Tai Chi Chuan - UGB-Gesundheitsberat · PDF fileMorgens zwischen 6.00 und 7.00 Uhr kann man in...

2
Morgens zwischen 6.00 und 7.00 Uhr kann man in vielen chinesi- schen Parks junge wie alte Men- schen beobachten, die sich im Zeit- lupentempo tänzerisch bewegen. Die Übenden sind ganz in sich ver- sunken, und die Bewegungen strahlen eine angenehme Ruhe aus, wie langsam am Himmel vor- beiziehende Wolken oder ein träge dahinfließender Fluß. Selbst im modernen China ist die traditionel- le Bewegungskunst noch weit ver- breitet. Die Menschen schätzen die Übungen, um Ruhe und Kraft für den Alltag zu gewinnen. Langsame, fließende Bewegungen sind typisch für Tai Chi Chuan. In China haben sich im Laufe der Jahrhunderte genau festgelegte Be- wegungsabläufe herauskristalli- siert, die zu sogenannten Formen aneinandergefügt wurden. Der Tai- Chi-Übende “durchtanzt” diese Formen alleine für sich und ohne Pausen. So bleibt er über mehrere Minuten in einem kontinuierlichen Bewegungsfluß. Seine Bewegun- gen sehen aus, als ob er in der Luft schwimmen würde. Die Ästhetik der Übungen wirkt auf viele Beob- achter faszinierend und regt an, Tai Chi Chuan selbst einmal aus- zuprobieren. Die Bewegung kommt von innen Doch Tai Chi Chuan ist nicht nur eine äußerlich ansprechende Be- wegungskunst. Die Ästhetik kann sich überhaupt erst entwickeln, weil die Bewegungen von innen gesteuert werden. Um die Formen richtig auszuführen, muß der Übende mit seiner ganzen Auf- merksamkeit bei der Bewegung sein. Gerade die Kompliziertheit der Übungen zwingt den Anfänger dazu, sich ganz auf sein Tun zu konzentrieren. Innere und äußere Handlungen stehen dabei mitein- ander im Einklang. So erfolgen die Bewegungen in Harmonie mit dem eigenen Atem und mit einem Spannungswechsel von Hand-, Das erhabene Letzte “Tai Chi” (neue Schreibweise “taiji”) kann mit “das erhabene Letzte” übersetzt werden und ist ein traditioneller Begriff aus der taoistischen Philosophie. “Chuan” bezieht sich auf die Faust und bedeutet “mit leerer Faust kämpfen”. Es verweist auf den Ur- sprung des Tai Chi Chuan als Selbstverteidigungstechnik. Die Kombination von Tai Chi und Chuan bezeichnet eine philoso- phisch begründete Bewegungstradition, die zur Abwehr von An- greifern angewandt werden kann. Dabei wird Selbstverteidigung auch im erweiterten Sinne als Selbsterkenntnis, Befreiung von so- zialen Zwängen und Schutz vor Krankheiten verstanden. UGB - Forum 5/98 269 Sportpraxis Tai Chi Chuan

Transcript of Tai Chi Chuan - UGB-Gesundheitsberat · PDF fileMorgens zwischen 6.00 und 7.00 Uhr kann man in...

Page 1: Tai Chi Chuan - UGB-Gesundheitsberat · PDF fileMorgens zwischen 6.00 und 7.00 Uhr kann man in vielen chinesi-schen Parks junge wie alte Men-schen beobachten, die sich im Zeit-lupentempo

Morgens zwischen 6.00 und 7.00Uhr kann man in vielen chinesi-schen Parks junge wie alte Men-schen beobachten, die sich im Zeit-lupentempo tänzerisch bewegen.Die Übenden sind ganz in sich ver-sunken, und die Bewegungenstrahlen eine angenehme Ruheaus, wie langsam am Himmel vor-beiziehende Wolken oder ein trägedahinfließender Fluß. Selbst immodernen China ist die traditionel-le Bewegungskunst noch weit ver-breitet. Die Menschen schätzendie Übungen, um Ruhe und Kraftfür den Alltag zu gewinnen.

Langsame, fließende Bewegungensind typisch für Tai Chi Chuan. InChina haben sich im Laufe derJahrhunderte genau festgelegte Be-wegungsabläufe herauskristalli-siert, die zu sogenannten Formenaneinandergefügt wurden. Der Tai-Chi-Übende “durchtanzt” dieseFormen alleine für sich und ohnePausen. So bleibt er über mehrereMinuten in einem kontinuierlichen

Bewegungsfluß. Seine Bewegun-gen sehen aus, als ob er in der Luftschwimmen würde. Die Ästhetikder Übungen wirkt auf viele Beob-achter faszinierend und regt an,Tai Chi Chuan selbst einmal aus-zuprobieren.

Die Bewegungkommt von innenDoch Tai Chi Chuan ist nicht nureine äußerlich ansprechende Be-wegungskunst. Die Ästhetik kannsich überhaupt erst entwickeln,weil die Bewegungen von innengesteuert werden. Um die Formenrichtig auszuführen, muß derÜbende mit seiner ganzen Auf-merksamkeit bei der Bewegungsein. Gerade die Kompliziertheitder Übungen zwingt den Anfängerdazu, sich ganz auf sein Tun zukonzentrieren. Innere und äußereHandlungen stehen dabei mitein-ander im Einklang. So erfolgendie Bewegungen in Harmonie mitdem eigenen Atem und mit einemSpannungswechsel von Hand-,

Das erhabene Letzte

“Tai Chi” (neue Schreibweise “taiji”) kann mit “das erhabene

Letzte” übersetzt werden und ist ein traditioneller Begriff aus der

taoistischen Philosophie. “Chuan” bezieht sich auf die Faust undbedeutet “mit leerer Faust kämpfen”. Es verweist auf den Ur-

sprung des Tai Chi Chuan als Selbstverteidigungstechnik. Die

Kombination von Tai Chi und Chuan bezeichnet eine philoso-phisch begründete Bewegungstradition, die zur Abwehr von An-

greifern angewandt werden kann. Dabei wird Selbstverteidigung

auch im erweiterten Sinne als Selbsterkenntnis, Befreiung von so-zialen Zwängen und Schutz vor Krankheiten verstanden.

UGB - Forum 5/98 269

Sportpraxis

Tai Chi Chuan

Page 2: Tai Chi Chuan - UGB-Gesundheitsberat · PDF fileMorgens zwischen 6.00 und 7.00 Uhr kann man in vielen chinesi-schen Parks junge wie alte Men-schen beobachten, die sich im Zeit-lupentempo

Arm- und Beinmuskulatur. DieGelenke werden ständig geöffnetund geschlossen, wobei die Ellen-bogen aber nie richtig durchge-drückt werden. Dies ergibt das run-de Bild aller Haltungen und Posi-tionen. Alle Bewegungen erfolgenaus der Zentrierung heraus. DerÜbende ist mit seiner Aufmerk-samkeit im Energiezentrum desUnterbauchs, “Tan Tien” genannt.Jede Bewegungs- und Richtungs-änderung erfolgt aus diesem Ener-giezentrum heraus. Das Beckenführt die Bewegung an, und alleBewegungsimpulse kommen ausder Mitte des Körpers.

Wohltuend für denganzen KörperDie chinesische Symbolik vonYin und Yang strukturiert die Be-wegungen. Die Tai-Chi-Formenbeinhalten einen ständigen Wech-sel von Anspannung (Yang) undEntspannung (Yin), Vorwärtsdrän-gen (Yang) und Sich-Zurückzie-hen (Yin) und so weiter. Tai Chikann daher auch als Yin-Yang-Be-wegungskunst bezeichnet werden.

Tai Chi Chuan stammt ursprüng-lich aus den Heil- und Atemübun-gen der Traditionellen Chinesi-schen Medizin. Im Laufe der Jahr-hunderte wurden diese mit derfernöstlichen Kampfkunst verbun-den. Es haben sich verschiedene,an Familientraditionen orientierteStilrichtungen entwickelt. Am ver-breitetsten ist der Yang-Stil. Erwird auch hierzulande häufig be-vorzugt, weil er großzügige und

raumgreifende Bewegun-gen sowie einen kontinu-ierlichen Bewegungsflußbeinhaltet. Die Bedeu-tung des Tai Chi Chuanals Kampfkunst hat im20. Jahrhundert allmäh-lich abgenommen, wo-hingegen der Gesund-heitsaspekt immer wichti-ger geworden ist. AuskörpertherapeutischerSicht ist Tai Chi Chuaneine sorgfältig ausgear-beitete Heilgymnastik,die sich wohltuend aufden ganzen Körper aus-

wirkt. Daher wird es auch bei unszunehmend in der Therapie undRehabilitation von chronischen Er-krankungen wie Herzinfarkt oderRückenproblemen eingesetzt.

Besonders wirksam ist Tai ChiChuan auch, um Krankheiten vor-zubeugen. Der Übende wird sensi-bel für den eigenen Körper unddie eigene Bewegungsweise undkann die Signale seines Organis-mus besser verstehen und deuten.Darüber hinaus wirken sich dieBewegungen positiv auf das Herz-Kreislaufsystem und den Bewe-gungsapparat mit seinen Knochen,Knorpeln, Bändern, Sehnen undMuskeln aus. Besonders in Kombi-nation mit einem gesunden Le-bensstil und einer sinnbejahendenLebenseinstellung sind erheblichegesundheitsfördernde Wirkungenzu erwarten. Ein weiterer Vorteilist, daß Tai Chi Chuan nach einerlängeren Phase des Anlernens zujeder Zeit und an jedem Ort nachLust und Laune ausgeübt werdenkann. Vermutlich wird sich daherTai Chi Chuan – ähnlich wieYoga – auch in den westlichenLändern zunehmend verbreiten.

Mit Schwert und StockWer einmal mit Tai Chi Chuan an-gefangen hat, entdeckt bald, daßman ein Leben lang etwas dazuler-nen kann. Neben den Solo-For-men gibt es auch gut ausgebautePartnerübungen. Hier werden dieBewegungsprinzipien des Yin undYang von zwei Personen ausge-führt: Der eine schiebt beispiels-

weise mit der Hand nach vorn, derandere zieht sich zurück. Vor-wärtsdrängende und empfangendeEnergien ergänzen einander undbefinden sich in ständigem Wech-sel und Wandel. Die Partnerübun-gen eröffnen interessante Formenund sehr schöne Bewegungsabläu-fe. Weitere Tai-Chi-Varianten wer-den mit stilisierten Waffen wieSchwert, Stock, Fächer oder Säbelausgeführt.Chinesen praktizieren alle mögli-chen Varianten tolerant nebenein-ander. Niemand meint, sein Stilwäre der Bessere. Auch westlicheSportarten wie Joggen oder Fuß-ball stehen gleichberechtigt nebenfernöstlichen Bewegungsformen,ohne daß sie sich gegenseitig denWert absprechen.

Für Sportliche wieUntrainierte geeignetUm seiner Gesundheit etwas Gu-tes zu tun, reicht es völlig aus, je-den Tag einige Bewegungen aus-zuführen. Ungefähr 20 MinutenTai Chi Chuan täglich, in einemstillen Raum oder Park ausgeführt,lassen den Alltag in einem ande-ren Licht erscheinen.Tai Chi Chuan kann jeder erlernen– ob alt oder jung, sportlich oderunsportlich. Für jeden wird es sei-ne eigene Wirkung entfalten undzur praktischen Lebenshilfe wer-den. Die Voraussetzunghierfür ist, daß man offenfür die Eigenart dieser Be-wegungsform wird und be-reit ist, täglich zu üben.Tai Chi Chuan ist einWeg, der entsteht, wennman ihn geht.

Anschrift der Verfasser:Barbara und Dr. Klaus MoeglingInstitut für Bewegungslehre undBewegungsforschungAm Ahlberg 10D-34376 Immenhausenwww.IFBUB.de

Literaturhinweise:

MOEGLING. B. U. K.: Tai Chi Chuan für Einsteiger.Goldmann, München 1997

MOEGLING, K. (Hrsg.): Tai Chi Chuan und Gesund-heit/Krankheit. Sport und Buch Strauß, Köln 1997

Fot

o:R

alf

Hei

nem

ann

Die Autoren Barbara und Klaus Moeglingbei einer Tai Chi Übung.

UGB - Forum 5/98272