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1 SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Claudio Monteverdi! Zum 450. Geburtstag!Die letzten LeidenschaftenMit Sabine Weber Sendung: 19. Mai 2017 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

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SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

„Claudio Monteverdi! Zum 450. Geburtstag!“

„Die letzten Leidenschaften“

Mit Sabine Weber

Sendung: 19. Mai 2017

Redaktion: Dr. Bettina Winkler

Produktion: SWR 2017

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de

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SWR2 Musikstunde mit Sabine Weber 15. Mai – 19. Mai 2017

MONTEVERDI 5

Die letzten Leidenschaften

Ich bin Sabine Weber. Herzlich Willkommen zu unserer letzten Monteverdi-Folge – Il

Divino Claudio – Teil 5!

Titelmusik kurz (10.sec)

MODERATION

Sie haben diese Woche Einblicke in Claudio Monteverdis Frühwerk bekommen,

einen Blick auf sein Laboratorium der Madrigale geworfen, die Geburt seiner

Mantuaner Frühopern miterlebt und den Kirchenkomponisten kennen gelernt. Heute

erleben Sie den Vollender und dennoch Fortschrittlichen in seinem Spätwerk. Das

Madrigal hat sich aufgelöst in Bühnentheatralische Szenen. Wir hören heute den

Combattimento di Tanredi e Clorinda, eine einzigartig dramatische Erzähl-Szene aus

seinem letzten Madrigalbuch. Sie gilt als Brücke zu Monteverdis letzten

Opernschöpfungen. Zu Ritorno d'Ulisse in Patria und der Sex and crime-Oper

L'Incoronazione di Poppea.

Und wir beginnen mit dieser letzten, und der vielleicht amoralischsten Oper der

Frühgeschichte. Ihre Handlung ist geradezu unerhört: die machtgeile Kurtisane

Poppea setzt rücksichtslos auf ihre Reize, um Kaiserin in Rom zu werden. Und wenn

ihre Amme Arnalta warnt: vor dem unberechenbaren Verhalten der Despoten, denen

Liebe eine allenfalls höfische Spielart ist; oder vor Nero, der sie umbringen wird,

wenn er sie leid ist! … die Warnungen verhallen. Poppea liefert immer dieselbe

Entgegnung! Sie habe Roms Kaiser gewonnen! Denn Amor und Fortuna kämpften

für Sie!

die erste komische Travestierolle der Operngeschichte.

Aber erst einmal ist Poppea berauscht von ihrer Macht!

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Musik 5.1

Speranza tu mi vai

Capella Mediterranea

ALPHA 249

6'50

Speranza tu mi vai, aus dem 1. Akt L'Incoronazione di Poppea von Claudio

Monteverdi. Poppea und ihre Amme Arnaltra – eine Tenor-Partie - lieferten sich

einen Schlagabtausch. Und wie plastisch und nachvollziehbar macht Monteverdi die

Auseinandersetzung! Zwischen besorgter Amme, auch wenn sie mit der männlichen

Besetzung eine komische Note hat, aber wir nehmen ihr die Besorgnis ab. Und auf

der anderen Seite die siegesgewisse Poppea, die sich frech auf der Höhe ihrer

Macht fühlt.

Mit diesem Duett eröffnet die Capella Mediterranea ihre neu-erschienene

Monteverdi-CD. Mit Francesca Aspromonte als Poppea und Emiliano Gonzalez-Toro

als Amme. Zum 450. Geburtstag Claudio Monteverdis gratuliert das französische

Ensemble unter der Leitung seines argentinischen Leiters und Gründers Leonardo

García Alarcón auf spezielle Art und Weise. „Monteverdis gesamtes Schaffen sei ein

Laboratorium für die Darstellung der menschlichen Leidenschaften. Und...“, so

García Alarcón, „vom Nachdenken über die menschliche Eitelkeit durchzogen.“

Szenen aus Monteverdis drei erhaltenen Opern und eine Auswahl von Madrigalen

ordnet er also nach den Todsünden. Naja... und nach ein paar scheinbaren

Tugenden.

Mit Anfang 70 kehrt ein alter Mann noch einmal auf die Opernbühne zurück.

Inzwischen ist Monteverdi ein hochgeschätzter Kirchenmusiker. Ein Komponist in

Amt mit Würden. Monteverdi ist Kapellmeister von San Marco in Venedig. Und im

Jahr 1631 ist er sogar in den geistlichen Stand gewechselt und hat sich zum Priester

weihen lassen. Keiner seiner rund 130 erhaltenen Briefe gibt Auskunft, warum. Seine

letzten großen Werke entstehen jedenfalls nicht für die Kirche, sondern für die ersten

öffentlichen Opernhäuser Venedigs!

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Im Teatro San Cassiano feiert Monteverdi die Gattenliebe. Mit Ritorno d'Ulisse in

Patria. Er greift die Geschichte der ewig auf Odysseus wartenden Penelope auf. Und

wieder ist er ein Neuerer. Er führt die erste komische Bufforolle in die

Operngeschichte ein. Zwei Jahre später in seinem Todesjahr 1643 geht

L'Incoronazione di Poppea über die Bühne von SS Giovanni e Paolo. Mit dem

unmoralischsten Kaiser der römischen Geschichte im Fokus. Nero und Poppea

verfolgen machtgeil ihre Interessen und leben exzessiv ihre Liebe aus. Erotik

knistert. Rücksichtslos werden Gegenspieler aus dem Weg geräumt. Sichtlich

geschockt stottert die verstoßene Kaiserin Ottavia ihr „Addio Roma“ im Finale.

Musik 5.2

Addio Roma

La Venexiana

GLOSSA GCD 920916

1'00

Xenia Meijer als rechtmäßige aber verstoßene Kaiserin Ottavia stöhnt – in einer

Aufnahme von L'Incoronazione die Poppea mit La Venexiana unter Claudio Cavina.

Übrigens können Sie nächsten Sonntag im Abendkonzert ab 20.03 Uhr eine

Gesamtaufnahme mit La Venexiana hören. Aufgenommen bei den Schwetzinger

SWR Festspielen, die dieses Jahr einen Monteverdi-Schwerpunkt gesetzt haben...

Das Unerhörte an dieser Sex and Crime Story ist, dass die Rücksichtslosigkeit ihr

Spiel auch noch mit liebreizenden Tönen gewinnt!

Nero und Poppea feiern ihre Liebe und natürlich die Krönung der neuen Kaiserin in

einem betörenden Schlussduett.

Musik 5.3

Pur ti miro

L'Arpeggiata

VIRGIN CLASSICS 5099923 61400

4'11

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Pur ti miro, das Schluss-Duett aus L'Incoronazione di Poppea. Nuria Rial und

Philippe Jaroussky feiern die Liebe und ihren Triumph.

Die Echtheit dieses Schlussduetts ist angezweifelt worden. Es gibt zwei überlieferte

Poppea-Fassungen, eine neapolitanische und eine venezianische. Das Problem der

angedeuteten Instrumentierung, lässt sich schnell mit der Praxis der damaligen noch

kleinen Opernorchester erklären. Die ersten auf Streicher ausgerichteten

Opernorchester agierten flexibel und wussten, wie welche Stimme zu ergänzen

wären. Auch ein Jean Baptiste Lully hat noch viel später in Frankreich in der Regel

seine Opernpartituren nur mit ausgeführter oberster und unterster Stimme

hinterlassen.

Sollte dieses Schlussduett doch Monteverdis Schüler Francesco Cavalli komponiert

haben, Monteverdi ist dennoch mit seinem letzten Opernwerk einmal mehr ein

revolutionärer Neuerer. Die Götter und Mythenwelt hat er ad acta gelegt und

Menschen und Charaktere auf die Bühne zitiert. Seine Poppea ist das erste

Historien- oder Charakter-Drama der Operngeschichte!

Und auch hierin ist Monteverdi ganz konsequent wieder sein eigener Vollender.

Denn bereits seine ersten mythologischen Opern-Protagonisten hat er als Menschen

behandelt. „Arianna erschütterte, weil sie eine Frau war und Orpheus bewegte, weil

er ein Mann war! Die Musik konnte sie selbst darstellen!“ so hat das Monteverdi in

einem berühmten Brief einmal erklärt. vom Dezember 1616 an Alessandro Striggio,

der um die Vertonung eines Librettos bitte, das Monteverdi nicht vertonen will...

Claudio Monteverdi, Briefe, Pieper Bereits in den für das höfische Mantua

komponierten Frühopern ist es Monteverdi um das elementare Urerlebnis des „Rein-

Menschlichen“ gegangen. Um eine Begriffskategorie von Richard Wagner fallen zu

lassen, den die Monteverdiforschung auch schon kühn „als letzten Schüler

Monteverdis bezeichnet hat!“ Hans Ferdinand Redlich, Der erste Opernkomponist...

Monteverdi hat jedenfalls auch die zweite Opernrevolution nicht verpasst. Die, die die

Oper aus den exklusiven Höfen in die ersten öffentlichen Opernhäuser trägt.

Und auch den ersten Buffo-Typen liefert Monteverdi der venezianischen Oper. Mit

seiner ungefähr zwei Jahre vor seiner Poppea aufgeführten Oper Il Ritorno d'Ulisse

in Patria.

Bei dem fresssüchtigen Typen namens Iro, den Sie gleich hören, könnte man fast an

Falstaff denken ...

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Musik 5.4

Capella Mediterranea

Pastor d'armenti può

ALPHA 249

2'13

„Großer Fresser, renn zum Esstisch“, ruft Mathias Vidal als Schweinehirt Eumete

dem Fesssack Iro, alias Emiliano Gonzalez-Toro zu. In der Buffo-Szene aus dem 2.

Akt Il Ritorno d'Ulisse in Patria von Claudio Monteverdi. Nachzuhören auf der CD I 7

Peccati Capitali, die die Capella Mediterranea unter Leonardo García Alarcón zum

450. Geburtstag Monteverdis herausgebracht hat. …

Alle theatralen Bühnenwerke Monteverdis zwischen den beiden späten Opern und

Monteverdis Frühoper Orfeo sind verloren. Von der Oper Arianna haben wir nur das

Lamento. Nur Titel von Bühnenwerken, die Monteverdi an den Höfen Mantuas und in

den Palästen Venedigs in der Zwischenzeit erprobt hat, sind bekannt. Beim Sacco di

Mantova 1630 ist die Gonzaga Bibliothek verbrannt. Habsburgische Truppen haben

nach dem Verlöschen der Gonzaga-Linie ihren Erbanspruch durch Eleonora

Gonzaga, jüngste Tochter Vincenzos, die mit Kaiser Ferdinand II verheiratet war,

aufs fürchterlichste für die Monteverdi-Sache durchgesetzt. Es gibt zwar die

Hoffnung, dass irgendwo in den Vatikanischen Bibliotheks-Katakomben vielleicht das

ein oder andere überlieferte Exemplar doch überlebt hat, ohne Deckblatt vielleicht

und daher nur schwer auffindbar. Aber wie Monteverdi diese neue Dramatik

entwickelt hat, wissen wir nicht.

Sein Madrigal-Laboratorium ist allerdings durchgängig besetzt. Und das beweist,

dass Monteverdi die Obsession, Affekte und Leidenschaft auszulösen, nie

aufgegeben und unbeirrbar immer weiter verfolgt hat. Die seconda pratica, das

Cantar rappresentativo, ist seine Wahrheit geblieben. Und dafür entwickelt er sogar

einen neuen Prototypen. Der findet sich im letzten Madrigalbuch von 1638. Der

Combattimento di Tancredi e Clorinda aus seinem 8. Buch Madrigali guerrieri ed

amorosi.

In der zweiten SWR2 Musikstunde haben wir eines der ersten Madrigale vorgestellt,

auf Verse Torquato Tassos aus dessen Epos Das befreites Jerusalem. Und Sie

erinnern sich vielleicht, der erregte Stil hat sich da schon Bahn gebrochen! Und die

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Szene von dem frühen Madrigal Là trà il sangue scheint dieselbe wie jetzt.

Monteverdi hat in seinem 3. Madrigalbuch die beiden Protagonisten nur namenlos in

den Kampf geschickt. Die Sarazenenkriegerin Clorinda und den Kreuzritter Tancredi.

Jetzt baut sie Monteverdi zu einer tragischen Geschichte aus, zu einem erregten,

fast 20 minütigen Vortrag mit Erzähler und Szenenanweisungen. Sie lieben sich,

treffen tragischer Weise in Rüstung unerkannt aufeinander, Tancredi bringt seine

Clorinda um, die sich im Sterben schnell noch taufen lässt, damit es ein

Wiedersehen im Paradies gibt. „Lieber Leser“, erklärt Monteverdi im Vorwort zu

diesem 8. Madrigalbuch, „ich habe erwogen, dass sich unsere Leidenschaften oder

Gemütsbewegungen in folgenden drei Grundaffekten ausdrücken: in Zorn, Mäßigung

und Demut oder Flehen, wie dies die besten Philosophen bestätigen. Und wie es die

Musik mit den drei Bezeichnungen concitato, molle und temperato deutlich macht.

Aber Ich kenne aus keiner früheren Kompositionen ein Beispiel für die erregte Art...“-

„concitato genere...“ so der originale Begriff, den Monteverdi hier prägt. Und was er

damit meint, entwickelt Monteverdi in seinem Combattimento. Laut

Szenenanweisung soll Tancredi sogar mit einem Steckenpferd herein reiten! Und

diese Art von Theater ist ernst gemeint. Sie dürfen sich das jetzt nicht wie

Neapolitanisches Straßentheater, sondern als noble Veranstaltung in einem

venezianischen Palast vorstellen. Ein Cuntastorie – ein singend-rezitierender

Erzähler - lässt spielen. Hinhören sollten Sie unbedingt auf das, was Monteverdi mit

der erregten Art meint. Instrumente sind natürlich beteiligt. Bei dieser Tonmalerei im

emotionalen Ausnahmezustand!

Musik 5.5

Combattimento di Tancredi e Clorinda

Concerto Vocale

HMC 901736.37

17'44

“Ich gehe in Frieden! Die letzten Worte der Clorinda. Und der Himmel hat sich mit

sanftem Streicherklang ihr geöffnet. So endet der Combattimento di Tancredi e

Clorinda von Claudio Monteverdi. Wir hörten Salomé Haller, als Clorinda, Kobie van

Rensburg als Tancredi, und Victor Torres als Testo, als Erzähler. Begleitet von

Concerto Vocale unter René Jacobs. Uraufgeführt wurde diese, sagen wir Szene mit

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Erzähler, Monteverdi nennt sie ein opusculo in genere rapprestentativo - im

venezianischen Palazzo Mozzenigo 1624. Das erzählt Monteverdi im Vorwort zu

seinem 8. Madrigalbuch. Das illustre Publikum sei begeistert gewesen. Gerührt zu

Tränen. Und er, Monteverdi, ist froh, dass ihm die Darstellung des Zorns gelungen

sei, den er fortan weiter zu erforschen gedenke, für die Kirche wie die Kammer. Das

ist aufschlussreich. Monteverdi hat in Bezug auf seine seconda pratica keinen

Unterschied zwischen geistlicher und weltlicher Musik gemacht.

1638 hat Monteverdi sein achtes Madrigalbuch herausgegeben. Es ist das letzte, das

er veröffentlicht. Aber noch Jahrzehnte nach Monteverdis Tod veröffentlichen

Herausgeber Madrigale. Die kursierten wohl.

An einem 29. November 1643 stirbt Claudio Monteverdi in Venedig als ein

hochberühmter Komponist. Zwei Totenfeiern werden ihm zu Ehren gehalten. Die

erste hat das Ausmaß eines Staatsbegräbnisses. Bei der zweiten wird er in der

Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari beigesetzt. Die Grabplatte auf dem Boden

kann leicht übersehen werden. Bei einem Venedigbesuch letztes Jahr bin ich zufällig

in die Frari hinein und habe genauso zufällig auf der Platte gestanden und mich

unglaublich erschrocken bei der Vorstellung, dass unter meinen Füßen der große

Monteverdi ruht!

Bis zum Schluss ist er unerbittlich fortschrittlich geblieben. Den „Schöpfer der Neuen

Musik“ hat einer der ersten Monteverdi-Biografen Leo Schrade ihn betitelt. Und

dennoch ist er im Konzertbetrieb in Vergessenheit geraten. Mit seinen Madrigalen

hat er feine vokale Kunstformen für die Höfe entwickelt. Bereits mit den ersten

öffentlichen Konzertsälen wird aber auf große Dimensionen gesetzt. Orchestermusik!

Instrumentalmusik hat Monteverdi bis auf seine kleinen Operneinlagen nicht

komponiert. Und auch wenn Monteverdi mit seinen letzten Opern den Sprung in die

Öffentlichkeit mitvollzogen hat, im 18. Jahrhundert sind sie praktisch vergessen. Am

Beginn des 19. Jahrhunderts werden sie von Komponisten bearbeitet. Orfeo 1904

von Vincent d'Indy in Paris, und von Ottorino Respighi 1934 für Rom mit

unvorstellbarem Nachwagnerischem Bombast. Carl Orff hat den Orfeo sogar dreimal

bearbeitet. Luigi Dalla Piccola den Ulisse, Ernst Krenek die Poppea. Freilich waren

diese Aufführungen weit entfernt vom Original, wie Paul Hindemith anlässlich seines

„Orfeo-Rekonstruktionsversuches“ 1954 in Wien seinem Publikum erklärt.

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Musik 5.6

Hindemith, Ansage

MUSIC&ARTS CD-1237

„Man hat die Oper zurecht gemacht für moderne Bedingungen, hat ein modernes

Orchester drunter gesetzt. Und hat um es krass auszudrücken die Oper verfälscht.

Wir wollen heute Abend versuchen, die Oper unter den ursprünglichen Bedingungen

aufzuführen. Natürlich haben die Sänger damals gesungen wie unsere Sänger auch.

Vielleicht stilistisch verschieden, aber Soprane waren immer Soprane und Bässe

immer Bässe. … Aber das Orchester war ein anderes Orchester. Hier die kleine

Orgel, vielleicht spielen Sie mal ein paar töne … (spielt)

Sie werden gleich hören, wie weit Paul Hindemiths Monteverdi-Experiment von

heutigen Klangergebnissen entfernt ist. Dennoch, Mitglieder der Wiener Sinfoniker

spielten auf teilweise eigenhändig nachgebauten historischen Instrumenten.

Hier das Apollo-Finale aus Orfeo ...

Musik 5.7

Ausschnitt aus Finale Orfeo

Wiener Sinfoniker

MUSIC&ARTS CD-1237

1'05

Gino Sinimberghi, Orfeo, und Waldemar Kmentt, als Apollo, in der Apotheose des

Apolls, aus dem Finale von Monteverdis Orfeo. Selbst für modern ausgebildete

Sänger nicht leicht, diese Monteverdische „Vor-Belcanto Virtuosität“! Begleitet haben

die Wiener Sinfoniker, die hier zum ersten Mal auf historischen Instrumenten einen

Originalklang versucht haben. Im Juni 1954 unter der Anleitung von Paul Hindemith.

Damit dürfte Hindemith ein Platz als Großvater der aufführungspraktischen

Monteverdi Renaissance sicher sein. Die Aufnahme ist unter schlechten

Bedingungen entstanden. Sie ist dennoch ein wertvolles Dokument. Denn zu hören

ist der Unterschied zum Standard der heutigen Aufführungspraxis. Diesbezüglich war

Hindemiths Rekonstruktion allerdings ein entscheidendes Moment. Im Orchester hat

ein junger Cellist namens Nikolaus Harnoncourt gesessen hat. Für ihn ist diese

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Hindemith-Aufführung eine Initialzündung gewesen. Sie habe ihn „wie ein Blitzschlag

getroffen“.

Als Harnoncourt mit Regisseur Jean-Pierre Ponnelle 30 Jahre später seinen

Monteverdi-Zyklus in Zürich herausbringt, hält die Musiktheaterwelt tatsächlich den

Atem an. Monteverdis Mantua ersteht auf der Bühne. Der Chor steht als höfische

Gesellschaft von Vincenzo Gonzaga auf den Ballustraden. Und in dieser 'Bühne auf

der Bühne' steht ein strahlender Orfeo. Für den sensationellen Orfeo-Darsteller

Philippe Huttenlocher, einen Bariton, wird Orfeos Tenor-Partie sogar transponiert.

Und der Unterweltfährmann in aufgepludertem Ponelle-Barock steigt wie eine

Arcimboldo-Groteske aus einem Nebel-Spinnweben-Gruselkabinett auf, und erteilt

Orfeo, mächtig ausholend mit einem Knochenruder, erst einmal eine Abfuhr:

Musik 5.8

O tu ch'inanzi morte, Anfang Sinfonia

Concentus musicus Wien, Nikolaus Simkowsky, Caronte

WARNER CLASSIC 825646314829

1'45; 0'37

… und Spinnwebengestalten, die Schatten der Unterwelt werden auf der Züricher

Bühne lebendig.

Aber was für ein klanglicher Kosmos hat sich damals mit Harnoncourt-Ponelles Orfeo

für die Musikwelt geöffnet? Der Unterweltsfährman Caronte brummte zu einem

inzwischen herrlich schnatternden Regal (einer kleinen Orgel mit Zungenregister).

Chitarronen kannte Hindemith noch nicht, aber ihre langen Lautenhälse sind in

Zürich zu sehen. Auch Zinken, die wie Zinken aussehen aber wie Trompeten klingen.

Dazu: gereifte Barockposaunen-Rekonstruktionen.

Das Züricher Poppea-Orchester - schon merklich in Richtung modernes

Streicherorchester mutiert - wird ebenso gefeiert. Der Monteverdi-Ring von 1977, mit

Ritorno d'Ulisse vollendet, wird zur Legende. Und Wagnersängerinnen wie Ortrun

Wenkel als Penelope oder die Neue-Musikspezialistin Cathy Berberian als Ottavia

tragen zum internationalen Renommee bei. Dieser Ring wird zum klanglichen

Maßstab aller weitere Aufführungen.

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Allerdings etablieren konnte sich Claudio Monteverdi in unseren Opernhäusern bis

auf den heutigen Tag nicht. Auch wenn die Institution des Musiktheaters sich längst

die Errungenschaften der historischen Aufführungspraxis zunutze macht. Aber wo

sind die Monteverdi-Opern zum 450. Jubiläum? In der Lyoner Oper, im Rahmen des

dortigen Osterfestivals, ist dieses Jahr die Poppea-Inszenierung von Klaus Michael

Grüber vom Festival in Aix-en-provence von 1999 wieder rekonstruiert worden.

Festivals haben Claudio Monteverdis 450. Geburtstag also nicht vergessen. Die

Salzburger Festspiele bringen im Juli einen Monteverdi-Ring unter der Leitung von

John Eliot Gardiner heraus.

Bei den Innsbrucker Festwochen zeigt Intendant und Alte Musikspezialist Alessandro

De Marchi Il Ritorno d'Ulisse in Patria.

Und unsere Schwetzingen SWR Festspiele haben alle drei Opern halb szenisch mit

La Venexiana präsentiert und auch aufgenommen. Den Orfeo haben wir am 14. Mai

ausgestrahlt. Die Poppea können sie kommenden Sonntag in SWR2, und am 28.

Mai den Ulisse nachhören.

Hoffen wir auf Anstöße aus dem Jubiläumsjahr, die in den folgenden Jahren Früchte

tragen wird.

Musik 5.9

Moresca

Concentus Musicus Wien

WARNER CLASSIC 825646314829

0'51

Die Schluss-Moresca aus Claudio Monteverdis Orfeo. Nocheinmal mit dem

Concentus Musicus Wien unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt.

Ich hoffe, Sie haben diese Woche einen nachhaltigen Eindruck von Monteverdis

aufregender Klanglandschaft gewonnen. Sie sind informiert über einige

Einspielungen. Übrigens ist Harnoncourt-Ponelles Züricher Orfeo auf Youtube

nachzuschauen. Immer noch beeindruckend.

Das Skript zu dieser wie den vorausgehenden Sendungen können Sie sich aus dem

Netz herunterladen. Die Folgen sind eine Woche lang nachzuhören auf der

Musikstundenseite unter swr.de.

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Ich bin sw

und wünsche Ihnen noch ein schönes Wochenende und noch viele aufregende

Begegnungen mit Claudio Monteverdis Musik.