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TATAMI VS. VITRUV ALEXANDER SIN FEI ESSEN

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TATAMI VS. VITRUV

ALEXANDER SIN FEI ESSEN

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TATAMI VS. VITRUV

VORDIPLOMNEBENTHEMA APRIL 2006

TATAMI VS. VITRUV

KÖLN INTERNATIONAL SCHOOL OF DESIGNALEXANDER SIN FEI ESSEN6. SEMESTERMATRIKELNUMMER: 11041127 1 8

LEHRGEBIET: DESIGN - THEORIEBETREUT VON PROF. DR. MICHAEL ERLHOFF

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INHALT

1. 1 EINLEITUNG1. 2 DIE THEMENFINDUNG

2. DEFINITION UND GESCHICHTE2. 1. 1 DEFINITION GOLDENER SCHNITT2. 1. 2 GESCHICHTE GOLDENER SCHNITT2. 2. 1 DEFINITION TATAMI2. 2. 2 GESCHICHTE TATAMI

3. VERGLEICHSKRITERIEN3. 1 BEZUG ZUM MENSCHEN3. 1. 1 DER MODULOR (INKL. SOLARPLEXUS)3. 2 BEZUG ZU NATUR UND UMGEBUNG3. 3 PROPORTIONS-UMFRAGE3. 4 ÄSTHETIK DER PROPORTIONEN3. 5 MODULARITÄT3. 6 KRIEG DER EINHEITEN: METER VS. ZOLL, KIOTO VS. TOKIO

4. ANWENDUNGSBEISPIELE

5. KUNIO MAYEKAWA: ARCHITEKT ZWISCHEN ZWEI KULTUREN

6. FAZIT

7. 1 QUELLENANGABEN 7. 2 DANKSAGUNGEN UND VORSTELLUNG DER GESPRÄCHSPARTNER

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1.0 EINLEITUNG 04

1.0 EINLEITUNG

„Während wir im Westen nach einer Grundrissordnung, aufgebaut auf einen Raster, suchen, geht in Japan be-dauerlicherweise diese seit Jahrhunderten übliche Di-mensionierung der Räume auf Tatamibasis verloren.”

Alfred Altherr im Jahre 1968

Der Goldene Schnitt und das Tatami-Flächenmaß: Beide Begriffe stehen für Verhältnisse, anhand derer Bauwer-ke und Raumaufteilungen konstruiert werden. Beide Systeme haben ihre Hochblüte bereits hinter sich, bei-de sind Teil ihrer Kultur und aus der Geschichte nicht wegzudenken. Als traditionelle Richtwerte haben sie noch heute Bestand, denn im Westen wird der Golde-ne Schnitt als ästhetische Richtlinie genutzt, während in Japan die Tradition, und somit auch die Tatami, nach Möglichkeit und Bedarf gerne in die moderne Bauweise eingeflochten wird, anstatt sie abzustreifen.

Diese Arbeit versucht, die Unterschiede und Gemein-samkeiten beider Begriffe darzustellen. Die im Folgen-den beschriebenen Sichtweisen und Vergleichskriterien sind so vielseitig wie die Anwendungen beider Systeme. Im Hintergrund ihrer architektonischen Präsenz stehen naturwissenschaftliche, kulturelle, pragmatische, ästhe-tische und traditionelle Motivationen und Überlegun-gen.

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1.0 EINLEITUNG 05

Nicht immer lassen sich das Harmoniegesetz Goldener Schnitt und das Flächenmaß Tatami gut miteinander vergleichen, so ist der Goldene Schnitt beispielsweise auch in der Natur präsent, die Tatami-Proportion hinge-gen ein geistiges Konstrukt lediglich von und für Men-schen. Aber gerade in „hinkenden“ Vergleichen werden ihre Eigenarten deutlich.

Angesichts des heute stattfindenden Austauschs und der Integration von Kulturen ist es interessant und das Ziel dieser Arbeit, Verbindungsmöglichkeiten beider Systeme zu entdecken. An dieser Stelle bringt der Au-tor seine Freude zum Ausdruck, dass es (nicht nur) einen interessanten Vertreter dieses Bestrebens gibt, dessen Bauten und Werke am Ende dieser Dokumentation (und in Köln) vorgestellt werden.

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1.1 THEMENFINDUNG 06

1.1 THEMENFINDUNG

Was steckt hinter der Ordnung der Dinge? Wie kann man aus der Vielzahl der Ordnungen unserer Welt ihre Me-chanismen abstrahieren, um sie dann in die Werkzeug-kiste der Gestaltenden zu legen? Der erste Arbeitstitel dieser Arbeit lautete „Über die Ordnung der Dinge“. Die Aufgabe aber, aus vielen disziplinübergreifenden Struk-turen und Gesetzen die Essenz zu abstrahieren und in andere Bereiche zu übersetzen, gehört nicht auf den Schreibtisch eines Vordiplomanden des Studiengangs Design. Eher wäre hier ein runder Tisch mit VertreterIn-nen der Biologie, Philosophie, Politologie, Soziologie, Kunsthistorie, Architektur, des Designs, der Chemie und der Physik des ganz Kleinen und des Großen und Gan-zen gefragt. Ich suchte also nach Wegen, das Themen-gebiet zu präzisieren, ohne ihm den Reiz des Generellen zu stehlen.

Der zweite Arbeitstitel „Welche Ordnungen sind für das Design relevant?“ schränkte die Suche nach den Prinzi-pien schon überschaubarer ein und ließ hoffen, eine li-mitierte Auswahl an Ordnungsprinzipien zum Vergleich bereitstellen zu können. Der Goldene Schnitt erwies sich schon in den vorangeganenen Recherchen als ein treuer Begleiter, d.h. er taucht in vielen Bereichen auf, wo nach den Prinzipien der Gestaltung von Formen und Funktionen für den Menschen gefragt wird. Der Golde-ne Schnitt umschließt interessante anthropische Aspek-te, die in die Architektur eingeflossen sind. Der römische Architekt Vitruv widmete seinem Caesar im 1. Jahrhun-dert vor Christus „Zehn Bücher über Architektur“, in de-nen er vom Menschen als Maßobjekt ausging. Vitruvs Lehren haben bis heute Bestand.

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1.1 THEMENFINDUNG 07

(Abb. TDW, 2004)

Der Mensch als Maß der Dinge ist ein nützliches Eben-maß, wenn es den Gestaltenden doch darum geht, dem Menschen nützliches zu schaffen. Im Herbst 2004 saß ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einer Tatami-Matte im hochmodernen Tokio. Wir ha-ben dort an dem Studentenwettbewerb „Street Furnitu-re“ im Rahmen der „Tokyo Designer‘s Week“ teilgenom-men. Bei den Vorbereitungen in Deutschland wurden wir stets mit eigenartigen Maßen konfrontiert: Für unse-re Einzel-Exponate waren 909 x 1818 mm vorgesehen. Dies entspricht einem in Japan gängigen Flächenmaß: Dem der Tatami-Matte. Eine Strohmatte, deren Dimen-sionierung ursprünglich (wie auch der Goldene Schnitt) dem menschlichen Maß angepasst wurde. Eine Stroh-matteist also grundlegend ist für die Dimensionierung von Flächeneinteilungen in Japan. Nicht nur diese für mich sehr ungewöhnliche Erfahrung steht im Vorder-grund des Vergleichs „TATAMI vs. VITRUV“, sondern auch die hochentwickelte japanische Kultur, die Hand in Hand geht mit einer gehörigen Portion Ordnung.

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2.1 DEFINITION GOLDENER SCHNITT 08

2.1 DEFINITION GOLDENER SCHNITT

Der Goldene Schnitt ist ein bestimmtes Verhältnis zweier Zahlen, meist Längen von Strecken, das in der Kunst und Architektur oft als ideale Proportion und als Inbegriff von Ästhetik und Harmonie angesehen wird. In der Vergangenheit wurde er auch als „Göttliche Teilung“ bezeichnet, im englischsprachigen Raum wird er „Golden Selection“ oder „Golden Division“ genannt.

„Wir sagen, eine Strecke sei im Verhältnis des Goldenen Schnittes geteilt, wenn sich beide Teilstücke zueinander verhalten wie das längere Teilstück zur ganzen Strecke“ (Hans Walser 2004, S. 9).

a:

b:

a : b = b : (a + b)

Wenn a gleich 1 ist, beträgt b 1,618;ist a gleich 0,618, so ist b gleich 1.0,618 : 1 entspricht1 : 1,6180339887498948482045868343656 (...),gerundet 1 : 1,618

Bei der größeren Strecke spricht man vom „Major”, bei der kleineren Strecke vom „Minor”.

Die Zahl 1,618 wird auch „Phi” (Symbol: Φ) genannt. Die Proportion des Goldenen Schnitts ist irrational, sprich: Sie ist keine ganze Zahl.

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2.1 DEFINITION GOLDENER SCHNITT 09

(Abb. Otto Hagenmaier, 1977, S.16)

Man kann dieses Verhältnis auf mehrere Arten mathe-matisch berechnen oder auch geometrisch konstruie-ren.

Ein Pentagramm trägt den Goldenen Schnitt in sich. Die Strecken des Pentagramms teilen sich „stetig“ im Golde-nen Schnitt: Die fette Strecke verhält sich zur halbfetten wie diese zur punktierten, also zur Summe der beiden ersten; die halbfette zur punktierten wie diese zur gan-zen Diagonale.

Der Goldene Schnitt wird auch als „stetige Teilung“ be-zeichnet, denn subtrahiert man die kürzere der beiden Strecken von der längeren, so erhält man eine Strecke, die zur kürzeren wiederum im Verhältnis des Goldenen Schnittes steht. Die Bezeichnung „stetige Teilung” be-zieht sich auf den Umstand, dass dieser Vorgang belie-big oft wiederholbar ist und dabei stets dasselbe Ver-hältnis liefert.

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2.1.2 GESCHICHTE GOLDENER SCHNITT 10

2.1.2 GESCHICHTE GOLDENER SCHNITT

Die Bezeichnung „Goldener Schnitt“ stammt sehr wahr-scheinlich aus dem 19. Jahrhundert, aus der Verbindung des mittelalterlichen „regula aurea“ und der Kepler-schen Bezeichnung „sectio aurea“ (Otto Hagenmaier 1977, S.18). Den Begriff „Goldener Schnitt“ gab es früher nicht, aber das Geheimnis um seine Proportion wurde schon früh erforscht. Das Pentagramm tauchte bereits in altägyptischen Bauwerken und Babylonischen Han-delswaren auf.

Auch der Bund um Pythagoras (ca. 570 v. Chr. bis 510 v. Chr.) beschäftigte sich mit abstrakten Verhältnissen in der Musik und in der Mathematik. „Eine exakte Defini-tion des Pentagramms gelang erst in der griechischen Mathematik, hier besonders in der pythagoreischen Schule im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus. Wann und durch wen die exakte Konstruktion der Fünfeckteilung in der klassischen griechischen Mathematik und der da-mit zusammenhängenden Teilung gelang, ist nicht mit Bestimmtheit nachzuweisen. Wir wissen aber, daß der pythagoreische Bund das Pentagramm als Geheimzei-chen führte und sich sehr wahrscheinlich intensiv mit der Konstruktion des Fünfecks beschäftigte“ (Otto Ha-genmaier 1977, S. 16).

„Die Pythagoreer (...) waren der Meinung, dass sich ’al-les’ in dieser Welt durch Verhältnisse ganzer Zahlen ausdrücken ließe (Harmonienlehre). In der heutigen mathematischen Sprache hieße das: Es gibt nur ratio-nale Verhältnisse“. Die Entdeckung der Irrationalität des Goldenen Schnitts führte „zu Irritationen und zu sehr

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2.1.2 GESCHICHTE GOLDENER SCHNITT 11

menschlichen, wenn nicht allzumenschlichen Reaktio-nen: Die Pythagoreer behandelten diese ihr Weltbild erschütternde Einsicht als ’Vereinsgeheimnis’: Was nicht sein darf, darüber wird nicht gesprochen. Aus heutiger Sicht eine wissenschaftsfeindliche Haltung“ (Hans Wal-ser 2003, S. 5).

Platon, griechischer Philosoph (427 v. Chr. bis 347 v. Chr.) stellte fest, daß es nur fünf verschiedene Körper geben kann, deren Seitenflächen ausschließlich aus zueinander kongruenten regulären Vielecken bestehen: die Platoni-schen Körper. Einer davon ist der Dodekaeder, den man aus zwölf regulären Fünfecken zusammenbauen kann.

Euklid, ein griechischer Mathematiker (ca. 365 bis 330 v. Chr.), beschreibt im II. Buch 11. Satz seiner „Elemen-te“ die geometrische Konstruktion der stetigen Teilung in Flächensatzform und im IV. Buch 11. Satz die exakte Konstruktion des Pentagramms. Da in seinen Büchern, die bis ins späte 19. Jahrhundert hinein die Grundlage der Mathematik bildeten, die Forschungen der pytha-goreischen Schule historisch getreu wiedergegeben sind, dürfte die exakte Definition der stetigen Teilung dieser Zeit zugeschrieben werden. Er schreibt im VI. Buch der „Elemente“ auf S. 111: „Eine Strecke heißt ste-tig geteilt, wenn sich, wie die ganze Strecke zum größe-ren Abschnitt, so der größere Abschnitt zum kleineren verhält“.

Der Namensgeber dieser Arbeit ist Marcus Vitruvius Pol-lio, kurz: Vitruv. Er war ein römischer Architekt, Ingenieur und Schriftsteller (ca. 80‒70 v. Chr. bis 20 v. Chr.). Über seine Biographie ist wenig bekannt ‒ sein Lebenswerk hingegen hat noch heute Bestand. Seine „Zehn Bü-cher über Architektur“ widmete er seinem Kaiser Gaius Iulius Caesar, unter welchem er auch für den Bau von

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2.1.2 GESCHICHTE GOLDENER SCHNITT 12

(Abb. WEB01)

Kriegsmaschinen verantwortlich war. Die „Zehn Bücher über Architektur“ (Originaltitel: „De Architectura Libri decem“) sind das einzige erhaltene antike Werk, das sich mit Architektur befaßt, und nach Vitruvs eigenen Anga-ben auch das erste lateinische Werk überhaupt, das eine umfassende Darstellung der Architektur zum Ziel hat. Vitruv beschäftigte sich grundlegend mit Proportionen, die vom Menschen als Maß der Architektur ausgingen.

Leonardo da Vinci, das italienische Universalgenie (1452 bis 1519), griff in seinen Studien und Proportionslehren die Gedanken des Vitruv auf und zeichnete den „Vitruvi-schen Mann“ in einen Kreis und einem Quadrat, wobei die Quadratseite (Major) und der Kreisradius (Minor) im Verhältnis des Goldenen Schnittes lagen. Diese Illustrati-on wurde weit verbreitet, kopiert und modifiziert.

Minor Major

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2.1.2 GESCHICHTE GOLDENER SCHNITT 13

Der italienischer Mathematiker Fibonacci (ca. 1170 bis 1240), kam durch einen praktischen Grund zum Golde-nen Schnitt. Bei seiner Studie über das Wachstum einer Kaninchen-Population ergab sich eine Zahlenreihe, die später als die „Fibonacci-Serie“ bekannt werden sollte. Diese Reihe beginnt mit den Anfangswerten Null und Eins. Für die beiden ersten Zahlen werden die Werte Null und Eins vorgegeben. Jede weitere Zahl ist die Summe ihrer beiden Vorgänger. Daraus ergibt sich die Folge:

0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144, 233, 377, 610, 987, 1597, 2584, 4181, 6765, ...

Auch die Architektur machte sich diese Zahlenreihe zu Nutze, wie Le Corbusier später beweisen sollte.Albrecht Dürer war ein deutscher Maler und Kunstthe-oretiker (1471 bis 1528) und beschäftige sich in der von ihm verfassten „Proportionslehre“ intensiv mit den „Schlüsselfiguren“, dem Dreieck, dem Quadrat, dem Fünfeck und ihren Maßverhältnissen (Hans Walser 2004, S. 23). Er war auf der Suche nach einem „Regelsystem“ der Schönheit und erzeugte seine Werke streng nach den menschlichen Proportionen. Auch war ihm Vitruvs Werk „Zehn Bücher über Architektur“ ein Ratgeber nicht nur für die Studie menschlicher Proportionen, sondern auch für seine Publikation „Befestigungslehre“ von Städ-ten.

Johannes Kepler, (1571-1630), Mathematiker, Physiker und Astronom, bezeichnete die stetige Teilung als „sec-tio divina”. Kepler hatte bemerkt, dass die Fibonacci-Fol-ge eng mit dem Goldenen Schnitt verwandt ist, da der Quotient zweier aufeinanderfolgenden Fibonacci-Zah-len sich „phi” annähert.

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2.1.2 GESCHICHTE GOLDENER SCHNITT 14

(Abb. Le Corbusier, 2003, S. 67)

Le Corbusier (Charles Edouard Jeanneret-Gris), franzö-sisch-schweizer Architekt, Maler und Architekturtheore-tiker (1877 bis 1965). Das von ihm entwickelte Porpor-tionswerkzeug „Modulor“ geht vom Goldenen Schnitt aus und verwendet, bzw. modifiziert die Fibonacci-Zah-len. Aus der Grundüberzeugung heraus, dem Menschen Nützliches Gestalten zu können, indem er Maße verwen-dete, welches dem Menschen nachgeahmt ist, entstand der Modulor.

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2.2.1 DEFINITION TATAMI 15

2.1.1 DEFINITION TATAMI

Das Grundmaß der tatami bestimmt die Proportionen und die Dimensionierung der Räume und des ganzen Gebäudes. Die Zimmergröße wird nach der Anzahl der Matten bemessen, 3, 4, 5, 6, 8, 10, 12 Matten usw.

Tanizaki Jun’ichiro beschreibt Tatami-Matten als „Mat-ten aus Stroh und Binsen, mit denen in Japan die Böden der Wohnräume ausgelegt werden.“ (Tanizaki Jun’ichiro 1987, S. 80).

In den japanischen Längeneinheiten entsprichtdie Größe einer tatami = 1 ken1 ken = 6 shaku = 1818 mm(siehe auch nächste Seite)

Heino Engels war einer der ersten Nicht-Asiaten, der seine Studien dem japanischen Tatami-Raster widmete und sagte über die Bedeutung des ken: „Indeed, the ja-panese ken module is an extraordinary phenomen in ar-chitecture (...)“. Der ken sei: „...a unit universally applied in living as in building, a standard distance for construc-tion and economy, a module for aesthetic order“ (Heino Engels 1985, S. 24).

(Abb. Engels)

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2.2.2 GESCHICHTE TATAMI 16

2.2.2 GESCHICHTE TATAMI

„Seit der Heian-Ära ist die Tatamimatte als Bodenmate-rial bekannt. Erste Erwähnung fand es bereits in den Koji Ki (frei übersetzt: Aufzeichnung historischer Angelegen-heiten) 712 n. Chr, wonach in der Zeit des Kaisers Jimmu (6. Jhdt. v. Chr.) erste Tatami-ähnliche Matten verwendet wurden. Ursprünglich wurde der Begriff tatami für Tep-piche aus Wolle und Matten zum Sitzen und Schlafen verwendet. Nachdem diese Materialien obligatorisch in den Häusern der wohlhabenden, aristokratischen Leute wurden, bezeichnete tatami alles, was gefaltet (tatamu) oder schichtweise gelegt wird (Herstellung)“, sagt Pe-ter Bedner, Landschaftsarchitekt und Mitglied der OAG (Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ost-asiens).

Die Größe der tatami hat geringfügige Unterschiede. Die wichtigsten Größen sind:

Kyouma-Tatami: 6 shaku 5 sun x 3 shaku 2,5 sun (1970 x 985 mm)Chuuyouma-Tatami: 6 shaku 3 sun x 3 shaku 1,5 sun (1909 x 955 mm)Inakama-Tatami: 6 shaku x 3 shaku (1818 x 909 mm)Edoma-Tatami: 5 shaku 8 sun x 2 shaku 9 sun (1757 x 879 mm)

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3.1 GOLDENER SCHNITT BEZUG ZUM MENSCHEN

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3.1 GOLDENER SCHNITT BEZUG ZUM MENSCHEN

Vitruv beschreibt den menschlichen Körper als den Maß-geber der Dinge und bezieht sich dabei auf die antiken Griechen: „Ebenso haben sie die Grundmaße, welche bei allen Bauwerken notwendig zu sein scheinen, von den Gliedern des Körpers hergenommen, wie den Zoll (Finger), Palm (Handfläche), Fuß, die Elle (Ellenbogen, Vorderarm), ...” (Vitruv 2004, S.93).

Le Corbusier äussert sich ähnlich über „ewige und stets verfügbare Werkzeuge, weil sie an die menschliche Per-son geknüpft waren. Diese Werkzeuge besaßen Namen: Elle, Finger, Daumen, Fuss, Spanne, Schritt usw. (...) Die-se Maße waren wesentliche Teile des menschlichen Kör-pers und daher von vornherein geeignet, als Hilfsmittel für die zu erbauenden Hütten, Häuser und Tempel zu dienen“ (Le Corbusier 2003, S. 19).

Weiter äussert sich Vitruv zu der Proportion der Men-schen: „Proportion ist die Zusammenstimmung der ent-sprechenden Gliederteile im gesamten Werk und des Ganzen, woraus das Gesetz der Symme-trie hervorgeht. Denn es kann kein Tempel ohne Symmetrie und Pro-portion in seiner Anlage gerechtfertigt werden, wenn er nicht, einem wohlgebildeten Menschen ähnlich, ein genau durchgeführtes Gliederungsgesetz in sich trägt“ (Vitruv 2004, S. 91).

„Die Eurytthmie ist das Ansprechende im Aussehen und ein hinsichtlich der Zusammenstellung der Glieder be-haglicher Anblick. Sie wird erzielt, wenn die Glieder des Gebäudes im richtigen Verhältnis der Höhe zur Breite,

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3.1 GOLDENER SCHNITT BEZUG ZUM MENSCHEN

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der Breite zur Länge stehen und überdies alle ihre sym-metrischen Gesamtverhältnissen entsprechen” (Vitruv 2004, S. 24).

Den Mittelpunkt und den später so genannten „Vitru-vischen Mann“ von Leonardo Da Vinci beschreibt er so: „Der Mittelpunkt des Körpers ferner ist von Natur der Nabel. Denn wenn ein Mensch mit ausgepannten Ar-men Händen und Füßen auf den Rücken gelegt wird und man den Zirkelmittelpunkt in seinen Nabel einsetzt, so werden, wenn man die Kreislinie beschreibt, von den beiden Händen und Füßen Finger und Zehen von der Li-nie berührt. Eben so, wie die Finger eines Kreises an dem Körper dargestellt wird, so wird auch die eines Quadra-tes an ihm gefunden” (Vitruv 2004, S.92).

Auch Ernst Neuferts „Bauentwurfslehre“ stellt die Ver-hältnisse des Goldenen Schnittes am Körper dar (Otto Hagenmaier 1977, S. 24).

(Abb. Otto Hagenmaier 1977, S. 24)

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3.1.1 DER MODULOR (INKL. SOLARPLEXUS) 19

3.1.1 DER MODULOR (INKL. SOLARPLEXUS)

„Es ist ein Maßsystem, das das Schlechte schwierig und das Gute leicht macht“

Albert Einstein

Vielfach wird im Buch „Modulor“ auf den Bezug zum menschlichen Maß größter Wert gelegt. Das Konzept des Modulor zielt darauf ab, der Architektur eine am Maß des Menschen orientierte mathematische Ordnung zu geben.

Aus Vorlesungsmitschriften der Universität Weimar geht hervor: „Le Corbusier schafft sich später eine Ordnung, die sich am Maß des Menschen orientiert. Er nennt das

(Abb. Le Corbusier 2003, S. 84)

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Resultat seiner Berechnungen den ’Modulor’ und geht von zwei Summenwerten aus, die den Menschen be-treffen: Die Körpergröße (183 cm) und die Größe der menschlichen Gestalt mit erhobenem Arm (226 cm) . Aus der Teilung der Körpergröße durch die Nabelhö-he leitet er ein Verhältnis aus dem Goldenen Schnitt ab und teilt im selben Verhältnis weiter bis zum Zeh , die Rote Reihe. Die blaue Reihe teilt ebenso stetig nach dem Goldenen Schnitt die Größe des Menschen mit ausge-strecktem Arm. Der goldene Schnitt, bezogen auf den menschl. Körper ist ein altes Prinzip”.

Le Corbusier selbst sagt über die Werte, sie „kommen aus einer einzigen Quelle, dem Maß 113, der Höhe des Solarplexus eines sechs Fuß großen Menschen; die-ses Maß läßt folgende wesentliche Variationen zu: die Verdopplung, den verlängerten Goldenen Schnitt, den verkürzten Goldenen Schnitt” (Le Corbusier 2003, S. 84). In den Abbildungen sieht man je links die Zahlenwerte der roten Reihe und rechts die der blauen Reihe. Sie sind nach oben und unten hin endlos teilbar.

3.1.1 DER MODULOR (INKL. SOLARPLEXUS)

(Le Corbusier 2003, S. 83)

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3.1.1 DER MODULOR (INKL. SOLARPLEXUS) 21

Eine Ungereimtheit aber ist mir bei den Recherchen auf-gefallen. Le Corbusier maß den Major vom Fuss bis zum Solarplexus (Le Corbusier 2003, S. 55, S. 68 und S.85) und den Minor folglich ab dem Solarplexus bis zum Schei-tel. In vielen anderen Publikationen, wie zum Beispiel in Otto Hagenmaiers “Der Goldene Schnitt” (Otto Ha-genmaier 1977, S. 29) oder etwa in vorangegangener Erläuterungen der Universität Weimar, wird das von Le Corbusier angenommene Körperzentrum als Bauchna-bel bezeichnet!

Der Solarplexus allerdings befindet sich etwa 5 Zenti-meter weiter oberhalb.

(Abb. WEB03)

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3.1 TATAMI BEZUG ZUM MENSCHEN

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3.1 TATAMI BEZUG ZUM MENSCHEN

„A half mat to sit on, a whole one to sleep on“(Kyoichi Tsuzuki 1997, S. 374).

An dieser Proportionsstudie von Heino Engels aus sei-nem Buch “Measure and Construction of the Japanese House” ist interessant, daß offensichtlich der Golde-ne Schnitt eingezeichnet ist ‒ und zwar unterhalb des Bauchnabels (Heino Engels 1985, S. 19).

(Abb. Heino Engels 1985, S.19)

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3.1 TATAMI BEZUG ZUM MENSCHEN

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Ein spezieller Tatami-Raum nimmt in Japan eine Son-derrolle ein: Das chashitsu, oder auch Teezimmer.

Das chashitsu ist üblicherweise mit viereinhalb (und manchmal auch nur eineinhalb) Tatami-Matten ausge-legt, und nimmt somit innerhalb der Anordnungsmög-lichkeiten der Tatami-Zimmer eine besondere Rolle ein. Die Teekunst Japans ist auch heute noch sehr ausge-prägt, denn das Teetrinken spielt eine große soziale Rol-le. Peter Bedner formuliert es so: „Das Teezimmer ist die kleinste funktionale Gebäudeeinheit der Welt. Sie ist der Ort, wo wichtige Gespräche geführt werden, während man sich dem Genuß der Teezeremonie hingibt. Man wird von nichts abgelenkt. Nur Gast und Gastgeber sind anwesend.“ In heutigen Wohnungen wie etwa in der von Hisami Noda (25, Nachrichtenredakteurin) oder ih-rer Freundin Kayoko (25, Bank-Angestelle), beide in der Peripherie Tokios wohnend, wird nicht auf ein Tatami-Zimmer verzichtet. Selbst in von Raumknappheit domi-nierten Wohnungen ohne Gartenanlage wird also ‒ je nach finanziellen und räumlichen Möglichkeiten ‒ Wert gelegt auf einen Ort, der der Menschlichkeit, Kommuni-kation und Behaglichkeit dienen soll: dem chashitsu.

Eine weitere für den Menschen positive Eigenschaft birgt sich in der Produktion und Materialität der Tatami. Die Oberseiten der Tatami-Matten bestehen aus Binsen-geflecht. „Diese Binsenhalme besitzen bedingt durch ihren Lebensraum ein ausgeprägtes Luftkammern- und Kapillarensystem in den Halmen. Dies bewirkt einen kühlenden Effekt im Sommer und einen wärmenden im Winter“, weiß Peter Bedner. Zur Nachtruhe werden auf die Tatami-Matten Futons gelegt, tagsüber werden sie zusammengelegt und in einem Schrank verstaut, was dem oft geringen Platzangebot japanischer Wohnun-gen zu Gute kommt.

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3.2 GOLDENER SCHNITT BEZUG ZU NATUR UND UMWELT

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3.2 GOLDENER SCHNITT BEZUG ZU NATUR UND UMWELT

„Harmonie ist das biologische Endstreben“, sagte der Na-turwissenschaftler und Philosoph Raoul Heinrich Francé (1874-1943) in Bezug zum Goldenen Schnitt, welchen er als „biologisches Format“ bezeichnete (Otto Hagenmaier 1977, S. 19). Francés habe erkannt, „daß nicht nur jedem Lebewesen und jeder Pflanze eine bestimmte Funktion zugedacht ist, sondern auch harmonische wohlpropor-tionierte Form angestrebt wird“.

Hagenmaier schränkt Francés oben erwähnte These der „Naturnorm“ bzw. eines Harmoniegesetzes ein: „In der Tat wird man durch Messungen in der Natur erstaun-lich oft die Verhältnisse des Goldenen Schnittes antref-fen, wobei aber keineswegs bestritten werden soll, daß manches organische Gebilde oder Wesen wenig oder überhaupt keine Beziehung zur Goldenen Reihe zeigt. Es wäre also zu weit gegangen, den Goldenen Schnitt als Naturnorm zu erklären. Fest steht aber, daß da, wo uns eines ihrer Werke infolge der Schönheit ihrer Form oder harmonischer Maßverhältnisse besonders befrie-digt oder erfreut, meist die Verhältnisse des Goldenen Schnittes nachweisbar sind“ (Otto Hagenmaier 1977, S. 19).

Als schönes Beispiel für das Streben nach dieser Harmo-nie in der organischen Natur gelten die Blätter des Efeu. Legt man über ein Efeublatt die Struktur eines Penta-gramms ‒ welches den Goldenen Schnitt ja perfekt in sich definiert ‒ lässt sich die Grundverwandschaft in der Fünfecksform nachweisen.

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3.2 GOLDENER SCHNITT BEZUG ZU NATUR UND UMWELT

25

(Abb. WEB02)

Eine andere Spielart des Goldenen Schnitts ist das zah-lenmäßige Verhältnis der Samenreihen von Sonnenblu-men. In den aneinanderhängenden Samenreihen zählt man zu der einen Seite hin 34 größere und 13 kleinere Spiralen, zur anderen Seite hin sind es 55 größere und 21 kleinere. 13, 21, 34, 55 ‒ diese Zahlen sind Teil der Fibonacci-Reihe, nach der jede folgende Zahl gleich der Summe beider Vorgänger ist.

Ein Beispiel für den Goldenen Schnitt in der unbeleb-ten Natur sind Schneekristalle mit ihren sechsstrahligen Stern-Formen und ihren ungleichen Strecken, welche untereinander meist im Verhältnis des Goldenen Schnit-tes stehen.

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3.2 TATAMI BEZUG ZU NATUR UND UMWELT

26

(Abb. Irmgard Saarschmidt-Richter 2001, S. 112)

3.2 TATAMI BEZUG ZU NATUR UND UMWELT

Das mit viereinhalb Tatami-Matten grundlegend feier-lich eingerichtete japanische Teezimmer “chashitsu” ist Motiv für die Kreation von Kultur. Denkt man an ja-panische Kultur, dann ist der japanische Garten nicht fern - In Form der japanischen Teegärten, die lediglich als „Vorbereitungszone für die Teezusammenkunft an-gelegt“ sind (Irmgard Saarschmidt-Richter 2001, S. 50). Das Wechselspiel von ruhiger Formsprache und einem ruhigen Gemüt hat Tradition in der japanischen Kultur und als Inbegriff von Ordnung, Klarheit und mentaler Ausgeglichenheit zeigt uns der japanische Garten all jene Merkmale auf: Das fruchtbare Klima Japans sorgt für einen überwuchernden Wuchs allenorts, weswegen sich die Gärtner sich der Reduzierung statt der Verzie-rung verschrieben haben.

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3.3 PROPORTIONEN - UMFRAGE 27

(Abb. Otto Hagenmaier 1977, S.11)

3.3 PROPORTIONEN - UMFRAGE

Über Geschmack kann man sich streiten. Man kann aber auch empirische Studien darüber erheben, welche Proportionen in den Augen der Betrachter als „schön“ (auch: wohlgefällig, ästhetisch, angenehm) empfunden werden.

Aufschluß geben über die menschliche Empfindung von Proportionen sollte eine Untersuchung von Gustav The-odor Fechner (1801-1887, deutscher Physiker und Philo-soph): In einer Untersuchung wurden Probanden gebe-ten, unter zehn zur Auswahl stehenden Rechtecken das ihnen gefälligste auszuwählen. Jenes Rechteck im Ver-hältnis des Goldenen Schnitts 21:34 wurde mit 35% der Stimmen am häufigsten genannt. Jene zwei Rechtecke, deren Seitenverhältnisse dem Favoriten am ähnlichsten waren, bekamen entsprechend ähnlich hohe Beliebt-heitswerte.

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3.3 PROPORTIONEN - UMFRAGE 28

„Das Versuchsresultat spricht also sehr für die Allge-meingültigkeit des Goldenen Schnitts als Proportion der Schönheit“ (Otto Hagenmaier 1977, S. 11). „Damit soll aber nicht behauptet werden, daß allein mit dem im Verhältnis des Goldenen Schnittes gehaltenen Rechteck sämtliche Aufgaben gelöst werden können. Es gibt Fäl-le, wo bewußt davon abgewichen oder dieses Verhält-nis nur annähernd angewendet wird, und das Ergebnis doch voll befriedigt“.

Ein ähnlicher Versuch: Online und 130 Jahre später. Von insgesamt 463 Befragten haben sich die meisten für das Verhältnis 2:3 entschieden (94 Stimmen) ‒ dem nur ein wenig „breiteren Nachbarn“ des Goldenen Schnitts (auf Platz 3 mit 67 Stimmen). Auf Platz 2 wurde das optische Quadrat gewählt. Dieses ist etwas ein wenig breiter als hoch. „Hier spielt bereits eine optische Täuschung mit, die das mathematisch genaue Quadrat immer etwas höher erscheinen läßt, die senkrechte Ausdehnung wird also überschätzt“ (Otto Hagenmaier 1977, S. 10). Ange-denk dieser Einschätzung und der Tatsache, dass wir uns an das moderne DIN-Format gewöhnt haben, erscheint es nicht verwunderlich, dass nicht genau der Goldene Schnitt favorisiert wurde, sondern das etwas breitere Rechteck.

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Major

Minor

3.4 ÄSTHETIK 29

3.4 ÄSTHETIK DER PROPORTIONEN

Ein aktuelles Beispiel für die Verwendung der Goldenen Proportion ist der „iPod“. Während der originale iPod von Apple auf einen Millimeter genau im Goldenen Schnitt gebaut ist, variieren die Formate ähnlicher Produkte und sehen daher entweder zu klobig oder zu schmal aus. Die hohen Verkaufszahlen des iPods scheinen diese doch recht subjektive Beurteilung zu unterstreichen.

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3.4 ÄSTHETIK 30

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3.4 ÄSTHETIK - SUISEKI 31

(Abb. WEB06

3.4 ÄSTHETIK - SUISEKI

Suiseki sind hauptsächlich durch die Natur geformte Ge-steinsobjekte. Es sind “Kunstwerke der Natur, präsentiert von Menschen.” Die Natur wird nachgebildet (wie auch im japanischen Garten), sie wird angeordnet, und zwar in einer gefälligen Proportion: Dem Goldenen Schnitt. Und auch die Bonsaikunst bedient sich des Goldenen Schnittes!

Laut Willi Benz entdeckten die “Kunstschaffenden des asiatischen Raumes schon früh, daß einige ihrer Werke das Gefühl für Ausgeglichenheit und Harmonie aufkom-men lassen und die Illusion des Realistischen erzeugen” (Willi Benz 1. Aufl., S. 155ff). Der Goldene Schnitt als Illu-sion des Realistischen? Ein interessanter Gedanke. “Bei der Suche nach den Ursachen kam man auf bestimmte Proportionen, die zueinander an ein festes Verhältnis gebunden sind - der sogenannte Goldene Schnitt.”

Das Goldene Verhältnis: Es ist die Brücke zwischen iPod und Bonsai! Nächste Seite: Suiseki-Kunst durch den Gol-denen Schnitt.

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(Abb. Willi Benz 1. Aufl., S. 155)

3.4 ÄSTHETIK - SUISEKI

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(Abb. Web07

3.5 MODULARITÄT

3.5 MODULARITÄT

Le Corbusier sieht in der Vereinheitlichung der Maße der Baumaterialien wirtschaftliche Vorteile, die sich auf den Gedanken der Modularität stützen. Im Modulor sagt er stolz: „Ich bat das Entwurfsatelier, ein Verzeichnis aller Maße aufzustellen, die in dem Marseiller Bau verwendet wurden. Fünfzehn Maße hatten genügt. Fünfzehn! Ich nahm mir vor, dieses Bravourstück der Zahlen zu ver-herrlichen“ (Le Corbusier 2003, S. 142).

Kurz nach der Befreiung Frankreichs erhielt Le Corbusier den Auftrag, Sozialwohnungen für Marseille zu entwer-fen und daraus Prototypen für den französischen Mas-senwohnungsbau zu entwickeln. Nach Peter Bedner ist dieser Bau übrigens der Einzige, der streng nach den Modulor-Maßen entworfen und umgesetzt wurde.

L’unité d’habitation, Marseille (1947-1952)

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343.5 MODULARITÄT

Diese Reduzierung auf wenige Zahlen erscheint sinnvoll. Denn wo Maschinen und Menschen mit weniger Zahlen arbeiten, muß in der Regel auch weniger gezahlt wer-den. Die Funktion des Modulors, der eine Reduzierung der Maße vorsieht, hat also unter anderem einen wirt-schaftlichen Vorzug, der sich in Kostenersparnis durch Vereinfachung des Materials und dadurch auch der Ma-terialplanung ausdrückt.

Diesen angestrebten Weg zum Pragmatismus ist man in Japan mit dem Tatami-Wari, also dem Modulsystem der Tatami, schon seit Jahrhunderten gegangen. Durch die frühzeitige Standardisierung der Tatami ergaben sich naturgemäß Kostenersparnisse im Fertigungsprozeß der Bauteile, und Vorteile im Transport und des Aufbaus. Ein Umzug muß eine recht komfortable Angelegenheit gewesen sein, denn die mitgenommenen Papierwände und Tatami passten in fast jeden fremden Grundriss. In ihrer Diplom-Arbeit schreibt Kyoko Tanaka-Nettesheim: „Mit einem einfachen Grundrissplan aus Linien und Stri-chen waren Zimmerleute in der Lage, die verschiedenen Bauelemente anzufertigen und das Gebäude dann le-diglich an Ort und Stelle zusammenzusetzen - und, falls notwendig, konnte es später wieder auseinander ge-nommen und an anderer Stelle wiederaufgebaut wer-den. Diese Bauweise ist heute als Vorfertigung bekannt. Ähnlich war es mit der Ausstattung: zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg konnten Leute, die umzogen, alle ta-tami und Raumunterteilungen, wie fusuma und shoji (Papierschiebetüren), mitnehmen. Sie konnten gewiss sein, dass sie perfekt in jeden Raum des neuen Hauses passen würden“ (Kyoko Tanaka-Nettesheim 2005, S. 19f).

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(Abb. Heino Engels 1985, S.45)

353.5 MODULARITÄT

Diese Abbildung zeigt nur einige der Variationsmöglich-keiten für Grundrisse nach dem Tatami-Raster. Der mo-dulare Charakter der tatami bleibt auch nach Gründung des Hauses bestehen: Das Layout der tatami kann je nach Bedarf oder Anlass geändert werden, was nicht nur pragmatisch ist, sondern auch dem japanischen Geist der Wiedergeburt entspricht.

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3.6 KRIEG DER EINHEITEN 36

3.6 KRIEG DER EINHEITEN

1 m = 0,00053 Nautische Meilen (GB)1 m = 0,00062 Meilen (USA)1 m = 1000 mm1 m = 2666,67 Punkt1 m = 442,48 Linie1 m = 3,94 Zoll (Inch)1 m = 41,87 Finger1 m = 10 Hand1 m = 3,33 Fuß1 m = 1,33 Schritt1 m = 1,74 Ellen (Hamburgisch)1 m = 0,52 Klafter1 m = 0,22 Ruten 1 m = 0,22 Leugen (Keltisch)1 m = 3,3 shaku1 m = 0,55 ken

1 m² = 0,55 tsubo1 m² = 0,002 Himten Acker1 m² = 0,0015 Square Inch1 m² = 0,01 ha

(Beispiele traditioneller Maße.)

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3.6 KRIEG DER EINHEITEN 37

3.6 KRIEG DER EINHEITEN

METER vs. ZOLL, TOKYO vs. KYOTO

„Schön ist ’s auf der ganzen Erde,am schönsten doch in Bremervörde.“

Wilhelm Busch, 1878

Dieses Kapitel beginnt in meiner Heimatstadt. Dem schönen Bremervörde entsprang ein örtlich und zeit-weilig überaus bekannte Flächenmaß namens „Himten Acker“. Gebräuchlich war diese Bezeichnung, die jene Fläche meint, die mit einem Himten (Hohlraummaß mit etwa 30 Litern) Getreide besät werden konnte, bis Mit-te des 19. Jahrhunderts. Der „Himten Acker“ setzte sich als vereinheitlichendes Maß allerdings nicht durch, wie auch etliche andere Maße, die etwa auf von Mensch zu Mensch verschiedenen Ellen- oder Fußgrößen beruhten oder auf der Vormittagszeit, innerhalb derer ein Och-senpflug samt seinem Bauern in der Lage waren, eine Ackerfläche zu bestellen und so jene Fläche zu einem „Morgen“ machten.

Den Exitus dieser regional-kreativen Maße vom Himten bis zum Zoll beschrieb der Gründer der heutigen Univer-sität Hannover, Dr. Karl Karmarsch, im „Anzeiger für Hof und Umgegend Donnerstag“ bereits im Januar 1870:

„Hört oder liest man von Fuß, Zoll, Ellen, Morgen, Acker, Kannen, Eimern, Metzen, Himten, Scheffeln usw. ohne nähere Bezeichnung, so weiß man so gut wie gar nicht, was damit gemeint ist; und wird Einem dabei gesagt, welches Landes oder Ländchens Maße darunter ge-meint ist, so erfordert es eine Umrechnung auf das Maß

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3.6 KRIEG DER EINHEITEN 38

der eigenen Heimat, wozu man dicke Hülfsbücher her-beiholen muß ‒ wenn man sie gerade hat. Dagegen gibt es nur einerlei Meter, Centimeter, Hektar, Liter, Hektoli-ter u. s. f., und die ganze Welt weiß ohne Besinnen oder Fragen, was man sich bei den Namen zu denken hat.“

Diese Zeilen sind fünf Jahre vor der „Meterkonvention“ geschrieben worden. Am 20. Mai 1875 unterzeichneten 15 Staaten einen Vertrag, der die Aufgabe hatte, Maß und Gewicht international zu vereinheitlichen. Das Maß beruhte auf dem „Urmeter“, welches als universelle Län-geneinheit 1791 von der französischen „Académie des sciences“ als der zehnmillionste Teil des Erdmeridians definiert wurde. Das heutige Urmeter allerdings ist nicht das wahre Urmeter und hier beginnen bereits die Un-genauigkeiten, die man doch mit einem einheitlichen System zu umgehen versuchte. 1889 wurde ein zweites Urmeter erschaffen, um das erste Urmeter aus dem Ma-terial Messing, das sich durch den Zahn der Zeit in sei-ner Größe veränderte, zu ersetzen. Aber auch das zweite Urmeter aus einer Legierung aus 90% Platin und 10% Iridium war nichts für die Ewigkeit. Erst 1960 hat die Ge-neralkonferenz für Maß und Gewicht eine Definition mit einer bis dahin nicht gekannten Genauigkeit ausgespro-chen: „1 Meter ist das 1.650.763,73-fache der Wellenlän-ge der Strahlung von Krypton-Atomen beim Übergang vom Zustand 5d5 zum Zustand 2p10 im Vakuum“.

Kommen wir von der kühlen Mathematik zurück zum Menschen. Wäre dem Gestaltenden, der sich mit dem Erschaffen der Dinge für den Menschen beschäftigt, ein Maß, das dem menschlichen Körper entspringt, nicht dienlicher als jenes Maß, das den Erdumfang be-schreibt?

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3.6 KRIEG DER EINHEITEN 39

Der Zoll ist ein solches menschliches Maß, über das Vit-ruv schreibt: “Ebenso haben sie (die alten Griechen, der Verf.) die Grundmaße, welche bei allen Bauwerken not-wendig zu sein scheinen, von den Gliedern des Körpers hergenommen, wie den Zoll (Finger), Palm (Handflä-che), Fuß, die Elle (Ellenbogen, Vorderarm), und haben sie, eine vollkommene Zahl, welche die Griechen Teleion nennen, zu Grunde legend, eingeteilt. Als vollkommene Zahl aber haben die Griechen festgesetzt, was man zehn nennt, denn von den Händen ist die Zehn-Zahl der Zol-le (Finger) und von den Zollen der Palm und von dem Palm der Fuß erfunden“ (Vitruv 2004, S. 93).

Knapp zwei Jahrtausende danach bestätigt Le Corbu-sier den Stellenwert des Zolls: „Elle, Schritt, Spanne, Fuß und Daumen (Zoll) waren und sind sowohl das vorge-schichtliche wie das moderne Werkzeug des Menschen“ (Le Corbusier 2004, S.19).

Durch die Eigenart des Menschen aber, eigenartig zu sein und nicht gleichförmig, ergaben sich in der Verwen-dung von beispielsweise der Elle stets Mess-Mängel, die einem groß gewachsenen Verkäufer von etwa 3 Ellen Stoff weniger Gewinn brachten, als einem kurz-elligen Verkäufer.

Wie im Kleinen, so auch im Großen: Welche Territorien grenzte man wie ein, damit die Aufteilung mit rechten Dingen zustande kam? Vielleicht schien hier der Meter tauglicher zu sein angesichts der Tatsache, das er vom Umfang des Erdmeridians abgeleitet wird. Auch die Feststellung des Vitruv, dass schon die alten Griechen die Zahl Zehn als „vollkommen“ erachteten, lässt auf die Vorzüge des metrischen Systems schließen.

Le Corbusier sagte über den Konflikt zwischen Meter

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3.6 KRIEG DER EINHEITEN 40

und Zoll: „Ich bin ihm ernsthaft böse, dem Meter (dem vierzigmillionsten Teil des Erdmeridians), dass er sich in dieser Weise substanzlos gemacht und sich vollkom-men (und so unglücklich und so gefährlich) außerhalb des menschlichen Maßstabes gestellt hat. Der Meter und der Fuß-Zoll sind Nebenbuhler“ (Le Corbusier 2003, S. 144).

Le Corbusier beschreibt die beiden Kontrahenten so: „Der eng an die menschliche Gestalt geknüpfte Fuß-Zoll, der jedoch eine entsetzlich komplizierte Hand-habung erfordert; der gegenüber dem menschlichen Wuchs gleichgültige Meter...“ (Le Corbusier 2003, S. 20). Und: „In der Welt gibt es zwei Hauptmaße: den ’Fuß-Zoll’ und den Meter; sie teilen den Planeten in nahezu un-versöhnliche Verfahrensweisen und stellen unheilvolle Hindernisse auf”.

Le Corbusier selbst hatte mit dem Konflikt zu tun, als er die Höhe des Modulors kurzum von 1,75m auf gerade 6 Fuß (1,83m) nach oben änderte mit der Begründung, daß die ’schönen Männer’, wie ’ein Polizeiwachtmeister in englischen Kriminalromanen’ zum Beispiel, immer 6 Fuß groß seien (Le Corbusier 2003, S. 56).

Zwar ist er der Zoll aus heutiger Sicht der Verlierer im Kampf „Meter vs. Zoll“. Im englischsprachigen Raum, oder beispielsweise bei Billardtischen, oder aktuell zur WM der Yard-Abmaßungen eines Fussballfeldes, in Be-schreibungen zu Monitoren und in der Bezeichnung „Zollstock“ taucht er noch heute auf. Während der Zoll also ausgedient zu haben scheint, wenn auch nicht so schnell, wie von Le Corbusier prognostiziert, durchwan-derte das japanische Ken als Einheitsgröße und Aus-gangsgröße des Tatami-Flächenmaßes ein ähnliches Schicksal.

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3.6 KRIEG DER EINHEITEN 41

Le Corbusier sagte: „Das Ken von Tokyo misst 1,82 m; vom Tag ab, da der Kaiser Tokyo bewohnte, wurde es allgemein” (Le Corbusier 2003, S.54). So genau datieren und verallgemeinern kann man dieses hingegen nicht, wie Peter Bedner aus der Geschichte der tatami zu be-richten weiß: „Das Ken als Maßeinheit (und der Größe) gab es schon vor 1868 (Zeitpunkt, ab dem Edo zu Tô-kyô wurde). Tatami waren in Japan nie richtig standar-disiert, d.h. in den verschiedenen Regionen gab es (mi-nimale) Unterschiede. Diese Differenzen sind mit den Unterschieden der alten, deutschen Ziegelformaten vergleichbar. Tatami wurden seit der Zeit standardisiert, seit sie für die gesamte Auslegung in einem Raum be-nutzt wurden ‒ Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, erste ’richtige’ Standardisierungen gab es um 1750“.

Genau wie der Inch aber noch in der heutigen Zeit gilt, so ist das Tatami-Flächenmaß ebenso wenig aus dem Vokabular zu streichen. Denn noch heute werden japa-nische Räume in Tatami gemessen, und auch wenn die Tatami-Fläche nunmehr in Metern ausgedrückt wird, so hat ihre Grundform, also ihre Proportion 1:2, nach wie vor Bestand in den Planungen von traditioneller, japani-scher Architektur.

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4. ANWENDUNGEN DER SYSTEME 42

4. ANWENDUNG DER SYSTEME

Oben: Das letzte von Le Corbusier gebaute Haus (Hei-di-Weber-Haus in Zürich). Annäherung zum japanischen Garten? Unten: Altes Rathaus in Leipzig (Abb. Walser)

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4. ANWENDUNG DER SYSTEME 43

(Abb. Heino Engels 1985, S.45)

4. ANWENDUNG DER SYSTEME

Oben: Altes Holzhaus in Tokio. Japaner lieben es ein wenig abgenutzt. Unten: Standard-Tatami-Grundriss.

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5. KUNIO MAYEKAWA

5. KUNIO MAYEKAWA: ARCHITEKT ZWISCHEN ZWEI KULTUREN

Kunio Mayekawa wurde 1905 in Niigata City, Japan, ge-boren. Nach seinem Studium in der Universität von To-kio 1928 ging er bei Le Corbusier in Paris in die Lehre. Dort arbeitete er zwei Jahre und kehrte dann nach Tokio zurück. Er gilt als der Vater moderner japanischer Archi-tektur und hat mit Kenzo Tange den Begriff “Internatio-nal Style” mitgeprägt. Seinen Le Corbusier-Einfluß kann man erkennen genauso wie das traditionelle Japan. Hier abgebildet ist die Tokyo Metropolitan Hall.

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(Abb. Alfred Altherr 1968)

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5. KUNIO MAYEKAWA 45

(Abb. Alfred Altherr 1968)

Kulturzentrum Okayama

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(Abb. Postkarte mfg aus Köln)

5. KUNIO MAYEKAWA 46

Ostasiatisches Museum Köln

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6. FAZIT 47

6. FAZIT

„Während wir im Westen nach einer Grundrissordnung, aufgebaut auf einen Raster, suchen, geht in Japan be-dauerlicherweise diese seit Jahrhunderten übliche Di-mensionierung der Räume auf Tatamibasis verloren.”

Dieser Einschätzung des Schweizer Architekten Alfred Altherr aus dem Jahre 1968 schließe ich mich an.

Ich glaube, daß es eine Verbindung des Goldenen Schnitts zur ostasiatischen Kultur gibt. Indikatoren für die Kenntnis des Goldenen Schnittes in Japan sind die in Kapitel 3.3 vorgestellten Bonsai- und Suiseki-Künste, die ja wiederum Teil der zur Ganzheitlichkeit strebenden ja-panischen Kultur sind.

Bei Gesprächen mit Architekten fiel mir stets ein Augen-zwinkern auf, wenn ich sie nach dem Goldenen Schnitt fragte. „Es ist eher eine Gefühlssache, man arbeitet aber nicht wirklich mit dem Goldenen Schnitt“, so der Kanon. Würde man allerdings später mit dem Modulor-Maß-band ihre Werke messen, würde sich sicher eine (intu-itive) Annäherung an den Goldenen Schnitt bemerkbar machen.

Bei aller Liebe zur Genauigkeit der Architekten bleibt die Frage im Raume stehen, warum viele Autoren den Er-finder des Modulor falsch zitieren und den Mittelpunkt dem Bauchnabel zuweisen, obwohl Le Corbusier den Mittelpunkt am Solarplexus definierte (S. 20).

Ich glaube, Le Corbusier hätte gerne die Tatami-Matte im Goldenen Schnitt geteilt.

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7. 1 QUELLEN- UND BILDANGABEN 49

7. 1 QUELLEN- UND BILDANGABEN

Vitruv, 2004: „De Architectura Libri decem”, neugesetz-te und überarbeitete Ausgabe für Marix Verlag, GmbH, Wiesbaden 2004 nach der Ausgabe Berlin 1908.

Le Corbusier, 2003: „Der Modulor”, 8. Auflage 2003, Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart.

Hans Walser, 2003: „Die Versuchung des Irrationalen”, PDF zur Vernissage der Ausstellung: „Natales Liebe zur Geometrie”, Frauenfeld.

Hans Walser, 2004: „Der goldene Schnitt”, 4. Auflage 2004, Eagle Edition am Gutenbergplatz, Leipzig.

Otto Hagenmaier, 1977: „Der Goldene Schnitt - Ein Har-moniegesetz und seine Anwendung”, vierte unverän-derte Auflage, Heinz Moos Verlag München.

Michihiko Yanagi aus Hyogo, 1985: „Porportionen in der Architektur”, Abhandlung zur Erlangung des Dok-tor-Ingenieurs.

Tanizaki Jun’ichiro, 1987: „Lob des Schattens”, Manesse Verlag, Zürich.

Heino Engel, 1985: „Measure and Construction of the Japanese House”, Charles E. Turtle Company, Inc., Rut-land, Vermont / Tokyo, Japan.

Irmgard Schaarschmidt-Richter, 2001: „Gärten der Stille”, Augustus Verlag München.

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7. 1 QUELLEN- UND BILDANGABEN 50

Kyoichi Tsuzuki, 1997: „Tokyo Style”, Kyoto Shoin Co., Ltd.

Willi Benz, 1. Auflage: „Suiseki - Kunstwerke der Natur”, Verlag Bonsai-Centrum Heidelberg.

Alfred Altherr, 1968: „Three Japanese Architects”, Archi-tectural Book Publishing Co., New York.

Kyoko Tanaka-Nettesheim, 2005: „Globalisierungsein-flüsse auf die japanische Gestaltungsphilosophie”, Diplomnebenthema, Köln International School of Design

Bilder WEB01- WEB06:

http://www.uni-weimar.de/architektur/e+gel1/forsc-hung/ordnungen.html

http://de.wikipedia.org/wiki/Kojiki.

http://www.marlesreuth.de/krieg1870.htm#Zur%20Einf%FChrung%20des%20Metrischen%20Systems

http://www.bonsai-fachforum.de/viewtopic.php?p=6143

http://deu.archinform.net/projekte/1944.htm?ID=5031ea70021026654a7d3458fc525296

www.bunkahle.com/Astromedizin/AB/Abb/Vitruv.jpg

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7. 2 DANKSAGUNGEN UND VORSTELLUNG

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7. 2 DANKSAGUNGEN UND VORSTELLUNG DER GESPRÄCHSPARTNER

Ohne die Auskünfte von Ansprechpartnern wäre diese Arbeit nicht so, wie sie ist.

Danke!

Noda Hisami wohnt in Tokyo und arbeitet als Redakteu-rin eines Nachrichtensenders.

Peter Bedner, Landschaftsarchitekt ByAK, hält Vorträ-ge und organisiert Studienreisen nach Japan. Land-schaftsarchitekturbüro in Vilsheim und Innsbruck, Ös-terreich, Mitglied bei der OAG Tokyo

Andreas Wissen, für die tatkräftige Programmierung der Online-Umfrage.

Alle 463 Menschen, die an dieser Umfrage teilgenom-men haben.

Page 52: TATAMI VS. VITRUV - kisd.dealex/vd/TATAMIVSVITRUV.pdf · Der Namensgeber dieser Arbeit ist Marcus Vitruvius Pol-lio, kurz: Vitruv. Er war ein römischer Architekt, Ingenieur und Schriftsteller

EINVERSTÄNDNISERKLÄRUNG

Ich erkläre mich damit einverstanden, dass die Köln In-ternational School of Design die von mir eingereichte Arbeit zu Zwecken der Öffentlichkeitsarbeit unter Er-wähnung meines Namens nutzen darf. Alle Urheber-rechte bleiben bei mir.

Die Köln International School of Design wird die Arbeit nicht kommerziell nutzen und keiner kommerziellen Nutzung zustimmen, ohne dass ich mein ausdrückliches Einverständnis gegeben habe.

( ) einverstanden( ) nicht einverstanden

VERSICHERUNG

Hiermit versichere ich, Alexander Sin Fei Essen, dass ich die Arbeit selbstständig angefertigt habe und keine an-deren als die angegebenen und bei Zitaten kenntlich gemachten Hilfsmittel benutzt habe.

Köln, den 27. März 2006

Unterschrift:

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