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Postfach CH-6207 Nottwil www.paranet.ch [email protected] Telefon +41 41 939 54 54 Telefax +41 41 939 54 40 Wege zu den gefühlsmässigen und geistigen Dimensionen eines Menschen mit einer körperlichen, seelischen und/oder geistigen Traumatisierung Markus Meyerhans 1. Teil Der Mensch: nackt, verletzlich, geboren um zu entscheiden und zu bekennen, aufrecht, ruhende Präsenz

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Wege zu den gefühlsmässigen und geistigen Dimensionen eines Menschen mit einer körperlichen, seelischen und/oder

geistigen Traumatisierung

Markus Meyerhans

1. Teil

Der Mensch: nackt, verletzlich, geboren um zu entscheiden und zu bekennen, aufrecht, ruhende Präsenz

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Das letzte Mal, als Woody Allen Charlie Chaplin sah, sagte er immer nur: „Bleib menschlich! Bleib menschlich!“ „Ich will Mensch bleiben: ich liebe das Gefährliche, das Abgründige, das Schwebende und Nicht- Kontrollierbare.“ (R. Walser)

Wege zu den gefühlsmässigen und geistigen Dimensionen eines Menschen mit einer körperlichen, seelischen und/oder geistigen Traumatisierung Der geistige Teil des Menschen beschäftigt sich mit dem, was das Ich mit seinen Potenzen, Grenzen, Möglich-keiten, seinem Wissen und Unwissen übersteigt. Man muss sich selber vergessen und sich etwas anderem und Grösserem zuwenden als dem, was auf die eigene Person gerichtet ist. Die kosmologische Dimension ist an Raum und an Zeit gebunden. Die anthropologische Dimension widmet sich dem Bewusstsein. Die theoso-phische Dimension beinhaltet die Themen der Weisheit, der Freiheit, der Erlösung, der Unendlichkeit, Wahr-heit und Liebe. Die Liebe zu uns und den anderen ist unsere höchste Quelle. Sie ist definiert durch die Dimension des Dazwi-schen, d.h. sie ist immer Verbindung – nicht (primär) als ein Ereignis – sondern als genuine Gestaltungskraft. Liebe wird nicht aus etwas anderem geboren, sie ist die Geburt selbst. Sie ist die Kraft, die alles durchdringt, umfasst, zusammenhält und entstehen lässt. Sie entdeckt, dass jeder Mensch einmalig ist, heil und wertvoll schon von Anfang an: jenseits der Leistung, des Könnens, des Habens, des Wissens, des Messens, des Korri-gierens und Verbesserns. Der Zugang zur geistigen Dimension ist für viele Menschen mit Traumatisierungen von vitaler Notwendigkeit und Dringlichkeit, weil dadurch das Individuelle und die rationale Erkenntnis transzendiert werden. Jeder Mensch ist so betrachtet ein einmaliger Knotenpunkt, der mit allem verbunden ist. Alles Lebendige in uns drängt über das Ich hinaus. Das Lebendige durchbricht den Logos und stösst zu Neuem vor. Auf diesem Weg geschieht Verwandlung, stetige Differenzierung, innerer Reichtum, die Überwindung der Polaritäten und Wider-sprüche in uns. Daher ist Liebe kreativ, konstant, neu und immer genuine Schöpfung. In den gestaltenden d.h. kreativen Tätigkeiten (Malerei, Musik, Tanz, Literatur, Gesang, Übungen des Leibes, etc.) kann sich Geistiges manifestieren und den Zugang zu diesem erschliessen. Der bewusste und sorgfältige Gebrauch sowie die Art der Gestaltung der Sprache und des Schweigens und des Warten-Könnens sind das grösste Geschenk und zugleich die notwendigste und edelste Aufgabe, die den Menschen krönen. Die Sprache braucht mich, um in ihr enthalten zu sein: mit allen Abgründen, Nöten, Fragen, Zweifeln, Unge-wissheiten und Widersprüchen. Der Umgang mit ihr muss zärtlich, streng, klar und archaisch zugleich sein. Wir

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öffnen uns dem, was da ist, egal, was es ist, was auftaucht und was geschieht. Dies ist die Haltung der Offen-heit, der Anerkennung, Würdigung, Anteilnahme, Akzeptanz und des Erfahrens der Wahrheit des jeweiligen Moments. Man muss die „Dinge“ so sein lassen, wie sie sind und sich ihnen gegenüber ziel- und vorbehaltlos öffnen, mit einer Haltung des Mutes und der Demut, des Wissens und des Nichtwissens. Diese Haltung ist eine aktive und passive zugleich: zu mir und zum andern. Es ist Mitfühlen, Mitdenken, Mitaus-halten, Mitstandhalten und Mitdurchqueren: vor allem auch jener Seelenlandschaften, die schwer zu ertragen, noch nicht anzunehmen und zu verstehen sind. Unsere erworbenen Gewohnheiten, Meinungen, Ansichten, Wünsche und Erwartungen sind an dieser Stelle oft hinderlich. Das einzige, was wir in diesen Momenten uns und dem andern geben können, ist unsere Anteilnah-me, unsere Präsenz und die Haltung, die einem Gefässes gleicht, in dem alles seine Würdigung, seine Wertig-keit, seine Zeit, seine Notwendigkeit, seine Erinnerung und seine Zuneigung erfährt. So entsteht erfahrbares Vertrauen, eine demütige und aufrechte, klare und nackte Haltung dem gegenüber, was wir noch nicht wissen, noch nicht halten und auch (noch) nicht direkt beeinflussen können. Wir öffnen uns mit Bescheidenheit und ei-nem Recht auf Müdigkeit und Wachheit zugleich und jenseits von Gut und Böse, des Müssens und Wollens ei-ner grösseren, noch verborgenen Kraft, als jener des rationalen und/oder fühlenden Ichs und beginnen zu schweigen, leer und still zu werden, horchen und warten, was in uns aufsteigt: eine Erinnerung, Bilder, Sehn-süchte, Wünsche, Traumbilder, Töne oder innere Stimme. Die Welt entspricht in vielen zentralen Dimensionen nicht dem Menschen. Je bewusster und älter wir werden, führen uns die Wirklichkeit und Realität mit aller Härte, Unbeugsamkeit und Unbarmherzigkeit und immer wieder von neuem an unsere Grenzen. Sie verlangen einen Abschied nach dem anderen. Sie sind - wie die Spra-che - oft nicht gefällig, gnädig, harmonisch oder durch unseren Willen und unsere Wünsche und Vor-stellungen nicht allein beeinflussbar. Unsere Patienten im Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil (SPZ) bedürfen unserer emotionalen und lieben-den Betroffenheit. Oberstes Ziel im Rahmen der „Ganzheitlichen Rehabilitation“ ist, den ganzen Menschen zu erfassen und zu berühren d. h. seine individuelle Würde, seine Tiefen und Abgründe, seine Möglichkeiten und Grenzen, seine Gültigkeit und Einmaligkeit, seine Bedürftigkeit, d. h. letztlich sein Geheimnis. Die Bedürftigkeit, d.h. der Mangel in uns ist unsere gemeinsame Grenze, unsere gemeinsame Not und unsere gemeinsame Wunde. Sie sind das, was uns am meisten trennt und zugleich am meisten verbindet. Sie führen uns zu uns und deshalb auch zum andern. Sie verbinden uns mit uns und dem Nächsten, sie ermahnen uns an das, was geteilt werden muss. Die Verletzlichkeit führt uns in den Raum des Mit- und Füreinanders. Sie ruft uns zu und auf. Und in ihr wacht die grosse Angst und die Sorge, dass wir uns verfehlen oder abhanden-kommen könnten, bzw. dass unser Leben ohne innere „Antwort“, Sinnhaftigkeit und ohne Bezug zu unserem Schicksal und Trauma bleibt. Wie wird Verbundenheit und Betroffenheit erfahrbar? Durch Wärme, Mitgefühl, Widerstand, Abgrenzung und spürbare Anteilnahme. Wir öffnen unser Herz dem Schmerz, der Hoffnung und den Sehnsüchten des andern. Auf diesem Weg stossen wir vor allem an die Grenzen in uns. Dies ist die notwendige Voraussetzung, damit diese Grenzen transformiert werden können. Jedes Herz ist verletzlich und verwundbar. Deshalb bedarf es so sehr der Sanftheit, der Zärtlichkeit, der Stille und Ruhe, des Abstandes, des Schutzes und vor allem des verbin-denden Schweigens. Verletzlichkeit und Verwundbarkeit werden so zu einer Stärke und besitzen ein tiefes, über viele Jahre erworbenes Wissen, deren Reichtum und Notwendigkeit für die Bewusstwerdung wir uns selten be-wusst sind und auch nie erahnt hätten. Sie sind stark erschütterbare und äusserst schmerzhafte Dimensionen in uns. Die Wunden unseres Körpers, unserer Seele und unseres Geistes wurden im Verlauf der vorangegangen Jahre bereits oft verwundet, entwertet, nicht ernst genommen, übergangen, vernachlässigt, ignoriert und/oder bagatel-lisiert. Diese Erinnerungsspuren sind alle in unserem Körper, in unserer Seele und in unserem Geist gespei-chert und gegenwärtig. Die Erfahrungen dieser früher oft nicht ernst genug genommenen Erinnerungen im Be-reiche des Körpers, der Seele und des Geistes führen dazu, dass wir uns ihnen gegenüber oft verschliessen, oft auch verschliessen müssen und vieles tun, um nicht oder nicht wieder in ihre Nähe zu gelangen und nicht wie-der gefühlsmässig, wahrnehmungs- und empfindungsmässig an sie erinnert zu werden.

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Je differenzierter unser eigener gefühlsmässiger und bewusstseinsmässiger Zugang zu diesen erwähnten Di-mensionen in uns ist, umso heilsamer können wir der Bedürftigkeit, der Not und dem Leid des anderen stand-halten, ihnen begegnen, sie zulassen und sie verstehend lieben. Wir müssen unsere eigenen Wunden offen halten und uns zu ihnen bekennen. In dem Ausmasse und in der Achtsamkeit. wie wir uns den eigenen Wunden in uns zuwenden, werden wir zugleich auch heilsam für die Wunden des andern. So verbindet sich unsere Not mit der Not des andern, unsere Sehnsüchte mit den Sehnsüchten des andern, unsere Bedürftigkeit mit der Be-dürftigkeit des andern, unsere Einsamkeit mit der Einsamkeit des andern, unsere Freude und Hoffnung mit der des Gegenübers. Nur das, was geteilt wird, verbindet. Wir gleichen uns nicht selten in dem, was wir voreinander verheimlichen, was wir einander vorspielen und mei-nen zu sein, beziehungsweise meinen im Griff zu haben. Die grösste Not des verletzten Menschen besteht in seiner Verlassenheit, Einsamkeit und der fehlenden An-teilnahme durch ihn selber und die anderen. Anteilnehmen heisst: sich vorzustellen, ich hätte dieses Schicksal und diese Not auch. Der wachsame und achtsame Weg erfordert viel Klarheit, eine gewisse Aske-se, viel Ordnung und Disziplin in einem selber und er ist ein schwieriger und komplizierter Weg, mit vielen Um-wegen und Erfahrungen des Scheiterns. Er fordert viel von uns. Vor allem muss man sich klarmachen, worin die jetzige, eigene Not-Wendigkeit besteht. Bewusstwerdung ist nicht nur ein rationaler Vorgang, er schliesst vor allem das Bewusstwerden des Körper (Leibes), der Gefühle und der Intuition mit ein. Klarheit er-fordert, dass man bereit ist, sich immer wieder in Frage zu stellen, in sich zu gehen und langsam und sehr ge-nau sich selber zuhört und sich gegenüber zärtlicher und bestimmter wird. Dies braucht viel Zeit, Nähe und Dis-tanz, Wärme und Härte, Mut und Demut, Langsamkeit und ein Sich-Müde-Werden-Lassen. Diese – oft einzig mögliche Arbeit - benötigt viel Kraft und besteht darin, sich selber ein liebendes Gegenüber zu werden. Warten-Können ist die Grundlage und die Quelle jeder seelischen und geistigen Aktivität. Sie ermöglicht das Gebären von Neuem, von bisher Unentdecktem, von bisher Verschüttetem und die Trennung und Loslösung, ja oft ein sich Losreissen-Müssen von nicht mehr Gültigem, falschem Schein, vorgemachter Stärke und vielen lieb gewordenen Gewohnheiten, Bequemlichkeiten, Ansichten, Erwartungen und Meinungen. Das Annehmen und Zulassen der Traurigkeit unterstützt diesen Weg. Meistens ermöglicht sie diesen Weg erst. Das Wissen der Traurigkeit ist weit, tief, zärtlich, sie weiss viel von Sehnsüchten, Wünschen, Schonung, Heimweh und Abschied. Sie ist die Instanz in uns, die uns hilft, uns und den andern von innen her zu verstehen und sich und den andern näher zu kommen. Sie ist eine der heilsamsten, uns berührenden und zugleich beu-genden Energien und Anstrengungen, um uns mit uns zu versöhnen. Trauer führt uns direkt in den geistigen Raum. Dieser ahnt oft leidvoll unseren Mangel, d. h. das was fehlte, was nicht ist, was nicht mehr ist, was noch nicht ist und was noch werden möchte: letztlich das, was mit uns gemeint sein könnte. Und sie zeigt uns in aller Härte, wie sehr wir Bedürftige sind. Das Annehmen der Grenzen ist zugleich der Weg aus ihnen heraus. Das, was wir einfühlsam erahnen, annehmen und würdigen, das können wir auch überwinden. Was wir be-kämpfen, was wir ausschliessen, was wir in uns nicht zulassen, erschwert oder verschliesst die Möglichkeit der Verwandlung. Auf diesem Weg erfahren wir in uns, durch Selbstreflexion und zunehmende Klärung, mit welchen Werten, Zielen und Absichten wir identifiziert sind. Aus dieser erwähnten Sicht, beziehungsweise den erwähnten Perspektiven betrachtet, wird deutlich, dass un-sere Patienten nicht nur von uns lernen, sondern wir sehr oft von ihnen lernen können bzw. könnten. Wir brin-gen ihnen viel Notwendiges, Nützliches, Praktisches, Entlastendes und Unterstützendes auf der ganz konkreten Handlungs- und Verhaltungsebene bei. Diese sind die wichtigsten, unmittelbarsten und direktesten Not-Wendigkeiten. Auf der geistigen und seelischen Ebene gestaltet sich der Zugang zu Menschen mit einer Traumatisierung oft in einer ganz anderen Art und Weise und jeweils von Mensch zu Mensch immer wieder völlig neu und anders. Wird die Individualität der Verarbeitung traumatischer Ereignisse respektiert, ermöglichen wir zugleich eine individuelle Antwort, die letztlich nicht gesucht, sondern nur gefunden werden kann. Dieser Weg dauert viele, viele Jahre. Aus seelischer und geistiger Sicht gibt es viele andere Wege, Zugänge und Hilfestellungen: Distanzierung, Ab-lenkung, Aktivierung von Ressourcen, Stärkung der Autonomie und der Kräfte des Sich-Wehrens, der Empö-rung, der Abgrenzung, der Selbstbehauptung, der Förderung, Unterstützung und Aktivierung der kreativen Zu-

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gänge zu sich selber, Hypnose. * Bejahung. Ergebenheit. Stille. Ruhe. Beten. Demut: Sie beginnt und endet mit Schweigen. „In unserer Zeit gibt es nicht einmal mehr Platz für einen Aufschrei der Revolte. Wer ausser einigen wenigen würde ihn hören? Es ist fast nicht mehr möglich, zu den Menschen zu sprechen. Alles hat seine Zeit gehabt. Man muss sich zum Schweigen entschliessen, aber nicht aufgeben. Weiterhin in sich der Bewegung folgen, die einen vorwärts trägt. Das flackernde Licht, das uns leuchtet, muss weiter brennen. Das Wunder: zu sein – kann uns nicht fortgenommen werden, wir müssen uns ihm bis zum letzten Atemzug hingeben.“ Cheminements, Aufzeichnungen von Jacques Masui, nach seinem Tod von Jourdan ausgewählt (14-7-1960). Welchen Weg, welches Tempo, welche Umwege Menschen mit seelischen, geistigen und körperlichen Grenzen gehen, beziehungsweise „wählen“, muss respektiert werden. Wir dürfen nicht die Seele und den Geist dieser Menschen „essen“, zu sehr beeinflussen und/oder ändern wollen. Wir geraten dadurch in Gefahr, gewisse Kräfte der vorschnellen Anpassung zu fördern und zu wenig Zeit und Geduld zu ermöglichen, um die Dichte und das Gewicht des Aushalten-Könnens von seelischer und geistiger Not verarbeiten zu können. Nicht selten sind die Umwege, das Respektieren und die Förderung von möglichst viel Selbstbestimmung und Selbsterfahrung die besten Wegbegleiter zur Bewältigung eines Traumas. Es gibt nicht wenige Menschen, die keinerlei spezifische Begleitung oder Unterstützung durch psychologische oder psychotherapeutische Fachkräfte benötigen. Psychotherapie ist ein ganz spezifischer Zugang zum Men-schen, in keinerlei Hinsicht der einzige oder wirksamste. Es ist das ganz gewöhnliche, wahre und anteilneh-mende Menschliche in uns, das heilsam ist. Darin liegt der unmessbare und durch nichts zu ersetzende Wert der Begleitung unserer Patienten durch ihre Angehörigen, Freunde, Verwandte und uns Angestellten. Jeder Weg hat seine Gültigkeit, seine Wahrheit und verdient unseren Respekt. Jeder ist steil. Wenn wir diesen Menschen begegnen, müssen wir uns immer wieder von neuem bewusst werden, welchen Weg sie be-reits gegangen sind. An dieser Stelle berührt man schweigend und demütig das „Rätsel“, das dunkle und verborgene Geheimnis des Menschen. Jenes vom andern und dadurch auch unser eigenes. Es gibt traumatisierte Menschen, die die Zeit vor dem Trauma mit der Zeit nach dem Trauma verbinden möch-ten und jene, die existenziell darunter leiden und ringen, eine Begründung, Rechtfertigung oder „Antwort“ die-ses Einschnittes in ihr bisheriges, zukünftiges und gegenwärtiges Leben zu suchen und zu finden. Daher besit-zen die Ermöglichung und Förderung auch der gefühlsmässigen und geistigen Dimensionen eine hohe Wichtig-keit von der aller ersten Begegnung an. Wir alle wissen um die enorme Bedeutung des Anfangs und des ersten Mals. Dort setzen wir Samen durch unsere Bemühungen und vor allem durch die Art und Weise unseres Da-seins, nicht wegen den Einschränkungen, sondern auf dem Grunde der Einschränkungen. Mit diesem Geist, mit dieser Wärme und mit dieser Zuversicht und dem gefühlsmässigen Annehmen unserer eigenen Ohnmacht, Bedürftigkeit und Verletzlichkeit werden wir zu wahren Helfern. Uns durchströmen viele, widersprüchliche, widerspenstige, verborgene und von aussen betrachtet unnütze Kräfte: Warten-Können, Demut, Schweigen, Geduld, Anteilnahme und Zulassen von dem, was wir nicht kon-trollieren und beeinflussen können und wo wir an unsere Grenzen stossen, auch an die Grenzen unse-rer Vernunft, unseres Willens, unserer Einsicht und unserer gefühlsmässigen Kräfte. Das Sich-Sanfte-Annähern an diese Dimensionen ist ein tägliches Pflegen, ein ständiges Wieder-Holen und birgt in sich einen Segen, der vieles, möglicherweise alles verändern kann. Halte deine Wunden lebendig, dein Suchen, deine Traurigkeit, deine Müdigkeit, deine Empörung und deinen Zorn. Sie sind ein lebendiger Teil deines Herzens, deines Geistes und deines Leibes und sie führen uns über Schwellen und Stufen in ein Land in uns, das uns dem Möglichen gegenüber öffnet. Widme ihnen deine Be-scheidenheit, deine Stille und dein offenes Herz. Dadurch entstehen Vertrauen, Mut und Demut, Anstand und Klarheit in uns. Wir sind Lichtträger.

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Über den Umgang mit Grenzen Menschen mit Traumatisierungen erfahren eine unvorstellbare Anzahl von Grenzen körperlicher, gefühlsmässi-ger, gedanklicher und geistiger Art, verbunden mit Unbarmherzigkeit, Unausweichlichkeit und Härte. Die Bewäl-tigung dieses Schicksals gleicht einer fortwährenden Auseinandersetzung, Begegnung und zum Teil schmerz-haft sich wiederholenden Konfrontationen mit und an den Grenzen. Die Grenze führt oft an eine Not, die Not an eine zu definierende Notwendigkeit. Die Notwendigkeit „zwingt“ zu deren Überwindung bzw. Beantwortung. Wenn wir gezwungen werden, uns unserer Grenzen bewusst zu wer-den, sind wir aufgerufen und aufgefordert, Farbe zu bekennen und uns für die eine oder andere Seite zu ent-scheiden. Dieser Weg hört nie auf, ist steil, widersprüchlich und erfordert viel Zärtlichkeit, Kraft, Geduld, Mut und ist mit vielen Demütigungen verbunden. Die Grenze will ein Bekenntnis bzw. eine Wahl: z. B. Unterwerfung, Wiederholung des Alten, Verdrängung, An-passung, Überwindung, ein Sich-Öffnen Neuem, Unbekanntem, Verdrängtem und Abgewehrtem gegenüber, ein Entsorgen von nicht mehr Gültigem, ein Entdeckten von verschütteten Möglichkeiten, ein Nicht-Wahrhaben und nicht Wahr-Nehmen-Wollen, ein Sich-Verschliessen oder ein Davon-Laufen. Welcher Weg „gewählt“ wird und auf welche Art und Weise, ist ein äusserst komplexer Vorgang und erfordert ein Zulassen von viel Nähe und Abstand zugleich und ein genaues Beobachten, exaktes und bewusstes Hinhören auf die Wörter und auf das Schweigen. Wer wir sind, was wir werden und wer mit uns gemeint ist, erfahren wir wesentlich an unseren Grenzen. Gren-zen definieren sich dadurch, dass wir sie von mindestens zwei Seiten her betrachten. Im psychischen Be-reich bedeutet dies: Wir müssen uns von innen und von aussen betrachten. Grenzen machen uns zudem, was wir im Moment sind. Sich ihrer bewusst zu werden und sich ihnen gegenüber bewusst zu verhalten, beinhaltet die Akzeptanz dessen, was ist und was nicht mehr ist. Dies ist die Erfahrung der Wahrheit, Wirklichkeit und der momentanen individuellen Situation. Grenzen können durchlässig sein, an ihnen wird Mut, Macht und Ohn-macht spürbar, Einsamkeit, der Anspruch auf fremde Hilfe und Schutzlosigkeit. Grenzen können auch undurch-lässig sein, bewacht und unbewacht, passierbar und unpassierbar, überwindbar und unüberwindbar. An dieser Stelle haben Sehnsuchtsbegriffe, positiv besetzte Orte und Gedanken, sinnstiftende Appelle, Meinungen und Tipps etc. je ganz unterschiedliche Gültigkeit und können hinderlich oder förderlich sein. An der Grenze, d. h. an den entscheidenden Ankunfts- bzw. Abschiedsorten wird die Seelenlandschaft der Täu-schungen, Ent-Täuschungen, Illusionen, nicht mehr genügend haltgebenden und Gültigkeit besitzenden Kom-pensationshandlungen von früher oft schmerzhaft erfahren. An der Grenze wird spürbar, was wir in uns unter-drückt haben von früher, wo und wie wir in uns Gefangene geblieben sind, Unerlöste, Verstossene, Abgelehnte, Entwertete, d. h. Invalide, Unerkannte und nicht Zugelassene. Wir sind Mensch geworden, um uns zu entscheiden und uns zu bekennen, auf welcher Seite wir stehen wollen, d. h. wie wir persönlich unsere Grenzen definieren und leben und welche Gefühle, welche Gedanken und wel-chen Umgang und Zugang mit dem Körper wir pflegen und gestalten. Anpassung alleine, Leistungssteigerung und deklarierter Optimismus können auch an ihre Grenzen stossen. Der traumatisierte Mensch ist kaum wie ein anderer aufgefordert, seinen individuellen Weg zu finden und zu bestimmen. Das erfordert zusätzlich neue, zum Teil entgegengesetzte, unbekannte und bislang als unwert (in-valid) deklarierte Massstäbe im Fühlen, Denken und im geistigen und leiblichen Umgang mit sich selber zu ent-decken. Worin liegt der „Ausweg“, die „Antwort“, die „Lösung“? Die Grenze muss nicht zwingend eine Grenze bleiben. Selbst auf dem Grunde grosser Enge, Ausweglosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst, Bedrohung und Erschöpfung können durch achtsame, zärtliche, kräftige und ernsthafte Entschlossenheit die Widerstandskräfte der Wärme,

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der Empörung, des Zornes, des Geistes und „des Kindes in uns“ Neues, bisher Unbekanntes und bis anhin Verdrängtes wachrufen und entdecken. Vieles, vielleicht alles in Frage zu stellen bei sich und in sich, vor allem die bis anhin gegoltenen Grenzen, Ge-setze, Überzeugungen, Moralbegriffe und Meinungen: zu all diesen Inhalten gilt es, Abstand in sich herzustel-len, um dadurch eine unmittelbar erleb- und gestaltbare Zuwendung zu sich zu ermöglichen. Durch diese unbeugsame, äussert genaue Beobachtung und Disziplinierung finden wir unsere ganz individuell gültige Sprache, unser Vertrauen in das, was uns führt, uns an uns erinnert und uns findet. Es ist oft ein radika-ler Weg, so radikal, wie nur die Liebe sein kann. So entsteht Heimat in unmittelbarster Nähe in uns und zu uns. Dazu braucht es den Mut zur Einfachheit, Demut, oft auch Unnachgiebigkeit, ein Regime und einen Stil der Be-scheidenheit und viel Wärme für alles Verletzliche, Beschädigte, Verlassene, Entwertete, Einsame und Leiden-de in uns. Es braucht keine Bekämpfung, keine von aussen erfolgte Korrektur oder „Besserwisserei“, sondern Anerkennung und Betroffenheit. Darin liegt unser Anteil an der gemeinsamen Verantwortung für uns Menschen.

„Es ist nicht die Leistung, die zählt.“ (M. v. Galli) „Wenn man sich sieht, löst man sich in Liebe auf.“ (M. Meyerhans)

Wir ermöglichen jedem Patienten den Zugang zur Kunst-, Maltherapie und Musiktherapie. Ebenso zu Feldenk-rais, TTouch und SE. Im Psychologischen Dienst des SPZ arbeiten zwei Personen mit Psychotherapieausbildung in Systemischer Psychotherapie und vor dem Ende der Ausbildung in Klinischer Hypnose. Zwei Psychologinnen sind „Wissende und Erfahrene“ als Betroffene im Rollstuhl. Ein Psychologe hat an der Universität Verhaltenstherapie studiert und wird 2014 seine Ausbildung in systemischer Psychotherapie abschliessen. Eine Psychologin beendet die-ses Jahr die Ausbildung zur Kinder-, Jugend- und Familientherapeutin. Der Leiter der Abteilung arbeitet seit über 35 Jahren in eigener Praxis sowie in verschiedenen Institutionen mit Menschen, die in ganz unterschiedli-cher Art und Weise traumatisiert wurden. Die meisten erwähnten Methoden und Techniken sind in der Broschüre „Abteilung Psychologie“ beschrieben und können im Sekretariat Beratungsdienste bezogen werden. Pfad: Psychologie – Psychologischer Dienst – Markus Meyerhans – Vorträge – Wege zu den gefühlsmässigen und geistigen Dimensionen eines Menschen