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Peter Hagedorn Technische Mechanik Band 3 Dynamik

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Peter Hagedorn

Technische MechanikBand 3

Dynamik

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Der AutorProfessor Peter Hagedorn vertritt an der Technischen Universität Darmstadt dasFach Technische Mechanik in Lehre und Forschung. Er hält seit mehreren Jahrzehn-ten Vorlesungen über Technische Mechanik und über Technische Schwingungslehrefür Hörer unterschiedlicher Fachrichtungen.

Verlag Harri DeutschGräfstr. 4760486 Frankfurt

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978-3-8171-1835-9

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4., überarbeitete Auflage 2008c©Wissenschaftlicher Verlag Harri Deutsch GmbH, Frankfurt am Main, 2008Druck: fgb – freiburger graphische betriebe <www.fgb.de>Printed in Germany

5 Dynamik der Systeme∗

5.1 Eine Umformung der Bewegungsgleichungen(D’ALEMBERTsche Trägheitskräfte)Systeme, die aus mehreren starren Körpern zusammengesetzt sind, wurden auchschon in Beispielen des letzten Kapitels behandelt. Die Vorgehensweise war dabeiso, daß die einzelnen Teilkörper des Systems freigeschnitten wurden, wobei außerden eingeprägten Kräften auch Zwangskräfte auftraten. Für jeden starren Körperwurden dann die Bewegungsgleichungen (Schwerpunktsatz, Drallsatz) aufgestellt.Sie enthielten die Zwangskräfte, die anschließend eliminiert werden mußten. Damitergab sich schließlich ein System von Differentialgleichungen, in dem die Zwangs-kräfte nicht mehr auftraten.

In diesem Kapitel entwickeln wir neue Methoden zum Aufstellen der Bewegungs-gleichungen zusammengesetzter Systeme; wir erreichen dieses Ziel auf ganz ande-ren Wegen als vorher. Dabei gelingt es, das Freischneiden der Körper zu vermeidenund direkt zu Bewegungsgleichungen zu gelangen, in denen die Zwangskräfte nichtauftreten. Diese Vorgehensweise kann besonders bei komplizierten Systemen vonVorteil sein und auch dann, wenn das Aufstellen der Bewegungsgleichungen mitHilfe von Rechenprogrammen automatisiert werden soll.

Zunächst betrachten wir einen einzelnen, ebenen starren Körper und formen seineBewegungsgleichungen um. Dazu bringen wir im Schwerpunktsatz und im Drallsatzdie Trägheitsterme auf die gleiche Seite wie die Kräfte und die Momente:

∑i

#„

Fi −m #„aS = 0#„, (5.1)

∑i

Mi

# „(S) − L#„(S)

= 0#„. (5.2)

Die Größe −ma#„S bezeichnen wir im folgenden als Scheinkraft, sie wird auch

D’Alembertsche Trägheitskraft genannt, die Größe −L#„(S)nennt man Scheinmo-

ment. Im ebenen Fall gilt L#„(S)

= Θ(S) ϕ e#„, wobei e#„ der Einheitsvektor senkrecht

zur Bewegungsebene ist; bei räumlichen Problemen ist L#„(S)

durch die linke Seitevon (4.190) gegeben. Werden die Scheinkräfte in (5.1) und das Scheinmoment in(5.2) wie gewöhnliche Kräfte bzw. wie ein gewöhnliches Moment behandelt, so kannman mit den Begriffen aus der Statik (s. TM 1) den durch (5.1), (5.2) dargestelltenSachverhalt auf folgende Weise ausdrücken:

154 5 Dynamik der Systeme∗

An einem starren Körper bilden die Kräfte#„

Fi mit Angriffspunkten Pi,i = 1, 2, . . ., zusammen mit den eingeprägten Momenten M

# „

i, mit der

Scheinkraft −m #„aS (Angriffspunkt S) und dem Scheinmoment −L#„(S)

ein Gleichgewichtssystem.

Dieser Sachverhalt wird häufig als D’Alembertsches Prinzip1 bezeichnet.

Aus der Statik ist bekannt, daß Gleichgewichtsbedingungen auf verschiedene Artund Weise geschrieben werden können. Zum Beispiel gilt natürlich in der Ebeneeine vektorielle Kräftegleichung (d.h. zwei skalare Gleichungen) und eine (skalare)Momentengleichung. Ebenso kann man aber bei ebenen Problemen zwei Momen-tengleichungen um geeignet gewählte Bezugspunkte sowie eine skalare Kräfteglei-chung schreiben oder auch drei Momentengleichungen allein. Diese Tatsache kannman sich beim Aufstellen der Bewegungsgleichung starrer Körper zunutze machen,indem man die geeigneten „dynamischen Gleichgewichtsbedingungen“ schreibt. Da-mit gelingt es, bei geeigneter Wahl der Bezugspunkte für die Momentengleichungenzumindest einen Teil der Zwangskräfte von vornherein aus den Bewegungsgleichun-gen zu beseitigen.

Im folgenden stellen wir für drei Beispiele ebener Systeme die Bewegungsgleichun-gen unter Verwendung von Scheinkräften und Scheinmomenten auf. Im ersten Bei-spiel der Abb. 5.1 behandeln wir den homogenen Stab der Masse m1 und der Längel. Er kippt unter Wirkung seines Gewichtes mit der Anfangswinkelgeschwindigkeitϕ(0) ≈ 0 aus der lotrechten Lage ϕ(0) = 0; gesucht sind die Schnittgrößen (s. TM 2)in Abhängigkeit von den Variablen ϕ und x. Eine solche Frage tritt z.B. auf, wennein an seiner Basis gesprengter Schornstein um den Fußpunkt kippt. Über dieam Schornstein maximal auftretenden Biegemomente, die eine Funktion des Ortesund der Zeit sind, kann man abschätzen, wo der Schornstein gegebenenfalls brechenwird.

g

A

m1, l

ϕ

x

5.1: Der kippende Stab

A

N(x)M(x)

mg

Θ(S)ϕ

mrϕ2

mrϕ

Q(x)

5.2: Freigeschnittener Stab

Zur Bestimmung der Schnittgrößen M(x), N(x) und Q(x) wird ein Teil des Stabes

1Jean Le Rond d’Alembert, französischer Mathematiker, Philosoph und Literat, *1717 in Paris,†1783 ebenda.

Eine Umformung der Bewegungsgleichungen (D’ALEMBERTsche Trägheitskräfte) 155

an der Stelle x gemäß Abb. 5.2 freigeschnitten, die Schnittgrößen werden dadurchzu äußeren Kräften bzw. Momenten gemacht. Im Freikörperbild werden nun alle aufden oberen Teil wirkenden Kräfte, Scheinkräfte und das Scheinmoment eingetragen.Bei den Kräften handelt es sich um die Schnittkräfte N , Q und die Gewichtskraftmg. Die Scheinkräfte ergeben sich aus der mit der Masse multiplizierten Schwer-punktbeschleunigung. Da sich der Schwerpunkt des abgeschnittenen Teils auf ei-nem Kreisbogen mit Radius r = l − (x/2) bewegt, können die Tangential– unddie Normalbeschleunigung ohne weiteres angegeben werden. Die entsprechendenScheinkräfte sind in Abb. 5.2 durch gestrichelte Pfeile gekennzeichnet, die entge-gengesetzt zu den als positiv angenommenen Beschleunigungen eingetragen wurden.Das einzige an dem abgeschnittenen Teil wirkende Moment ist das BiegemomentM ; als Scheinmoment wirkt noch −L(S) = −Θ(S) ϕ.

Für den abgeschnittenen Balkenteil ergibt eine Momentengleichung um den Schnitt-punkt

∑i

Mi = 0 : M(x) + Θ(S) ϕ+x

2mr ϕ−mg

x

2sinϕ = 0 . (5.3)

Auflösen nach dem Biegemoment liefert mit m := m1 x/l

M(x) = m1x2

2 l

[g sinϕ+

(x3− l)ϕ]. (5.4)

Das Biegemoment war in Abhängigkeit von x und ϕ gesucht, auf der rechten Seitevon (5.4) tritt aber noch ϕ auf. Die Winkelbeschleunigung ϕ kann mittels derBewegungsgleichung leicht eliminiert werden. Mit der Randbedingung M(l) = 0folgt aus (5.4) unmittelbar die Bewegungsgleichung

g sinϕ− 23l ϕ = 0 . (5.5)

Dies liefert

ϕ =32g

lsinϕ , (5.6)

so daß sich mit (5.4)

M(x) = m1 gx2

4 l

(xl− 1)

sinϕ (5.7)

ergibt. Natürlich hätte man (5.6) auch unmittelbar aus dem Drallsatz für den ge-samten Stab um A gewinnen können. Den Ort des größten Biegemomentes berech-net man mit Hilfe der Ableitung

M ′(x) =m1 g

4 l

[2 x(xl− 1)

+x2

l

]sinϕ . (5.8)

156 5 Dynamik der Systeme∗

Aus M ′(x) = 0 folgen x1 = (2/3) l und x2 = 0: Das betragsmäßig maximaleBiegemoment tritt unabhängig von der Winkellage und der Zeit immer an einerfesten Stelle des kippenden Stabes auf. Der Wert des Biegemomentes an der Stellex1 = (2/3) l ergibt sich durch Einsetzen in (5.7). Wegen M(0) = 0, M(l) = 0 wirdder Betrag an der Stelle x1 = (2/3) l maximal. Es gilt |M(2 l/3)| = m1 g l/27.

Die Kräftegleichgewichtsbedingung längs der Stabrichtung liefert

N(x) = mr ϕ2 −mg cosϕ . (5.9)

Hier ist nun auf der rechten Seite die Größe ϕ2 enthalten, die man aber ohneweiteres durch ϕ ausdrücken kann. Die Energieerhaltung

T1 + U1 = T2 + U2 (5.10)

liefert nämlich mit Θ(A) = m1 l2/3

0 + 0 =12m1

l2

3ϕ2 −m1 g

l

2(1 − cosϕ) , (5.11)

woraus

ϕ2 = 3g

l(1 − cosϕ) (5.12)

folgt. Damit ergibt sich aus (5.9) mit r(x) = l − (x/2), m = m1 (x/l)

N(x) = m1 gx

l

[− cosϕ+ 3

(1 − x

2 l

)(1 − cosϕ)

]. (5.13)

Die Querkraft bestimmt man aus der Kräftegleichgewichtsbedingung quer zur Stab-richtung gemäß

Q(x) = mg sinϕ−mr ϕ , (5.14)

und die Elimination der Winkelbeschleunigung führt auf

Q(x) = m1 gx

l

(34x

l− 1

2

)sinϕ . (5.15)

Im zweiten Beispiel bestimmen wir die Bewegungsgleichung für ein starres Systemaus zwei homogenen Rollen, die gemäß Abb. 5.3 über eine Stange vernach-lässigbarer Masse miteinander verbunden sind. Die geometrischen Abmessungen,Massen und Trägheitsmomente bezüglich der Walzenschwerpunkte sind gegeben.Das Freikörperbild für das Gesamtsystem ist in Abb. 5.4 dargestellt, Scheinkräfteund Scheinmomente sind dabei wieder gestrichelt gezeichnet. Da die obere Walzeauf der waagrechten Ebene abrollt, kann die Beschleunigung ihres Schwerpunk-tes unmittelbar durch ϕ ausgedrückt werden. Die Beschleunigung von S2 ergibtsich in bekannter Weise als Summe der Beschleunigung von S1 mit dem Anteil

Eine Umformung der Bewegungsgleichungen (D’ALEMBERTsche Trägheitskräfte) 157

gS1

m1, r1,Θ1

rollen

ϕ

aS2

m2, r2,Θ2

5.3: Starrkörpersystem aus zweihomogenen Rollen

m1g

m1r1ϕΘ1ϕ

H

N

A

Θ2ϕ

m2aϕ

m2g

m2aϕ2

m2r1ϕ

5.4: Freikörperbild zu Abb. 5.3

der Drehbewegung von S2 bezüglich S1. Eine Momentengleichung (Momente undScheinmomente) für das Gesamtsystem bezüglich A liefert

∑M

(A)i = 0 :

Θ1ϕ+m1r21ϕ+ Θ2ϕ+m2 g a sinϕ+m2 a ϕ

2r1 sinϕ+m2 a ϕ (a− r1 cosϕ) −m2 r1 ϕ (a cosϕ− r1) = 0 .

(5.16)

Daraus folgt

ϕ[Θ1 + Θ2 +m1r

21 +m2(a2 + r21 − 2ar1 cosϕ)

]+m2a (g + r1ϕ

2) sinϕ = 0 . (5.17)

Dies ist schon die gesuchte Differentialgleichung der Bewegung. Für kleine Schwin-gungen um die lotrechte Gleichgewichtslage wird die Bewegung näherungsweisedurch die linearisierte Differentialgleichung

[Θ1 + Θ2 +m1 r

21 +m2 (a− r1)

2]ϕ+m2 g aϕ = 0 (5.18)

beschrieben.

Man kann die Bewegungsgleichung für das System der Abb. 5.3 natürlich auch aufanderem Wege gewinnen. Dazu bestimmt man z.B. den Gesamtschwerpunkt S unddas Massenträgheitsmoment Θ(S). Die Bewegungsgleichungen ergeben sich danndurch Elimination der Zwangskräfte aus dem Drallsatz und dem Schwerpunktsatz.Der erste Lösungsweg hat jedoch den Vorteil, daß die Zwangskräfte H und N garnicht erst in den Gleichungen auftreten.

Im letzten Beispiel bestimmen wir die Beschleunigungen der drei Massenpunkte P1,P2, P3 in dem System aus Seilrollen und Massenpunkten der Abb. 5.5. Dabeinehmen wir die Rollen als masselos an. Für die Massen von P1, P2, P3 gilt jeweils

158 5 Dynamik der Systeme∗

A a

x

P3

P1

P2

B bg

l1l2

5.5: System aus Seilrollen undMassenpunkten

m1 = m, m2 = 2m, m3 = 3m. Mit x1, x2, x3 bezeichnen wir die Koordinaten derPunkte P1, P2, P3 nach unten positiv gemessen.

Man erkennt, daß die Lage des Systems eindeutig durch zwei der drei Koordina-ten x1, x2, x3 beschrieben werden kann. Das System hat zwei Freiheitsgrade, undseine Bewegung kann durch zwei Differentialgleichungen zweiter Ordnung darge-stellt werden. Wir stellen die Bewegungsgleichungen zunächst ohne Verwendungdes D’Alembertschen Prinzips auf und betrachten dazu das Schnittbild der Abb.5.6. Für die drei Massenpunkte gilt

AV

AH

S3S3

S3

S3

S2S1

3mg mg 2mgx2x3 x1

5.6: Freikörperbild zu Abb. 5.5

mx1 = mg − S1 , (5.19a)2mx2 = 2mg − S2 , (5.19b)3mx3 = 3mg − S3 . (5.19c)

Wegen S3 = S1 + S2 und S1 = S2 kann man das auch als

mx1 = mg − S1 , (5.20a)2mx2 = 2mg − S1 , (5.20b)3mx3 = 3mg − 2S1 . (5.20c)

schreiben. Wir können nun noch S1 eliminieren und erhalten so

2mx2 −mx1 = mg , (5.21a)3mx3 − 2mx1 = mg . (5.21b)

Eine Umformung der Bewegungsgleichungen (D’ALEMBERTsche Trägheitskräfte) 159

Diese Gleichungen enthalten nun keine Zwangskräfte mehr, allerdings noch drei Be-schleunigungen, von denen eine durch die anderen beiden ausgedrückt werden kann.Dies geschieht mit Hilfe der kinematischen Beziehung, die wir anhand von Abb. 5.5ableiten. Unabhängig von der Lage des Systems gilt wegen der Undehnbarkeit desSeiles

l1 + l2 = const , (5.22)

und daraus folgt

(x1 − xB) + (x2 − xB) = const (5.23)

und damit

x1 + x2 − 2 xB = const . (5.24)

Wegen xB = −x3 (vgl. Abb. 5.5) kann dies auch als

x1 + x2 + 2 x3 = const (5.25)

geschrieben werden. Zweimalige Differentiation führt auf

x3 = −12

(x1 + x2) . (5.26)

Mit (5.26) in (5.21b) eingesetzt nimmt das Gleichungssystem (5.21) die Form

−72mx1 − 3

2mx2 = mg , (5.27a)

2mx2 − mx1 = mg (5.27b)

an. Daraus ergeben sich die Beschleunigungen

x1 = − 717g , x2 =

517g , (5.28)

und mit (5.26) folgt auch

x3 =117g . (5.29)

Wir stellen nun die Bewegungsgleichungen nochmals unter Verwendung desD’Alembertschen Prinzips auf. Das Gesamtsystem mit dem in A freigeschnit-tenen Lager ist mit allen darauf wirkenden äußeren Kräften und Scheinkräften inAbb. 5.7 dargestellt. Eine Momentengleichung bezüglich A ergibt

(3mg−3mx3) a−(2mg−2mx2) (a+b)−(mg−mx1) (a−b) = 0 , (5.30)

worin die Lagerkräfte in A nicht auftreten. Es ist nicht möglich, weitere Gleichge-wichtsbedingungen für das Gesamtsystem anzuschreiben, ohne daß zusätzliche Un-bekannte auftreten. Wir schneiden daher das System gemäß Abb. 5.8 auseinander,

160 5 Dynamik der Systeme∗

AH A

AV

3mx3

3mgmx1

mg2mg

2mx2

B

5.7: Im Lager A freigeschnittenes System

AAH

AV

3mx3

3mg

S3

B

mx1

mg

2mx2

2mg

5.8: Teilweise freigeschnittenes System

wobei die Seilkraft S3 als zusätzliche Schnittkraft auftritt. Eine Momentengleichungfür das untere Teilsystem um B liefert

(2mg − 2mx2) b − (mg −mx1) b = 0 . (5.31)

Damit sind die Bewegungsgleichungen für das System bekannt. Man beachte, daßlediglich die gesuchten Beschleunigungen sowie die bekannten Gewichtskräfte darinauftreten, nicht jedoch Lager– oder Seilkräfte. Mit der kinematischen Beziehung(5.26) wird x3 in (5.30) wieder durch x1 und x2 ausgedrückt.

Dieses Beispiel macht besonders deutlich, daß es möglich ist, Bewegungsgleichungenfür zusammengesetzte Systeme aufzustellen, ohne daß dabei die Zwangskräfte, imvorliegenden Fall die Seil– und die Lagerkräfte, überhaupt auftreten.

5.2 Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten

Wir betrachten zunächst ein System von k frei beweglichen Massenpunkten. Ein sol-ches System, bei dem keine Bindungen zwischen den einzelnen Punkten vorhandensind, bezeichnet man als ungebundenes System. Seine Lage wird im dreidimensio-nalen Fall durch 3k voneinander unabhängigen Koordinaten eindeutig beschrieben,z.B. durch die kartesischen Koordinaten x1, y1, z1, . . . , xk, yk, zk der einzelnenMassenpunkte: Das System besitzt 3 k Freiheitsgrade. Unser Sonnensystem ist einBeispiel für ein ungebundenes System von „Massenpunkten“ (sofern man die Abmes-sungen der Himmelskörper gegenüber ihren relativen Entfernungen vernachlässigt).In der Technik allerdings sind ungebundene Systeme nur von geringer Bedeutung.Meist existieren Zwangsbedingungen (Bindungen) zwischen den einzelnen Koordi-naten; wir sprechen dann von gebundenen Systemen.

5.2 Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten 161

Im folgenden nehmen wir an, daß die 3k Koordinaten unseres Systems p Bindungs-gleichungen der Art

fj(x1, y1, z1, . . . , xk, yk, zk, t) = 0, j = 1, 2, . . . , p (5.32)

erfüllen. Sind diese p Gleichungen voneinander unabhängig, so kann man

n = 3 k − p (5.33)

Koordinaten unabhängig voneinander wählen; die restlichen Koordinaten lassen sichdann aus (5.32) bestimmen. Die Anzahl n der Freiheitsgrade ist also gemäß (5.33)um p verringert. Beschränkt man sich auf ebene Probleme, so ist die Anzahl derFreiheitsgrade n = 2 k−p; falls die Punkte sich nur längs vorgegebener Richtungenverschieben können, gilt n = k−p. Man beachte, daß die Zwangsbedingungen (5.32)die Zeit t explizit enthalten können; in vielen Beispielen allerdings wird t nicht in(5.32) auftreten.

Wir nehmen in diesem Kapitel an, daß die Zwangsbedingungen als Gleichungenzwischen den Koordinaten gegeben sind oder sich auf solche zurückführen lassen.Es gibt jedoch auch Systeme, bei denen Zwangsbedingungen in den Geschwindigkei-ten vorliegen, die nicht integriert werden können, d.h. die nicht durch Gleichungender Art (5.32) zu ersetzen sind. Ein Beispiel dazu ist die auf einer Ebene rollendeKreisscheibe („der rollende Pfennig“), die relativ komplizierte, räumliche Bewegun-gen ausführen kann. Solche Systeme bezeichnet man als nichtholonom (griechisch,„holonom“ = „ganzgesetzlich“). Sie werden hier ausgeschlossen, obwohl das Prinzipder virtuellen Geschwindigkeiten, das wir in 5.2 angeben, schon von Lagrange2

für den allgemeinen Fall formuliert wurde.

Da (5.32) für alle Zeiten erfüllt sein soll, liefert Differentiation bezüglich t

∂fj

∂x1x1 +

∂fj

∂y1y1 +

∂fj

∂z1z1 + . . .

. . .+∂fj

∂xkxk +

∂fj

∂ykyk +

∂fj

∂zkzk +

∂fj

∂t= 0 , j = 1, 2, . . . , p . (5.34)

Diese Gleichung besagt, daß in einem gebundenen System auch die Geschwindig-keiten der einzelnen Massenpunkte nicht unabhängig voneinander sind, sondernebenfalls ein Gleichungssystem erfüllen müssen. Die Geschwindigkeitskomponententreten nur linear in diesen Gleichungen auf. In Matrizenschreibweise können wirdaher (5.34) als

Gv = h (5.35)

2Nach Joseph Louis de Lagrange, französischer Mathematiker, *1736 in Turin, †1813 in Paris.

162 5 Dynamik der Systeme∗

schreiben. Hierbei ist G die p× 3 k Matrix

G :=

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎝

∂f1∂x1

∂f1∂y1

· · · ∂f1∂zk

......

∂fp

∂x1

∂fp

∂y1· · · ∂fp

∂zk

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎠, (5.36)

während v und h 3 k– bzw. p–Spaltenmatrizen

v := (x1, y1, z1, . . . , xk, yk, zk)T

= (v1x, v1y , v1z , . . . , vkx, vky , vkz)T ,(5.37)

h := −(∂f1∂t

,∂f2∂t

, . . . ,∂fp

∂t

)T

(5.38)

sind. Wir setzen im folgenden voraus, daß G maximalen Rang hat, d.h. Rang(G) =p.

Spaltenmatrizen v, die (5.35) erfüllen, entsprechen Geschwindigkeitszuständen, diemit den Bindungen verträglich, d.h. die kinematisch möglich sind. Eine Spaltenma-trix v, die (5.35) erfüllt, stellt deswegen auch einen möglichen Geschwindigkeitszu-stand des Systems dar.

Zusätzlich zu den möglichen Geschwindigkeitszuständen benötigen wir noch einenweiteren kinematischen Begriff, nämlich den der virtuellen Geschwindigkeitszustän-de. Mit Hilfe dieses Begriffs werden wir die Bewegungsgleichungen in einer neuen,sehr praktischen Form schreiben können.

Dazu betrachten wir das zu (5.35) gehörende homogene Gleichungssystem

Gv = 0. (5.39)

Die Lösungsvektoren von (5.39) bezeichnen wir als virtuelle Geschwindigkeitszu-stände des Systems. Sie entsprechen Geschwindigkeitszuständen des Systems, diei.a. nicht mit den Bindungen (5.34) verträglich sind, und erfüllen ein Gleichungssy-stem, bei dem die partiellen Ableitungen nach der Zeit weggelassen wurden, d.h. beidenen gewissermaßen „die Zeit eingefroren“ wurde. Im allgemeinen sind die virtu-ellen Geschwindigkeitszustände keine möglichen Geschwindigkeitszustände und diemöglichen sind keine virtuellen. Lediglich, wenn die Bindungen (5.32) zeitunabhän-gig (= skleronom) sind, fallen die virtuellen mit den möglichen Geschwindigkeits-zuständen zusammen. Wir schreiben für die virtuellen Geschwindigkeitszuständeauch

v := (v1x, v1y, v1z, . . . , vkx, vky , vkz)T . (5.40)

5.2 Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten 163

Aus Rang(G) = p folgt, daß (5.39) n = 3 k − p linear unabhängige Lösungsvek-toren besitzt. Sei v1, v2, . . . ,vn eine Basis des Raumes der Lösungen von (5.39).Jeder virtuelle Geschwindigkeitszustand v ist dann eine Linearkombination von v1,v2, . . . ,vn und kann als

v = α1v1 + α2v2 + . . .+ αnvn (5.41)

geschrieben werden, wobei die αi, i = 1, 2, . . . , n beliebige Konstanten sind. Im fol-genden veranschaulichen wir den Begriff „virtueller Geschwindigkeitszustand“ an-hand zweier Beispiele und geben solche Basen an.

g

z

x y

B

A

l(t)

5.9: Hantel im Raum

Die zwei Massenpunkte der Abb. 5.9 sind durch eine masselose Stange der Länge l(t)verbunden (Hantel). Die Funktion l(t) sei vorgegeben, d.h. die Länge der Hantelist eine gegebene Funktion der Zeit; sie kann auch konstant sein. Der Punkt A seiaußerdem an die Fläche z = r− 1

2ax2 gebunden. Die Koordinaten der zwei Punkte

erfüllen demnach die Bindungen

12a x2

A + zA = r , (5.42a)

(xA − xB)2 + (yA − yB)2 + (zA − zB)2 = l2(t) . (5.42b)

Die sechs kartesischen Koordinaten der beiden Punkte erfüllen daher die beidenBindungsgleichungen

fA(xA, yA, zA, xB , yB, zB, t) :=12a x2

A + zA − r = 0, (5.43a)

fB(xA, yA, zA, xB , yB, zB, t) := Δx2 + Δy2 + Δz2 − l2(t) = 0, (5.43b)

wobei zur besseren Übersichtlichkeit die Abkürzungen Δx=xA−xB, Δy=yA−yB

sowie Δz=zA−zB eingeführt wurden. Das System besitzt dann vier Freiheitsgrade.Ableitung der Bindungsgleichungen nach der Zeit liefert

a xA xA + zA = 0 , (5.44a)

xAΔx+ yAΔy + zAΔz − xBΔx− yBΔy − zBΔz − l(t)l(t) = 0, (5.44b)

bzw. in Kurzform

Gv = h (5.45)

164 5 Dynamik der Systeme∗

mit

G =(a xA 0 1 0 0 0Δx Δy Δz −Δx −Δy −Δz

), (5.46a)

h =(

0l(t) l(t)

). (5.46b)

Wir werden nun einen Satz von vier linear unabhängigen virtuellen Geschwindig-keitszuständen, d.h. Lösungen von

Gv = 0 , (5.47)

bestimmen. Setzen wir z.B. in (5.47) v1 = 0 und v3 = 0, so ist die erste der beidenskalaren Gleichungen in (5.47) identisch erfüllt und die zweite nimmt die Form

Δy v2 − Δx v4 − Δy v5 − Δz v6 = 0 (5.48)

an. Setzen wir hier v2 = Δx, v5 = 0 und v6 = 0 so folgt

v1 = (0, Δx, 0, Δy, 0, 0)T, (5.49a)

als erste der drei nichttrivialen Lösungen von (5.48) (unter der Annahme v1 = 0,v3 = 0). Es ist nicht schwer zu zeigen, daß zwei weitere durch

v2 = (0, 1, 0, 0, 1, 0)T, (5.49b)

v3 = (0, Δz, 0, 0, 0, Δy)T (5.49c)

gegeben sind. Auch eine vierte, von den drei vorhergehenden linear unabhängigenichttriviale Lösung von (5.47) kann man leicht bestimmen, z.B.

v4 = (Δy, a xAΔz − Δx, −a xAΔy, 0, 0, 0)T. (5.49d)

Jeder virtuelle Geschwindigkeitszustand kann als Linearkombination von v1, v2,v3, v4 gemäß (5.49a) bis (5.49d) dargestellt werden:

v = α1 v1 + α2 v2 + α3 v3 + α4 v4 . (5.50)

Da das Gleichungssystem (5.47) homogen ist, kommt es auf die Maßeinheiten derLösungsvektoren nicht an.

Eine zu (5.49) alternative Basis des Raumes der virtuellen Geschwindigkeitszustän-de ist z.B.

v∗1 = (0, 0, 0, Δy, −Δx, 0)T , (5.51a)

v∗2 = (0, 1, 0, 0, 1, 0)T , (5.51b)

v∗3 = (0, 0, 0, 0, Δz, −Δy)T , (5.51c)

v∗4 = (Δy, axAΔz − Δx, −axAΔy, 0, 0, 0)T , (5.51d)

5.2 Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten 165

wobei wir wieder die aus (5.46) bekannten Abkürzungen verwendet haben. AndereBasen sind natürlich ebenfalls möglich. Jeder dieser virtuellen Geschwindigkeitszu-stände kann mit (5.40) auch in Form von virtuellen Geschwindigkeitsvektoren dereinzelnen Massenpunkte geschrieben werden. Für die virtuellen Geschwindigkeits-zustände nach (5.49) gilt

#„vA,1 = Δx #„ey,

#„vB,1 = Δy #„ex , (5.52a)

#„vA,2 = #„ey,

#„vB,2 = #„ey , (5.52b)

#„vA,3 = Δz #„ey,

#„vB,3 = Δy #„ez , (5.52c)

#„vA,4 = Δy #„ex + (axAΔz − Δx) #„ey − axAΔy #„ez ,

#„vB,4 = 0

#„. (5.52d)

Oft ist es auch ohne weiteres möglich, die virtuellen Geschwindigkeitszuständedurch unmittelbare Anschauung zu erkennen, ohne dazu die Bindungen explizitnach der Zeit ableiten zu müssen. So entspricht z.B. (5.52b) dem virtuellen Ge-schwindigkeitszustand, bei dem sich die Hantel mit zeitlich festgehaltener Zwangs-bedingung (Lösung des homogenen Gleichungssystems (5.47) also l(t)=0) in Rich-tung #„ey bewegt. Diese anschauliche Bestimmung der virtuellen Geschwindigkeits-zustände werden wir in den nächsten Beispielen wieder aufgreifen.

Im zweiten Beispiel betrachten wir den ohne Reibung auf einer Stange gleiten-den Massenpunkt P . Die Stange bewegt sich gemäß Abb. 5.10 in der x, y–Ebene.Die Koordinaten des Punktes P erfüllen demnach die Zwangsbedingungen

z = 0 , (5.53a)x+ y − s(t) = 0 , (5.53b)

wobei die Funktion s(t) vorgegeben ist. Dies führt für die Komponenten vx = x,vy = y, vz = z der möglichen Geschwindigkeit auf die Gleichungen

vz = 0 , (5.54a)vx + vy − s(t) = 0 . (5.54b)

Die virtuellen Geschwindigkeitszustände erfüllen daher das homogene Gleichungs-system

Gv = 0 . (5.55)

y

s(t)

P

s(t) x

v

v

√2

2s

5.10: Massenpunkt auf bewegterStange gleitend

y

x

s(t)

N

#„en

#„es

v

s(t)5.11: Zwangskraft am Punkt P und

virtuelle Geschwindigkeit v

166 5 Dynamik der Systeme∗

mit

G =(

0 0 11 1 0

). (5.56)

Das System hat nur einen Freiheitsgrad, und jeder virtuelle Geschwindigkeitszu-stand ist ein Vielfaches von

v1 = (1, −1, 0)T. (5.57)

Diese Spaltenmatrix bildet also die Basis des Raumes der virtuellen Geschwindig-keiten, d.h. jede virtuelle Geschwindigkeit kann als

v#„

= α( #„ex − #„ey) (5.58)

geschrieben werden, wobei wir nun im Vergleich zu (5.52) auf den Index verzichtethaben, da es nur einen Massenpunkt gibt.

Anhand des letzten Beispiels können wir den Nutzen des Begriffs „virtuelle Ge-schwindigkeit“ erklären. Zunächst bilden wir den Einheitsvektor #„es in Richtungder Stange, gemäß Abb. 5.11. Es gilt offensichtlich

#„es =v#„

| v#„|=

1√2

( #„ex − #„ey) . (5.59)

Der Einheitsvektor in Richtung der Normalen zur Stange in der x-y-Ebene istdementsprechend

#„en =1√2

( #„ex + #„ey) . (5.60)

Die Projektion des Vektors v#„ (mögliche Geschwindigkeit des Punktes P ) in Rich-tung der Normalen zur Stange ist

v#„ · #„en = (vx#„ex + vy

#„ey) · ( #„ex + #„ey)1√2

=1√2

(vx + vy) . (5.61)

Gemäß (5.54) gilt daher

v#„ · #„en =√

22s(t) . (5.62)

Dies ist die Geschwindigkeit, mit der sich jeder Punkt der Stange in Richtung #„en

bewegt. Andererseits gilt

v#„ · #„en = 0 (5.63)

und

v#„ · #„ez = 0 , (5.64)

5.2 Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten 167

wie man leicht anhand von (5.58) feststellt. Dieser Sachverhalt ist in Abb. 5.10dargestellt. Man erkennt, daß hier die Beziehung

v#„ = v#„

+√

22s(t) #„en (5.65)

zwischen einer virtuellen Geschwindigkeit v#„ und einer möglichen Geschwindigkeitv#„ besteht. Die virtuelle Geschwindigkeit v

#„ ist hier klar als Geschwindigkeit vonP bei festgehaltener Stange erkennbar. Damit die Summe (5.65) im Hinblick aufdie Dimensionen sinnvoll ist, muß die Einheit von α in (5.58) entsprechend gewähltwerden.

Wenn im System der Abb. 5.10 zwischen Massenpunkt und Stange keine Reibungvorhanden ist, wirkt die Führungskraft orthogonal zur Stange. Sie ist damit gemäßAbb. 5.11 orthogonal zu jedem virtuellen Geschwindigkeitsvektor ihres Kraftan-griffspunkts; d.h. es gilt

N#„ · v#„ = 0 . (5.66)

Dabei ist N#„

aber i.a. nicht orthogonal zu den möglichen Geschwindigkeitsvekto-ren des Massenpunktes, denn diese besitzen ja (infolge der Führungsbewegung derStange) eine Komponente in Richtung N

#„

, außer für s(t) = 0.

Diese Situation ist nicht nur für das vorliegende Beispiel typisch, sondern gilt analogbei einer großen Klasse von Systemen, auch für das System des ersten Beispiels. DasSkalarprodukt (5.66) kann als Leistung der Führungskraft N

#„

infolge der virtuellenGeschwindigkeit v#„ interpretiert werden.

Immer dann, wenn in einem System ausschließlich ideale Bindungen (d.h. Bindun-gen ohne Reibungskräfte) vorliegen, ist die Summe der Leistungen aller Zwangskräf-te bei jeder virtuellen Geschwindigkeit gleich Null! Mit dieser Erkenntnis können dieBewegungsgleichungen für Systeme von Massenpunkten ganz erheblich vereinfachtwerden. Teilen wir die Resultierende F

#„

i der auf den i–ten Massenpunkt wirkendenKräfte ein in die Resultierenden der eingeprägten Kräfte F

#„∗i und der Zwangskräfte

Z#„

i, so schreibt sich das Newtonsche Grundgesetz für den i–ten Massenpunkt als

Fi

#„∗+

#„

Zi −mi r#„

i = 0#„. (5.67)

In Matrixschreibweise fassen wir diese Gleichungen zusammen zu

F∗ + Z − Mr = 0 (5.68)

168 5 Dynamik der Systeme∗

mit

M =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

m1 0m1

m1

. . .mk

mk

0 mk

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠, r =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

r1x

r1y

r1z

...rkx

rky

rkz

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠, (5.69)

F∗ =(F ∗

1x, F∗1y , F

∗1z , . . . , F

∗kx, F

∗ky , F

∗kz

)T, (5.70)

Z = (Z1x, Z1y, Z1z, . . . , Zkx, Zky , Zkz)T. (5.71)

Für ideale Bindungen gilt aber

ZT v = 0 , (5.72)

so daß sich (5.68) nach Multiplikation mit vT zu

(F∗ − Mr)T v = 0 , (5.73)

vereinfacht. Die Bedingung (5.72) ist gleichsam die Definition für ideale Bindun-gen: Ideale Bindungen sind solche, bei denen die Leistung der Zwangskräfte infolgeeiner virtuellen Geschwindigkeit verschwindet. Das bedeutet nicht, daß die einzel-nen Zwangskräfte keine Arbeit leisten, lediglich die Summe dieser Arbeiten bzw.Leistungen muß verschwinden.

Die Tatsache, daß (5.73) für beliebige virtuelle Geschwindigkeiten gilt, bezeichnetman als Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten oder Prinzip der virtuellen Lei-stungen. Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten liefert genau n = 3 k − pBewegungsgleichungen, wenn man nacheinander n linear unabhängige Geschwin-digkeitszustände vs einsetzt:

(F∗ − Mr)T vs = 0 , s = 1, 2, . . . , n . (5.74)

Da diese Gleichungen linear homogen in vs sind, kommt es auf den Betrag unddie Dimensionen von vs nicht an. Jeder der Basisvektoren kann noch mit einerbeliebigen, dimensionsbehafteten Konstante durchmultipliziert werden.

Wesentlich ist dabei, daß die Zwangskräfte in den so erhaltenen Gleichungen nichtauftreten. Die oft mühsame Elimination der Zwangskräfte entfällt also bei dieser Artder Herleitung der Bewegungsgleichungen! In den folgenden Abschnitten werden wir(5.73) noch mehrfach umformen.

Auch der Sonderfall der Statik ist in (5.73) wieder enthalten. Wenn alle Beschleu-nigungen gleich Null sind, gilt

F∗ v = 0 . (5.75)

5.2 Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten 169

Die durch (5.75) gegebenen Gleichgewichtsbedingungen sind schon aus der Statik(TM 1) bekannt. Dort wurden allerdings statt der Komponenten der virtuellenGeschwindigkeiten v, die der infinitesimal kleinen, in einem Zeitintervall dt diesenGeschwindigkeiten entsprechenden virtuellen Verrückungen verwendet:

δ #„ri = (δxi, δyi, δzi)T, i = 1, 2, . . . , k . (5.76)

Damit schreibt sich (5.75) als

F∗T δ r = 0 , (5.77)

bzw.

k∑i=1

Fi

#„∗ · δ #„ri = 0 . (5.78)

Ganz entsprechend kann man statt (5.73) auch

(F∗ − Mr)Tδr = 0 (5.79)

schreiben. Man bezeichnet dies als Prinzip der virtuellen Verrückungen oder Prinzipder virtuellen Arbeiten. Da es auf die physikalischen Dimensionen und auch auf dieGröße der virtuellen Geschwindigkeiten nicht ankommt, sind die Gleichungen (5.79)und (5.73) vollkommen äquivalent. Gedanklich ist es einfacher, mit den virtuellenGeschwindigkeiten zu arbeiten, die ja endliche Größen sind, als mit den infinitesimalkleinen Verrückungen.

Die Gewinnung der Bewegungsgleichungen aus dem Prinzip der virtuellen Ge-schwindigkeiten hat gegenüber der Verwendung von Schwerpunktsatz und Drallsatzden Vorteil, daß die Zwangskräfte automatisch herausfallen. Wir untersuchen dieszunächst an einigen Beispielen. Später bringen wir dann (5.73) durch Einführunganderer Koordinaten in eine noch einfachere Form.

y

0

s(t)

x

l

B m

g

5.12: Pendel mit bewegtemAufhängepunkt

A

l

s

B

v#„

s

5.13: Geschwindigkeiten derPunkte A und B

Zunächst stellen wir für das Pendel mit waagrecht bewegtem Aufhängepunktder Abb. 5.12 die Bewegungsgleichungen auf; die Funktion s(t) sei vorgegeben und

170 5 Dynamik der Systeme∗

lediglich der ebene Fall wird betrachtet. Die Koordinaten des Massenpunktes erfül-len die Zwangsbedingung

f(x, y, t) := l2 − [x− s(t)]2 − y2 = 0 , (5.80)

und das System besitzt einen Freiheitsgrad. Aus (5.80) folgt

[x− s(t)] s(t) − [x− s(t)] vx − y vy = 0 . (5.81)

Dies ist die inhomogene Gleichung für die Komponenten vx, vy der möglichen Ge-schwindigkeiten. Die Komponenten vx, vy der virtuellen Geschwindigkeiten erfüllendagegen die homogene Gleichung

[x− s(t)] vx + y vy = 0 (5.82)

(wegen der Zeitabhängigkeit der Bindungen sind hier virtuelle und mögliche Ge-schwindigkeiten verschieden). Diese Gleichung besagt, daß die Vektoren (vx, vy)senkrecht auf (x− s, y), d.h. senkrecht auf AB

# „

stehen (s. Abb. 5.13). Die virtuelleGeschwindigkeit v#„ ist die Geschwindigkeit von B bei festgehaltener Zwangsbedin-gung, d.h. bei festgehaltenem Gelenkpunkt A. Die Lösungen von (5.82) haben bisauf einen skalaren Faktor die Gestalt

v =( −yx− s(t)

). (5.83)

Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten

(F∗ −m r)T v = 0 (5.84)

liefert also

(−mx, mg −my)( −yx− s

)= 0 . (5.85)

Daraus folgt unmittelbar die Bewegungsgleichung

y x+ (g − y) [x− s(t)] = 0 . (5.86)

Sie enthält allerdings noch zwei Koordinaten x(t) und y(t) bzw. deren Ableitun-gen nach der Zeit, obwohl das System nur einen Freiheitsgrad besitzt. Es ist alsonotwendig, entweder eine dieser Größen mit Hilfe der Zwangsbedingung (5.80) zueliminieren, oder aber das Gleichungssystem zu ergänzen; letzteres ist rechentech-nisch die einfachere Möglichkeit. Differenziert man (5.81) nochmals nach der Zeit,so folgt

[x− s(t)] [x− s(t)] + [x− s(t)]2 + y y + y2 = 0 . (5.87)

Mit (5.86) und (5.87) liegt jetzt ein Differentialgleichungssystem in den beidenunbekannten Funktionen x(t) und y(t) vor, das zu lösen ist. Die Anfangswerte vonx, x, y, y müssen dabei natürlich mit (5.80) und (5.81) verträglich sein.

5.2 Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten 171

Die andere Möglichkeit, Elimination einer der Variablen in (5.86), ist hier etwas um-ständlicher und führt auf komplizierte Ausdrücke. Wir können z.B. y(t) eliminieren.Aus (5.80) folgt zunächst

y =√l2 − [x− s(t)]2 , (5.88)

und Ableitung nach der Zeit liefert

y = − (x− s) (x− s)√l2 − (x− s)2

. (5.89)

Eine weitere Differentiation bezüglich t ergibt einen Ausdruck der Form

y = g(x, x, x, s, s, s) . (5.90)

Einsetzen von (5.88) bis (5.90) in (5.86) ergibt schließlich eine Differentialgleichungzweiter Ordnung für die Funktion x(t), die wir hier nicht explizit angeben. Siehat allerdings eine recht komplizierte Form, was an der ungeschickten Wahl derKoordinaten liegt.

Wesentlich zweckmäßiger ist es in dem vorliegenden Fall, die Lage des Pendels durchden Winkel ϕ(t) zu beschreiben. Es gilt nämlich

x = s+ l sinϕ , (5.91a)y = l cosϕ , (5.91b)

und die Zwangsbedingung (5.80) ist damit automatisch erfüllt. Differentiation be-züglich t liefert

x = s+ l ϕ cosϕ , (5.92a)y = −l ϕ sinϕ (5.92b)

und

x = s+ l ϕ cosϕ− l ϕ2 sinϕ , (5.93a)

y = −l ϕ sinϕ− l ϕ2 cosϕ . (5.93b)

Setzt man dies in (5.86) ein, so folgt unmittelbar die Bewegungsgleichung

ϕ+g

lsinϕ = − s(t)

lcosϕ (5.94)

in ϕ(t).

Noch etwas bequemer wird der Lösungsweg, wenn man auch erkennt, daß die vir-tuelle Geschwindigkeit v#„ in Abb. 5.13 von der Gestalt

v#„

= α #„eϕ (5.95)

172 5 Dynamik der Systeme∗

ist, mit der willkürlichen Konstanten α. Dann folgt mit

F#„∗

= mg #„ey, (5.96)

a#„ = s #„ex + l ϕ #„eϕ − l ϕ2 #„er (5.97)

aus (5.73) unmittelbar die Differentialgleichung (5.94).

Natürlich wäre es auch möglich gewesen, ohne den Umweg über die kartesischenKoordinaten zu dieser Bewegungsgleichung zu gelangen. In Abb. 5.14 sind alle

A

ms

v#„

B

mlϕ2

mgmlϕ 5.14: Scheinkräfte und eingeprägte

Kräfte am Pendel der Abb. 5.12

auf den Massenpunkt wirkenden eingeprägten Kräfte und Scheinkräfte gemeinsammit dem Vektor v

#„der virtuellen Geschwindigkeit eingetragen. (Die Zwangskräfte

brauchen wir nicht zu berücksichtigen!) Projiziert man Kräfte und Scheinkräfte aufdie Richtung von v

#„ und setzt die Summe dieser Projektionen gleich Null, so folgtunmittelbar wieder (5.94). Im nächsten Abschnitt werden wir ganz allgemein neueKoordinaten so einführen, daß die Zwangsbedingungen automatisch erfüllt sind,wie es in diesem Beispiel für den Winkel ϕ der Fall war. Damit entfällt dann dielästige Elimination überzähliger Koordinaten.

Im zweiten Beispiel behandeln wir das System aus Seilrollen und Massen-punkten der Abb. 5.5, das wir schon in Abschnitt 5.1 untersucht hatten. Wirbeschränken uns wieder auf die lotrechte Bewegung der Massenpunkte und stellenjetzt die Bewegungsgleichungen mit Hilfe des Prinzips der virtuellen Geschwindig-keiten auf. Hier gilt die Zwangsbedingung

f(x1, x2, x3) := x1 + x2 + 2 x3 = 0 , (5.98)

und daraus folgt mit vi = xi, i = 1, 2, 3

v1 + v2 + 2 v3 = 0 . (5.99)

Diese Gleichung hat die Gestalt

Gv = 0 , (5.100)G = (1, 1, 2) . (5.101)

Da die Zwangsbedingung nicht von der Zeit abhängt, ist die rechte Seite von (5.100)gleich Null, und die möglichen Geschwindigkeiten v sind hier mit den virtuellenGeschwindigkeiten v identisch. Das System hat n = 2 Freiheitsgrade, so daß der

5.2 Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten 173

Raum der virtuellen Geschwindigkeiten zweidimensional ist. Eine Basis des Raumesder virtuellen Geschwindigkeiten ist z.B. durch

v1 = (1, −1, 0)T. (5.102a)

v2 = (2, 0, −1)T (5.102b)

gegeben. Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten liefert⎛⎝ mg −mx1

2mg − 2mx2

3mg − 3mx3

⎞⎠vT

s = 0 , s = 1, 2 , (5.103)

woraus mit (5.102) die beiden Bewegungsgleichungen

mg −mx1 − 2mg + 2mx2 = 0 , (5.104a)2mg − 2mx1 − 3mg + 3mx3 = 0 (5.104b)

folgen. Sie können zu

x1 − 2 x2 = −g , (5.105a)2 x1 − 3 x3 = −g (5.105b)

vereinfacht werden. Diese Gleichungen enthalten noch die Ableitungen der dreiunbekannten Funktionen x1(t), x2(t), x3(t), obwohl das System nur zwei Freiheits-grade hat. Eine der drei Variablen kann daher eliminiert werden. Eine weitere Dif-ferentiation von (5.99) ergibt

x3 = −12

(x1 + x2) , (5.106)

und die Elimination von x3 aus (5.105) liefert schließlich

x1 − 2 x2 = −g , (5.107a)7 x1 + 3 x2 = −2 g . (5.107b)

Diese Bewegungsgleichungen treten jetzt an die Stelle von (5.27a) und (5.27b), dieeine andere Form hatten. Auflösung nach den Beschleunigungen ergibt auch hierwieder

x1 = − 717g , (5.108a)

x2 =517g , (5.108b)

woraus man dann mittels (5.106)

x3 =117g (5.109)

174 5 Dynamik der Systeme∗

bestimmt. Wir werden später auf dieses Beispiel ein weiteres Mal zurückkommen.

Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten wurde bisher nur für Systeme vonMassenpunkten angegeben. Es gilt ganz entsprechend natürlich auch für Systemestarrer Körper. Für ein räumliches System starrer Körper gelten ja die Bewegungs-gleichungen

#„F ∗

i +#„Z i −m #„r i =

#„0 , (5.110a)

# „M∗

i +# „MZ

i − #„

Li =#„0 , i = 1, 2, . . . , k , (5.110b)

wobei #„ri der Ortsvektor des Schwerpunktes des i-ten Körpers ist. Der Bezugspunktsowohl für alle Momente als auch für den Drall ist jeweils der Schwerpunkt des i-tenKörpers. Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten nimmt dann die Form

(F∗ − I

)Tv +

(M∗ − L

)Tω = 0 (5.111)

an, mit

F∗=

⎛⎜⎜⎜⎝

F ∗1x

F ∗1y...F ∗

kz

⎞⎟⎟⎟⎠ , I=

⎛⎜⎜⎜⎝

m1r1x

m1r1y

...mkrkz

⎞⎟⎟⎟⎠ , M∗=

⎛⎜⎜⎜⎝

M∗1x

M∗1y...

M∗kz

⎞⎟⎟⎟⎠ , L=

⎛⎜⎜⎜⎝

L1x

L1y

...Lkz

⎞⎟⎟⎟⎠ , (5.112)

wobei

Li = Θi#„ω i + #„ω i × Θi

#„ωi (5.113)

die Zeitableitung des Dralls des i-ten starren Körpers ist (siehe Abschnitt 4.2). Fürebene Probleme vereinfachen sich diese Ausdrücke natürlich. Die Spaltenmatrixder virtuellen Geschwindigkeiten v und die der virtuellen Winkelgeschwindigkeitenω bilden gemeinsam eine Lösung des homogenen Teils der Bindungsgleichungen(in den Zeitableitungen) und die Zwangskräfte

#„Z i und die Zwangsmomente

# „MZ

i

erfüllen die Bedingung

ZT v + MZT ω = 0 (5.114)

für alle virtuellen kinematischen Zustände (v,ω). Das heißt, die virtuelle Leistungder Zwangskräfte und Zwangsmomente verschwindet in der Summe.

Es bietet sich natürlich auch an, v und ω zu einer einzigen Spaltenmatrix zusam-menzufassen, die man dann der Einfachheit halber wieder als v bezeichnet. Faßtman auch jeweils F∗ und M∗ sowie I und L zu je einer Spaltenmatrix zusammen, sokann auch für Systeme starrer Körper das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeitenwieder einfach als

(F∗ − I

)Tv = 0 (5.115)

5.2 Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten 175

geschrieben werden.

Wir behandeln nun noch das Beispiel der Abb. 5.15 (Seiltrommel, Walze, Ge-wicht), in dem zwei zylindrische Walzen reibungsfrei in A und B gelagert sindund aufeinander abrollen. Es wurde schon in Abb. 4.18 dargestellt und in 4.1.1behandelt. Die drei Größen vy, ω1, ω2 sind nicht voneinander unabhängig, sondernhängen über zwei Zwangsbedingungen zusammen. Die eine Walze ist mit einer Seil-trommel verbunden, an deren Ende ein Gewicht hängt. Das Prinzip der virtuellenGeschwindigkeiten (5.73) liefert hier unmittelbar

(mg −m y) vy − Θ(B)1 ϕ1 ω1 − Θ(A)

2 ϕ2 ω2 = 0 . (5.116)

Die beiden kinematischen Bedingungen (Zwangsbedingungen)

a2 ϕ2 − a1 ϕ1 = 0 , (5.117)r ϕ1 − y = 0 (5.118)

entsprechen auf der Geschwindigkeitsebene den Gleichungen

−a1 ω1 + a2 ω2 = 0 , (5.119)−vy + r ω1 = 0 (5.120)

für die Komponenten des Vektors der virtuellen Geschwindigkeit. Das System be-sitzt einen Freiheitsgrad, so daß jede virtuelle Geschwindigkeit

v := (vy, ω1, ω2)T (5.121)

bis auf einen Faktor mit

v =(r, 1,

a1

a2

)T

(5.122)

übereinstimmt. Da die Bindungen zeitunabhängig sind, sind auch in diesem Beispieldie virtuellen mit den möglichen Geschwindigkeiten identisch. Einsetzen in (5.116)und Ausdrücken von ϕ1, ϕ2 durch y mittels (5.117), (5.118) liefert die Bewegungs-gleichung

mg −(m+

Θ(B)1

r2+

Θ(A)2

r2a21

a22

)y = 0 . (5.123)

ϕ2

a2A

Θ(A)2

g

ϕ1

Θ(B)1

Ba1

r

m y5.15: Ebenes System mit

einem Freiheitsgrad

176 5 Dynamik der Systeme∗

Dieses Beispiel belegt auf eindrucksvolle Weise, wie es mit Hilfe des Prinzips dervirtuellen Geschwindigkeiten gelingt, die Bewegungsgleichungen aufzustellen, ohnedas System in einzelne starre Körper zu zerschneiden. Damit wird die Eliminationder Zwangskräfte überflüssig.

5.3 LAGRANGEsche GleichungenIm folgenden werden wir durch Einführung geeigneter Koordinaten das Prinzipder virtuellen Geschwindigkeiten (5.73) in eine neue Form bringen, wobei wir unszunächst wieder auf Massenpunktsysteme beschränken. Dazu wählen wir verallge-meinerte Koordinaten q1, q2, . . . , qn, die weitgehend beliebig sind, jedoch so, daßzu jedem Zeitpunkt t die Lage des Systems eindeutig durch q1(t), q2(t), . . . , qn(t)beschrieben wird. Darüber hinaus soll die Anzahl dieser verallgemeinerten Koordi-naten minimal sein, d.h. gleich der Anzahl der Freiheitsgrade. Der Ortsvektor desi–ten Massenpunktes kann daher als

#„ri = #„ri(q1, q2, . . . , qn, t) , i = 1, 2, . . . , k (5.124)

geschrieben werden, wobei die Zwangsbedingungen (5.32) automatisch erfüllt seinsollen. Die Ableitung von (5.124) nach t ergibt

#„ri =∂ #„ri∂q1

q1 +∂ #„ri∂q2

q2 + · · · + ∂ #„ri∂qn

qn +∂ #„ri∂t

, i = 1, 2, . . . , k . (5.125)

Eine weitere Ableitung von (5.125) nach der Zeit liefert #„ri in Abhängigkeit von q1,q2, . . . , qn, q1, q2, . . . , qn, q1, q2, . . . , qn und t. Im Prinzip der virtuellen Geschwindig-keiten (5.73) können wir daher alle Beschleunigungen und alle von den Koordinatenund Geschwindigkeiten abhängenden Kräfte durch diese Größen ausdrücken.

Wir wenden uns nun den virtuellen Geschwindigkeiten zu, die als Lösungsvektorenvon (5.39) definiert waren. Die verallgemeinerten Koordinaten q1, q2, . . . , qn sind sodefiniert, daß die Bindungsglieder

fj(x1, y1, z1, . . . , xk, yk, zk, t) = 0 , j = 1, 2, . . . , p (5.126)

identisch erfüllt sind, wenn man die Funktion (5.124) bzw. xi(q1, . . . , qn, t),yi(q1, . . . , qn, t), zi(q1, . . . , qn, t) einsetzt. Ableitung von (5.126) nach der Zeit er-gibt

dfj

dt=

n∑s=1

k∑i=1

(∂fj

∂xi

∂xi

∂qs+∂fj

∂yi

∂yi

∂qs+∂fj

∂zi

∂zi

∂qs

)qs

+

[k∑

i=1

(∂fj

∂xi

∂xi

∂t+∂fj

∂yi

∂yi

∂t+∂fj

∂zi

∂zi

∂t

)+∂fj

∂t

]= 0 , (5.127)

j = 1, 2, . . . , p .

LAGRANGEsche Gleichungen 177

Die Definition der verallgemeinerten Koordinaten ist derart, daß diese Gleichung fürbeliebige Werte von q1, q2, . . ., qn, q1, q2, . . ., qn, t erfüllt ist. Daraus folgt zunächst,daß die eckige Klammer in (5.127) identisch verschwindet. Weiterhin folgt, daß

k∑i=1

(∂fj

∂xi

∂xi

∂qs+∂fj

∂yi

∂yi

∂qs+∂fj

∂zi

∂zi

∂qs

)= 0 , (5.128)

j = 1, 2, . . . , p, s = 1, 2, . . . , n

identisch gilt. Vergleicht man dies mit der Definitionsgleichung (5.39) für die virtu-ellen Geschwindigkeiten

Gv = 0 , (5.129)

so erkennt man, daß für s = 1, 2, . . . , n der 3 k–dimensionale Vektor

vs =(∂x1

∂qs,∂y1∂qs

,∂z1∂qs

, . . . ,∂xk

∂qs,∂yk

∂qs,∂zk

∂qs

)T

(5.130)

eine Lösung von (5.129) ist. Die Vektoren vs, s = 1, 2, . . . , n bilden eine Basis desRaumes der virtuellen Geschwindigkeiten. Mit

∂ #„ri∂qs

:=∂xi

∂qs

#„ex +∂yi

∂qs

#„ey +∂zi

∂qs

#„ez (5.131)

ergeben sich daher aus dem Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten

k∑i=1

(Fi

#„∗ −mi#„ri

)· v#„i,s = 0 , s = 1, 2, . . . , n . (5.132)

die n Gleichungen

k∑i=1

(Fi

#„∗ −mi#„ri

)· ∂

#„ri∂qs

= 0 , s = 1, 2, . . . , n . (5.133)

Dies ist ein System von n Differentialgleichungen in qs, qs, qs und t (s = 1, 2, . . . , n),sofern man überall #„ri,

#„ri,#„ri (i = 1, 2, . . . , k) durch diese Größen ausdrückt. Man

bezeichnet sie als Lagrangesche Gleichungen erster Art. Sie werden in Rechen-programmen zur automatischen Erstellung der Bewegungsgleichungen komplizier-ter Systeme verwendet. Wir verzichten hier auf Beispiele zu (5.133) und formendiese Gleichungen zunächst noch weiter um.

Dazu teilen wir zunächst noch die eingeprägten Kräfte Fi

#„∗auf gemäß

Fi

#„∗=

#„∗FPi

+#„∗FNi

. (5.134)

178 5 Dynamik der Systeme∗

Dabei sind die#„∗FPi

diejenigen eingeprägten Kräfte, die als

#„∗FPi

= −(∂U

∂xi,∂U

∂yi,∂U

∂zi

)T

, i = 1, 2, . . . , k (5.135)

mit einem Potential der Art

U( #„r1,#„r2, . . . ,

#„rk, t) (5.136)

geschrieben werden können. Falls (5.136) nicht von der Zeit abhängt, entsprichtdiese Funktion der bekannten potentiellen Energie. Wir schreiben nun (5.133) als

k∑i=1

(#„∗FPi

+#„∗FNi

)· ∂

#„ri∂qs

−k∑

i=1

mi#„ri ·

∂ #„ri∂qs

= 0 , s = 1, 2, . . . , n . (5.137)

Die erste Summe in (5.137) nimmt mit (5.135) die Form

k∑i=1

#„∗FPi

· ∂#„ri∂qs

= −k∑

i=1

(∂U

∂xi

∂xi

∂qs+∂U

∂yi

∂yi

∂qs+∂U

∂zi

∂zi

∂qs

)

= − ∂U

∂qs, s = 1, 2, . . . , n

(5.138)

an. Weiterhin führen wir die verallgemeinerten Kräfte

Qs =∑

i

#„∗FNi

· ∂#„ri∂qs

s = 1, 2..., n (5.139)

ein.

Es gilt außerdem die Identität

#„ri ·∂ #„ri∂qs

=d

dt

(#„ri ·

∂ #„ri∂qs

)− #„ri ·

d

dt

∂ #„ri∂qs

=(d

dt

∂qs− ∂

∂qs

)12ri#„2 (5.140)

(s. Anhang C). Mit der kinetischen Energie

T :=12

k∑i=1

mi ri#„2 (5.141)

und unter Verwendung von (5.140) kann man daher die zweite Summe in (5.137)als

k∑i=1

mi#„ri ·

∂ #„ri∂qs

=d

dt

∂T

∂qs− ∂T

∂qs(5.142)

LAGRANGEsche Gleichungen 179

schreiben.

Damit ist es nun möglich, die Bewegungsgleichungen in sehr übersichtlicher Artund Weise darzustellen. Zunächst drückt man die kinetische Energie T und dasPotential U mittels (5.124), (5.125) durch die verallgemeinerten Koordinaten undderen Zeitableitungen aus und definiert die Lagrange–Funktion gemäß

L(q, q, t) := T (q, q, t) − U(q, t) (5.143)

mit q := (q1, q2, . . . , qn)T . Im Gegensatz zur gesamten mechanischen Energie T +Uist L die Differenz von kinetischer und potentieller Energie! Damit kann nun (5.137)unter Verwendung von (5.142) und (5.138) als

d

dt

∂L

∂qs− ∂L

∂qs= Qs , s = 1, 2, . . . , n (5.144)

geschrieben werden. Dies sind die Lagrangeschen Gleichungen zweiter Art, siewerden oft auch einfach als Lagrangesche Gleichungen bezeichnet.

Bei der Verwendung der Lagrangeschen Gleichungen zum Aufstellen der Bewe-gungsgleichungen ist es also lediglich notwendig, die kinetische und die potentielleEnergie durch die verallgemeinerten Koordinaten und deren Zeitableitungen auszu-drücken. Gegebenenfalls sind noch die verallgemeinerten Kräfte Qi zu berechnen,wenn nicht alle Kräfte aus einem Potential ableitbar sind. Da die Geschwindigkei-ten quadratisch in der kinetischen Energie enthalten sind, spielen die Vorzeichender Geschwindigkeiten dabei keine Rolle. Kinematische Überlegungen bezüglichder Beschleunigungen sind nicht notwendig; sie werden dadurch umgangen, daßin (5.144) differenziert wird. Bei bekannter Lagrange–Funktion ergeben sich dieBewegungsgleichungen dann durch einfache Differentiation.

Die Lagrangeschen Gleichungen bilden einen der Grundpfeiler der analytischenMechanik. Sie gelten auch für Systeme starrer Körper, wobei in (5.144) lediglich dieentsprechenden Ausdrücke für die kinetische Energie einzusetzen sind. Wenn nurkonservative Kräfte auftreten, verschwinden die verallgemeinerten Kräfte Qs aufder rechten Seite von (5.144). Wir beschränken uns im folgenden auf diesen Fall.

Als Sonderfall enthalten die Lagrangeschen Gleichungen die Gleichgewichtsbe-dingungen der Statik. Hier gilt mit T ≡ 0, Qs = 0, s = 1, 2, . . . , n

∂U

∂qs= 0 , s = 1, 2, . . . , n ; (5.145)

die potentielle Energie ist also in der Gleichgewichtslage stationär. Darüber hin-aus wissen wir aus TM 1, daß die Gleichgewichtslagen bei einem Minimum derpotentiellen Energie stabil sind.

180 5 Dynamik der Systeme∗

Eine hinreichende Bedingung für das Minimum der Funktion U an einem statio-nären Punkt ist die positive Definitheit der Matrix der zweiten Ableitungen:

[∂2U

∂qi ∂qj

]> 0 . (5.146)

z m g

5.16: Lotrecht fallender Massenpunkt

Als erstes, triviales Beispiel betrachten wir einen Massenpunkt im freien Falllängs der Lotrechten (Abb. 5.16). Mit n = 1 und q = z gilt

T =12m z2 , U = mg z (5.147)

und

L := T − U =12m z2 −mg z . (5.148)

Aus der Lagrangeschen Gleichung

d

dt

∂L

∂z− ∂L

∂z= 0 (5.149)

folgt nun die Differentialgleichung der Bewegung. Der erste Summand von (5.149)ergibt

d

dt

∂L

∂z=

d

dtm z = m z , (5.150)

der zweite führt auf

∂L

∂z= −mg . (5.151)

Damit ist die Bewegungsgleichung

m z +mg = 0 (5.152)

bzw.

z = −g . (5.153)

Im nächsten Beispiel leiten wir nochmals die Bewegungsgleichungen für das Systemaus Seilrollen und Massenpunkten der Abb. 5.5 her, die wir schon früher

LAGRANGEsche Gleichungen 181

auf verschiedenen Wegen gewonnen hatten. Mit n = 2 und den verallgemeinertenKoordinaten

q1 = x1 , q2 = x2 (5.154)

ergibt sich für die kinetische Energie

T =12m1 v

21 +

12m2 v

22 +

12m3 v

23 . (5.155)

Dabei ist

v1 = x1 , v2 = x2 , v3 = −12

(x1 + x2) , (5.156)

so daß in den Zeitableitungen der verallgemeinerten Koordinaten jetzt

T =12m

(74x2

1 +32x1 x2 +

114x2

2

)(5.157)

gilt. Die potentielle Energie ist

U = −m1 g x1 −m2 g x2 −m3 g x3 . (5.158)

Mit

x3 = −12

(x1 + x2) (5.159)

schreiben wir sie als Funktion der beiden verallgemeinerten Koordinaten:

U =12mg (x1 − x2) . (5.160)

Die Lagrangeschen Gleichungen

d

dt

∂L

∂xi− ∂L

∂xi= 0 , i = 1, 2 (5.161)

liefern die Bewegungsgleichungen

74mx1 +

34mx2 +

12mg = 0 , (5.162a)

34mx1 +

114mx2 − 1

2mg = 0 . (5.162b)

Sie ergeben natürlich wieder die schon in (5.108) berechneten Beschleunigungen.

In einem weiteren Beispiel untersuchen wir das System Fadenpendel und lot-recht geführter Körper der Abb. 5.17. Es besitzt zwei Freiheitsgrade. Als ver-allgemeinerte Koordinaten wählen wir

q1 = r, q2 = γ . (5.163)

182 5 Dynamik der Systeme∗

g

A B

γr

m1

z1

m2

z25.17: Ebenes System mit zwei

Freiheitsgraden

Die kinetische Energie ist

T =12m1 v

21 +

12m2 v

22 , (5.164)

und mit

v21 = (r γ)2 + r2 , (5.165)

v22 = r2 (5.166)

folgt

T (r, γ, r, γ) =12

(m1 +m2) r2 +12m1 r

2 γ2 . (5.167)

Die potentielle Energie ergibt sich leicht zu

U = m1 g z1 +m2 g z2 . (5.168)

Es gilt z1 = zA − r cosϕ und z2 = zB − (l− l1− r), wobei l die gesamte Fadenlängeund l1 = |AB# „| ist. Da die additiven Konstanten im folgenden hier keine Rollespielen, kann man auch einfach

U(r, γ) = m2 g r −m1 g r cos γ (5.169)

schreiben. Mit L = T − U bilden wir gemäß (5.144) zunächst die Ableitung nachq1 = r

∂L

∂r= (m1 +m2) r (5.170)

und damit

d

dt

∂L

∂r= (m1 +m2) r . (5.171)

Der zweite Summand in den Lagrangeschen Gleichungen (5.144) nimmt mit q1 =r die Form

∂L

∂r= m1 r γ

2 +m1 g cos γ −m2 g (5.172)

LAGRANGEsche Gleichungen 183

an. Daraus folgt

(m1 +m2) r −m1 r γ2 −m1 g cos γ +m2 g = 0 . (5.173a)

Ganz entsprechend folgt mit q2 = γ aus (5.144)

m1 r2 γ + 2m1 r r γ +m1 g r sin γ = 0 . (5.173b)

Das nichtlineare System von Differentialgleichungen (5.173) kann nur numerischgelöst werden.

g Bx

ϕl,m

5.18: Starrkörperpendel mitgefedertem Aufhängepunkt

B

vB

vB

12lϕ

5.19: Zur Kinematik des Pendelsder Abb. 5.18

Als letztes Beispiel behandeln wir das Starrkörperpendel mit gefedertem Auf-hängepunkt der Abb. 5.18. Das System besitzt zwei Freiheitsgrade, und wir wäh-len die Größen x und ϕ als verallgemeinerte Koordinaten. Die kinetische Energiedes Stabes ist

T =12mv2

S +12

Θ(S) ϕ2 . (5.174)

Darin müssen wir die Schwerpunktgeschwindigkeit #„vS noch durch die verallgemei-nerten Koordinaten und deren Zeitableitungen ausdrücken. Dies gelingt z.B. mit-tels

#„vS = #„vB + ω#„ ×BS# „

, (5.175)

und es folgt mit #„vB = x #„ex

v2S =

(x− l

2ϕ sinϕ

)2

+(l

2ϕ cosϕ

)2

(5.176)

(s. Abb. 5.19). Mit Θ(S) = (1/12)ml2 schreibt sich die kinetische Energie als

T =12m

(x2 − l x ϕ sinϕ+

l2

3ϕ2

). (5.177)

184 5 Dynamik der Systeme∗

In diesem Beispiel nehmen wir ausnahmsweise an, daß die Feder im System derAbb. 5.18 eine nichtlineare Kennlinie besitzt. Es möge sich hierbei um eine kubischeKennlinie handeln, so daß

F = k x3 (5.178)

ist. Dem entspricht die potentielle Energie

UF =14k x4 , (5.179)

wobei die Länge x von der ungespannten Lage der Feder aus gezählt ist. Die poten-tielle Energie der eingeprägten Kräfte an dem betrachteten System ist demnach

U =14k x4 −mg

(x+

l

2cosϕ

). (5.180)

Mit L = T − U und den verallgemeinerten Koordinaten q1 = ϕ, q2 = x liefert dieLagrangesche Gleichung (5.144)

x− l

2ϕ sinϕ− l

2ϕ2 cosϕ+

k

mx3 − g = 0, (5.181a)

−x l2

sinϕ+l2

3ϕ+ g

l

2sinϕ = 0 . (5.181b)

Die zu beliebig gegebenen Anfangsbedingungen gehörende Lösung von (5.181) kannnur numerisch gefunden werden, da die Gleichungen nichtlinear sind. Als spezielleLösungen der Bewegungsgleichungen können wir allerdings die möglichen Gleich-gewichtslagen berechnen.

Mit dem Lösungsansatz x(t) ≡ xS , ϕ(t) ≡ ϕS für die stationären Lösungen (Gleich-gewichtslagen) von (5.181) ergibt sich

k

mx3

S − g = 0 , (5.182a)

sinϕS = 0 (5.182b)

mit der Lösung

xS = 3

√mg

k, ϕS1,2 = 0, π . (5.183)

Von den beiden gefundenen Gleichgewichtslagen ist offensichtlich die des aufrechtstehenden Stabes (ϕS2 = π) instabil.

Dies sind die einzigen Lösungen von (5.181), die wir exakt angeben können. Al-lerdings wissen wir aus der Anschauung, daß das System in der Nähe der stabilenGleichgewichtslage kleine Schwingungen ausführen kann, die näherungsweise durchlinearisierte Differentialgleichungen beschrieben werden. Im folgenden untersuchen

5.4 Zusammenfassung 185

wir diese kleinen Schwingungen um die untere Gleichgewichtslage xS = 3√mg/k,

ϕS1 = 0. Gemäß

x(t) = xS + x(t) , (5.184a)ϕ(t) = ϕS1 + ϕ(t) (5.184b)

führen wir die neuen Variablen x(t), ϕ(t) ein, die die Bewegung um diese Gleichge-wichtslage beschreiben. Setzt man (5.184) in die Bewegungsgleichungen ein, so er-geben sich Gleichungen, die in den neuen Variablen homogen sind. Wir beschränkenuns nun auf kleine Schwingungen und unterschlagen in den Bewegungsgleichungenalle Terme höherer Ordnung als der ersten in x, y. Das bedeutet, daß wir in

(xS + x)3 = x3S + 3 x2

S x+ 3 xS x2 + x3 (5.185)

lediglich die ersten beiden Summanden beibehalten und in

sinϕ = ϕ− ϕ3

3!. . . , (5.186)

cosϕ = 1 − ϕ2

2!. . . (5.187)

den Sinus durch den Winkel ϕ und den Kosinus durch Eins ersetzen. Damit ergebensich die linearen Bewegungsgleichungen

x+(

3k

mx2

S

)x = 0 , (5.188a)

l2

3ϕ+ g

l

2ϕ = 0 , (5.188b)

die im vorliegenden Fall entkoppelt sind. Beide Gleichungen können leicht gelöstwerden, und die Lösungen x(t), ϕ(t) beschreiben harmonische Schwingungen mitunterschiedlicher Kreisfrequenz.

Die Linearisierung war hier besonders einfach, weil die trigonometrischen Funktio-nen um den Winkel ϕS1 = 0 linearisiert wurden. Für ϕS �= 0 erhält man statt(5.186) und (5.187)

sin(ϕS + ϕ) = sinϕS cosϕ+ cosϕS sinϕ≈ sinϕS + (cosϕS)ϕ , (5.189)

cos(ϕS + ϕ) = cosϕS cosϕ− sinϕS sinϕ≈ cosϕS − (sinϕS)ϕ . (5.190)

5.4 ZusammenfassungZunächst haben wir in diesem Kapitel das D’Alembertsche Prinzip formuliert, dasbesagt, daß an jedem starren Körper die auf ihn wirkenden Kräfte und eingeprägten

186 5 Dynamik der Systeme∗

Momente mit der Scheinkraft −m #„aS (Angriffspunkt S) und dem Scheinmoment−L#„(S) ein Gleichgewichtssystem bilden. Mit Hilfe des Erstarrungsprinzips kann essinngemäß auf Systeme starrer Körper erweitert werden.

Für Systeme starrer Körper mit idealen (reibungsfreien) Bindungen gilt das Prinzipder virtuellen Geschwindigkeiten

(F∗ − I

)Tv +

(M∗ − L

)Tω = 0. (5.191)

Dabei beinhalten F∗ und M∗ die auf die Körper wirkenden eingeprägten Kräfteund Momente (bezüglich des jeweiligen Schwerkpunkts S). In I und L sind jeweilsdie Impulse bzw. die Drehimpulse der Körper zusammengefaßt. Die Größen v undω erfüllen die auf Geschwindigkeitsebene formulierten Bindungsgleichungen, wenndie inhomogenen Terme durch Null ersetzt werden. Es gibt genau n (n= Anzahlder Freiheitsgrade) voneinander linear unabhängige virtuelle kinematische Zustän-de (v,ω). Durch Einsetzen des jeweiligen virtuellen kinematischen Zustands führt(5.191) auf die n Differentialgleichungen der Bewegung.

Anschließend wurden für ein System mit n Freiheitsgraden die verallgemeinertenKoordinaten q1, q2, . . . , qn eingeführt, die zu jedem Zeitpunkt t die Lage des Sy-stems eindeutig beschreiben. Die Lagrange–Funktion wurde dann gemäß

L(q, q, t) := T (q, q, t) − U(q, t) (5.192)

definiert. Die Differentialgleichungen der Bewegung kann man dann aus den La-grangeschen Gleichungen zweiter Art

d

dt

∂L

∂qs− ∂L

∂qs= Qs , s = 1, 2, . . . , n (5.193)

erhalten, wobei die verallgemeinerten Kräfte auf der rechten Seite durch

Qs =∑

i

#„∗FNi

· ∂ri∂qs

s = 1, 2..., n (5.194)

definiert sind. Der Index N steht hier für die nichtkonservativen Kräfte, bzw. fürdiejenigen eingeprägten Kräfte, die nicht in dem Potential U(q, t) berücksichtigtsind.