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26 § 42 Abs. 2 (Zeichen 310 – Ortstafel) StVO 1. Von einer geschlossenen Ortschaft, deren Beginn nach den Vorschriften der StVO durch Ortstafel zu kennzeichnen ist, kann nur dann ausgegangen wer- den, wenn eine Bebauungssituation vorliegt, aus der sich ortstypische, für die Sicherheit oder Ord- nung des Straßenverkehrs relevante Verkehrslagen ergeben können. Dies ist jedenfalls bei einer ge- schlossenen Bebauung der Fall. Der Bebauungszu- sammenhang muss grundsätzlich für den ortsein- wärts Fahrenden erkennbar sein. 2. Neben einem Bebauungszusammenhang ist für eine geschlossene Ortschaft erforderlich, dass die Bebauung in einem funktionalen Zusammenhang mit der Straße steht, an der die Ortstafel aufgestellt werden soll. Dies ist der Fall, wenn die Bebauung derart an die Straße angebunden ist, dass sich die von der Bebauung typischerweise ausgehenden Ver- kehrsgefahren dort auf den Straßenverkehr auswir- ken können. 3. Der Annahme einer geschlossenen Bebauung steht nicht zwingend entgegen, wenn die Bebauung durch einzelne unbebaute Grundstücke unterbro- chen wird. Ein für eine geschlossene Ortschaft sprechender Bebauungszusammenhang ist trotz e ines unbebauten Grundstücks insbesondere dann gegeben, wenn von diesem Grundstück selbst Be e inträchtigungen des Straßenverkehrs ausgehen können, wie sie für innerörtliche Verkehrslagen typisch sind (hier bejaht für einen von Kindern und Jugendlichen genutzten Bolzplatz). 4. Das Merkmal der Erkennbarkeit des erforder- lichen Bebauungszusammenhangs für den ortsein- wärts Fahrenden ist zur effektiven Abwehr tatsäch- lich bestehender Verkehrsgefahren einschränkend zu interpretieren. 5. Für die Aufstellung einer Ortstafel kommt es nicht darauf an, ob es in dem betreffenden Straßenabschnitt bereits zu Unfällen gekommen ist, die auf höhere Geschwindigkeit zurückzuführen sind. VG Braunschweig, Urt. v. 27.9.2011, 6 A 10/09 Aus den Gründen: A. Der Kl. wendet sich dagegen, dass der Bekl. die Ortsta- fel (Zeichen 310 der Anlage 3 zur StVO) vor der Zufahrt zu seinem Grundstück entfernt und sie ortseinwärts versetzt hat. Er ist Eigentümer des von ihm bewohnten Grundstücks G. 1 am westlichen Ortseingang von F.. Auf dem Grundstück des Kl. befinden sich der Betriebshof der dort ansässigen Agrarge- sellschaft, an der er als Mitgesellschafter beteiligt ist, und drei Wohnhäuser, in denen 15 Personen - darunter der Kl. mit seiner Familie - leben. Die Zufahrt zu dem Grundstück des Kl. erfolgt über den Weg G., der in die ortseinwärts führende Kreisstraße H. mündet und bei dem es sich um einen nicht für den öffentlichen Verkehr gewidmeten Privatweg handelt. Die Kreisstraße trägt in diesem Bereich der Ortsdurchfahrt von F. die Bezeichnung I. Gegenüber dem G. - an der aus J. kom- mend linken Seite der Straße - zweigt von der Kreisstraße der K-weg. ab, an dem zwei Wohnhäuser mit Garagen stehen; ein weiteres Wohnhaus befindet sich im Bau. Außerdem befin- den sich an dieser gegenüberliegenden Seite eine Abstellfläche für Pkw und ein Gehweg. An die Wohnbebauung schließt sich auf der linken Seite der Kreisstraße eine Ackerfläche an, bevor sich die Wohnbebauung fortsetzt. An der rechten Seite der Kreisstraße liegt zwischen dem Weg G. und der anschließen- den Wohnbebauung an der von der Kreisstraße abzweigenden Straße L. noch auf dem Grundstück des Kl. eine unbebaute Grünfläche, die mit Erlaubnis des Kl. als Bolzplatz von Kin- dern und Jugendlichen aus dem Ort genutzt wird. Diese errei- chen den Bolzplatz über den G. Die Ortstafel am westlichen Ortseingang von F. stand ur- sprünglich vor der Einmündung des G. s in etwa auf der Höhe der Garage des Kl. Nach einer Verkehrsschau im April 2008 ordnete der Bekl. die Versetzung der Ortstafel um ca. 200 Meter in Richtung Ortsmitte vor die Abzweigung der Straße L. an. Dazu gab er an, die Ortstafel befinde sich an ihrem bisherigen Standort außerhalb der geschlossenen Ortslage. Die Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Be- teiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhand- lung entscheiden kann, ist zulässig (I.) und begründet (II.). B. I. Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig (§ 42 Abs. 1, 2. Fall VwGO). Bei der vom Kl. begehrten Versetzung der Ortstafel handelt es sich um einen Verwaltungsakt in der Form einer sogenannten Allgemeinverfügung gemäß § 35 Satz 2 VwVfG. II. Die Klage ist auch begründet. Der Kl. hat einen An- spruch darauf, dass der Bekl. die Ortstafel an den beantragten Standort versetzt. Die dem entgegenstehenden Entscheidungen des Bekl. sind rechtswidrig. Die gesetzliche Grundlage für die Entscheidungen der Ver- kehrsbehörden über die Aufstellung und den Standort von Ortstafeln bilden die Bestimmungen des § 45 Abs. 1 Satz 1 S tVO und des § 42 Abs. 2 StVO i.V.m. der Regelung in Nr. 5 der Anlage 3 zu dieser Vorschrift. Danach darf die Verkehrs- behörde aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Straßenverkehrs Verkehrszeichen aufstellen. Für Ortstafeln (Zeichen 310 der Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO) werden die in § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO geregelten Tatbestandsvorausset- zungen konkretisiert durch § 42 Abs. 2 StVO i.V.m. der Rege- lung in Nr. 5 der Anlage 3 zu dieser Vorschrift. Danach be- stimmt die Ortstafel, dass an dieser Stelle eine geschlossene Ortschaft beginnt. Die genannten Vorschriften ermächtigen die Verkehrsbehörde nicht nur zur Aufstellung, sondern auch zur Entscheidung über den genauen Standort der Ortstafeln. Die Regelung in § 45 Abs. 3 StVO, nach der die Straßenverkehrs- behörden bestimmen, wo die Verkehrszeichen anzubringen sind, ist insoweit nicht ergänzend anzuwenden. Sie gilt nach der Systematik des § 45 StVO und dem Wortlaut des dritten Absatzes dieser Vorschrift („im Übrigen“) nur für Gefahren- zeichen, reine Hinweiszeichen und Straßennamensschilder (ebenso Sauthoff, Öffentliche Straßen, 2. Aufl., Rdnr. 666 und 781 und im Ergebnis für Ortstafeln wohl auch VG Frank- furt/Oder, Urt. v. 10.7.2008 – 2 K 2231/04 –, juris Rdnr. 18). Sind die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, so stehen die An- ordnung und das Anbringen des Verkehrszeichens im Ermes- sen der Verkehrsbehörde. Ein Rechtsanspruch des Kl. auf das Verkehrszeichen und dessen Aufstellung an einem bestimmten Standort kann sich dann nur ergeben, wenn der der Behörde eingeräumte Ermessensspielraum im konkreten Fall derart ein- geengt ist, dass jede andere Entscheidung als die Aufstellung des Verkehrszeichens rechtswidrig wäre (sog. Ermessensredu- zierung auf Null; vgl. zum Ganzen z.B. VG Braunschweig, Urt. v. 18.7.2006 – 6 A 389/04 –, juris Rdnr. 21 m.w.N.). Die Verwaltungsvorschrift zu den Zeichen 310 und 311, auf die sich der Bekl. beruft, ist für sich genommen dagegen keine Rechtsnorm, aus der die Bürgerinnen und Bürger Ansprüche herleiten oder die Verkehrsbehörden eigenständige Tatbe- standsvoraussetzungen für das Aufstellen von Ortstafeln ablei- ten können. Die Bestimmungen in der Verwaltungsvorschrift darf das Gericht bei der Auslegung der in der StVO verwende- ten Rechtsbegriffe aber als Auslegungshilfen heranziehen, so- weit die Vorschrift mit den gesetzlichen Regeln vereinbar ist (vgl. auch Sauthoff, a.a.O., Rdnr. 583). Die dargelegten Vor- aussetzungen für den geltend gemachten Rechtsanspruch sind hier erfüllt. 1. Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des konkreten Falles beginnt die geschlossene Ortschaft am westli- chen Ortseingang von F. bereits an dem ursprünglichen Stan- dort der Ortstafel vor der Abzweigung des Weges G. Wann eine „geschlossene Ortschaft“ im Rechtssinn beginnt, ist durch Auslegung dieses in Nr. 5 der Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO verwendeten Begriffs zu ermitteln. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Ausdruck jedenfalls nicht vollständig mit dem Begriff der „geschlossenen Ortslage“ identisch ist, auf den die Straßengesetze (vgl. § 4 Abs. 1 NStrG und § 5 Abs. 4 FStrG) zur Abgrenzung der Ortsdurchfahrten abstellen. Das ergibt sich aus den unterschiedlichen Zweckbestimmun- Verkehrsrechtliche Mitteilungen April 2012 1

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26 § 42 Abs. 2 (Zeichen 310 – Ortstafel) StVO1. Von einer geschlossenen Ortschaft, deren Beginnnach den Vorschriften der StVO durch Ortstafel zukennzeichnen ist, kann nur dann ausgegangen wer-den, wenn eine Bebauungssituation vorliegt, ausder sich ortstypische, für die Sicherheit oder Ord-nung des Straßenverkehrs relevante Verkehrslagenergeben können. Dies ist jedenfalls bei einer ge-schlossenen Bebauung der Fall. Der Bebauungszu-sammenhang muss grundsätzlich für den ortsein-wärts Fahrenden erkennbar sein.2. Neben einem Bebauungszusammenhang ist füreine geschlossene Ortschaft erforderlich, dass dieBebauung in einem funktionalen Zusammenhangmit der Straße steht, an der die Ortstafel aufgestelltwerden soll. Dies ist der Fall, wenn die Bebauungderart an die Straße angebunden ist, dass sich dievon der Bebauung typischerweise ausgehenden Ver-kehrsgefahren dort auf den Straßenverkehr auswir-ken können. 3. Der Annahme einer geschlossenen Bebauungsteht nicht zwingend entgegen, wenn die Bebauungdurch einzelne unbebaute Grundstücke unterbro-chen wird. Ein für eine geschlossene Ortschaftsprechender Bebauungszusammenhang ist trotz eines unbebauten Grundstücks insbesondere danngegeben, wenn von diesem Grundstück selbst Be einträchtigungen des Straßenverkehrs ausgehenkönnen, wie sie für innerörtliche Verkehrslagen typisch sind (hier bejaht für einen von Kindern undJugendlichen genutzten Bolzplatz). 4. Das Merkmal der Erkennbarkeit des erforder -lichen Bebauungszusammenhangs für den ortsein-wärts Fahrenden ist zur effektiven Abwehr tatsäch-lich bestehender Verkehrsgefahren einschränkendzu interpretieren.5. Für die Aufstellung einer Ortstafel kommt esnicht darauf an, ob es in dem betreffendenStraßenabschnitt bereits zu Unfällen gekommen ist,die auf höhere Geschwindigkeit zurückzuführensind. VG Braunschweig, Urt. v. 27.9.2011, 6 A 10/09

Aus den Gründen:A. Der Kl. wendet sich dagegen, dass der Bekl. die Ortsta-

fel (Zeichen 310 der Anlage 3 zur StVO) vor der Zufahrt zuseinem Grundstück entfernt und sie ortseinwärts versetzt hat.Er ist Eigentümer des von ihm bewohnten Grundstücks G. 1

am westlichen Ortseingang von F.. Auf dem Grundstück desKl. befinden sich der Betriebshof der dort ansässigen Agrarge-sellschaft, an der er als Mitgesellschafter beteiligt ist, und dreiWohnhäuser, in denen 15 Personen − darunter der Kl. mitseiner Familie − leben. Die Zufahrt zu dem Grundstück desKl. erfolgt über den Weg G., der in die ortseinwärts führendeKreisstraße H. mündet und bei dem es sich um einen nicht fürden öffentlichen Verkehr gewidmeten Privatweg handelt. DieKreisstraße trägt in diesem Bereich der Ortsdurchfahrt von F.die Bezeichnung I. Gegenüber dem G. − an der aus J. kom-mend linken Seite der Straße − zweigt von der Kreisstraßeder K-weg. ab, an dem zwei Wohnhäuser mit Garagen stehen;ein weiteres Wohnhaus befindet sich im Bau. Außerdem befin-den sich an dieser gegenüberliegenden Seite eine Abstellflächefür Pkw und ein Gehweg. An die Wohnbebauung schließt sichauf der linken Seite der Kreisstraße eine Ackerfläche an, bevorsich die Wohnbebauung fortsetzt. An der rechten Seite derKreisstraße liegt zwischen dem Weg G. und der anschließen-den Wohnbebauung an der von der Kreisstraße abzweigendenStraße L. noch auf dem Grundstück des Kl. eine unbebauteGrünfläche, die mit Erlaubnis des Kl. als Bolzplatz von Kin-dern und Jugendlichen aus dem Ort genutzt wird. Diese errei-chen den Bolzplatz über den G.Die Ortstafel am westlichen Ortseingang von F. stand ur-

sprünglich vor der Einmündung des G. s in etwa auf der Höhe

der Garage des Kl. Nach einer Verkehrsschau im April 2008ordnete der Bekl. die Versetzung der Ortstafel um ca. 200Meter in Richtung Ortsmitte vor die Abzweigung der StraßeL. an. Dazu gab er an, die Ortstafel befinde sich an ihrembisherigen Standort außerhalb der geschlossenen Ortslage. Die Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Be-

teiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhand-lung entscheiden kann, ist zulässig (I.) und begründet (II.).B. I. Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig (§ 42

Abs. 1, 2. Fall VwGO). Bei der vom Kl. begehrten Versetzungder Ortstafel handelt es sich um einen Verwaltungsakt in derForm einer sogenannten Allgemeinverfügung gemäß § 35 Satz2 VwVfG. II. Die Klage ist auch begründet. Der Kl. hat einen An-

spruch darauf, dass der Bekl. die Ortstafel an den beantragtenStandort versetzt. Die dem entgegenstehenden Entscheidungendes Bekl. sind rechtswidrig.Die gesetzliche Grundlage für die Entscheidungen der Ver-

kehrsbehörden über die Aufstellung und den Standort vonOrtstafeln bilden die Bestimmungen des § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO und des § 42 Abs. 2 StVO i.V.m. der Regelung in Nr. 5der Anlage 3 zu dieser Vorschrift. Danach darf die Verkehrs-behörde aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung desStraßenverkehrs Verkehrszeichen aufstellen. Für Ortstafeln(Zeichen 310 der Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO) werden diein § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO geregelten Tatbestandsvorausset-zungen konkretisiert durch § 42 Abs. 2 StVO i.V.m. der Rege-lung in Nr. 5 der Anlage 3 zu dieser Vorschrift. Danach be-stimmt die Ortstafel, dass an dieser Stelle eine geschlosseneOrtschaft beginnt. Die genannten Vorschriften ermächtigen dieVerkehrsbehörde nicht nur zur Aufstellung, sondern auch zurEntscheidung über den genauen Standort der Ortstafeln. DieRegelung in § 45 Abs. 3 StVO, nach der die Straßenverkehrs-behörden bestimmen, wo die Verkehrszeichen anzubringensind, ist insoweit nicht ergänzend anzuwenden. Sie gilt nachder Systematik des § 45 StVO und dem Wortlaut des drittenAbsatzes dieser Vorschrift („im Übrigen“) nur für Gefahren-zeichen, reine Hinweiszeichen und Straßennamensschilder(ebenso Sauthoff, Öffentliche Straßen, 2. Aufl., Rdnr. 666und 781 und im Ergebnis für Ortstafeln wohl auch VG Frank-furt/Oder, Urt. v. 10.7.2008 – 2 K 2231/04 –, juris Rdnr. 18).Sind die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, so stehen die An-ordnung und das Anbringen des Verkehrszeichens im Ermes-sen der Verkehrsbehörde. Ein Rechtsanspruch des Kl. auf dasVerkehrszeichen und dessen Aufstellung an einem bestimmtenStandort kann sich dann nur ergeben, wenn der der Behördeeingeräumte Ermessensspielraum im konkreten Fall derart ein-geengt ist, dass jede andere Entscheidung als die Aufstellungdes Verkehrszeichens rechtswidrig wäre (sog. Ermessensredu-zierung auf Null; vgl. zum Ganzen z.B. VG Braunschweig,Urt. v. 18.7.2006 – 6 A 389/04 –, juris Rdnr. 21 m.w.N.).Die Verwaltungsvorschrift zu den Zeichen 310 und 311, auf diesich der Bekl. beruft, ist für sich genommen dagegen keineRechtsnorm, aus der die Bürgerinnen und Bürger Ansprücheherleiten oder die Verkehrsbehörden eigenständige Tatbe-standsvoraussetzungen für das Aufstellen von Ortstafeln ablei-ten können. Die Bestimmungen in der Verwaltungsvorschriftdarf das Gericht bei der Auslegung der in der StVO verwende-ten Rechtsbegriffe aber als Auslegungshilfen heranziehen, so-weit die Vorschrift mit den gesetzlichen Regeln vereinbar ist(vgl. auch Sauthoff, a.a.O., Rdnr. 583). Die dargelegten Vor-aussetzungen für den geltend gemachten Rechtsanspruch sindhier erfüllt.1. Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des

konkreten Falles beginnt die geschlossene Ortschaft am westli-chen Ortseingang von F. bereits an dem ursprünglichen Stan-dort der Ortstafel vor der Abzweigung des Weges G.Wann eine „geschlossene Ortschaft“ im Rechtssinn beginnt,

ist durch Auslegung dieses in Nr. 5 der Anlage 3 zu § 42 Abs.2 StVO verwendeten Begriffs zu ermitteln. Dabei ist zuberücksichtigen, dass der Ausdruck jedenfalls nicht vollständigmit dem Begriff der „geschlossenen Ortslage“ identisch ist,auf den die Straßengesetze (vgl. § 4 Abs. 1 NStrG und § 5Abs. 4 FStrG) zur Abgrenzung der Ortsdurchfahrten abstellen.Das ergibt sich aus den unterschiedlichen Zweckbestimmun-

Verkehrsrechtliche MitteilungenApril 2012 1

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Verkehrsrechtliche Mitteilungen2 April 2011

gen, die diesen Vorschriften zugrunde liegen. Der straßen-rechtliche Begriff der „geschlossenen Ortslage“ dient der Ver-teilung der Straßenbaulast und insoweit insbesondere der Abgrenzung der erweiterten Befugnisse und Lasten, die derört lichen Gemeinschaft hinsichtlich der Straße zukommen. Anden Beginn der „geschlossenen Ortschaft“ dagegen knüpft derGesetzgeber für die Aufstellung von Ortstafeln aus Gründender Sicherheit bzw. Ordnung des Straßenverkehrs an, also zurAbwehr spezifisch verkehrsbedingter Gefahren. Da aber beideTatbestandsmerkmale einen Bebauungszusammenhang verlan-gen, kann insoweit für die Definition der „geschlossenen Ort-schaft“ auf die straßenrechtliche Rechtsprechung zur Abgren-zung der Ortsdurchfahrten zurückgegriffen werden, soferndem spezifisch verkehrliche Gesichtspunkte und damit die be-sondere Funktion des verkehrsrechtlichen Merkmals nicht ent-gegenstehen.Schon die Auslegung nach dem Wortlaut des Merkmals „ge-

schlossene Ortschaft“ ergibt, dass es sich um eine in sich zu-sammenhängende Einheit handeln muss (vgl. Duden, Das Be-deutungswörterbuch, 3. Aufl., S. 419). Da sich genauere An-haltspunkte aus dem Wortlaut nicht entwickeln lassen, be-stimmt sich der Begriffsinhalt wesentlich nach dem Sinn undZweck der Regelungen in § 42 Abs. 2 StVO und Nr. 5 derAnlage 3 zu dieser Vorschrift. Die Ortstafel soll den Verkehrs-teilnehmern signalisieren, dass nach dem Passieren des Ver-kehrszeichens mit einer veränderten Verkehrslage zu rechnenist, in der es zu Gefahren kommen kann, wie sie für innerört-liche Straßen typisch sind. Typisch ist für Verkehrslagen die-ser Art, dass komplexere Verkehrssituationen entstehen kön-nen, die eine erhöhte Aufmerksamkeit insbesondere von den inden Bereich einfahrenden Kraftfahrern verlangen. Solche kom-plexen Verkehrssituationen können infolge einer ortstypischenBebauung beispielsweise dadurch entstehen, dass es zu häufi-geren Fußgängerquerungen kommen kann. Komplexere, für in-nerörtliche Straßen typische Verkehrssituationen könnenaußerdem z. B. durch einmündende Straßen, durch Parksuch-verkehr und dadurch hervorgerufen werden, dass Fahrzeugevom Fahrbahnrand anfahren. Die Ortstafel hat eine auf kom-plexe Verkehrslagen dieser Art bezogene Warnfunktion. Umden besonderen Anforderungen Rechnung zu tragen, die sol-che Verkehrslagen zur Gewährleistung der Sicherheit undLeichtigkeit des Straßenverkehrs insbesondere an Kraftfahrerstellen, ist mit der Ortstafel regelmäßig auch die Beschrän-kung der Geschwindigkeit auf 50 km/h verbunden (vgl. § 3Abs. 3 Nr. 1 StVO); diese Regelung gilt, sofern aufgrund derbesonderen örtlichen Verhältnisse keine abweichende Be -stimmung durch die Anordnung einer anderen Geschwindig-keitsbeschränkung (Zeichen 274 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1StVO) getroffen ist. Darüber hinaus dienen Ortstafeln dazu,den Straßenverkehr zu ordnen. Sie sollen in einfacher, klarerund praktikabler Weise die innerörtlichen Straßenabschnitte,für die mit der Aufstellung der Ortstafel regelmäßig eine Ge-schwindigkeitsbeschränkung gilt, von den freien Strecken derStraßen abgrenzen. Auf dieser Grundlage lassen sich die recht-lichen Voraussetzungen für den Beginn einer geschlossenenOrtschaft näher bestimmen.Aus der gebotenen funktionalen Betrachtung ergibt sich,

dass von einer geschlossenen Ortschaft nur ausgegangen wer-den kann, wenn eine Bebauungssituation vorliegt, aus der sichortstypische, für die Sicherheit oder Ordnung des Straßenver-kehrs relevante Verkehrslagen ergeben können. Dies wird jedenfalls grundsätzlich voraussetzen, dass eine geschlosseneBebauung vorliegt; unerheblich ist, ob die Bebauung nur auf einer oder auf beiden Straßenseiten vorhanden ist (vgl.auch Ziff. I der Verwaltungsvorschrift zu den Zeichen 310 und311 – im Folgenden: VwV –).Der Annahme einer geschlossenen, also in sich zusammen-

hängenden Bebauung steht nicht zwingend entgegen, wenn dieBebauung durch einzelne unbebaute Grundstücke unterbrochenwird (so auch Ziff. I VwV). Ob ein Gebiet zusammenhängendbebaut ist, lässt sich nur anhand einer weiträumigen Betrach-tung der gesamten durch die Bebauung geprägten Situation inder Umgebung der Straße, nicht aber aufgrund einer isoliertenWürdigung einzelner Umstände − wie z. B. einzelner nichtbebauter Grundstücke − entscheiden (vgl. BVerwG, Urt. v.18.3.1983 – 4 C 10/80 –, juris Rdnr. 10 = BVerwGE 67, 79 ff.

– zu § 5 FStrG –). Maßgeblich ist grundsätzlich, ob nach dergebotenen weiträumigen Betrachtung trotz der unbebautenGrundstücke von einer für innerörtliche Straßen typischenVerkehrslage auszugehen ist.Die Verkehrsbehörden müssen aber bei größeren unbebauten

Flächen nicht in jedem Einzelfall prüfen, ob auch an diesenTeilstücken der Straße mit ortstypischen Verkehrsgefahren zurechnen ist. Ortstafeln dienen auch dazu, den Verkehr sinnvollzu ordnen, also geschlossene Ortschaften einfach, klar undpraktikabel von den freien Strecken der Straßen abzugren-zen, auf denen mit komplexeren Situationen, wie sie z. B.durch Fußgängerverkehr oder durch parkende oder Parkraumsuchende Fahrzeuge entstehen können, typischerweise nicht zurechnen ist. Die gesetzlichen Bestimmungen verlangen von derVerkehrsbehörde daher nicht, Beginn und Ende der geschlos-senen Ortschaft stets „metergenau“ festzulegen.Darüber hinaus ist grundsätzlich erforderlich, dass der Be-

ginn des für eine geschlossene Ortschaft erforderlichen Bebau-ungszusammenhangs für den ortseinwärts Fahrenden erkenn-bar ist. Dies verlangt auch die Verwaltungsvorschrift zu denZeichen 310 und 311. Diese Einschränkung dient ersichtlichdazu, die Verkehrssicherheit und die verlässliche Ordnung desVerkehrs (§ 45 Abs. 1 Satz 1 StVO) optimal zu gewährleisten.Grundsätzlich ist die Beachtung einer Ortstafel und der mit ihrregelmäßig verbundenen Geschwindigkeitsbeschränkung nurdann gesichert, wenn die Verkehrsteilnehmer den Sinn diesesVerkehrszeichens an diesem Standort erfassen können (vgl. –zur Anordnung einer Tempo 30-Zone – BVerwG, Urt. v.14.12.1994 – 11 C 25/93 –, juris Rdnr. 19 = BVerwGE 97,214 ff. = VerkMitt 1995 Nr. 36). Eine Beschilderung, dieKraftfahrer aufgrund der Örtlichkeiten weitgehend als sinnlosansehen werden, kann bei den schwächeren Verkehrsteilneh-mern eine Scheinsicherheit erzeugen und damit eine zusätzli-che Gefahrenquelle schaffen. Auch eine verlässliche Ordnungdes Fahrzeugverkehrs wäre damit nicht gesichert. Neben einem Bebauungszusammenhang verlangt die Annah-

me einer geschlossenen Ortschaft, dass die zusammenhängen-de Bebauung in einem funktionalen Zusammenhang mit derStraße steht, an der die Ortstafel aufgestellt werden soll; dieBebauung muss also einen unmittelbaren Bezug zur Straße ha-ben (ebenso VG Frankfurt/Oder, Urt. v. 10.7.2008 – 2 K2231/04 –, juris Rdnr. 21). Dies ist der Fall, wenn sie derartan die Straße angebunden ist, dass sich die von der Bebauungtypischerweise ausgehenden Verkehrsgefahren dort auf denStraßenverkehr auswirken können. Fehlt es daran, so kommtdie Aufstellung einer Ortstafel nach der gebotenen funktiona-len Betrachtung nicht in Frage. Ein funktionaler Zusammen-hang ist z.B. gegeben, wenn die Straße der Erschließung derbebauten Grundstücke dient. Es genügt, wenn Zufahrten zuden bebauten Grundstücken auf die Straße führen oder unmit-telbar neben der Straße Geh- bzw. Radwege mit gelegentlichenQuerungsmöglichkeiten entlangführen. Dagegen fehlt es andem erforderlichen funktionalen Zusammenhang beispielswei-se dann, wenn wegen eines durchgehenden Lärmschutzwallskeine Verbindung zwischen der Straße und den bebautenGrundstücken besteht.Nach den angeführten Kriterien und unter Berücksichtigung

der Erkenntnisse aus dem Ortstermin beginnt die geschlosseneOrtschaft hier bereits an der Stelle, an die der Kl. die Verset-zung der Ortstafel verlangt (wird ausgeführt).2. Da von einer geschlossenen Ortschaft am beantragten

Standort auszugehen ist, sind zureichende Gründe der Sicher-heit und Ordnung des Straßenverkehrs i.S.d. § 45 Abs. 1 Satz1 StVO für die Aufstellung des Verkehrszeichens an dieserStelle gegeben, ohne dass weitere Anforderungen erfüllt seinmüssen.Der beantragten Versetzung der Ortstafel steht auch die Re-

gelung in § 45 Abs. 9 Sätze 1 und 2 StVO nicht entgegen.Nach diesen Bestimmungen darf ein Verkehrszeichen nur dortangeordnet werden, wo dies aufgrund der besonderen Umstän-de zwingend geboten ist bzw. wo aufgrund der besonderen ört-lichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allge-meine Risiko einer Beeinträchtigung der in § 45 StVO genann-ten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Diese Voraussetzungensind für die Aufstellung von Ortstafeln am Beginn geschlosse-

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ner Ortschaften wegen der mit einer solchen Verkehrslage ver-bundenen besonderen Gefahren für die Verkehrsteilnehmer je-denfalls regelmäßig erfüllt. Besondere Umstände, die für denvorliegenden Fall eine andere Beurteilung rechtfertigen wür-den, sind nicht ersichtlich. Insbesondere gibt es keine hinrei-chenden Anhaltspunkte dafür, dass ortseinwärts Fahrende ihreGeschwindigkeit auch ohne die Versetzung der Ortstafel indem gesetzlich für geschlossene Ortschaften vorgesehenenUmfang (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO) verringern würden.

3. Die Entscheidung über die Aufstellung und den Standortdes Verkehrszeichens steht zwar grundsätzlich im Ermessender Verkehrsbehörde. Dieses Ermessen ist hier jedoch aufNull reduziert. Da von einer geschlossenen Ortschaft schon imBereich der dem Kl. gehörenden und von ihm bewohntenGrundstücke auszugehen ist, entstehen durch den derzeitigenStandort der Ortstafel für ihn und seine mit ihm auf denGrundstücken lebenden Angehörigen jedenfalls Gefahren fürdie körperliche Unversehrtheit.

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