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Generation Handy Immer auf Empfang Willkommen im Waschküchenland – so empfangen wir Einwanderer Sicher durch Basel: Unterwegs mit einem Rheinlotsen Nr. 293 | 1. bis 14. Februar 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

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Surprise Strassenmagazin 293/13

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Sicher durch Basel: Unterwegs mit einem Rheinlotsen

Nr. 293 | 1. bis 14. Februar 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

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Macht stark.

www.vereinsurprise.ch ❘ www.strassensport.ch ❘ Spendenkonto PC 12-551455-3Verein Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, Tel. 061 564 90 90, Fax 061 564 90 99

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Ihre Meinung!Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, [email protected]. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen.

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3

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Editorialhdml. lol? wtf!

Die Jugend hängt am Handy: 95 Prozent der 12- bis 19-Jährigen in der Schweiz be-sitzen heute eines, die meisten nutzen es täglich. Die dauernde Erreichbarkeit ge-hört so selbstverständlich zum Alltag wie essen, trinken und schlafen. Die meistender heutigen Teenager werden sich kaum vorstellen können, dass es einmal eine Zeitgab, als man mit einer Hampfel 20-Räpplern ausgerüstet in eine verrauchte Telefon-kabine musste, wenn man ungestört mit seiner Angebeteten telefonieren wollte.

Ist das ein Problem? Für die Eltern ist es zumindest ein Deal: Die Kids erfreuen sichmehr Freiheit beim Telefonieren, SMSen und Surfen, dafür sind sie für die Erwach-senen auch permanent erreichbar – sie hängen an der digitalen Leine, wie es meineKollegin Diana Frei nennt. Unsere Redaktorin wollte wissen, was das Handy für dieJugendlichen von heute bedeutet und hat dafür Jugendliche in einer Schule getrof-fen. Eines sei vorweggenommen: Auch unter den Jungen gibt es solche, die die dau-ernde Erreichbarkeit stresst. Auch unter ihnen ist allerdings das Argument zu hören, dass es halt notwendigsei, «für Notfälle». Lesen Sie in unserer Titelgeschichte, was das Handy sonst noch für die Schülerinnen be-deutet und warum ihr Rektor das Ganze recht gelassen sieht.

Sollten Sie übrigens Mühe haben, den Titel dieses Editorials zu entziffern: Fragen Sie Ihre Tochter oder IhrenGöttibueb, oder geben Sie sich ganz einfach mit dieser Erklärung zufrieden: Es sind unter den Schülerinnengebräuchliche Abkürzungen für den SMS-Verkehr – ein Beispiel für Kreativität und Anpassungsfähigkeit in Be-zug auf neue Kommunikationsformen, schnell, effektiv, spielerisch und eigen: Sie sind Teil einer Sprache, diesich nicht an die grammatikalischen und orthografischen Gesetze der Erwachsenen hält, und die auch nichtjeder Erwachsene gleich zu verstehen braucht. Dass damit die Beherrschung der deutschen Sprache in Gefahrgerät, ist auch nicht zu befürchten – dies sei noch bei keiner Jugendsprache so gewesen, sagt SprachforscherHeinrich Löffler.

Also: Schalten Sie das Handy aus – sollten Sie nicht gerade in einem Lawinenhang sitzen, ist die Gefahr einesNotfalls in der nächsten halben Stunde wahrscheinlich gering – und stürzen Sie sich gelöst in die Lektüre. Siewerden dabei nicht nur einen Einblick in die Lebenswelt von Jugendlichen erhalten, sondern unter anderemauch miterleben, wie ein Rheinlotse durch eine der heikelsten Fluss-Stellen Europas schifft – das Rheinkniebei Basel. Sie werden Erstaunliches über die Nebenwirkungen der Pharmaindustrie erfahren, deren Firmen-gebäude der eben erwähnte Lotse bei seiner Fahrt passiert, und Sie werden hören, welches Bild potenziellenZuwanderern über uns Schweizer vermittelt wird (ja, die Waschküche ist ein Thema).

Wir wünschen eine entspannte Lektüre,Florian Blumer

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FLORIAN BLUMER

REDAKTOR

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Inhalt03 Editorial

Was zur Hölle!05 Basteln für eine bessere Welt

Kommunikation ohne Strom06 Brief aus Thessaloniki

Heimweh 06 Zugerichtet

Ausgerastet07 Mit scharf!

Minder verschleppt07 Starverkäufer

Ghiramai Tesfai08 Porträt

Ötzis Schmied20 Einwanderung

Helvetia für Anfänger 22 Wörter von Pörtner

Chinesen überall23 Musik

Les Reines Prochaines24 Kultur

Falsche Nachrichten26 Ausgehtipps

Mord, Freaks und Träume28 Verkäuferporträt

Valipuram Kandiah29 Projekt SurPlus

Eine Chance für alle!30 In eigener Sache

ImpressumINSP

Alison, Rahel und Meret sind 16 und haben seit fünfJahren ein Handy. Alison ist der Meinung, ein Handysei unverzichtbar, Rahel dagegen kann gut eine Wocheohne leben, und Meret hält damit einen täglichen Kon-takt zu ihrer Freundin im Austauschjahr aufrecht. Al-len gemeinsam ist, dass sie es normal finden, immererreichbar zu sein. Die einen stresst’s, andere sind frohdrum, für den Notfall. Eindrücke aus einem nervösenSystem namens Teenieleben.

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Medikamente sind ein Millionengeschäft und Pharma -unternehmen nicht zimperlich in ihren Praktiken. Einenglischer Autor und Mediziner zeigt erstmals detail-liert, mit welchen Methoden die Pharmalobby ihr Ge-schäft betreibt. Studien, die nicht die gewünschten Er-gebnisse liefern, landen in der Schublade, Aufsichts-behörden und Patientenverbände werden unterwan-dert. Am Pranger steht auch die Basler Firma Roche.

14 RheinlotsenKapitän auf Abruf

Wenn François Gibello anheuert, hat der Kapitän Pau-se: Der 62-jährige ist einer der letzten Rheinlotsen derSchweiz. Auf Anfrage steuert er Tank- und Container-schiffe durchs Basler Rheinknie. Nach fast 50 Jahrenauf dem Fluss kennt der ehemalige Kapitän jeden Fel-sen und jede Sandbank des heiklen Streckenabschnittsauswendig. Das ist auch gut so: Für Manövrierfehlerhat’s im Basler Rheinknie keinen Platz.

10 HandysNicht ohne mein Natel

18 PharmaBittere Medizin

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Basteln für eine bessere WeltOb zu Hause oder im Büro, das Dosentelefon ist dem Handy in fast allen Belangen überlegen: Es ist bruch- und stossfest, bietet end-los Gratisminuten, kennt keine Empfangslöcher, schützt vor Anrufen von Telekomanbietern, die einem auch noch ein Fernsehabo ver-kaufen wollen und, zu guter Letzt, vor einem schlechten Gewissen, weil die Eigenproduktion garantiert, dass sich bei der Herstellungkeine Chinesen aus Verzweiflung über die Arbeitsbedingungen vom Dach stürzten.

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1. Waschen Sie zwei geleerte Konservendosen und be-

freien Sie sie von der Papieretikette. Bohren Sie jeweils

mit einer Ale ein kleines Loch in die Mitte des Bodens.

2. Nehmen Sie einen langen, dünnen Kupferdraht und

befestigen Sie ihn am Boden der einen Dose, indem Sie

den Draht innen verknoten.

3. Verlegen Sie den Draht von Ihrem Büro/Zimmer zu

dem Ihres bevorzugten Gesprächspartners (Distanzen

von mehreren Dutzend Metern möglich). Meistern Sie

Ecken, indem Sie jeweils einen Nagel in die Wand hau-

en und den Draht ein paar Mal drum herumwickeln. Er

darf mit nichts sonst in Berührung kommen und muss

sehr straff gespannt sein.

4. Benutzen Sie Ihre Büchse abwechselnd als Mikrofon

oder Hörer – und erleben Sie Kommunikation, ganz oh-

ne Strom.

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ZugerichtetIch doch nicht!Man mochte dem Angeklagten ja von gan-zem Herzen zustimmen: Behördengängekönnen wahrlich nervenaufreibend sein.Wenn Beamte und Beamtinnen mit amtli-chem Starrsinn auf bürokratischem Unsinnbeharren, immer auf Reglemente und Para-grafen verweisend, ist das zum Verzweifeln.Nicht nur, aber im Speziellen, wenn ein Bür-ger etwas will vom Staat, Sozialhilfe etwa.Genau das wollte der Angeklagte. Ein Lebenlang hatte er geschuftet, 17 Jahre als Hand-werker selbständig erwerbend. Dann bliebendie Aufträge aus, und er musste einen Antragauf wirtschaftliche Hilfe stellen. Wie sichherausstellte, hatte er sich das weit einfachervorgestellt beziehungsweise gingen die Vor-stellungen darüber, wie ihm zu helfen sei,weit auseinander. Dass man ihm die Früh-pensionierung nahelegte, empfand er alsFrechheit. Dass man «immer noch mehr Pa-pier» verlangte ebenso. So deckte er die Ge-meinde schliesslich mit Einsprachen ein,und man lud ihn zu einer Aussprache vor.Auch die zahlreichen Kollegen des Angeklag-ten waren empört über die Vorgehensweiseder Frau Sozialarbeiterin. Einer machte seinerWut brieflich Luft: «Wenn Sie so mit den Bür-gern umspringen, müssen Sie sich nicht wun-dern, wenn unbescholtene Männer plötzlichAmok laufen.» Eine Briefbombe sozusagen,und sie detonierte ein zweites Mal, als die So-zialarbeiterin den Angeklagten umgehendkontaktierte, um den Termin zur Ausspracheabzusagen. «Gut, wenn das so ist, werde ichALLES abfackeln, ich habe im Militär nämlichgelernt, wie man sich wehrt», sagte er in ru-higem Ton. Und weiter: «Ich habe es satt, esist genug, ich mache jetzt Schluss.»

Der Beamtin ging es nach dem Gespräch nichtgut. Nachdem sie sich übergeben hatte, standsie bleich und zitternd im Büro ihrer Vorgesetz-ten und berichtete vom verstörenden Telefonat,das sie eben geführt hatte. Diese verständigtesofort die Polizei, die wiederum fa ckelte nichtlange, machte das Sozialzentrum dicht undverhaftete den Angeklagten. Ein Bezirksgerichtverurteilte ihn zu einer milden Geldstrafe aufBewährung wegen Drohung und Gewalt gegenBeamte. Vor zweiter Instanz bestritt der Mann weiter-hin, die inkriminierenden Aussagen gemachtzu haben, und forderte einen Freispruch. Ervermutete sich als Opfer einer Verschwörungder beiden Frauen vom Sozialamt. Diese seienwohl nach seinen Einsprachen kritisiert wor-den und wollten ihm «eins auswischen». Er seiein ruhiger und anständiger Mensch, sagte erzum Prozessauftakt. Zustimmendes Raunen inden Zuschauerrängen; seine Kollegen warenauch da. Der erstinstanzliche Schuldspruch:Behörden-Klüngelei, ganz klar. Nun hoffte erauf eine unabhängige Beurteilung des Oberge-richtes. «Herr …», versuchte sich der Vorsitzen-de dazwischenzuschalten. Vergeblich, denneines musste der Angeklagte schon sagen: Erhabe dem Obergericht all diese Akten ge-schickt. Beweise! Und nie etwas gehört! Er er-warte von einem Gericht schon, dass es dieLeute ernst nehme! «Wir nehmen Sie ernst»,knurrte der Vorsitzende, «ist das alles?» War esnoch lange nicht. Das Urteil fiel dann – viel-leicht hätten Sie’s erraten – nicht zu seinenGunsten aus.

YVONNE KUNZ ([email protected])

ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

([email protected])

Brief aus ThessalonikiWie zu HauseVON AMIR ALI

Ich reise, weil ich rauswill. Weil die Wändeum mich herum in der Heimat zu dick ge-worden sind. Die Augen blind, die Ohrentaub geworden sind. Nichts mehr durch-dringt. Weil mich nichts so fertigmacht wiedas, was mich hervorgebracht hat. Weil dasSein nie so leicht so reich ist wie an einemfremden Ort. Reisen heisst viele Dinge – aber Reisen heisstimmer Essen. Viel Essen. Verschiedenes Es-sen. Manchmal aus Langeweile, oft aus Neu-gier. Ich ziehe von Ort zu Ort und ziehe mirdie Welt rein. Brot wird weisser und flacherund löst je länger, je mehr Gabel und Messerab. Saucen werden weniger rahmig, dafürschärfer und schärfer. Hummus, Pilaw, Ke-bab, Feta, Burek, Oktopustentakel, Kabeljau-rogen: Orte sind, wie sie schmecken. Das Unausweichliche geschah: Ich wurdesatt. War vollgefressen. Hatte mir eine Über-dosis Abenteuer in den Magen gehauen. Eskeimte leise eine Sehnsucht nach dickenWänden, tauben Ohren, blinden Augen. Hei-mat ist kein Ort, dachte ich. Heimat ist einZustand: Dasein ohne jede Aufregung. Hei-mat ist Gruyère auf Ruchbrot. Ovomaltine.Spaghetti mit M-Budget-Reibkäse. Meinet-wegen auch das Menü für zwölf Stutz beimInder ums Eck. Das alles hätte sich arrangieren lassen. (NurOvo sah ich nirgends.) Aber: Gruyère in Grie-chenland ist kein Gruyère. Ruchbrot gibtsnicht östlich von St. Gallen. Und der Inder inIstanbul ist nicht der Inder ums Eck. Ich schlenderte, die ungestillte Sehnsuchtnoch immer im Magen. Plötzlich stand ichvor dem Klotz aus Glas und Stahl und Beton.Er funkelte und glitzerte. Es hätte «Glatt» dar-auf stehen können, oder «Sihlcity» oder«Westside». Im Klotz hatte es viele Menschenund Rolltreppen und es roch unangenehmseelenlos. Das gelbe M fand ich auf Anhieb. Ich sass andem speckigen und wackligen Tischchen,das rote Plastiktablett vor mir. Der Cheese-burger schmeckte enttäuschend, wie er esimmer tut. Nach hyperaktiver Essiggurkezwischen Pappkarton – wie zu Hause. Ichkaute und wusste: Das würde ich heuteAbend mit einer ordentlichen Portion schar-fer Sosse und jeder Menge Brotfladen wiederin Ordnung bringen.

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Starverkäufer Ghiramai TesfaiKatharina Ciabuschi aus Thun nominiertGhiramai Tefai als Starverkäufer: «Mein Sur-prise kaufe ich beim Coop Strättligen inThun. Dabei ist mir Herr Ghiramai Tesfai auf-gefallen, weil er stets freundlich und zuvor-kommend seine Zeitschriften verkauft undsich so richtig gentlemanlike mit Verbeugungund einem Lächeln bedankt; und das bei je-dem Wetter! Er grüsst auch freundlich, wennman nichts kauft. Aus all diesen Gründenmöchte ich ihn als Starverkäufer nominie-ren.»

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GNominieren Sie IhrenStarverkäufer!Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Siean dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, [email protected]

VON RETO ASCHWANDEN

Eingereicht hat Initiant Thomas Minder sein Volksbegehren vor ziem-lich genau fünf Jahren, am 26. Februar 2008. Die Initiative ist in ihrenForderungen klar, Konflikte mit Grundrecht und internationalen Verein-barungen sind bei der Umsetzung keine zu erwarten. Es sprach alsonichts dagegen, die Vorlage zügig im Parlament zu beraten und demVolk vorzulegen. Denkste. Die Damen und Herren Volksvertreter ver-schleppten die Abstimmung mit einer Penetranz, die an Schamlosigkeitgrenzt. Immer neue Gegenvorschläge wurden präsentiert, die dann zwi-schen National- und Ständerat hin und her geschoben wurden. Die Tak-tik war offensichtlich: Die Abstimmung über die je nach Lesart populärebis populistische Vorlage sollte erst stattfinden, wenn sich der Volkszorngegen selbstherrliche Manager abgekühlt hat. Doch die wirtschaftlichenEliten zeigten sich selbst nach der Finanzkrise lernresistent und bliebendadurch in ihrer Rolle als Buhmänner.

Weil auch das Parlament eine Volksinitiative nicht ewig verschleppenkann, kommt es nun doch noch zur Abstimmung. Also lässt man diePropagandamaschine anlaufen, befeuert von Economiesuisse. Die Re-klamewände sind zugepflastert mit Plakaten, die dem Stimmbürger aufdie psychologische Tour kommen. Wohl wissend um die Popularität derInitiative, propagiert der grösste Dachverband der Schweizer Wirt-schaft, «das Kleingedruckte» zu lesen. Als wäre die Initiative ein Lock-vogelangebot auf einer Kaffeefahrt. Den Vogel schiesst aber jenes Plakatab, auf dem behauptet wird, der Gegenvorschlag wirke schneller. Obund wie schnell der wirklich wirken würde, weiss niemand, denn erunterliegt dem fakultativen Referendum, was bedeutet, dass wir viel-leicht in mehr oder weniger absehbarer Zeit noch einmal über das The-ma abstimmen müssten. Zudem steht der indirekte Gegenvorschlag derIdee einer direkten Demokratie entgegen: Ich möchte Ja oder Nein stim-men können und nicht die Katze im Sack kaufen.

AbzockerinitiativeEin TrauerspielSeit Wochen tobt der Abstimmungskampf um die Abzockerinitiative. Konsequenzen wirdaber nicht das Abstimmungsergebnis haben, sondern der unwürdige Umgang der Politik mitder Volksinitiative.

Fast vergessen geht, dass am 3. März noch zwei weitere Vorlagen an-stehen: Der Bundesbeschluss über die Familienpolitik sowie die Ände-rung des Bundesbeschlusses über die Raumplanung. Beide Vorlagensind von grösserer Tragweite als die Abzockerinitiative, bei der es letzt-lich nur darum geht, wer über die Löhne von Geschäftsleitungen undVerwaltungsräten bestimmt. Doch über Raumplanung und Familienpo-litik wird nur am Rande diskutiert, weil die Debatte um Minders Initia-tive fast alle Aufmerksamkeit absorbiert.

Das ist ein Armutszeugnis für Politik und Medien. Und gefährlich: Esgibt Kreise, die das Vertrauen in die Institutionen systematisch unter-graben wollen. Wenn sich das nationale Parlament bei der Minder-Initi-ative aufführt wie ein Kindergarten voller Trotzköpfe, hat das deshalbKonsequenzen über die konkrete Vorlage hinaus. Das Volk fühlt sichverarscht und verliert das Vertrauen in seine Vertreter. Und damit wirdes noch schwieriger, Mehrheiten für wirklich wichtige Vorlagen zu fin-den. Ob die Abzockerinitiative angenommen oder abgelehnt wird, istfür die Zukunft unseres Landes nicht entscheidend. Gefahr entsteht derSchweiz aus den Ränkespielen und Schlaumeiereien der Politiker, dienicht merken (wollen), dass sie in der Debatte um eine eher marginaleFrage ihre Glaubwürdigkeit verspielen. ■

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VON MARTINA HUBER (TEXT UND BILD)

Kräftig pustet Markus Binggeli auf den Sandsteinblock, der auf seinerHandfläche liegt: Staub auf der Oberfläche könnte dazu führen, dass sichBlasen bilden im Beil, das er heute giessen will. Ein Beil aus 300 GrammBronze nach dem Vorbild eines fast 4000 Jahre alten Fundstücks – dashat ein italienisches Freilichtmuseum beim Experimental-Archäologen inAuftrag gegeben. Auch einen Dolch, ein Schwert, eine Nadel und ein Lö-cherbecken aus der Bronzezeit soll er bis Ende 2013 nachbilden.

Mit dem Zeigefinger fährt Binggeli der Vertiefung im Sandstein ent-lang: Das fehlende Material hat er mit einer Feile weggekratzt, Schicht fürSchicht, bis das Relief im Stein exakt die gewünschte Form hatte. Meh-rere Stunden hat er dazu am Holztisch in seiner Werkstatt gesessen –denn von der Gussform hängt ab, ob die Replik gelingt: «Wenn schon dieForm ein Geschwür ist, giesst du auch ein Geschwür.»

Nun steht Markus Binggeli in der Schmiede, die er vor zehn Jahrenin Köniz bei Bern übernommen hat. Eine Wand mit Polycarbonatschei-ben und eine Tür trennen sie auf in Schmiedeund Goldschmiedeatelier. Unter dem Rauchab-zug flackert ein Holzkohlefeuer, daneben liegtein unbearbeitetes Stück Sandstein. Binggeliergreift es und pustet kräftig darauf. Es passt exakt auf den bearbeitetenStein auf seiner Handfläche. Mit einem Lederband schnürt er die beidenSteine zur fertigen Gussform zusammen und stellt sie auf die Arbeits-fläche neben dem Feuer.

Wäre Markus Binggeli in der Schule weniger gut gewesen, hätte ervermutlich ein Handwerk erlernt, wie sein Vater. Nur der guten Notenwegen ging der Schüler aus dem Emmental nach Burgdorf aufs Gymna-sium und machte die Matur. Studieren wollte er nicht – zu kopflastig.Nach einer Berufsberatung bewarb er sich bei der Kunstgewerbeschuleund bewältigte mühelos das Aufnahmeverfahren. «Dass sich da ganzviele bewerben und nur wenige es schaffen, habe ich erst viel später ge-merkt», sagt er heute. Zugutegekommen sei ihm wohl, dass er ohneFernseher und Computer aufgewachsen sei. So habe er schon als Jungeganze Abende damit zugebracht, Vögel aus Vaters Buch abzuzeichnen.

Als Jugendlicher frisierte Markus Binggeli Töffli. Metall zu giessenund nach seinen Wünschen zu formen begann er dann bei einem Gold-schmied im Handwerkspraktikum, das er im Rahmen der Kunstgewer-beschule absolvierte. Die Arbeit gefiel ihm so gut, dass er noch Jahre da-nach im Atelier des Goldschmieds ein und aus ging, um in seiner freienZeit Ohrringe, Armreifen und andere Schmuckstücke aus Gold, Silberund weiteren Materialien zu fertigen.

Als er beim Archäologischen Dienst Bern die Arbeit als Zeichner be-kam, merkte er, dass er insbesondere Metallobjekte mit anderen Augensah als die studierten Archäologen. Während sich jene auf Beschreibungund zeitliche Einordnung der Fundstücke konzentrierten, sah MarkusBinggeli bei jedem Objekt gleich auch die Arbeit, die dahintersteckte.Immer fragte er sich sofort: Wie genau haben die Menschen das damalsgemacht? Wie ging das ohne die technischen Hilfsmittel, die wir heutehaben? Diese Fragen beschäftigen ihn bis heute. So fertigt er in seinerWerkstatt Objekte wie Ötzis Beil, keltische Ringe, Armreife und Bronze-

PorträtWie vor 4000 JahrenMit den Methoden von damals schmiedet der Berner Markus Binggeli Ötzis Beil oder keltische Ringe. SeineNachbildungen sind international gefragt, leben kann er davon trotzdem nicht.

messer, oder auch römische Statuetten und Speerklingen. Einfach umzu sehen, ob er es so hinkriegt wie die Handwerker vor über 1000 Jah-ren. Und zwar lediglich mit den Werkzeugen, die schon diesen zur Ver-fügung standen. Fundbeschreibungen und Museumskataloge inspirie-ren seine Arbeit, «Das Gold der Helvetier» und «Das keltische Schatz-kästlein» liegen stets griffbereit in der Schublade seines Holztischs. Aberauch Texte aus Mittelalter und Antike sowie die Bibel liest Binggeli, umHinweise auf die Kunst der Metallarbeiter früherer Zeiten zu erhalten.

Unterdessen haben sich die 300 Gramm Bronze verflüssigt. Das Ge-fäss glüht gelb, als er es aus dem Feuer hebt. Die Bronze, die er in ei-nem dünnen Strahl ausgiesst, gleicht flüssig gewordenem Licht.

In der Fachwelt ist er heute ein gefragter Experte – weit über dieSchweiz hinaus. Archäologen ziehen ihn bei. Museen verkaufen seineRekonstruktionen. Manchmal lassen sie ihn Fundstücke nachbilden,oder sie stellen ihn ein, um sein Handwerk dem Museumspublikum vor-zuführen. Seine bisher aufwendigste Auftragsarbeit – die Nachbildungdes Bronzesofas eines keltischen Fürsten – tourt derzeit durch die Mu-

seen Europas. Das Original ist nämlich so zerbrechlich, dass es nichtüber weite Strecken transportiert werden kann.

Leben kann Markus Binggeli von seinem Handwerk allerdings bisheute nicht. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit einer 50-Prozent-Stelle an der Pädagogischen Hochschule Bern, wo er angehende Lehrerunterrichtet. Die Pädagogische Hochschule war es auch, die ihn be-zahlte, als er im Rahmen eines Forschungsprojekts im Garten des Hi-storischen Museums Bern das Sofa des Keltenfürsten nachbildete. Mu-seen seien meist nicht bereit, ihn für seine Arbeit dem Aufwand ent-sprechend zu entschädigen: «Wenn ein Handwerker für eine Ausstel-lung die Vitrinen macht, kann er seine Stunden aufschreiben. Wenn ichdas bei meinen Rekonstruktionen mache, heisst es, ich sei zu teuer.»

Er kippt die Gussform zur Seite, löst den Knoten im Lederband, hebtden oberen Sandstein ab. Mit der Pinzette entnimmt er das Bronzebeil.Es glüht rot, bevor er es ins Wasser taucht. Danach lässt er das Stück inseine Handfläche fallen und streicht mit dem Zeigfinger über die Ober-fläche, die nun rau und rostbraun ist. Um ihm die endgültige Gestalt zugeben, muss er es noch schleifen und schmieden: Die Klinge muss brei-ter und schärfer werden, die Seiten schmaler. Und durch das Polierenund Hämmern wird das Beil den charakteristischen Glanz von Bronzeerhalten. Dass er von seinem Handwerk nicht leben kann, bedeutet fürMarkus Binggeli auch Freiheit. Freiheit, nur die Aufträge anzunehmen,die ihm Spass machen. Freiheit, auf eigene Faust die Objekte anzuferti-gen, auf die er gerade Lust hat.

So weiss er nun auch noch nicht, wann er das begonnene Beil fertig-stellen wird. Vielleicht morgen, vielleicht in einer Woche, vielleichtauch später. Heute will er mit derselben Gussform noch weitere Beilegiessen. Er nimmt die beiden Sandsteine, pustet kräftig darauf und fi-xiert sie mit dem Lederband. Und geht hinüber in die Werkstatt, umexakt 300 Gramm Bronze abzuwägen. ■

Während sich die Archäologen auf die Objekte an sich konzentrier-ten, frage er sich: Wie haben das die Menschen damals gemacht?

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Handys An der digitalen LeineDas erste Handy erhalten Jugendliche im Alter von zehn oder elf Jahren. Es erleichtert den Alltag und süchtigmacht es selten. Aber langsam stresst es. Das sagen sogar die Teenies selber.

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VON DIANA FREI (TEXT), LUCIAN HUNZIKER UND

DOMINIK PLÜSS (BILDER)

«Also man fängt mit ‹Hey› an», sagt Alison. «Und dann kommt ein‹Hey› zurück. Und dann: ‹Gg?›, ‹Gohts guet›? – ‹Wms?›, ‹Was machschso?› – ‹Ich mach Uffzgi. Was machsch du?› – Dann schreibt der andere,was er macht, und dann ist es eigentlich vorbei.»

«Ich bezahle für jede SMS 10 Rappen», sagt Rahel.* «Ich schreibe nie-mandem einfach so, weil mir langweilig ist. Zehn SMS kosten mich ei-nen Franken. Letzten Monat habe ich 60 Franken ausgegeben für dieSMS!» Alison, Meret und Rahel, 16 Jahre alt, sitzen in der Mensa desBasler Gymnasiums Kirschgarten, und Rahel ist der einzige «Dumb-Pho-ne-Mensch» am Tisch, wie sie selber sagt. Dumb-Phone, dummes Tele-fon, im Gegensatz zum Smartphone, dem schlauen Telefon.

Von Meret bekommt sie immer SMS im Stil von «Hallo?», dann dienächste: «Wie gohts?» Und wenn sie dann auf eine zurückschreibenwill, kommt nochmals eine. «Dann muss ich die zuerst öffnen und le-sen und kann wieder von vorn beginnen mit der Antwort. Das ist beimeinem Natel speziell blöd.» Es gibt Leute, dieandere regelrecht zuspammen mit ihren Ein-Wort-SMS, die technischen Möglichkeiten ha-ben die Gewohnheiten geprägt. Fast alle habenunterdessen ein Smartphone, das den gesam-ten Gesprächsverlauf anzeigt, und Rahel istnun ein bisschen ausgegrenzt mit ihrem alten Feature Phone, wie das«Dumb-Phone» eigentlich heisst. Aber das stört sie nicht weiter,schliesslich ist es auch ein Statement: «Am Morgen im Tram hocken al-le mit ihren Natels rum und chatten, sind im Internet, auf Facebook. Dashabe ich nicht nötig. So will ich nicht werden.» Sie ist auch praktischder einzige «Prepaid-Mensch» in ihrem Freundeskreis. Vor ein paar Wo-chen wollte sie sich ein Abo machen lassen und liess es doch bleiben.

Ihr Handy passt eher zur älteren Generation, die es für den nüchter-nen Informationsaustausch nutzt. Klare Frage, klare Antwort. Wie beiden SMS an die Eltern halt. Da muss auch die Gross- und Kleinschrei-bung stimmen, und getextet wird Hochdeutsch: «Wenn ein Fehler drinist, schreiben sie nicht zurück. Mein Vater hat gesagt: ‹Ich habe keineLust, dein Zeug zu entziffern.›», meint Rahel. Bei Freunden hat es einenSchreibfehler nach dem anderen. Und viele Abkürzungen. «Hdml»,«wtf», «glg»: Man ist unter sich.

Smartphone-Land SchweizAlle nennen ihre Handys «Natel», auch die Smartphones, Alisons

Samsung Galaxy S II, Merets Sony Ericsson Xperia. Natel, so nannte diedamalige PTT ihr Gerät der ersten Stunde. Ein Helvetismus par excel-lence, «NAtionales AutoTELefon» bedeutete es früher, als die PTT in derTelekommunikation noch ein rechtliches Monopol hatte und der einzi-ge Mobilfunkanbieter war. Jetzt reden Meret, Alison und Rahel über ih-re «Natels», und es will so gar nicht zusammenpassen mit den Möglich-keiten des Geräts, ständig online in einer globalisierten Welt.

Die JAMES-Studie 2012 (Jugend-Aktivitäten-Medien-ErhebungSchweiz) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

ZHAW hat gezeigt, dass etwa 95 Prozent der Jugendlichen ein Handyhaben, 80 Prozent davon sind Smartphones. Die Teenies müssen nichtmehr auf den Knien unter dem Pult Zetteli schreiben oder zu Hausewarten, bis die Schwester mit Telefonieren fertig ist. Sie sind mobil ver-netzt. Und zwar nicht nur per Telefon, sondern – mit dem Smartphone– per Internet, man trägt ja ständig einen kleinen Computer mit sich he-rum. Die Schweizer sind im europäischen Vergleich besonders gut aus-gestattet, in Deutschland etwa haben erst 50 Prozent der Jugendlichenein Smartphone. Und auch die Erwachsenen in der Schweiz haben über-durchschnittlich oft eins, es ist eine Frage des Wohlstands.

Rahel ist in der Pfadi, und wenn sie im Lager ist, darf sie das Handynicht dabeihaben: «Für mich ist das kein Problem.» Ganz anders klingtes bei Alison: «Ich muss ein Natel haben. Meine Eltern wollen, dass icherreichbar bin. Für den Notfall. Deshalb habe ich es auch immer dabei.»

Bei Alison bezahlt der Götti die Rechnung, 25 bis 30 Franken sindnormal, und wenn es mal 50 oder 60 Franken sind, liegt das auch nochdrin. Meret hat ein Abo für 25 Franken, das übernehmen die Eltern. Wasobendrauf kommt, steuert sie selber bei, das sind vielleicht fünf Fran-

ken pro Monat. Rahel bezahlt das meiste selber, aber kürzlich, da gabihr die Mutter die 15 Franken, weil sie es gut fand, dass sie kein Abo ma-chen liess.

Hohes Tempo, keine GeduldDaniel Süss, Professor für Medienpsychologie an der ZHAW, nennt

das Handy «Medium der Autonomie»: «Man bekommt als Jugendlichermehr Spielraum, darf vielleicht auch länger in den Ausgang. Und das Ri-siko des Festnetzanschlusses, dass jemand anderer abnimmt als man ei-gentlich erreichen wollte, ist nicht mehr da.» Aber das Handy ist auchein Medium der Halbfreiheit, eine digitale Leine: Man muss den ElternBescheid geben, wenn man später dran ist. Man muss erreichbar sein.Das ist mitunter auch für den Rektor des Gymnasium Kirschgarten, woAlison, Meret und Rahel zur Schule gehen, praktisch: «Wenn ich denVerdacht habe, dass jemand schwänzt, rufe ich aufs Handy an. Undzwar bewusst von der Schulnummer aus. Das nützt, auch wenn nie-mand abnimmt», sagt Jürg Bauer.

In den Hausordnungen vieler Schulhäuser liest man zwar Sätze wie:«Handys, MP3-Player und andere elektronische Geräte werden vonSchülerinnen und Schülern im Schulhaus und während der Pausen auchauf den Aussenanlagen nicht benützt. Die Geräte sind ausgeschaltet undnicht sichtbar versorgt.» Im Gymnasium Kirschgarten gibt es keine sol-chen Regeln. Rektor Jürg Bauer setzt auf den gesunden Menschenver-stand, und ab und zu bietet es sich sogar an, dass man die Benutzungin den Unterricht einbaut, etwa wenn die Geschichtslehrerin spontan imInternet nach einem Bild suchen lässt, vom dem gerade die Rede ist.«Der Handygebrauch ist nicht zwingend ein brennendes Thema. Man

«Am Morgen im Tram hocken alle mit ihren Natels rumund chatten. Das habe ich nicht nötig. So will ich nichtwerden.» Rahel

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darf das Handy nicht verteufeln, es ist Teil des Lebens», sagt der Rektor,und die Schüler seien während des Unterrichts «für einmal vernünftigerals die Erwachsenen», die in Sitzungen nicht selten E-Mails checken,während der Kollege referiert. Das Handy sei ein gesellschaftliches Phä-nomen, kein rein schulisches, und den Alltag der Jugendlichen habe esnicht stark verändert. Nicht augenscheinlich verändert.

Verändert hat sich aber auf jeden Fall das Tempo. Es hat sich erhöht,dafür ist die Geduld gesunken. Bauer, der auch Englisch und Geschichteunterrichtet, meint dazu: «Man sagt heute viel schneller: Dieser Textinteressiert mich nicht. Oder: Ich verstehe ihnnicht. Das ganze System ist viel nervöser ge-worden. Vor 15 Jahren hatten Teenies tatsäch-lich vielleicht eine Stunde mehr Zeit. Der gan-ze Mailverkehr, die ganzen SMS gab es einfachnicht, das kommt nun alles zusätzlich hinzu.» Manche Lehrer neigen be-reits zum Infotainment, damit die Schüler noch dranbleiben. Aber JürgBauer findet, die Schule muss auch den Mut haben, zu sagen: «Lernenist nicht immer spannend. Diese Aufgabe fordern wir aber trotzdem ein.»

Stress mit leerem AkkuWenn Jugendliche Hausaufgaben machen, haben sie verschiedene

Bildschirme offen. Second Screen Generation nennt man sie, sie sitzenvor dem Fernseher und haben dazu das Handy und den Laptop oder bei-des in Betrieb, man chattet, während man sich eine Serie ansieht. «Ichfinde das schlimm, wenn ich all diese Jugendlichen sehe, immer amHandy», sagt Rahel, «ich meine auch dich, Meret –»

«Ich bin nicht so schlimm, wie du sagst.»«Du schreibst SMS, während du mit mir redest.»

«Ich kann Multitasking. Ich bin nicht so schlimm. Es liegt daran, dasseine Kollegin von mir gerade im Ausland ist.»

«Es gibt Gründe», sagt auch Alison, «wieso man intensiver mit demHandy beschäftigt ist, wenn man gerade einen Geliebten hat, da mussman halt zurückschreiben, das ist normal.»

Medienpsychologe Daniel Süss hat in der JAMES-Studie vier Handy-Nutzertypen definiert: Nicht-Nutzer, zurückhaltender Nutzer, engagier-ter Nutzer und Verhaltenssüchtiger. Die Hälfte aller Jugendlichen in derDeutschschweiz kann man als zurückhaltend bezeichnen, etwa 40 Pro-

zent sind engagierte Nutzer. Sie sind intensiv dran, aber noch nichtsüchtig. Vier Prozent haben Anzeichen einer Handysucht: Man fühltsich sehr gestresst, wenn man das Handy nicht dabeihat, wenn der Ak-ku leer ist, das Netzteil vergessen. Man hat ständig das Gefühl, manmüsse auf eine Nachricht sehr schnell reagieren. Man ist gestresst,wenn man nicht kann. Süss hat bei den Handysüchtigen ein spezifi-sches Persönlichkeitsmerkmal erkannt: Sie sind impulsiv, haben einegeringe Selbstkontrolle.

SMS unbeantwortet lassen zu können, heisst, Erwartungen auszu-halten. Und nichts zu überinterpretieren, obwohl die Schnelligkeit derReaktion etwas über die Beziehung aussagen könnte. Wenn lange keineReaktion von der neuen Flirtbekanntschaft kommt, kann es Desinteres-se sein. Aber auch einfach die Tatsache, dass man im Französisch-unterricht sitzt.

«Wenn ich den Verdacht habe, dass jemand schwänzt, rufeich von der Schulnummer aufs Handy an.» Jürg Bauer

Alison, Rahel, Meret: Egal, wer anwesend ist – übers Handy ist man immer auch mit den anderen Freunden verbunden.

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Der Schulrektor sagt, das Handy verändere den Alltag nicht in frap-pantem Ausmass. Die Veränderung ist kaum sichtbar. Dafür fühlt mansie. Das Handy bedeutet ständige Verbundenheit mit Freunden, mitFremden, mit der Welt. Chatten per Whatsapp, Bilder posten per Insta-gram. Bei der Internetplattform Instagram sind die Bilder mit Tags mar-kiert, und wenn man zum Beispiel auf «beautiful» klickt, sagt Alison,«dann geht eine Seite auf mit den Fotos von allen Menschen auf der gan-zen Welt, die dieses Wort auch markiert haben. Sie können dir folgen,dann werden ihnen alle deine Bilder gezeigt. Das macht auf eine Art me-gasüchtig.» Meret: «Eine Freundin fand mal, mir folgen nun schon soviele Leute! Und ich sagte nur: Du kennst sie nicht! Ich will eigentlichnur mit Leuten zu tun haben, die ich ab und zu sehe, mit denen ich re-den kann.»

Per Handy hat man auch die beste Freundin immer dabei. Es kreierteine Art von Verbundenheit, wie sie auch die Orange-Werbung immerwieder beschwört. Meret fragt ihre Kollegin im Austauschjahr in denUSA natürlich nicht nur «wms?». Hier werden Lebenswelten abge-glichen. Erlebnisse, Gedanken und Gefühle tauscht man nicht mehr tagsdarauf aus, sondern man teilt sie im Moment selber – wie man auch aufFacebook alles «teilt». Es ist das Teilen eines Lebensgefühls: «Ab und zu,wenn ich komisch drauf bin oder was megatoll finde, muss ich das je-mandem mitteilen», sagt Rahel. «Wichtig ist, dass der andere auch zu-rückschreibt und die SMS nicht einfach stehen lässt. Meret hat gesternnicht zurückgeschrieben.» Meret: «Das war so eine typische SMS: ‹MeinGott, ich lieb das Lied.› Ich war auf dem Weg zum Training und habsdann vergessen.» «Wenn ich ihr schreibe, ‹Hey, das Lied isch megatoll›,erwarte ich schon eine SMS ‹Was für e Lied?›, damit man erzählen kann.»

Daniel Süss hat in Interviews Jugendliche befragt, wie sie es erleben,wenn sie in den Ferien oder in Schullagern das Handy nicht dabeihabendürfen: «Manche Jugendliche erleben es als sehr unangenehm, wenn siesich nur noch mit der Zwangsgemeinschaft austauschen können, die ak-tuell präsent ist. Und nicht mehr mit ihrer Wahlgemeinschaft, ihremFreundeskreis, den sie selber definiert haben.»

Das Handy als TeddybärDer Forschungsbericht zum Handygebrauch der Schweizer Jugend

aus dem April 2012 bezeichnet das Handy als Übergangsobjekt: «Über-gangsobjekte – zum Beispiel Teddybären – sind für Kleinkinder wichtig.Sie gehen damit eine Beziehung ein, um den mütterlichen Trennungs-schmerz zu reduzieren. Das Handy als Kuscheltier und Fetisch für sei-nen Besitzer, um die Trennung vom sozialen Umfeld erträglich zu ge-stalten?», fragt die Studie. Daniel Süss, der siemitverfasst hat, meint: «Diese Bedeutung kannman daran messen, wie schlimm man es fin-det, wenn ein Handy verloren geht oder ge-stohlen wird. Das hat einen ähnlichen Charak-ter, wie wenn etwas sehr Persönliches wie einTagebuch verloren geht. Das Handy ist eine Art Stellvertreter. Wenn ei-ne Person, an der man hängt, nicht da ist, hat man vielleicht ein Fotooder eine Nachricht von ihr. Und so hat das Handy eine Ersatzobjekt-Funktion. Wie ein Teddy. Er vermittelt Sicherheit, weil er für eine ge-borgene und sichere Beziehung steht.» Das Handy ist auch Tagebuch.Und der Gesprächsverlauf ist auch Protokoll einer Freundschaft. «Wennman mal eine Beziehung hatte und später drüber nachdenkt», sagt Ali-son, «dann liest man die ganzen SMS durch, vielleicht 300 Nachrichten,und am Schluss sitzt man halb heulend vor dem Natel, weil man wie-der dran erinnert wird.»

Das Handy kann auch Stress bedeuten, «auf jeden Fall», sagt DanielSüss, das haben ihm Jugendliche in Interviews schon von sich aus ge-sagt. Man muss immer reagieren, schnell reagieren, man kann sichnicht einfach mal zurückziehen und für sich sein. Da draussen sind im-mer eine Menge Freunde, die auf Antwort warten und sich zurückge-stossen fühlen, wenn nichts kommt. «Und es gibt auch bereits Jugend-

liche, die es erholsam finden, in den Ferien auf das Handy zu verzich-ten», sagt Süss.

«Immer erreichbar zu sein, nervt tödlich», finden Rahel und Meret,und sie schalten wenigstens nachts ab. Rahel muss ihr Handy zu Hau-se aus dem Zimmer rauslegen, wenn sie ins Bett geht, Meret schreibtihrer Freundin in den USA noch «Ich geh jetzt schlafen», dann schaltet

sie aus. Alisons Smartphone ist eh immer auf Vibrafunktion, und «weildas Natel auch der Wecker ist», lässt sie es an. «Es ist unglaublich, wielaut das Teil ist. Der ganze Tisch wackelt mit», sagt sie, aber sie kön-ne es überhören. Manchmal wacht sie trotzdem auf, und manchmal,da ruft ein Kollege nachts um 3 Uhr an, «um lustig zu sein», oder einanderer, weil er voll besoffen ist. Dann hängt sie einfach wieder auf.«Aber ich habe immer Angst, dass es mal einen Notfall gibt. Es kamauch schon vor, dass meine grosse Schwester, die nicht mehr daheimwohnt, um 2 Uhr morgens angerufen hat, weil sie aus dem Bett gefal-len ist und sich wehgetan hat. Das mag ich nicht, wenn ich dann nichterreichbar bin.» ■

* Name geändert

«Wenn eine Person nicht da ist, hat man vielleicht ein Fotooder eine Nachricht von ihr. Das Handy hat eine Ersatzob-jekt-Funktion, wie ein Teddy.» Daniel Süss

Das Handy ist für Rahel auch Musikarchiv.

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VON MENA KOST (TEXT) UND LUCIAN HUNZIKER (BILDER)

Zähflüssig schiebt sich der Rhein durch die Stadt. Graugrüne Was-sermassen ziehen am Basler Münster vorbei und fliessen zwischen denPfeilern der Mittleren Brücke hindurch Richtung Hafen. Dort, am «Portof Switzerland», über den gelben Kranen, den Silos und Tankschiffenam Quai, ziehen Möwen ihre Kreise.

«Ich kann Möwen nicht ausstehen. Die machen nur Dreck», sagtFran çois Gibello. Er sitzt am Küchentisch in seiner kleinen Dienstwoh-nung in Kleinhüningen, zwei Velominuten vom Basler Rheinhafen ent-fernt. Vor ihm liegt sein Mobiltelefon. Der Rheinlotse wartet aufs näch-ste Schiff, das seine Dienste anfordert.

Während der Rhein in Rotterdam, wo die Schiffe ihre Fahrt beginnen,800 Meter misst, so ist er in Basel gerade noch ein Fünftel so breit. Diesmacht die Navigation zu einer kniffeligen An-gelegenheit. «Eine der gefährlichsten Streckenauf dem ganzen Rhein», erklärt Gibello. Ob-wohl das Patent für diesen Rheinabschnitt re-lativ einfach zu erwerben wäre, übergebenneun von zehn Kapitänen das Kommando lieber einem profunden Ken-ner der Strecke. Fähren, Felsen, Sandbänke, Schwimmer und die fünfBrücken sind eine Herausforderung. Gibello: «Die Mittlere Brü cke ist einNadelöhr. Und die Schleuse in Birsfelden ist nur gerade zwölf Meterbreit. Die grossen Frachter sind bis zu 125 Meter lang und 11 Meter 45Zentimeter breit. Da bleibt kein Platz für Fehler.»

Gibello teilt sich das Lotsen-Geschäft mit vier Kollegen. Alle arbeitenselbständig erwerbend, koordinieren sich aber und erarbeiten gemein-same Einsatzpläne. Je nach Verkehrsdichte lenken sie bis zu zehn Schif-fe pro Tag durch ihr Revier; von der Dreirosenbrücke bis zur Schleuse inBirsfelden. Wer Dienst hat, ist von fünf Uhr morgens bis zehn Uhrabends auf Pikett.

Heute ist nicht viel los. Hin und wieder drückt Gibello auf eine Ta-ste seines Telefons. Dann leuchtet das Display auf, und das Hinter-grundfoto mit seiner Frau Martine drauf erscheint. «Eine ganz liebe

Frau», sagt der 62-Jährige, «sie hat das ganze Leben lang mitgemacht,48 Jahre bin ich jetzt auf dem Wasser. So eine muss man erst einmalfinden.»

Main, Mosel, Neckar, RheinGibello lebt mit seiner Frau in einem kleinen Dorf in den Vogesen,

wenige Meter von seinem Elternhaus entfernt. «Hier habe ich mein gan-zes Landleben verbracht», sagt er. Seine Mutter habe eigentlich gewollt,dass er studiere und Lehrer werde. «Wir waren eine grosse Familie oh-ne Geld, sieben Kinder. Den Lehrerberuf fand sie vielversprechend.»Zwei von Gibellos älteren Brüdern waren bereits an der Schifferschulein Strassburg, und wenn sie in den Ferien zu Hause vom Leben auf demSchiff schwärmten, hörte Gibello staunend zu. Mit 14 gab es auch fürihn kein Halten mehr, er packte seine Sachen und ging ebenfalls nach

Strassburg. «Damals war es normal, dass man mit 14 Jahren seine Fa-milie verlässt, um zu arbeiten», sagt Gibello. Er trägt ein kariertes Hemdund schwarze Hosen aus robustem Outdoor-Stoff. Seine grau-schwar-zen Haare sind sorgfältig frisiert, eine eckige Brille gleitet ihm beim Re-den langsam über den Nasenrücken.

«Zuerst wurde ich Matrose, dann Steuermann und mit 26 Jahren warich bereits Kapitän», erzählt Gibello, der auf der Mosel, dem Main, demNeckar und dem Rhein fuhr. Während er auf dem Schiff war, hat Marti-ne zu Hause die Stellung gehalten. «Wir haben drei Kinder. Als sie kleinwaren, habe ich versucht, so oft wie möglich bei der Familie zu seinoder sie mit aufs Schiff zu nehmen. Trotzdem, ich war oft weg.» Gibel-lo schiebt seine Brille hoch. 18 Stunden pro Tag habe man auf dem Was-ser gearbeitet, von fünf Uhr morgens bis 23 Uhr abends. «Die Tage ver-gingen trotzdem wie im Flug. Auf dem Wasser geht die Zeit irgendwieanders.»

Rheinlotsen«Auf dem Wasser gehtdie Zeit anders»François Gibello ist einer von fünf Flusslotsen in der Schweiz. Der 62-Jährige steuert diegrossen Frachtschiffe durchs enge Basler Rheinknie: einer der gefährlichsten Streckenab-schnitte des 1324 Kilometer langen Stroms – und ganz Europas.

«Damals war es normal, dass man mit 14 Jahren seineFamilie verlässt, um zu arbeiten.»

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Nachdem Gibello 30 Jahre auf dem Fluss gearbeitet hatte, nahm ereine Stelle als Personalchef bei einer Schiffstransportfirma an. Drei Jah-re lang arbeitete er im Büro. «Es hat mir gefallen, meine ehemaligen Kol-legen zu betreuen und zu unterstützen. Aber dann wollte ich wiederaufs Schiff.» Da er keine Lust mehr hatte, tagelang von Martine getrenntzu sein, hat er die ausgeschriebene Stelle als Lotse in Basel angenom-men. «So kann Martine jederzeit in meine Dienstwohnung nach Baselkommen. Und nach Feierabend können wir noch etwas flanieren.»

In den Schweizerischen Rheinhäfen in Basel, Birsfelden und Muttenzwird jährlich ein Gütervolumen von fast sechs Millionen Tonnen und100 000 Containern umgeschlagen. Für den Import spielt der Hafen einewichtige Rolle: Rund zwölf Prozent aller in dieSchweiz eingeführten Güter erreichen dasLand über den Wasserweg. «Ölprodukte, Ma-schinenteile, Kohle, Getreide, Kies, Düngermit-tel, in dieser Reihenfolge», zählt Gibello jeneGüter auf, die er am häufigsten durch Baselsteuert. Trotzdem: Das Geschäft der Lotsen läuft schlecht. Früher seiendie Schiffe kleiner gewesen, konnten weniger laden und mussten des-halb häufiger fahren, erklärt Gibello. Heute seien sie bis zu 125 Meterlang und hätten oft ganze 2600 Tonnen Öl an Bord. Dazu komme dashäufige Hochwasser, das die Rheinschifffahrt lahmlegt. «Weil wir aufAbruf arbeiten, wissen wir nie, wie viel wir Ende Monat auf dem Kon-to haben.» Pro Fahrt erhält der Lotse 68 Euro, bezahlt wird er direkt vomSchiffer. Gibello seufzt. Für dieses Geld ist er innert 15 Minuten auf demSchiff, ob es nun unterhalb der Dreirosenbrücke oder oben bei derSchleuse Birsfelden auf ihn wartet, übernimmt das Steuer und fährt los.

Wieder drückt Gibello aufs Handy, Martine leuchtet auf. Durch diemit Zitronen bedruckten Küchenvorhänge ist der graue Himmel zu se-hen. Es ist viel zu warm für diese Jahreszeit, ein leichter Regen fällt. DieKüchenuhr zeigt 10 Uhr 30. Dann klingelt das Telefon.

Rheinschwimmer im WinterKeine volle Minute später sitzt Gibello auf seinem Velo und radelt

durch die Langen Erlen Richtung Birsfelden. Zehn Minuten späterstemmt er sein Velo auf Deck des holländischen Tankschiffs, das in derSchleuse liegt, springt selber auf und macht sich auf die Suche nach derBesatzung. Die «Sol» hat 2045 Tonnen Diesel von Antwerpen in die

Schweiz transportiert und ihre Ladung in Birsfelden gelöscht. Jetzt war-tet sie auf die Talfahrt. Ein tschechischer Matrose im blauen Überge-wand ist daran, die Taue loszumachen. Während Gibello die Treppezum Steuerhaus hinaufgeht, wird das Wasser aus der Schleuse gelas-sen, und algenbewachsene Betonmauern wachsen links und rechts desSchiffes in die Höhe.

«Heihei», sagt Gibello und nickt dem Kapitän zu, der im wuchtigenLedersessel im Steuerhaus sitzt. Dieser lächelt. «Wir kennen uns, gell»,sagt er und Gibello nickt: «Ist aber schon ein paar Jahre her.» Dannübergibt ihm der Kapitän seinen Platz. Gibello setzt sich ans Steuer: di-

Das Velo ist François Gibellos wichtigstes Arbeitsinstrument: «Ob bei Sonne oder Schnee: So bin ich am schnellsten auf dem Schiff.»

«Wir Kapitäne manövrieren mit einem enormen toten Win-kel. Vom Kapitänsstuhl aus sieht man die Wasseroberflä-che erst 300 Meter vor dem Bug.»

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verse Knöpfe, Schalthebel, Anzeigenmonitore, ein Radar. «Jedes Schiffist anders», erklärt Gibello. «Die ‹Sol› ist ein älteres Schiff mit wenigSchikanen. 110 Meter lang, neun Meter breit. Wir müssen mit jedemSchiff klarkommen.» Das Schleusentor öffnetsich. Langsam steuert er die «Sol» aus demstillen Wasser vor der Schleuse in den Strom.Der Rhein hat leichtes Hochwasser, 22 Stun-denkilometer sind bald erreicht. «Wo ist dieFlöte?», fragt Gibello. Tief ertönt die Schiffs-hupe. Gibello nickt. «In Basel muss man auch im Winter mit Schwim-mern rechnen.» Wenn sich diese an die Regeln hielten, sei alles gut.Aber wenn sie in die Schiffsstrasse schwimmen, wird es gefährlich:«Wir Kapitäne manövrieren mit einem enormen toten Winkel. Vom Ka-pitänsstuhl aus sieht man die Wasseroberfläche erst 300 Meter vor demBug.»

Wie ein Riegel im StromDer Radarbildschirm, der die Rheinlandschaft abzeichnet, wirkt für

Laien nicht wie eine Navigationshilfe, sondern wie ein Rorschachtest.Rasch kommt die Mittlere Brücke in Sicht, das Kapitänshaus wird ab-gesenkt. Erst im letzten Moment lenkt Gibello die «Sol» in die Fahrrin-ne unter der Brücke, sonst würde sie von der Strömung weggedrückt.Der Kapitän, der bisher konzentriert aufs Wasser geblickt hat, widmetseine Aufmerksamkeit jetzt dem Rheinufer. «Aufs Meer hat es mich niegezogen», sagt Gibello. «Auf offener See tagelang mit Autopilot zu fah-ren, das wäre nichts für mich. Auf den Flüssen hat man Aussicht; Städ-te und Dörfer, Wiesen und Wälder.»

Beim Hafen angekommen, übernimmt der Kapitän wieder das Steu-er. Er wendet die «Sol». Für einen Moment liegt das Schiff wie ein Rie-gel im Strom und nimmt fast seine gesamte Breite ein. Dann legt sie bei

der Liegestelle für Gefahrengutschiffe an. Gibello schüttelt dem Kapi-tän die Hand: «Bis dann», verabschiedet er sich, holt sein Velo und lässtes hinunter auf den Quai. Noch zwei Jahre will Gibello weitermachen,dann geht er in Pension. «50 Jahre war ich dann auf dem Wasser. Ichbereue es nicht. Das ist mein Leben.»

Gibello radelt in seine Dienstwohnung zurück, um aufs nächsteSchiff zu warten. Die «Sol» fährt weiter. Möwen begleiten sie einStück. ■

«Ein Lotse muss mit jedem Schiffstyp klarkommen» – Gibello auf Deck und am Steuer der ‹Sol›.

Der Radarbildschirm, der die Rheinlandschaft abzeichnet,wirkt für Laien nicht wie eine Navigationshilfe, sondernwie ein Rorschachtest.

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PharmaGeschäft mit NebenwirkungenMedikamente, die mehr nützen als schaden und verheimlichte Studien – ein neues Buch zeigtauf: Die Pharmaindustrie kann Ihre Gesundheit gefährden.

VON KEVIN GOPAL

«Es gibt kein Problem», sagte Grossbritanniens GesundheitsministerLord Howe eines Morgens in einem Radiointerview auf die Vorwürfe,Pharmakonzerne würden missliebige Studienergebnisse unter Ver-schluss halten. Forschungsdaten würden keine verloren gehen, erklärteder Minister, die Medikamentenhersteller seien ja gesetzlich dazu ver-pflichtet, die Ergebnisse freizugeben. Einige Stunden später im Parla-ment klang es bereits etwas anders, als sein Ministerkollege NormanLamb eingestand: «Es muss mehr getan werden, um die Veröffentli-chung der Forschungsergebnisse zu garantieren.»

Herzinfarktpatienten, die tödliche Herzmedikamente erhielten, Anti-depressiva, die bei jungen Leute Selbstmordgedanken auslösten und ei-ne Rechnung von rund 500 Millionen Pfund (etwa 740 Millionen Fran-ken) für die britischen Steuerzahler, damit die Bevölkerung mit einemMedikament gegen Grippe eingedeckt wurde, das offenbar kaum wirk-samer ist als ein simples Schmerzmittel: All diese Vorwürfe sind nichtneu. Doch der Arzt, Autor und selbst ernannte «Nerd» Ben Goldacre hatsie erstmals in einem Buch akribisch dokumentiert.

«Der wahre Umfang dieser mörderischen Katastrophe enthüllt sicherst, wenn alle Einzelheiten klar sind», schreibt er in «Bad Pharma». Undkommt zum Schluss: «Die Wissenschaft ist in einem industriellen Aus-

Daten zur (Un-)Wirksamkeit von Tamiflu bleiben unter Verschluss: Severin Schwan, CEO des Basler Pharmakonzerns Roche.

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mass pervertiert und missbraucht worden.» Nun regt sich Widerstand:Im britischen Parlament werden Fragen gestellt, das «British MedicalJournal» bearbeitet die Schweizer Firma Roche energisch, ihre Datenzum Grippemedikament Tamiflu freizugeben, und der britische Phar-mariese Glaxo SmithKline hat versprochen, die Rohdaten hinter ihrenVersuchen zu veröffentlichen.

Warum hat es so lange gedauert, bis dieser Skandal wahrgenommenwurde? «Wie soll man die Öffentlichkeit sensibilisieren, wenn alle, aufdie wir angewiesen sind, versagt haben?», fragt Goldacre zurück. «DieAufsichtsbehörden und die Medizinverbändehaben nichts getan. Wir haben es mit einemverschachtelten Ökosystem von Versagern zutun, die sich gegenseitig schützen.» Tatsäch-lich zeigt Goldacre in seinem Buch auf, dassdie Vertuschungen System haben. Er zitiertStudien, wonach mehr als die Hälfte aller abgeschlossenen Medika-mentenversuche nicht veröffentlicht werden und Versuche mit positivenErgebnissen eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit haben, veröffent-licht zu werden, als solche mit negativen.

Placebo mit NebenwirkungenDies hat Folgen. Goldacre beschreibt den Fall Reboxetin, ein Antide-

pressivum, das er selbst seinen Patienten verschrieb, bis zuvor unveröf-fenlichte Daten aufzeigten, dass es kaum effektiver ist als ein Placebo,dafür aber schlimmere Nebenwirkungen hat als andere Antidepressiva.Der Hersteller Pfizer hatte bis dahin bloss eine Studie publiziert, diezum Schluss kam, dass Reboxetin wirksamer sei als ein Placebo – undsechs Studien in der Schublade verschwinden lassen, die zum gegentei-ligen Schluss kamen.

Goldacre erzählt auch die Geschichte, wie im Jahr 2006 in London ansechs Freiwilligen das neue Medikament TGN 1412 zum ersten Mal amMenschen getestet wurde. Innerhalb eines Tages hatten alle schreckli-che Symptome entwickelt, darunter Flüssigkeit in den Lungen, Nieren-versagen und unkontrollierbare Blutgerinnung. Alle brauchten Intensiv-pflege. Diese Freiwilligen kamen gerade noch mit dem Leben davon,aber ihre Qual hätte sich vermeiden lassen, wenn die Versuchsergeb-nisse eines ähnlichen Medikaments ein Jahrzehnt vorher veröffentlichtworden wären.

Der weltweite Verkauf von Produkten der Pharmaindustrie belief sichim Jahr 2011 auf beinahe eine Billion US-Dollar. Der Bestseller unter denMedikamenten, das Magen- und Darmmittel Nexium, setzt pro Jahrrund 1,3 Milliarden Franken um. Für die Industrie ist die Neulancierungvon Medikamenten im Vergleich zu den goldenen Jahren der Brancheschwieriger geworden. Es erstaunt darum nicht, dass sie potenzielleneue Umsatzträger möglichst schnell zugelassen haben möchte.

Goldacres Zorn richtet sich jedoch nicht allein gegen die Industrie,sondern ebenso gegen akademische Institute, die es Kunden aus derPharmaindustrie erlauben, ihre Forschung mithilfe von Vertraulichkeits-vereinbarungen zu verschleiern. Und er zielt auf Aufsichtsbehörden, diesich eher den Herstellern als den Patienten verpflichtet fühlen und da-her nur äusserst widerwillig Informationen herausgeben.

Eine erstaunliche Passage in «Bad Pharma» erzählt von einer vier-jährigen Blockade durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA),als Forscher des hochangesehenen Nordic Cochrane Centre versuch-ten, Daten über zwei Diätpillen zu erhalten. Die EMA, verantwortlichfür die Genehmigung der Arzneimittel in der EU, weigerte sich, die Da-ten herauszugeben – sie habe die kommerziellen Interessen des Her-stellers zu wahren. Die Forscher beschwerten sich beim EU-Ombuds-mann, der der EMA befahl, die Daten freizugeben. Die Behörde wei-gerte sich weiter – während eines der Medikamente, Rimonabant vonSanofi-Aventis, wegen psychischen Risiken wie Selbstmord vom Marktgenommen wurde. Als die EMA endlich nachgab, sagte sie den For-schern, die Daten seien bei der britischen Regulierungsbehörde für Me-

dikamente MHRA. Diese wiederum teilte mit, sie hätte sämtliche Da-ten geschreddert.

Das EU-Parlament kritisierte die EMA scharf dafür, dass sie ihren Ge-schäftsführern erlaubt, kurz nach Verlassen der Agentur hochbezahltePosten in der Industrie anzunehmen. Die EMA habe die daraus entste-henden Interessenkonflikte nicht ernst nehmen wollen. Ebenfalls kor-rumpiert sind laut Goldacre Medizinverbände, die sich weigern, wis-senschaftliches Fehlverhalten zu verurteilen, und deren Mitglieder Me-dikamente von Firmen verschreiben, die ihnen Bewirtung oder gespon-

serte Ausbildungen angeboten haben. Mitverantwortung tragen auchPatientenverbände, die sich als unabhängig ausgeben – aber weitgehendvon Big Pharma finanziert sind. «Die Silberrücken der Branche habendie Bevölkerung im Stich gelassen», sagt Goldacre, der betont, dass dieIndustrie auch wertvolle Medikamente herstelle, die «in einem epischenAusmass» Leben retten, und dass es viele Leute mit guten Absichten inden Firmen und Regulationsbehörden gebe. Er meint jedoch: «MancheLeute gehören ins Gefängnis. Die Öffentlichkeit muss das Problemwahrnehmen und den Verantwortlichen die Hölle heiss machen.»

Hoffnung auf Insider mit RückgratGoldacres Buch brachte die Pharmaindustrie – einen der führenden

Exporteure und Investoren in die Forschung und wirtschaftliche Ent-wicklung Grossbritanniens – auf die Hinterbeine. Der Verband der briti-schen Pharmaindustrie (ABPI) nahm wie folgt Stellung: «Die Beispiele,auf die er sich bezieht, sind längst dokumentiert und veraltet, und diebetreffenden Firmen sind schon längst auf diese Fragen eingegangen.»Goldacre jedoch insistiert, dass diese Stellungnahme die anhaltendeWeigerung der Firma Roche, Informationen über Tamiflu freizugeben,ausser Acht lasse: «Die Behauptung, all das gehöre der Vergangenheitan, ist nachweislich falsch. In dieser Stellungnahme der ABPI spiegeltsich das ganze Problem.»

Gegenüber unserem Schwester-Strassenmagazin «Big Issue in theNorth» teilte ein Sprecher der ABPI mit, es sei im Prinzip empfohlenePraxis, dass ihre Mitglieder alle Daten, ob positiv oder negativ, veröf-fentlichen. Die ABPI anerkenne jedoch, dass alle Beteiligten noch vielzu tun hätten, um eine grössere Transparenz sicherzustellen, und ver-spreche, «mit allen Akteuren des Gesundheitssektors zusammenarbei-ten, um dies zu erreichen». Der Sprecher nannte ausserdem diverse Be-mühungen der Industrie in Bezug auf die Erstellung von zentralen Re-gistern für Medikamenten-Studien und betonte die Zusammenarbeit mitder Wissenschaft im Bereich Ethik. Er gab jedoch keine direkte Antwortauf die Frage, ob die ABPI eine Pflicht zur Bekanntgabe aller Versuchs-daten unterstützen würde.

Goldacre misstraut den Versprechungen und dem, was er Scheinlö-sungen nennt, zeigt sich aber dennoch ermutigt von den jüngsten Ent-wicklungen in Richtung mehr Offenheit. Er drängt darauf, grösser an-gelegte, qualitativ bessere und transparentere Versuche durchzuführen,verlangt, dass Ärzte ihre Verbindungen zur Industrie offenlegen, und er-mutigt Patienten, mehr Informationen über die Mechanismen der Indu-strie einzufordern. «Ich habe grosse Hoffnung, dass Mediziner wie Aka-demiker nun aktiv werden und etwas gegen diese ernsthafte Gefähr-dung der Patientensicherheit unternehmen», sagt Goldacre, und: «Ichhoffe, dass nun Leute mit Rückgrat in der Pharmaindustrie Stellung be-ziehen. Es gibt zu viele in ihrer Gemeinschaft, die diese Probleme ein-fach ignorieren. Und dieses Schweigen schadet den Patienten.» ■www.street-papers.org/INSP

Übersetzung: INSP, Bearbeitung: Florian Blumer

Medikamentenversuche mit positiven Ergebnissen habeneine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, veröffentlicht zuwerden, als solche mit negativen.

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Einwanderung Alles KäseWie sind die denn so, diese Schweizer? Bund, Firmen und Private informieren per Broschü-ren und im Netz Einreisewillige darüber, was sie hier erwartet. Sie lernen: Pünktlichkeit gehtuns über alles, Bier zum Fondue geht gar nicht – und am besten geht der zahlungskräftigeEinwanderer als Erstes zur Bank.

VON MANUELA DONATI (TEXT) UND IRÈNE MEIER (BILD)

Berge, Schoggi und Käse, das sind die drei wichtigsten Aushänge-schilder der Schweiz. Dass die Tourismusindustrie sie für ihre Kampag-nen nutzt, ist verständlich. Doch nicht nur Touristen kommen in dieSchweiz. Der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung ist in den letz-ten Jahrzehnten stetig gestiegen. Darunter sind auch immer mehr hochqualifizierte und karrierebewusste Ausländer. Diese Expatriates, kurzExpats, bleiben meistens drei bis fünf Jahre an einem Ort und bewegen

sich in einem internationalen Umfeld. Aus wirtschaftlichen Gründenliegt es im Interesse der Schweizer Arbeitgeber, sie ins Land zu holen.Dass dies mit anderen Argumenten als mit Bildern von pittoresken Berg-landschaften geschehen muss, ist klar. Doch wie informiert die Schweizihre Neo-Bewohner über den Alltag, die Sitten und die Bräuche imLand?

Erste Anlaufstelle für Antworten auf diese Frage ist das Bundesamtfür Migration. «Willkommen in der Schweiz», heisst es entsprechend zu-oberst auf der Seite. Damit hat es sich dann aber auch mit der (Benut-

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zer-)Freundlichkeit. Die Seite, in nüchternem Blau-Grau gehalten undvom Aufbau her eher schlicht, wirkt wenig einladend. Immerhin, sofernman den Link dazu findet, lässt sich in diversen Sprachen eine 20-seiti-ge Broschüre herunterladen. Dieses «Begrüssungsinstrument» soll lautder Homepage «gesamtschweizerisch geltende Grundwerte, Rechte undPflichten, integrationsrelevante Botschaften gemäss der geltenden Ge-setzgebung sowie praktische Informationen zu Lebens- und Arbeitsbe-dingungen in den verschiedenen zentralen Lebensbereichen vermit-teln». Die Broschüre gehört zu den Bergen an Informationsmaterial, dasKantone, Städte und Gemeinden allen abgeben, die sich neu in derSchweiz anmelden. Und so werden die direkteDemokratie, die Vielfalt des Schweizer Schul-systems und die Wichtigkeit von Waschkü-chenplänen erklärt. Immer wieder fallen dieBegriffe «gegenseitiger Respekt», «Rücksicht-nahme von allen» und «offene Diskussion» –im Kopf bildet sich automatisch das Bild des mahnenden Zeigefingers.Lebensläufe von Menschen in der Schweiz – Secondos, junge Power-frauen und Patchwork-Familien – sollen zeigen, dass hier ein jeder seinPlätzchen findet.

Eine männliche WeltWeniger auf multikulti macht «swissinfo», die öffentlich-rechtliche

Nachrichten- und Informationsplattform der Schweiz. In einem «HowTo»-Guide werden Fakten und Infos zu den Themen Arbeit, Politik,Ausbildung, Tourismus und «Daily life» geliefert. Ob dabei unbedingtherausgehoben werden muss, dass erst 1990 alle Frauen der Schweizabstimmen durften? Auch der Satz «Die Arbeitswelt in der Schweiz isteine männliche Welt» zeugt nicht gerade von der Schweiz als modernemLand – und der Beisatz «das ändert sich langsam» macht das Ganzenicht besser.

Bei einem Umzug in die Schweiz geht es um mehr als um direkte De-mokratie und Schulsysteme. Viele Fragen kommen erst, wenn man dannim Land ist und feststellt, dass die Schweiz doch nicht nur aus Bergenbesteht. Deshalb verlassen sich viele Expats gerne auf Erfahrungsbe-richte von Gleichgesinnten – und diese gibt es zahlreich im Internet.Zum Beispiel das Online-Magazin «Newly Swissed». Dessen Gründer Di-mitri Burkhard studierte und arbeitete während einem Jahrzehnt in denVereinigten Staaten und kam 2009 mit seiner japanischen Frau Mamikoin die Schweiz zurück. «Nach einem langjährigen Auslandaufenthalterschien Altbekanntes plötzlich wieder wie neu und jede Ecke schien ei-ne neue Überraschung zu verbergen», erinnert er sich. Aus dieser Stim-mung heraus gründete er «Newly Swissed» vor drei Jahren. Zusammenmit einem multinationalen Team von Reportern hält Dimitri Burkharddie Expat-Community über Aktuelles aus der Schweiz auf dem Laufen-den und gibt Alltagstipps. Wenn das Team Probleme mit der Waschkü-chenordnung thematisiert oder erklärt, wie man Skischuhe so anzieht,dass sie perfekt passen und was alles zu den Pflichten einer Gotte ge-hört, dann gibt das einen viel persönlicheren und echteren Einblick indas Leben in der Schweiz, als gutgemeinte Info-Broschüren das je ver-mögen.

Dennoch sind auch Expats vor Klischees nicht gefeit. Dimitri Burk -hard ist sich dessen bewusst, entgegnet aber: «Unser Team deckt vonSpanien über Nordamerika und Japan verschiedene Blickwinkel ab. Ausdiesem Grund entsteht auf ‹Newly Swissed› ein stetig wachsendes, fa-cettenreiches Gesamtbild der Schweiz – wie es ja auch in der Realität soist.» Zudem helfe ihm der neue Blick und die Neugier des erst kürzlichZurückgekehrten dabei, «den eingefahrenen Klischees fernzubleiben.»

Catherine McLean spielt bewusst mit den stereotypen Bildern, dieAusländer von der Schweiz haben. Für das englischsprachige SchweizerNewsportal «The Local» hat sie mit dem Artikel «Etiquette in Switzer-land: tips and pitfalls» (Etikette in der Schweiz: Tipps und Fallen) eineArt Gebrauchsanweisung für die Schweiz geschrieben – und natürlich

kommt die berühmt-berüchtigte Schweizer Pünktlichkeit da vor. Auchdem Fondue wird grosse Wichtigkeit beigemessen: «Zum Thema Fon-due gibt es bestimmte Regeln, die unbedingt beachtet werden müssen»,schreibt McLean. Man dürfe nicht überrascht sein, wenn das Service-personal sich weigere, Bier zum Fondue zu servieren. «Die Schweizerwollen dann nicht schwierig tun. Sie sind einfach der Meinung, dass esGetränke gibt, die dazu beitragen, das Fondue besser zu vertragen.» DieQuintessenz von McLeans «Gebrauchsanweisung» ist eigentlich diese:In der Schweiz muss man sich strikt an formelle und informelle Regelnhalten, will man mit den Bewohnern auf gutem Fuss stehen. Natürlich

habe sie ihren Artikel mit einem Augenzwinkern geschrieben, wiegeltCatherine McLean ab, die einst für einen universitären Austausch ausKanada in die Schweiz kam, hier ihren zukünftigen Gatten kennenlern-te und deshalb blieb. «Die Aufzählungen im Artikel basieren aber alleauf meinen eigenen Erfahrungen oder den Erlebnissen von Freunden.Punkte wie korrektes Grüssen bis zum Einhalten des Waschplans soll-ten beachtet werden, wenn man sich in der Schweiz zu Hause fühlenwill.»

Als Erstes zur BankNeben den offiziellen Internet-Auftritten des Bundes und den unter-

schiedlichsten Erfahrungsberichten wenden sich auch private Unterneh-men an Expats. So informieren zum Beispiel Comparis und die CreditSuisse auf ihren Homepages über das Leben in der Schweiz. Sie gehörenzu den Toptreffern, wenn man bei Google den Begriff «neu in derSchweiz» eingibt. Während die Vergleichsplattform schnell zu den alt-bekannten Klischees greift – ein Info-Video gleicht einer Werbekampag-ne, die Schweiz Tourismus nicht besser machen könnte –, will die Cre-dit Suisse die Neo-Schweizer gleich an sich binden, am besten noch vordem Umzug in die Schweiz. Die Bank verspricht, beim Start in derSchweiz zu helfen – mit einer «individuellen Banking-Lösung» verstehtsich. Zur Rubrik «optimal einleben» gehört für die Bank an erster Stelleein Besuch in einer Filiale sowie eine Beratung in Sachen Hypothek undAnlagen. Kein Wunder, wird die Schweiz von aussen als Bankenrepu-blik wahrgenommen.

Eines haben offizielle Schweizer Infokanäle, Expat-Blogs und «HowTo»-Guides von privaten Unternehmen gemeinsam: Alle betonen, wiewichtig korrektes Verhalten für die Schweizer ist – ob es nun die pünkt-liche Einhaltung von Terminen oder den ordnungsgemässen Ablauf inder Waschküche betrifft. Doch wollen die Schweizer im Rest der Weltwirklich als das Volk wahrgenommen werden, dessen grösste Sorge esist, dass der Nachbar zur falschen Zeit waschen könnte? Und lockt manTop-Kaderpersonal wirklich mit der Info, dass Frauen in der Arbeitswelteigentlich noch gar keinen Platz haben?

Die Sache mit der Landespräsentation ist eine schwierige. Verschie-denste Interessen spielen mit und müssen berücksichtigt werden: Öf-fentliche Stellen wollen sich von der besten Seite zeigen und die neuenBewohner von den Vorteilen der neuen Heimat überzeugen. Arbeitgeberbuhlen um internationales Kader-Personal. Und die Expats bleiben oftzu wenig lang im Land, um stereotype Vorstellungen abzulegen. Ein bis-schen weniger Klischees und dafür mehr Ehrlichkeit würde der schwei-zerischen Selbstdarstellung gut tun. Doch dafür sind die Schweizerwahrscheinlich zu höflich. Ein weiteres Klischee – mit einem FünkchenWahrheit. ■

Lockt man Top-Kaderpersonal wirklich mit der Info, dassFrauen in der Arbeitswelt eigentlich noch gar keinenPlatz haben?

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musregionen, die partout nicht gewillt sind,die Servicequalität zu steigern oder die Preisezu senken? Die Chinesen werden es richten.Denn die kommen jetzt zu uns in die Ferien,bäumig ist das, weil sie ja auf Höflichkeit gradgar keinen Wert legen und sich Mehrbettzim-mer gewohnt sind.

Noch besser, sie kaufen grad die ganzen Ho-tels und Anlagen. Denn die Chinesen sind jetztauch Investoren. Denn ihre Banken hatten kei-ne Krise und mussten nicht gerettet werdenvom Staat, weil sie ja schon dem Staat gehö-ren, weil die Chinesen Kommunisten sind.Kommunisten mit Geld, noch so etwas Seltsa-mes, das eigentlich gar nicht sein dürfte, liegtdoch der Kommunismus auf dem Müllhaufender Geschichte. Typisch Chinesen.

Chinesen gibt es unglaublich viele und siemachen alles richtig, was wir falsch machen,und darum kann man über nichts mehr reden,ohne dass jemand sagt: also die Chinesen ...

Das ist anstrengend und macht Hunger unddarum höre ich jetzt auf und gehe etwas essen.Beim Chinesen.

STEPHAN PÖRTNER

([email protected])

ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER

([email protected])

Ich war noch nie in China. Ich kenne keineChinesen. Trotzdem gehen sie mir auf denGeist. Weil sie sich in jedes Gespräch, in jedeDiskussion einschleichen. Nichts geht mehrohne Chinesen.

Bemüht man sich, beispielsweise, seinenC02-Ausstoss zu verringern, indem man weni-ger Auto fährt und kein Fleisch isst, kommt be-stimmt einer, der einen auslacht: Die Chinesenlassen jeden Tag ein neues Kohlekraftwerk ansNetz. Da kannst du sparen, bis du schwarzwirst, dagegen kommst du nie an.

Argumentiert man dafür, dass es an der Zeitwäre, die Früchte der Mechanisierung undComputerisierung zu ernten und die Arbeits-zeiten ein wenig zu verkürzen, weil das Lebenja auch so schon schnell genug vorbeigeht,folgt unweigerlich der Hinweis auf die Chine-sen, die sieben Tage in der Woche arbeiten,

Wörter von PörtnerDie Chinesen

mindestens 16 Stunden pro Tag. Wenn wir danicht mithalten, sind wir weg vom Fenster.Selbst die Kinder, denen man ein bisschenKindheit gönnen möchte, ihnen erlauben, ihreZeit mit komplett unproduktiven und pädago-gisch wertlosen, allein des Pläsiers wegenunternommenen Beschäftigungen zu verbrin-gen, werden nicht verschont. Die Chinesennämlich halten ihre Kinder dazu an, den gan-zen Tag für die Schule zu büffeln, und zwarwichtige Fächer wie Mathematik und Chemie,nicht Sackhüpfen und Heuen wie bei uns, unddarum, will das arme Kind nicht dereinst alsvolkswirtschaftlicher Sondermüll auf einemungern gewährten Existenzminimum dahinve-getieren, sollte es gescheiter etwas lernen. Chi-nesisch zum Beispiel.

Mitleidiges Gelächter auch für jene, die be-finden, in der Schweiz werde es langsam eng.Die Chinesen leben noch viel enger, mehr oderweniger klaglos, ihr Quadratmeterbedarf proPerson im Gegensatz zu uns ist geradezu lä-cherlich. Die Chinesen würden glauben, sieseien in der ersten Klasse, wenn sie morgensum sieben im Zuggang von Zürich nach Bernführen. Dieser Platz, dieser Luxus!

Sogar jene, die im Stau stehen, sollten nichtklagen: Die Chinesen hatten kürzlich einenStau, der sich erst nach fünf Tagen auflöste.Nimm das, zweite Gotthardröhre.

Doch sie sind nicht nur bedrohlich, dieseChinesen. Unsere dahindümpelnden Touris-

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Les Reines ProchainesVoll im Saft

VON MICHÈLE FALLER

Sie nennen sich die nächsten Königinnen. Und das seit einem Vier-teljahrhundert. Dabei ist längst klar, dass Les Reines Prochaines, die indiesen Tagen die CD «Blut» veröffentlichen und mit ihrem neuen Büh-nenprogramm «Syrup of Life» auf Tournee gehen, bereits die ungekrön-ten Häupter des … ja, welchen Königreichs eigentlich sind? Diese Fragegab bereits 1998 Rätsel auf, als die Frauen in einer Fernsehsendung auf-gefordert wurden, sich selber zu beschreiben. Die Antworten kreistenum Tierliebe ohne Vegetarismus, Gemüsesuppe, Staubsaugen auf derBühne, aber auch um Musik. Zu sehen ist die köstliche Szene im paral-lel zum Album veröffentlichten Dokfilm von Claudia Wilke, die dasFrauenkollektiv die letzten drei Jahre begleitet hat und aufs 25-jährigeSchaffen zurückblickt.

Les Reines Prochaines machen Musik, Poesie und performativeKunst – verwoben zu einmaligen Bühnenprogrammen. Dabei geht esauch um Selbstermächtigung, denn eine Frontfrau gibt es nicht: JedeKünstlerin trägt ihre eigenen Songs und Performances vor und wird da-bei von der restlichen Band unterstützt. Entstanden ist die Band 1987im Umfeld des Autonomen Jugendzentrums AJZ in Basel. «Ich hätte niegedacht, dass es uns so lange geben würde», sagt Fränzi Madörin, diewenige Monate nach der Gründung gemeinsam mit Pipilotti Rist zurGruppe stiess. «Wir haben die Sache immer als Projekt betrieben unduns jeweils nach einem abgeschlossenen Programm neu orientiert undformiert», erklärt Madörin. Die aktuelle Besetzung bilden neben Madö-rin Gründungsmitglied Muda Mathis sowie Sus Zwick (seit 1991) undMichèle Fuchs, die 1998 zur Gruppe stiess. «Vielleicht hat die Bestän-digkeit und Kontinuität gerade mit dem Wissen zu tun, dass man nichtewig dabeibleiben muss», überlegt Madörin.

Muda Mathis führt einen weiteren Punkt ins Feld: «Wir haben so lan-ge überlebt, weil wir alles ignorieren», sagt sie an einer Stelle im Filmgrinsend. «Und weil wir bei dem bleiben, was uns interessiert.» Was Ma-this nicht interessiert, ist das reine Nacherzählen der Welt: «Kunst mussein Wagnis sein, sonst ist es nichts.» Und gewagt ist das, was Les ReinesProchaines auf der Bühne machen, bis heute. Sie singen zuweilendurchaus unmelodiös und mit ausgeprägtem Schweizerakzent in ver-schiedenen Sprachen. Ohne Angst vor der Blamage bringen sie mit pro-grammatischem Dilettantismus und grosser Ernsthaftigkeit Urkomi-sches und Poetisches dar. Sie verkörpern auf der Bühne ein Mammut,sinnieren über Menstruationsblut als persönliches Rothko-Rot oder be-trauern singend eine Leiche; die Gliedmassen derselben zur Illustrationin der Hand schwenkend. Sie sind sexy und verführerisch, und das weit-ab von überkommenen Frauenbildern.

All diese Unbekümmertheit, das Kurzentschlossene, das in umwer-fende Songs von schräger Schönheit, kruder Komik und wilder Poesiemündet, ist kunstvoll verarbeitet. Auf der neuen CD «Blut» erfahren wirvom gesundheitsfördernden Aspekt des Kreisels im Gegensatz zur Am-pel, von einem Alter Ego, das sich selbständig macht, und einem Mäd-chen aus den Bündner Bergen, das wegen der mütterlichen Cannabis-Plantage ein tragisches Ende nimmt. In «Please Take My Heart» ist das

Organ gemeint, in «Ach was würd ich gerne» schwärmen die Königin-nen vom Metzgerberuf, wegen den Hackebeilgeräuschen, und in «VonFenchel und Wurst» ist die Bigotterie der Hygiene Thema. Gesungenwerden die hochoriginellen Texte auf Deutsch, Rumantsch, Spanischund Englisch, und die Musik klingt mal nach Volkslied, mal nach sanf-tem Tom Waits oder moderner Klassik, immer wieder nach Kurt Weillund Bert Brecht, angereichert mit einem guten Schuss Elektropop undRock mit Soulanleihen. Vorgetragen mit der Nonchalance und Grössevon echten Königinnen. Oder von kommenden, die ihrem Publikum alsfortwährendes Versprechen hoffentlich noch lange erhalten bleiben. ■

Les Reines Prochaines: «Blut» (Unrecords)

Album Release: Sa, 2. Februar, Kaserne Basel. Anschliessend Tour mit dem

Live-Programm «Syrup of Life».

Daten: www.reinesprochaines.ch

«Les Reines Prochaines», Film von Claudia Wilke.

Premiere: So, 3. Februar, 12 Uhr, Kino Riffraff Zürich (mit Minikonzert);

18 Uhr, Kino Bourbaki Luzern (mit Minikonzert);

Fr, 15. und Mo, 18. Februar, 19 Uhr, Kino Metropolis, Hamburg.

So, 3. Februar, 11.55 Uhr, TV SRF Sternstunde Kunst.

Ignoranz als Überlebenskonzept: Les Reines Prochaines.

Les Reines Prochaines machen seit 25 Jahren Musik und Performance der radikalen Art. In ihrem neuen Pro-gramm besingen sie den Sirup des Lebens und ein Dokfilm blickt zurück auf ihre aussergewöhnliche Karriere.

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Kultur

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BuchMeertraumweltenNikolaus Heidelbach erzählt eine traurig-schöne Geschichte, inder die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit so fliessend istwie das Meer.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

«Schwimmen habe ich nie gelernt, ich konnte es schon immer.» Mit die-sem Satz beginnt Nikolaus Heidelbachs Buch über einen rothaarigenJungen, der stets eine Badehose und eine Schwimmbrille trägt. Undman ahnt gleich, dass etwas anders ist in der scheinbar heilen Welt, inder der Junge lebt. Die liegt am Meer, in einem Haus abseits vom Dorf.Der Vater ist Fischer und oft lange fort, die Mutter, die nie ins Wassergeht, arbeitet in Haus und Garten, und der Junge schwimmt und tauchtjeden Tag. Abends erzählt die Mutter von all dem, was es unter Wasser gibt, undman fragt sich, woher sie das weiss: von Meerjungfrauen, Neunaugen,Tintenprinzen, Wasserbischöfen, Meertrollen, Perlbootsmännern, Küs-serschlangen, Walen mit ganzen Dörfern auf dem Rücken und noch vie-lem mehr. Während sie erzählt, werden die Gestalten ihrer Geschichtenlebendig und erobern das Buch für sich. Über sieben Seiten ziehen siedurch die Unterwasser- und Traumwelt, ein Fabelwesen nach dem an-deren, beginnend mit einer kleinen Meerjungfraugarnele und endend inder Bettdecke mit einem Plumeauktopoden und einem Seepferdchen,das den schlafenden Jungen auf die Nase küsst – jedes Fabelwesen eineGeschichte für sich, die nachklingt und die weitere Erzählung des Bu-ches auf vielsagende Weise färbt: Der Junge findet ein Seehundfell, dassein Vater versteckt hat, und glaubt nun, sein Vater sei einer jener See-hunde, die an Land gehen und zu Menschen werden, so wie in den Ge-schichten seiner Mutter. Doch als er ihr seine Entdeckung verrät, ist sei-ne Mutter am nächsten Morgen verschwunden. Und ohne, dass es aus-gesprochen wird, ist klar, dass sie nicht zurückkommen wird.Nikolaus Heidelbach erzählt in seinem wunderbar illustrierten undpreisgekrönten Bilderbuch, dessen knappe Sätze weite Fantasieräumeöffnen, eine traurig-schöne Geschichte. Eine, die die Trauer über einengrossen Verlust behutsam in der Schwebe hält – zwischen wirklichemSchmerz und märchenhafter Prüfung. Vater und Sohn kommen zurecht,ab und zu liegen zwei frische Makrelen am Strand, und so rätselhaft wiedas Buch beginnt, so tröstlich endet es mit «Wenn ich gross bin, werdeich Seehund.»Nikolaus Heidelbach: Wenn ich gross bin, werde ich Seehund.

Beltz & Gelberg 2012. 21.90 CHF.

FilmDas war’sDer Tod als täglicher Begleiter: Krimiautorin Mitra Devi hat einenDokumentarfilm gedreht, der unter die Haut geht.

VON FLORIAN BLUMER

Nahaufnahme: zwei blasse Füsse, die unter einem Leichentuch hervor-lugen, am linken grossen Zeh ein weisser Zettel. In Szenen wie dieserschimmert die Krimiautorin kurz durch. Dennoch hat Mitra Devis Film -erstling mit ihren erfolgreichen blutigen Geschichten um die ZürcherPrivatdetektivin Nora Tabani herzlich wenig zu tun: Begleitet von einerdüster-melancholischen Klaviermelodie fliesst der Film ruhig dahin.Zwar fehlen auch die – offenbar – unvermeidlichen Bilder von dunklenÄsten und Seerosen nicht. Doch die Stimmung kippt nie ins «Tötelige».Im Gegenteil: Der Film ist äusserst lebhaft und packt einen von Beginnweg. Weil die vier porträtierten Frauen, die alle beruflich mit dem Todzu tun haben, den Zuschauer sehr nahe an sich heranlassen; weil ihreoffenen Ausführungen berühren; und weil auch die Kamera nicht vordem Tod zurückschreckt. Sie bleibt eisern dran, wenn die Pathologin mitdem Metzgermesser die Innereien eines Verstorbenen filetiert, die To-tengräberin endgültig den Sargdeckel über einer Verstorbenen schliesst,die Sterbebegleiterin den wundenübersäten Körper einer todgeweihtenPatientin massiert oder das Medium einer zu Tränen gerührten KlientinBotschaften der verstorbenen Grossmutter überbringt.So verschieden die vier Frauen und ihr Zugang zum Tod, so unter-schiedlich sind auch ihre Vorstellungen davon. Sie reichen von einemschlichten «Wenn man gestorben ist – das war’s» bis zur todsicherenÜberzeugung, dass es danach weitergeht. Die vier Todesexpertinnen of-fenbaren sehr differenzierte, persönliche und teils überraschende An-sichten. Dies macht den Film nicht nur zu einer berührenden Erfahrung,sondern ermöglicht dem Zuschauer auch eine aufschlussreiche Ausein-andersetzung mit einem Thema, das, wie wir von den vier Frauen ler-nen, viel mehr mit dem Leben zu tun hat, als man meint.Mitra Devi: «Vier Frauen und der Tod», Dokumentarfilm, Schweiz 2012, 63 Min.

(Schweizerdeutsch, keine Untertitel). Mo, 4. Februar, 19 Uhr im Spuren-Salon

Winterthur, So, 7. Februar, 20.30 Uhr im Kino Cinématte, Bern, So, 24. Februar, 11 Uhr

im Schlosskino Wädenswil. Weitere Aufführungen im Mai im Rahmen des

Pink-Apple-Festivals in Zürich und Frauenfeld. Weitere Vorführdaten in Planung,

siehe www.mitradevi.ch/termine

Friedhof mit Aussicht: Die Totengräberin von Wädenswil bei der Arbeit.

Meerjungfraugarnelen,

Wasserbischöfe, Meer-

trolle: irgendwo da drin,

ganz fest versprochen.

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WebGute NachrichtenErfundene News sind die besseren News. Dies beweist die Online-Zeitung «Der Postillon» jeden Tag aufs Neue.

VON FLORIAN BLUMER

Es wäre eigentlich zum Heulen. Die renommierte deutsche Tageszeitung«Frankfurter Rundschau» ist eingegangen, das spanische Traditionsblatt«El Pais» kämpft ums Überleben und die hiesigen Gratiszeitungen de -cken uns tagtäglich mit Meldungen über das Liebesleben von Missenund Models ein. Mitten in dieses Elend platzte kürzlich eine erfreulicheNachricht: «Axel-Springer-Verlag gibt zu, dass es sich bei ‹Bild› um Sa-tirezeitung handelt.» Wie das? Die Online-Zeitung «Der Postillon» wei-ter: «Jahrzehntelang hatte sich das Blatt unter Zuhilfenahme aller Stil-mittel der Satire – etwa Übertreibungen, albernen Wortspielen oder drei-sten Lügen – über politische und gesellschaftliche Fehlentwicklungenlustig gemacht und diese so mit spitzer Feder karikiert.» Nun sei derSchwindel offensichtlich geworden und «Bild» hätte sich deshalb dazuentschlossen, «die Katze aus dem Sack zu lassen».Nun, die traurige Wahrheit ist natürlich, dass die deutsche Bild-Zeitung,quasi die grosse böse Schwester des «Blicks», zwar all die beschriebe-nen Mittel anwendet, jedoch weiter so tut, als wäre es ihr damit ernst.Nicht sie, sondern «Der Postillon» ist die Satirezeitung – betrieben vondem 31-jährigen Altphilologen und Anglisten Stefan Sichermann. Diegute Nachricht ist hingegen: Das Lesen der von hinten bis vorne er-stunkenen und erlogenen Meldungen macht dermassen viel Spass, dasseinem im Lachrausch der Endorphine glatt der Niedergang der seriösenPresse egal werden könnte.Beispiele gefällig? «Ärzte drohen mit Streik bis zum Ende der Golfsai-son», «Umfrage: Mehrheit würde verheerenden Godzilla-Angriff lang-weiliger Eurokrise vorziehen» oder «Gelungene Integration: kleiner Tim-my von deutschen und türkischen Schülern gemobbt». Und weil – zu-gegeben – auch wir mit negativen Meldungen oft schlechte Stimmungverbreiten, zum Schluss noch zwei Schlagzeilen von der Strasse: «Stoff-wechselprobleme: Junkie verträgt Umstieg von Crack auf Speed nicht».Und: «Erster Punk akzeptiert auch EC- und Kreditkarte». Unsere Empfehlung gegen den täglichen Zeitungsblues: Browser öffnen,«Einstellungen …» anklicken und unter «Startseite:» www.der-postil-lon.com eingeben. Es wirkt. www.der-postillon.com. Eine Sammlung der besten Nachrichten ist auch als Buch

erhältlich: Stefan Sichermann: Der Postillon. Ehrliche Nachrichten – unabhängig,

schnell, seit 1845. Riva Verlag, 15.90 CHF.

Der Postillon: Ehrliche Online-Nachrichten, seit 1845.

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Die 25 positiven FirmenDiese Rubrik ruft Firmen und Institutionenauf, soziale Verantwortung zu übernehmen.Einige haben dies schon getan, in dem siedem Strassenmagazin Surprise mindestens500 Franken gespendet haben. Damit helfensie, Menschen in pre kären Lebensumstän-den eine Arbeitsmöglichkeit zu geben undsie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zube g leiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? DieSpielregeln sind einfach: 25 Firmen werdenjeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jenerBetrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet

werden?

Mit einer Spende von mindestens 500 Franken

sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3,

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ratatat – freies Kreativteam, Zürich

G.A.T.E.S., Hôteliers & Restaurateurs SA, Basel

Claude Schluep & Patrick Degen, Rechts -

anwälte, Bern

homegate AG, Adliswil

Sprenger & Partner Bauingenieure SIA USIC,

Arlesheim

Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

IBP – Institut für Integrative Körperpsycho -

therapie, Winterthur

Knackeboul Entertainment

Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

Girod Gründisch & Partner, Visuelle Kommu -

nika tion, Baden

Paul & Peter Fritz AG, Literary Agency, Zürich

TYDAC AG, Web-Mapping-Software, Bern

Kaiser Software GmbH, Bern

Balcart AG, Carton, Ideen, Lösungen, Therwil

Lions Club Zürich-Seefeld

Klimaneutrale Druckerei Hürzeler AG,

Regensdorf

Scherrer & Partner GmbH, Basel

Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG)

Locher, Schwittay Gebäudetechnik GmbH, BS

fast4meter, storytelling, Bern

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

Schweiz. Tropen- und Public Health-Institut, BS

seminarhaus-basel.ch

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Die Heartless Bastards kennen auch zarte Momente.

BernTräumen mit MeretDie Wiesen sind gefroren, Nebelschwaden zie-hen über die Aare, die Flusstemperaturschwankt zwischen 5 und 6 Grad – SäbeliBum, das grosse integrative Festival im Lorrai-nebad, scheint ewig weit weg. Und doch:Frei_Raum lebt! Das Veranstalter-Kollektiv hatunter Mitwirkung von behinderten wie nicht-behinderten Musikern und Schauspielerinnenein integratives Hörspiel produziert, das unszum Träumen bringen will. Anlass ist der 100.Geburtstag der Künstlerin Meret Oppenheim.Diese mass dem Träumen grosse Bedeutungzu, sah ein Stück weit gar ihre Aufgabe darin:«Der Künstler träumt für die Gesellschaft», lau-tet ein Zitat von ihr. Nun träumt Frei_Raum füruns. Also: Beim Kunstmuseum Kopfhörer mitHörspiel holen, zum winterlich-vereisten Me-ret-Oppenheim-Brunnen rüberspazieren undlosträumen. (fer)«Wir träumen Meret», integratives szenisches Hörspiel

des Kollektivs Frei_Raum, noch bis 10. Februar,

Kopfhörer mit Hörspiel zu beziehen an der Kasse

des Kunstmuseums Bern, Di, 10 bis 21 Uhr,

Mi bis So 10 bis17 Uhr.

Oppenheim bringt Mensch und Tier zum Träumen.

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AarauGäriges GerüttelHeartless Bastards klingt als Bandname ziem-lich grob. Tatsächlich gründet die Musik derUS-Gruppe um Erika Wennerstrom im Gara-genrock, doch gibt es zwischen den saftigenRiffs immer wieder auch zärtliche Momente.Über vier Alben änderten sich Besetzung undStil verschiedentlich, aber ob nun Blues, Souloder Country einfloss, die Bastards blieben imHerzen doch immer eine Rock’n’Roll-Band, diein Wennerstrom über eine Frontfrau mit Cha-rakterstimme verfügt, die Klangfarben vomKlageweib bis zur Kratzbürste kultiviert. In Eu-ropa ist das Quartett bis heute ein Geheimtipp.In den USA hingegen erschienen ihre Plattenauf dem Bescheidwisser-Label Fat Possum undihr aktuelles Album «Arrow» wurde produziertvom Jim Eno, Drummer von Spoon (noch soeine grossartige Ami-Band, die hierzulande ig-noriert wird). Also: Wer seinen Rock gern gä-rig und gut gerüttelt gespielt hat, nimmt dieReise nach Aarau zum einzigen SchweizerGastspiel der Heartless Bastards bereitwillig inAngriff. (ash)Heartless Bastards, Fr, 15. Februar, 21 Uhr, Kiff, Aarau.

Frisch ausgedruckt und ziemlich trendy.

Anzeigen:

ZürichStuhl aus dem DruckerDer 3D-Drucker macht’s möglich: Objekte, diebis anhin mehrere Produktionsschritte undFachkräfte in Anspruch nahmen, bis sie Formannehmen konnten, sind nun – flutsch – ein-fach ausdruckbar. Hat man einen 3D-Druckerzu Hause, kann man sich an einem einsamenAbend einen schönen Fingerring für die Lieb-ste ausdenken und ihn am Vorabend ihres Ge-burtstages einfach kurz ausdrucken. Okay, diemeisten haben kein solches Gerät in der Küchestehen. Trotzdem ist die Technologie am Kom-men, man printet bereits Möbel, Zahnprothe-sen aus Kunststoff oder Flugzeugbauteile ausMetall. In Experimenten wurden schon Nah-rungsmittel und menschliches Gewebe ausge-druckt. Indem geeignete Materialien beimDruck Schicht um Schicht bis zur gewünsch-ten Form aufgeschichtet werden, sind der Frei-heit der Form kaum Grenzen gesetzt. In nichtallzu ferner Zukunft soll der 3D-Druck die be-stimmende Produktionsweise überhaupt wer-den, raunen Experten auf der ganzen Weltbereits. Die Zürcher Ausstellung präsentiertneben Druckmaschinen in Funktion auch dieArbeit von Designern, Architekten, Ingenieu-ren, Medizinern und Biologen. (dif)«3D – Dreidimensionale Dinge drucken»:

Museum für Gestaltung Zürich, 6. Februar bis 5. Mai.

www.museum-gestaltung.ch

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Graue Enten und bunte Vögel: Pink Mama Theater und der Wunsch, anders zu sein.

BaselMord aus LangeweileCat und Stephanie sind beste Freundinnen. Sie leben gut erzogen undgut versorgt in einer gutbürgerlichen Kleinstadt. Nur dass Stephanieskrebskranke Mutter im Sterben liegt. Und dass Cat demnächst wegzieht,um zu studieren, und Stephanie allein zurücklässt. Um der Enge in derProvinz zu entkommen, begehen die beiden einen Mord: Sie bringenCats sanftmütigen Freund Stephen um. Doch auch diese extreme Tat, ge-boren aus dem Überdruss, bleibt für die Jugendlichen ohne Konsequen-zen. Bereits zum dritten Mal inszeniert Sebastian Nübling am jungentheater basel ein Stück des britischen Autors Simon Stephens. Wie bei«Reiher» und «Punk Rock» ist es auch bei «Morning» kaum möglich, sichder Begegnung mit den bedrohlichen Seiten des Lebens zu entziehen.Denn das Stück zeigt die Welt nicht so, wie wir sie uns gerne vorstellen,sondern so, wie sie ist. (mek)«Morning», Fr, 2. Februar, 20 Uhr, weitere Aufführungen im März.

junges theater basel, Kasernenstrasse 23, Basel. www.jungestheaterbasel.ch

Beklemmend: Bei «Morning» lässt nur der Titel Raum für Hoffnung.

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BernFreak-ShowEs ist wieder an der Zeit für ein «Heimspiel»: Zum achten Mal widmetsich die Dampfzentrale einen Monat lang dem Berner Tanzschaffen undbietet ausgewählten Choreografinnen und Choreografen eine Plattform.So darf man sich etwa auf die Uraufführung von Emma Murrays «madeto order» freuen: Die in Bern lebende Neuseeländerin macht sich darinGedanken über die Unordnung. Denn nach mehr als einem Jahrzehnt inder Schweiz ist ihr klar, dass es an der Zeit ist, aufzuräumen. Auch dieneueste Produktion der europäischen Theater- und Tanz-Company PinkMama Theater, zum ersten Mal in der Dampfzentrale zu sehen, töntvielversprechend: In «Freaks» konzipiert die schrille Truppe («homo,hetero, sexy, pink») eine Freak-Show mit Märchencharakter, untersuchtden Wunsch, anders zu sein und stellt ihm das Bedürfnis nach Integra-tion gegenüber. (mek)HEIMSPIEL – Tanzfestival, noch bis zum 26. Februar in der Dampfzentrale Bern.

Programm: www.dampfzentrale.ch

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AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

«Ich stamme ursprünglich aus Jaffna, das liegt ganz im Norden vonSri Lanka. Durch meine Arbeit bin ich jedoch an viele verschiedene Or-te auf der Insel gekommen. Ich war Zeichner und habe Pläne für Häu-ser angefertigt. Als im Sommer 2006 in Sri Lanka einmal mehr der Bür-gerkrieg eskalierte, verliess ich wie hunderttausende Tamilen vor undnach mir meine Heimat. Weil wir nicht genug Geld zusammenbringenkonnten, blieben meine Frau und mein Sohn zurück. Unsere vier Töch-ter sind schon vor mir ins Ausland gegangen, deshalb lebt unsere Fami-lie jetzt verstreut über Asien und Europa. Meine Töchter sind alle ver-heiratet und wohnen mit ihren Familien in Indien, Frankreich, denNiederlanden und der Schweiz.

Als ich im September 2006 in der Schweiz ankam und Asyl bean-tragte, wurde ich dem Kanton Schaffhausen zugeteilt, obwohl meineTochter Nirainsana mit ihrem Mann und den drei Kindern im KantonBern wohnte. Drei Jahre lebte ich in Schaffhausen und arbeitete unterder Woche ein paar Stunden pro Tag als Reinigungsmitarbeiter. Dannpassierte etwas ganz Schlimmes: Der Mann meiner Tochter starb, undsie stand alleine da mit ihren drei Kindern im Alter von drei, sechs undsieben Jahren. Zum Glück wurde unser Gesuch um Familienzusam-menführung bewilligt, und ich konnte zu Nirainsana und meinen En-kelkindern nach Konolfingen ziehen. Seither helfe ich ihr im Haushalt,bringe die mittlerweile Sechsjährige in den Kindergarten und schaue zuallen drei Kindern, wenn meine Tochter abends und am Samstag arbei-ten geht.

Den Tipp, Surprise zu verkaufen, habe ich von meinem LandsmannKumar bekommen, der das Magazin schon jahrelang im Berner Haupt-bahnhof verkauft. Jetzt, wo alle drei Enkel in der Schule und im Kin-dergarten sind, geht das gut. Während sie am Morgen weg sind, steheich vor der Migros in Konolfingen und verkaufe zwei bis drei StundenHefte. Wenn es mir zu kalt ist, bleibe ich nur etwa eine Stunde dort,dann gehe ich kurz nach Hause – wir wohnen nur zehn Minuten vonmeinem Verkaufsort entfernt –, trinke einen Tee und verkaufe an-schliessend wieder eine Stunde lang. Immer am Dienstag fahre ich nachThun und verkaufe beim Aarezentrum. Dort hat es viele verschiedeneGeschäfte und darum viele Leute.

Der Kontakt zu den Kunden gefällt mir sehr. Eine Lehrerin der Kin-der kommt zum Beispiel regelmässig bei mir vorbei. Aber leider kannich mich mit ihr und all den anderen Leuten nicht gut unterhalten. Ichspreche nur sehr wenig Deutsch und Englisch. Seit ich in der Schweizbin, habe ich schon ein paar Deutschkurse besucht, aber letztes Jahrmusste ich aufhören, weil ich die Lehrerin nicht mehr verstand. Die

Valipuram Kandiah (57) aus Sri Lanka verkauft Surprise in Konolfingen und Thun, während seine drei Enkel-kinder in der Schule und im Kindergarten sind. Er möchte gerne besser Deutsch lernen, doch dazu benötigter erst einmal ein Hörgerät.

BIL

D:

ISM

Verkäuferporträt«Ich freue mich über den Besuchmeiner Frau»

Untersuchungen beim Arzt haben dann ergeben, dass meine Ohrennicht in Ordnung sind und ich einen Hörapparat brauche. Wenn ich denhabe, kann ich wieder in den Deutschkurs gehen, darauf freue ich mich.

Noch mehr freue ich mich aber über den Besuch meiner Frau. Sie be-sucht uns für drei Monate. Für immer hierbleiben darf sie nicht, weil ichnur ein sogenannt vorläufig aufgenommener Flüchtling bin, mit Aus-weis F. Dieser Status erschwert das Familienleben sehr. Letzten Sommerzum Beispiel waren Nirainsana und die Kinder drei Wochen in den Fe-rien bei meiner Tochter in den Niederlanden, und ich durfte aufgrundmeines Status nicht mitgehen. Manchmal ist es schwierig, die Gesetzezu akzeptieren.» ■

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Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hat-ten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt habenund ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkaufdes Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation.Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neueSelbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialpro-gramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausge-wählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufen-den erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, U-Abonnement) und werden beiProblemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft lei-sten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Ver-dienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

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Anja UehlingerAargau

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Impressum

HerausgeberVerein Surprise, Postfach, 4003 Baselwww.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9–12 Uhr, Mo–DoT +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 [email protected]äftsführungPaola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) AnzeigenverkaufT +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 [email protected] T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99Reto Aschwanden, Florian Blumer (Nummernverant -wort licher), Diana Frei, Mena Kost [email protected]ändige MitarbeitRosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Ei-senring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz,Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher ZimmerMitarbeitende dieser AusgabeAmir Ali, Manuela Donati, Kevin Gopal, Martina Huber,Lucian Hunziker, Irène Meier, Dominik PlüssGestaltung WOMM Werbeagentur AG, BaselDruck AVD GoldachAuflage15000, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./JahrMarketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, [email protected]üro ZürichT +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, [email protected]üro BernT +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, [email protected] T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99Paloma Selma, [email protected] T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller [email protected], www.strassensport.chVereinspräsident Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugs weiseoder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von derRedaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt.

Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsen-dungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichneteVerkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträ-ge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder demSpender – allen Verkaufenden zugute kommen.

Surprise ist:

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialenSchwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit.Surprise hilft bei der Integration in den Ar-beitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsitua-tion, bei den ersten Schritten raus aus derSchuldenfalle und entlastet so die SchweizerSozialwerke.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Be-nachteiligung betroffenen Menschen eineStimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellungfür soziale Gerechtigkeit.

Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinen-de Strassenmagazin Surprise heraus. Dieseswird von einer professionellen Redaktion pro-duziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illu-stratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft.Rund dreihundert Menschen in der deutschenSchweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlos-sen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur,verdienen eigenes Geld und gewinnen neuesSelbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport.In der Surprise Strassenfussball-Liga trainierenund spielen Teams aus der ganzen deutschenSchweiz regelmässig Fussball und kämpfenum den Schweizermeister-Titel sowie um dieTeilnahme an den Weltmeisterschaften für so-zial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hatSurprise einen eigenen Chor. GemeinsamesSingen und öffentliche Auftritte ermöglichenKontakte, Glücksmomente und Erfolgserleb-nisse für Menschen, denen der gesellschaft-liche Anschluss sonst erschwert ist.

Finanzierung, Organisation und internatio-nale VernetzungSurprise ist unabhängig und erhält keine staat-lichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mitdem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inse-raten finanziert. Für alle anderen Angebotewie die Betreuung der Verkaufenden, die Sport-und Kulturprogramme ist Surprise auf Spen-den, auf Sponsoren und Zuwendungen vonStiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte sozialeInstitution. Die Geschäfte werden vom VereinSurprise geführt. Surprise ist führendes Mit-glied des Internationalen Netzwerkes derStras sen zeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow,Schottland. Derzeit gehören dem Verband über100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Ist gut. Kaufen!Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache.Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.Alle Preise exkl. Versandkosten.

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