Frankfurt/M. 1985, S. 141.

3 Vgl. ebd.4 Vgl. Horkheimer, Max, [»Idee, Aktivit�t und Programm des Instituts f�r Sozialfor-

schung«] (1938), in: HGS, Bd. 12, S. 135-164, hier S. 142.5 Horkheimer, Max, »Traditionelle und Kritische Theorie«, in: ZfS 6 (1937), S. 245-

294, in: HGS, Bd. 4, S. 162-216.6 Vgl. die programmatische Antrittsvorlesung von Max Horkheimer: »Die gegenw�r-

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W. Adorno wird zu einer der bedeutendsten Figuren der Philoso-phie und Musiktheorie des 20. Jahrhunderts, der Philosoph HerbertMarcuse eine Schl�sselfigur der Gesellschafts- und Kulturkritik der68er, Erich Fromm weltbekannter Sozialpsychologe und Bestseller-autor. Der innovative Literatursoziologe Leo Lçwenthal wird nichtzuletzt Zeitzeuge einer politischen Generation prominenter Emi-granten, Karl August Wittfogel ein f�hrender und hochkontrover-ser Ostasienexperte der Vereinigten Staaten. Friedrich Pollock bleibtals �konom einer breiteren �ffentlichkeit unbekannt, ist aber eineSchl�sselfigur f�r das Institut f�r Sozialforschung (IfS) und dessenTheoriebildung.

Nicht nur der engere Kreis im Zentrum des IfS ist von Interesse,sondern auch die Mitarbeiter an seiner Peripherie. Der Philosoph,Kunsttheoretiker und Essayist Walter Benjamin ist der heute ber�hm-teste. Marie Jahoda, Pionierin der empirischen Sozialforschung, ge-hçrt zu dem Autorenkreis der UNESCO f�r eine Schriftenreihe �berden Rassismus. Der Politologe Franz L. Neumann schreibt mit demBehemoth den bis heute nicht �berholten Klassiker �ber den Natio-nalsozialismus. Paul F. Lazarsfeld begr�ndet in persona eine ArtGroßunternehmen der amerikanischen Soziologie und ein NetzwerkimDreieck�sterreich,USA, Frankreich. Das theoretische undmetho-dologische Potential der Medienforschung Herta Herzogs gewinntseit kurzem in poststrukturalistischen Ans�tzen neue Beachtung.Die Sozialforscherin Mirra Komarovsky, die die erste amerikanischeStudie f�r das IfS durchf�hrt, realisiert von den 40er Jahren bis in die70er eine Reihe empirischer Studien; 1973 als zweite Frau zur Pr�si-dentin der American Sociological Association gew�hlt, gilt sie heuteals Pionierin der Gender Studies.Alle sind Migranten oder Fl�chtlinge, viele stammen aus assimi-

lierten j�dischen Elternh�usern. Kaum einer ist so eng mit dem or-thodoxen Judentum verbunden wie Fromm. Alle sind in den 30erJahren der Linken im weitesten Sinne zuzuordnen, von den Kommu-nisten und in seltenen F�llen sogar Anarchokommunisten bis hin zusozialdemokratischen Strçmungen. Davon unabh�ngig ist dem inne-ren Kreis die Orientierung an der Kritik der politischen �konomievon Marx gemeinsam. F�r die meisten kann man von einer ver-schwiegenen Orthodoxie sprechen.

tige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts f�r Sozialfor-schung«, 24. 1. 1931, gehalten in Frankfurt am Main, in: HGS, Bd. 3, S. 20-35.

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Alle sind mehr oder weniger von Freuds Psychoanalyse beinflußt,die den Begriff des Unbewußten in die Analyse von Individuumund Gesellschaft einf�hrt und mit dem Begriff der Libido die Sexua-lit�t als Motor dynamischer Prozesse von der Individualpsychologiein die Gesellschaftsanalyse transferiert. Den sogenannten »Sozial«-oder »Gesellschaftscharakter« des Individuums begreift man dabeials Ausdruck seiner Klassenlage, die jeweilige Ausbildung der Libidoals Kitt der Gesellschaft, die die gesellschaftlichen Antagonismen�berbr�ckt. Es entsteht eine besondere Form von Freudo-Marxis-mus, die nach 1945 latent und nach vorwegnehmenden Interventio-nen Marcuses in den 50er Jahren ab Ende der 60er Jahre wieder ma-nifest wird.Mit zwei Publikationen, der Dialektik der Aufkl�rung von Hork-

heimer und Adorno (1944/1947) und The Authoritarian Personalityvon einer siebenkçpfigen Autorengruppe (1950), ist das IfS weltbe-r�hmt geworden. Wenige Publikationen kçnnen ein vergleichbaresEcho verbuchen. Die Wirkungsgeschichte der Dialektik der Aufkl�-rung ist spektakul�r. Trotz der kleinen Auflage von 1947, die sich zu-n�chst zwanzig Jahre lang eher schleppend verkauft, hat der Bandeinen einzigartigen Einfluß auf die geistige Entwicklung West-deutschlands; er gilt als Schl�sseltext »der intellektuellen Gr�ndung«der Bundesrepublik.7 Erst 1969, nach langem Zçgern, genehmigtHorkheimer eine leicht zug�ngliche Neuausgabe. Die Rezeption,der diese stille Aneignung vorausgeht, entwickelt sich in den folgen-den 30 Jahren exponentiell. In den USA ist The Authoritarian Perso-nality sofort nach Erscheinen vergriffen. Rasch folgen Neuauflagen,kommentierende und erweiternde Sammelb�nde, F�hrer zur schnellun�berschaubaren Sekund�rliteratur und eine anhaltende Forschungs-welle, die die Studie bis heute generiert.Neben diesen beiden legend�ren Klassikern des 20. Jahrhunderts

werden weitere Studien geschrieben, die 1949/50 mit The Authoritar-ian Personality teilweise in der Reihe Studies in Prejudice erscheinen.Zwischen der Dialektik der Aufkl�rung und den Studies in Prejudiceentsteht aber 1944/45 eine zus�tzliche Großstudie, die heute nahezuvergessen ist: Antisemitism among American Labor.8 Die Laborstudy

7 Vgl. Albrecht, Clemens, Behrmann, G�nter L./Bock, Michael et al., Die intellektu-elle Gr�ndung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule,Frankfurt/M./New York 1999.

8 Antisemitism among American Labor. Report on a Research Project conducted by the

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ist der letzte große und noch heute unverçffentlichte Forschungsbe-richt des IfS. Auf fast 1500 hektographierten Seiten wird der Antise-mitismus der Kriegsjahre untersucht – wie sich der Zweite Weltkrieg,der Nationalsozialismus, die Haltung zu Deutschland als Kriegsgeg-ner der Vereinigten Staaten und die Berichte �ber die deutschenKriegsverbrechen und den millionenfachen Vçlkermord an den euro-p�ischen Juden in Medien und Kriegspropaganda auf antij�discheEinstellungen in der US-Arbeiterschaft auswirken.

Obwohl in den USA seit den sp�ten 30er Jahren zahlreiche Umfra-gen zum Antisemitismus durchgef�hrt wurden, fragte fast keinenach den Auswirkungen des Genozids auf die amerikanische �ffent-lichkeit, von qualitativen Analysen ganz zu schweigen. Das sollte sicherst seit den 70er Jahren �ndern. Es ist eine Schl�sselfrage der La-borstudy. Im Lauf seiner Untersuchungen gelangt das Institut f�rSozialforschung zu der Unterscheidung zwischen dem »antisemitismfavoring extermination«9 der Nationalsozialisten in Europa und ei-nem »cultural pattern«10 des gesellschaftlichen Antisemitismus inden USA. Seine auf umfangreichem Interviewmaterial beruhendeHypothese lautet: Der Antisemitismus in Nordamerika ist durchdie Berichte �ber den »exterminative antisemitism« in Europa nichtverringert, sondern signifikant gesteigert worden.Antisemitism among American Labor bildet gewissermaßen das

»missing link« zwischen der Dialektik der Aufkl�rung und The Au-thoritarian Personality. Die Laborstudy ist das »blue-collar« und dasmultikulturelle Pendant zu The Authoritarian Personality, wo es umweiße Mittelschichtsamerikaner geht. Gemeinsam ist den beidenStudien ein qualitatives, nicht quantitatives Forschungsinteresse:»the nature, not the extent of antisemitism«. In beiden Studien wirdAntisemitismus nicht durch einen Inhalt (»Was denken Antisemi-ten?«), sondern durch eine Differenz bestimmt (»Wie denken Antise-miten im Vergleich zu Nichtantisemiten?«).The Authoritarian Personality wurde gelegentlich als radikale Ab-

kehr von der Kritischen Theorie interpretiert. In den philosophischen

Institute of Social Research (Columbia University) in 1944-1945, 4 hekt. Bde., 1449S., MHA IX 146. 1-23; weiteres Exemplar in den Records des Jewish Labor Com-mittee (U. S.) der Holocaust Era Files in The Tamiment Library & Robert F. Wag-ner Labor Archives (RWLA) in New York.

9 Ebd., S. 790.10 Ebd., S. 1160.

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Vorannahmen ist Antisemitism among American Labor der Dialektikder Aufkl�rung von 1944 tats�chlich n�her als The AuthoritarianPersonality. Das liegt an den unterschiedlichen Autorengruppen.Nur Adorno ist an beiden Studien beteiligt, jedoch an letzterer miteinem ganzen Stab von Mitarbeitern. Die drei wichtigsten Mit-autoren von The Authoritarian Personality sind keine Vertreter derKritischen Theorie und bringen aus der behavioristischen amerika-nischen Psychologie, der çsterreichischen Psychologie der B�hler-Schule und dem logischen Positivismus des Wiener Kreises dispa-rate, ja zum Teil der Kritischen Theorie scheinbar entgegengesetzteElemente ein.Anders als The Authoritarian Personality geht es Antisemitism

among American Labor nicht um eine Sozialpsychologie von Antise-miten. Die Autorengruppe dieser Studie verfolgt ein sozialpolitischesZiel und steht in einer direkten Linie zum »alten« marxistischen IfSder 20er Jahre unter der Leitung von Horkheimers Vorg�nger, demNationalçkonomen Carl Gr�nberg. W�hrend The Authoritarian Per-sonalitymit Recht als echte Synthese kulturell bedingter Forschungs-stile aus Europa und den USA eingesch�tzt wird, ist Antisemitismamong American Labor eine Untersuchung von deutschen und çster-reichischen Exilanten �ber den Zusammenhang von antisemitischenund antidemokratischen Einstellungen in der nordamerikanischenArbeiterschaft w�hrend des Zweiten Weltkriegs, angesichts immerdichterer Informationen �ber das Ausmaß der deutschen Verbre-chen. Sie entsteht bereits im Kontext der sich abzeichnenden Spal-tung der Welt in die feindlichen Machtblçcke von USA und Sowjet-union.

*

Das vorliegende Buch versucht, die Gesellschaftstheorie des IfS undseine Antisemitismusprojekte in eine neue Perspektive zu r�cken undf�r die aktuelle Antisemitismus- und Vorurteilsforschung fruchtbarzu machen, indem es unbekannte Forschungsinhalte und vernach-l�ssigte Aspekte seiner Forschungspraxis im wissenschaftlichen undpolitischen Feld der USA rekonstruiert. Ich verstehe es auch als Bei-trag zur Wissenschaftsgeschichte der Soziologie und zu einer Sozio-logie der Soziologie. Erkenntnisleitend sind Modelle der Bildungvon »Schulen« in den Sozial- und Geisteswissenschaften, das Span-nungsverh�ltnis von Autonomie und Heteronomie in der Wissen-

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schaftsproduktion und die Frage nach Bedingungen wissenschaft-licher Innovation. Diese Gesichtspunkte werden im ersten Kapitelentwickelt.Die Antisemitismusforschung entsteht in der �ra der Eskalation

des Antisemitismus. Das zweite Kapitel stellt deshalb die Konstella-tionen im politischen Feld der USA mit dem Schwerpunkt der j�-disch-nichtj�dischen Beziehungsgeschichte dar. Das dritte Kapitelbesch�ftigt sich mit den Antisemitismusthesen in der Dialektik derAufkl�rung; daran schließt das vierte Kapitel mit einer Skizze derEmergenz der Antisemitismusprojekte des IfS im Kontext der US-Forschung der 40er Jahre an. Das f�nfte Kapitel ist eine Darstellungvon Antisemitism among American Labor als einer Kulturanthropolo-gie der Gastgesellschaft. Eine damalige Schw�che der Laborstudy, diesich in Teilen nahezu auf eine Kompilation von Interviewmaterial be-schr�nkt, stellt heute eine St�rke dar, weil sie uns ein unbekanntesund dichtes Interviewmaterial �ber amerikanische Wahrnehmungendes deutschen Vçlkermords an den Juden Europas liefert, dem ichentsprechend Raum gegeben habe. Das letzte Kapitel diskutiert dieStudies in Prejudice.All das beruht in wesentlichen Teilen auf bisher unausgewerteten

Quellen, besonders dem unverçffentlichten Forschungsbericht Anti-semitism among American Labor, der die Forschung bisher kaum in-teressiert hat, sowie Briefen, Arbeitsunterlagen, Memoranden undanderen Quellen. In diesem Zusammenhang kann die Arbeit desHorkheimer-Pollock-Archivs der Stadt Frankfurt kaum �bersch�tztwerden. Die Emigrationszeit wird durch die von diesem und demFrankfurter Adorno-Archiv edierten Briefe außerordentlich pla-stisch. F�r die vorliegende Untersuchung besonders wichtig war die2006 abgeschlossene Edition des Briefwechsels zwischen Horkhei-mer und Adorno mit umfangreichen Anh�ngen, die neue Wahrneh-mungen ihrer Arbeitsbeziehung ermçglicht.11

�berraschend ist, daß die nordamerikanischen Archive trotz derlangen Exilzeit f�r Arbeiten �ber das IfS bisher nicht genutzt wur-den.12 F�r die vorliegende Studie wurden Akten des American Jewish

11 Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max, Briefwechsel, Bd. I-IV, 1927-1969, hg.von Gçdde, Christoph/Lonitz, Henri, Theodor-W.-Adorno-Archiv, Frankfurt/M. 2003-2006. Diese B�nde enthalten einen umfangreichen Dokumentenanhangmit Materialien aus dem Horkheimer-Pollock-Archiv der Stadt Frankfurt.

12 Nach Abschluß meines Manuskripts erschien: Fleck, Christian, Transatlantische

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Committee im YIVO Institute for Jewish Research in New York so-wie Akten des Jewish Labor Committee in den Holocaust Era Files1934-1947 der Tamiment Library & Robert F. Wagner Labor Archi-ves, ebenfalls in New York, zugrundegelegt.Die vorliegende Analyse verbindet in unterschiedlicher Gewich-

tung vier Problemstellungen. Sie beschreibt das IfS als Schule undWissenschaftsbetrieb, indem sie das Institut und einzelne Protagoni-sten als Akteure im wissenschaftlichen Feld untersucht, ihr »wissen-schaftliches Kapital« (Bourdieu), ihre Beziehung zu anderen Akteu-ren und ihre Position innerhalb der objektiven Beziehungen, diedas Feld konstituieren. Eine Eigenart einzelwissenschaftlicher Pro-duktion ist es, wie Max Weber schon emphatisch betonte, daß dieProduzenten nach kurzer Zeit in ihrem Produkt verschwinden. Wis-senschaftliche Innovationen gehen in die »normal science«, die Nor-malwissenschaft �ber, ohne daß die Begr�ndungssituation immerwieder neu zum Thema w�rde. Was zumeist bleibt, ist die �ber-nahme in Einf�hrungen, »Textbooks«, �berblicksdarstellungen undLexika. Eigennamen werden vergessen oder behalten noch Sinn f�rdie Didaktik, denn so kann man die Substanz inhaltlicher Thesencharakterisieren (z.B. Webers Protestantismusthese). Es kann gezeigtwerden, daß die Wirkung der empirischen Studien des IfS gerade dasignifikant ist, wo sie nach einer gewissen Zeit als solche gar nichtmehr erw�hnt werden, Pr�missen und soziologische Aussagen aberohne diese Pilotstudien nicht denkbar sind.Die zweite Problemstellung kreist um die Frage des Wissenschafts-

exils. Welche Rolle spielt die Zwangsmigration f�r die Innovationendes IfS? In der Wissenschaftsgeschichte des Exils ist diese Frage-stellung unter dem Stichwort »Wissenschaftswandel durch Zwangs-migration?« (Mitchell G. Ash) formuliert worden. Auf das IfS wirktsich der atlantische Transfer in doppelter Weise aus, zum einen ineiner erst im Exil entstehenden Kooperation von in Europa getrenntagierenden Gruppen, zum anderen in der Kooperation mit Univer-sit�ten, nordamerikanischen Wissenschaftlern und politischen US-Verb�nden. Paul F. Lazarsfeld zufolge sind Innovationen oft auf Per-sonen zur�ckzuverfolgen, die in zwei Welten leben, aber in keinervon beiden eine fraglose Existenz f�hren:

Bereicherungen. Zur Erfindung der empirischen Sozialforschung, Frankfurt/M.2007.

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Bei den Institutionenbildnern handelt es sich um einen Sonderfall einerwohlbekannten soziologischen Erscheinung: der randst�ndigen Person, dieTeil zweier verschiedener Kulturen ist. [. . .] In einigen F�llen verwandelt sichihre Marginalit�t mçglicherweise in die Antriebskraft f�r die Bildung von In-stitutionen; die Institution, die sie aufbaut, bietet ihr Schutz und hilft ihr zurgleichen Zeit, ihre eigene Identit�t zu verdichten.13

Diese Beschreibung scheint �ber Institutionenbildner hinaus auf in-haltlich-wissenschaftliche Innovationen verallgemeinerbar. Man kannsich Pierre Bourdieu ohne seine Herkunft aus dem B�arn und denalgerischen Erfahrungs- und Forschungshintergrund, der ihm immereinen distanzierten Blick auf die franzçsische Hochkultur bewahrte,nicht vorstellen. Man kennt aus der Theologie die Produktivit�tvon protestantischen Wissenschaftlern in der katholischen Diasporaund umgekehrt. Man weiß aus der Geschichte der Naturwissenschaf-ten, wie viele Innovationen Wissenschaftlern gelangen, die von ei-nem benachbarten Wissensfeld in ein ihnen anf�nglich unvertrautes�berwechselten, im Fall der Wissenschaftsemigration aus dem natio-nalsozialistischen Deutschland etwa von der Physik in die Biologie.Aber f�r die Situation der Emigranten in den USA kommt Lazars-

felds Marginalit�tsthese zus�tzliche Bedeutung zu. Dieses ist diedritte Problemstellung. Sie fragt nach Wissenschaftsgeschichte imKontext der j�dischen Beziehungsgeschichte. Welche Bedeutunghat das Judentum f�r die Angehçrigen des IfS? Weithin akzeptiertist Martin Jays Einsch�tzung:

In ihrem Festhalten an Marx’ Beurteilung des Antisemitismus best�tigtenHorkheimer und seine Kollegen ein Verhaltensmuster, das viele Beobachterso umschrieben haben: je radikaler der Marxist, desto weniger interessierter sich f�r die Besonderheit der j�dischen Frage. [. . .] [D]iejenigen unter ih-nen, die j�discher Abstammung waren, erachteten ihre ethnische Identit�tnur selten, wenn �berhaupt, als relevant f�r ihre Arbeit.14

Aber hatten sie �berhaupt eine ethnische Identit�t? Es muß daran er-innert werden, daß man unter dem Zwang steht, Personen, die wie

13 Lazarsfeld, Paul F., »Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialfor-schung (1968)«, in: Parsons, Talcott/Shils, Edward/Lazarsfeld, Paul F., Soziologie –autobiographisch. Drei kritische Berichte zur Entwicklung einer Wissenschaft, Stutt-gart 1975, S. 147-225, hier S. 177.

14 Jay, Martin, »Frankfurter Schule und Judentum. Die Antisemitismusanalyse derKritischen Theorie«, in: Geschichte und Gesellschaft 5 (1979), S. 439-454, hierS. 441.

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Adorno katholisch getauft, protestantisch konfirmiert und bewußtatheistisch waren, nach dem Wahnsystem der nationalsozialistischenJudengesetze zu Juden zu erkl�ren. Das erzeugt eine unheimliche Ver-wandtschaft, wie Ernst Gombrich berichtet, eigene Erfahrungen ei-nes langen Lebens ref lektierend: »Wir haben keinWort, das alle Men-schen j�discher Abstammung bezeichnet, und daher kçnnen wir nureine im Grund rassistische Terminologie verwenden.«15 Ber�hmt istder Satz Jahodas: »F�r mich ist mein Judentum erst mit Hitler einewirkliche Identifikation geworden.«16

Horkheimer schreibt 1947 an Paul Massing:

»Um �ber meinen eigenen Platz in der Welt niemals im Zweifel zu sein, halteich seit den ersten Hitler-Jahren stets ein Exemplar der ›Besonderen Lagerord-nung f�r das Gefangenen-Barackenlager‹ der ›Konzentrationslager Esterwe-gen Kommandantur‹ in meiner Schreibtischschublade bereit.«17

Wie wirkt sich diese Zurechnung zum Judentum auf die Mitglie-der der Frankfurter Schule aus, die Deutschland verlassen mußten,aber es ihrem eigenen Empfinden nach als politische, nicht als ethni-sche Fl�chtlinge taten? Wenn hier nach der Bedeutung des Juden-tums gefragt wird, geht es nicht darum, den verborgenen Kabbali-sten in Adorno aufzusp�ren oder Anteile j�discher Religiosit�t beidem sp�ten Horkheimer nachzuweisen. Horkheimer sieht sich, wiealle Intellektuellen im Exil, mit einem doppelten Antisemitismuskonfrontiert, dem »antisemitism favoring extermination«18 der Na-tionalsozialisten in Europa und einem »cultural pattern«19 des gesell-schaftlichen Antisemitismus in den USA. Diese Konstellation f�hrtzur Zusammenarbeit mit j�dischen Verb�nden, f�r die das IfS inDeutschland kein Vorbild kannte und die es mit �berraschend gegen-s�tzlichen Entw�rfen dessen konfrontierten, was es heißen kann, j�-

15 Gombrich, Ernst H., J�dische Identit�t und j�disches Schicksal. Eine Diskussionsbe-merkung,Wien 1997, S. 45.

16 Jahoda, Marie, »Es war nicht umsonst«, in: Funke, Hajo, Die andere Erinnerung.Gespr�che mit j�dischen Wissenschaftlern im Exil, Frankfurt/M. 1989, S. 336-360,hier S. 338f.

17 Horkheimer an Massing, 24. 5. 1947, Nr. 763, HGS, Bd. 17, S. 814.18 Massing, Paul, »Political Significance of Reactions to Nazism«, in: Antisemitism

among American Labor, Bd. III, S. 790.19 Pollock, Friedrich, »Cultural Pattern Antisemitic. Part Five: Opinions and Reac-

tions of Union Officers«; ebd., S. 1160.

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disch zu sein, ob Assimilation oder Setzung von Differenz.20 Dar�berhinaus begegnen die als Linke und Juden verfolgten Europ�er einemganz anderen ethnischen Problem: der B�rgerrechtsproblematik derSchwarzen. Es erstaunt, daß ihre Reaktion darauf bisher ebensovernachl�ssigt wurde wie ihre komplexe Beziehung zu den Grup-pen, die sich in den USA politisch als Juden artikulierten, und daßdie doppelte Beziehung dieser Minderheitenproblematik vergessenwurde.Vierte Aufgabe ist schließlich, in dieser Rekonstruktion der Arbeit

des IfS die unbekannten oder vergessenen Anteile zu pr�fen und zuzeigen, wie weitgespannt, interdisziplin�r, experimentell und manch-mal amateurhaft, ja wie mehr oder minder zuf�llig die Forschungs-programmatik oft verfolgt wurde. Die bekannten Arbeiten sind dieSpitze eines unter erheblichen M�hen realisierten Eisbergs. Aus heu-tiger Sicht muß dies notwendig ein verzerrtes Bild ergeben, denn das,was realisiert wurde und was wir als absichtsvolles Ergebnis interpre-tieren, war nur teilweise das Geplante. Die Entzerrungen dieses Bil-des sind mit Blick auf solche Elemente zu pr�fen, die f�r die aktuelleAntisemitismusforschung eine Basis f�r weitere Theorieanstrengun-gen bieten kçnnen.Fast alle Theorieanstrengungen gelten heute dem R�ckblick und

der Rekonstruktion, sagt Niklas Luhmann.21 Dieser Vorwurf trifftauch das vorliegende Buch. Trotzdem soll es keine Klassikerexegeseder Kritischen Theorie sein. Klassikerexegese ist soziologisch nursinnvoll, wenn die avancierteste gegenw�rtige Durchdringung einesProblems zur Verf�gung steht. Heute aber ist in Deutschland die Ge-schichtswissenschaft und nicht die Soziologie die dominierende Dis-ziplin der Antisemitismusforschung. Eine Entkoppelung von So-ziologie und Antisemitismusforschung hat Klaus Holz zufolge zurEntstehung und Verfestigung eines Methoden- und Theoriedefizitsin der Antisemitismusforschung gef�hrt.22 Da das Forschungspro-

20 Vgl. Jahoda, Marie, »Was heißt es, j�disch zu sein?«, in: dies., Sozialpsychologie derPolitik und Kultur. Ausgew�hlte Schriften, hg. v. Christian Fleck, Graz/Wien 1994,S. 252-258.

21 Vgl. Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 18.22 Vgl. Holz, Klaus, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschau-

ung, Hamburg 2001, S. 19, 21; Fine, Robert/Turner, Charles (Hg.), Social Theoryafter the Holocaust, Liverpool 2000, S. 3.

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gramm der Frankfurter Schule durch seine Verbindung von theoreti-scher und empirischer Arbeit bis heute einzigartig ist, ist es f�r einetheoretische Weiterentwicklung der sozialwissenschaftlichen Antise-mitismus- und Vorurteilsforschung zentral.

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I. Die Frankfurter Schule imamerikanischen Exil

Splendid Isolation?

Die Wissenschaftsgeschiche der Frankfurter Schule setzt zu demZeitpunkt ein, wo man mit dem R�ckzug Horkheimers aus der Uni-versit�t und dem Tod Adornos 1969 vom Ende ihrer ersten Genera-tion sprechen kann, abgelçst von der Generation der Sch�ler, derenber�hmtester der Philosoph J�rgen Habermas ist.Eine der ersten Skizzen entwarf 1971 Joachim Radkau inDie deut-

sche Emigration in den USA.1 1973 verçffentlichte der AmerikanerMartin Jay The Dialectical Imagination, das die Geschichte des IfSvon 1923 bis 1950 beschreibt.2 Auf diese Pionierarbeit, die das Insti-tut f�r Sozialforschung erstmals als Einheit konstruierte, folgten,wesentlich auf Zeitzeugengespr�chen beruhend, weitere Monogra-phien.3 Zur Literatur der sympathetischen Sch�ler zu z�hlen sindHelmut Dubiels Studie �ber die fr�he Kritische Theorie, insbe-sondere die Forschungsorganisation, und Wolfgang Bonß’ Untersu-chung �ber den Anteil der Sozialforschung an der Arbeit des IfS.1988 erschien das quellenges�ttigte und detailgenaue Standardwerkvon Rolf Wiggershaus Die Frankfurter Schule.Zwei neuere Publikationen aus dem Jahr 1999 von Alex Demiro-

vic und von einer Autorengruppe um Clemens Albrecht und G�nterC. Behrmann erg�nzen dies. Sie interpretieren die Zeit von 1949 bis1969, die Reemigration Horkheimers, Pollocks und Adornos nachWestdeutschland und die Neugr�ndung des IfS in Frankfurt, ent-schieden kontrovers. W�hrend Demirovic das Nonkonformistischeund subversiv Marxistische als Kontinuit�t herauszuarbeiten bem�ht

1 Radkau, Joachim,Die deutsche Emigration in den USA. Ihr Einfluß auf die amerika-nische Europapolitik 1933-1945, D�sseldorf 1971.

2 Jay, Martin, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und desInstituts f�r Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt/M. 1976.

3 Held, David, Introduction to Critical Theory: Horkheimer to Habermas, London/Melbourne u.a. 1980; Dubiel, Helmut,Wissenschaftsorganisation und politische Er-fahrung. Studien zur fr�hen Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 1978; Bonß, Wolf-gang, Die Ein�bung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Ver�nderung empirischerSozialforschung, Frankfurt/M. 1982, S. 154-221.

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ist,4 betonen Albrecht, Behrmann und ihre Mitautoren die Erfolgsge-schichte des IfS im Einklang mit der amerikanischen und deutschenRestaurationspolitik Westdeutschlands seit der Gr�ndung der Bun-desrepublik.5

Die Literatur �ber die Kritische Theorie, das Institut f�r Sozialfor-schung und einige seiner Protagonisten in Philosophie, Soziologie,Sozialpsychologie, P�dagogik und anderen Spezialbereichen ist zubreit gef�chert, als daß sie hier referierbar w�re.6 Breit erforscht istauch das Wissenschaftsexil durch Pionierarbeiten von Mitchell G.Ash, Alfons Sçllner und Christian Fleck. Neuerdings liegt eine n�tz-liche Kanonisierung von Schl�sseltexten vor, die den Schulcharakterder Kritischen Theorie sinnf�llig macht.7

Trotz ihres Namens wird die »Frankfurter Schule« im allgemeinennicht als Schule im soziologischen Sinn analysiert.8 Edward Tirya-kian hat ein plausibles Vorbild daf�r geliefert, das zeigt, daß dieStruktur ihrer Schulbildung dem Idealtypus seiner Beispiele (derChicago-School in der Soziologie, der Durkheim-Schule und derSchule Talcott Parsons) in vielem �hnelt.9 Zwei Beobachtungen Ti-ryakians, auf die unten zur�ckzukommen sein wird, sind wichtig:1. Jede Schule hat Vorannahmen, die als unausgesprochenes Ele-

4 Demirovic, Alex, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kriti-schen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt/M. 1999.

5 Albrecht/Behrmann/Bock et al., Die intellektuelle Gr�ndung der Bundesrepublik,Frankfurt/M./New York 1999.

6 Vgl. z.B. Bonß,Wolfgang/Honneth, Axel (Hg.), Sozialforschung als Kritik. Zum so-zialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 1982; Reijen,Willem van, Philosophie als Kritik. Einf�hrung in die Kritische Theorie, Kçnigstein/Ts. 1984; Bottomore, Tom,The Frankfurt School and its Critics, London/New York22002; Rensmann, Lars, Kritische Theorie �ber den Antisemitismus. Studien zuStruktur, Erkl�rungspotential und Aktualit�t, Berlin/Hamburg 1998.

7 Das Nachschlagewerk stellt die jeweiligen Autoren mit ihren Lebensdaten vor undfaßt wichtige Texte zusammen, allerdings fehlen langj�hrige Mitarbeiterinnen wieJahoda, Frenkel-Brunswik und Lang, ja sogar der Institutsmitbegr�nder Felix Weil,der bis in die 50er Jahre alle Projekte begleitet. Vgl. Honneth, Axel (Hg.), Schl�ssel-texte der Kritischen Theorie,Wiesbaden 2006.

8 Ausnahme ist Albrecht, Clemens, »Die Erfindung der ›Frankfurter Schule‹ aus demGeist der Eloge«, in: Albrecht/Behrmann/Bock et al., S. 21-35.

9 Tiryakian, Edward A., »Die Bedeutung von Schulen f�r die Entwicklung der Sozio-logie«, in: Lepenies, Wolf (Hg.), Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven,sozialen und historischen Identit�t einer Disziplin, Frankfurt/M. 1981, Bd. 2, S. 31-68.

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