Textsortenentwicklung und Textverstehen als...

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HARTMUT STÖCKL Textsortenentwicklung und Textverstehen als Metamorphosen – Am Beispiel der Werbung 1 Grundüberlegungen und Ziele Dieser Beitrag verfolgt eine vergleichsweise einfache Idee. Er prüft, ob sich der historische Wandel einer Textsorte, konkret Werbung, gewinnbringend mit dem Begriff der Metamorphose beschreiben lässt. Hier werde ich argumentieren, dass Textsortenentwicklung eher einer langsamen und durch viele Faktoren de- terministisch erklärbaren Evolution gleichkommt als einer auf wundersame und singuläre Weise erfolgenden Verwandlung. Wohl aber kennt die Werbege- schichte metamorphotische Phasen, in denen sich die Architektur der Texte auf vielen konstitutiven Ebenen rasant und unvorhersehbar verändert. Aus der Ge- genüberstellung evolutionärer und metamorphischer Prozesse und dem Nach- denken über ihr Wechselspiel innerhalb der Textsortenentwicklung erhoffe ich mir eine genauere Modellierung des Werbewandels. In einem zweiten Schritt möchte ich zeigen, dass der tief greifende Wandel der Textsorte Werbung in den letzten 150 Jahren zwingende Rückwirkungen auf die Art des Verstehens von Werbetexten haben muss. Scheint für die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Textverstehensmodell angemessen, das von einem einfa- chen zeichengeleiteten Dekodieren und einem Transport von Bedeutungen aus- geht, so verlangt der moderne Werbetext des beginnenden 21. Jahrhunderts nach einer anderen Konzeptualisierung von Verstehen. Hier müssen die aktive Sinn- generierung anhand weniger Zeichen und vielfältige Transfer- und Umkodie- rungsprozesse in einem breiten und prinzipiell offenen kontextuellen Rahmen zentral gesetzt werden. Wahrnehmung und Interpretation von Werbetexten kommen heute also metamorphischen Prozessen gleich: ein minimales Zeichen- angebot verwandelt sich auf wundersame und kaum vorhersehbare Weise in komplexen und offenen Sinn. Ein wesentlicher Faktor – aber nicht der einzige – bei der Veränderung unserer Perzeptions- und Kognitionsmechanismen im Um- gang mit Werbung ist das Zurückdrängen der sprachlichen Textanteile zu- gunsten bildlicher und paraverbaler Zeichenmengen. Dies muss naturgemäß mit einem veränderten relativen Status des Verbalen und neuen Funktionsteilungen zwischen Sprache und Bild einhergehen. Die Frage, welche Rolle die mengen- mäßig zurückgedrängte Sprache im modernen Werbekommunikat spielt, möchte ich abschließend behandeln.

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HARTMUT STÖCKL Textsortenentwicklung und Textverstehen als Metamorphosen – Am Beispiel der Werbung 1 Grundüberlegungen und Ziele Dieser Beitrag verfolgt eine vergleichsweise einfache Idee. Er prüft, ob sich der historische Wandel einer Textsorte, konkret Werbung, gewinnbringend mit dem Begriff der Metamorphose beschreiben lässt. Hier werde ich argumentieren, dass Textsortenentwicklung eher einer langsamen und durch viele Faktoren de-terministisch erklärbaren Evolution gleichkommt als einer auf wundersame und singuläre Weise erfolgenden Verwandlung. Wohl aber kennt die Werbege-schichte metamorphotische Phasen, in denen sich die Architektur der Texte auf vielen konstitutiven Ebenen rasant und unvorhersehbar verändert. Aus der Ge-genüberstellung evolutionärer und metamorphischer Prozesse und dem Nach-denken über ihr Wechselspiel innerhalb der Textsortenentwicklung erhoffe ich mir eine genauere Modellierung des Werbewandels.

In einem zweiten Schritt möchte ich zeigen, dass der tief greifende Wandel der Textsorte Werbung in den letzten 150 Jahren zwingende Rückwirkungen auf die Art des Verstehens von Werbetexten haben muss. Scheint für die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Textverstehensmodell angemessen, das von einem einfa-chen zeichengeleiteten Dekodieren und einem Transport von Bedeutungen aus-geht, so verlangt der moderne Werbetext des beginnenden 21. Jahrhunderts nach einer anderen Konzeptualisierung von Verstehen. Hier müssen die aktive Sinn-generierung anhand weniger Zeichen und vielfältige Transfer- und Umkodie-rungsprozesse in einem breiten und prinzipiell offenen kontextuellen Rahmen zentral gesetzt werden. Wahrnehmung und Interpretation von Werbetexten kommen heute also metamorphischen Prozessen gleich: ein minimales Zeichen-angebot verwandelt sich auf wundersame und kaum vorhersehbare Weise in komplexen und offenen Sinn. Ein wesentlicher Faktor – aber nicht der einzige – bei der Veränderung unserer Perzeptions- und Kognitionsmechanismen im Um-gang mit Werbung ist das Zurückdrängen der sprachlichen Textanteile zu-gunsten bildlicher und paraverbaler Zeichenmengen. Dies muss naturgemäß mit einem veränderten relativen Status des Verbalen und neuen Funktionsteilungen zwischen Sprache und Bild einhergehen. Die Frage, welche Rolle die mengen-mäßig zurückgedrängte Sprache im modernen Werbekommunikat spielt, möchte ich abschließend behandeln.

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2 Diachrone Werbeforschung – Methodologische Fragen Die historische Beforschung der Textsorte Werbung wirft eine Reihe von Fragen auf und bedarf einiger methodischer Entscheidungen. Zunächst zeigt die vorlie-gende Forschungsliteratur zumindest drei größere, zumeist unabhängig vonein-ander verlaufende Strömungen, die meines Erachtens zwingend zu integrieren sind. 1. Sprachlich-stilistisch: Werbetexte werden zum einen verwendet, um den

Sprachwandel auf verschiedenen Ebenen zu illustrieren – hier spiegelt Wer-bung ein sich veränderndes Sprachsystem. Wichtiger allerdings ist es, den sich wandelnden werblichen Funktionalstil zu dokumentieren, und zwar auf möglichst vielen Textbeschreibungsebenen.1 Diese linguistische Arbeit wird durch die überbordende Fülle der Texte und deren stilistische Vielfalt sowie die Uneinheitlichkeit der Methodik erschwert.

2. Inhaltlich-kulturell: Werbung wird oft als Spiegel sozialer Zustände, Wert-

vorstellungen, kultureller Moden sowie populärer Themen und Gestal-tungsmittel gesehen. Hier liegt ein gewisser Schwerpunkt der Literatur zum Werbewandel,2 spiegelt diese Sicht doch auch ein populäreres, dem Laien zu-gänglicheres Interesse an Werbung als dies die Sprachwissenschaft ver-spricht. Die kultur- und soziographische Sichtweise auf Werbung entspricht einerseits der Praxis der Werbeagenturen, die vorwiegend Motive, Ideen und psychosoziale Anknüpfungspunkte für Kampagnen reflektieren, weniger ge-stalterische Mittel und kaum sprachliche Techniken.3 Andererseits liegt sie auch dem inzwischen populär und künstlerisch salonfähig gewordenen Sam-meln von Werbung zugrunde.4

3. Medial-technisch: Werbung erobert schnell alle gängigen Medien der jeweili-gen Zeit und ihre Geschichte kann prinzipiell als mediale Diversifikation ver-standen werden. Das bedeutet, dass sich zu dem übergreifenden Funktional-

1 Stellvertretend für diese Bemühungen stehen z.B.: Manfred Görlach, Text Types and the

History of English (Berlin: de Gruyter, 2004), S. 141-62; Sabine Gieszinger, The History of Advertising Language: The Advertisements in The Times from 1788 to 1996 (Frankfurt a. M.: Lang, 2001); Sylvia Bendel, Werbeanzeigen von 1622-1798: Entstehung und Ent-wicklung einer Textsorte (Tübingen: Niemeyer, 1998).

2 Siehe z.B.: Stephane Pincas und Marc Loiseau, Eine Geschichte der Werbung (Köln: Taschen, 2008); Bryan Holme, Advertising: Reflections of a Century (London: Heine-mann, 1982); T.R. Nevett, Advertising in Britain: A History (London: Heinemann, 1982) und Julian Sivulka, Soap, Sex and Cigarettes: A Cultural History of American Advertising (Belmont: Wadsworth, 1997).

3 Pincas und Loiseau, S. 17-23. 4 Jeremy Myerson und Graham Vickers, Rewind: Forty Years of Design and Advertising

(London: Phaidon, 2002).

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stil Werbung jeweils mediale Substile bzw. mediale Textmuster herausbilden – diese erschweren die Erforschung des Wandels. Bietet eine Beschränkung auf ein Medium (z.B. Zeitung5) diesbezüglich auch Vorteile, so scheint mir dennoch eine medienintegrative Sichtweise auf Werbewandel zwingend, weil "Phasen medialer Wechsel von besonderem Interesse für die historische Textsortenlinguistik sind".6 Dies ist zweifach zu reklamieren: erstens liegt der Wandel gerade in der Entwicklung spezieller textueller Techniken für be-stimmte Medien; zweitens wirken heute verschiedene mediale Typen in komplexen Kampagnen zusammen, so dass systematische Wechselwirkun-gen der Stile zu erwarten sind. Beide Phänomene sollten nicht ausgeblendet werden.

In historiographischer Arbeit stellt sich zwangsläufig die Frage nach der zu un-tersuchenden Periode. Darauf, dass Werbung ein Jahrtausende altes Phänomen ist, verweist Buchli,7 jedoch setzen die meisten textbasierten Forschungsarbeiten erst in vergleichsweise junger Zeit ein, weil der eigentliche Werbetext erst im 17. Jahrhundert aus seinem Vorläufer, der Visitenkarte (trade card) entsteht.8 Kritisch betrachtet jedoch scheint vor allem die Entstehung der ersten voll-wertigen Werbeagenturen die wesentlichste Zäsur zu sein. Auch hier gehen die Angaben auseinander: Nevett9 gibt 1786 an, wir erfahren dort aber auch, dass es noch 1866 nur 6 Agenturen in London gab10 – d.h. die Etablierung schreitet langsam voran und viele frühe Agenturen sind Verkäufer von Werbeflächen, je-doch keine Strategen, Texter und Designer.11 Pincas/Loiseau12 datieren den Be-ginn der professionellen Werbung auf 1842; in diesem Jahr wird in Amerika die erste Vorläuferagentur der heute weltweit operierenden Publicis Gruppe gegrün-det, zu der solche namhaften Agenturnetzwerke wie DMB&B oder Saatchi & Saatchi gehören. Es scheint also sicher, davon auszugehen, dass erst die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wirkliche Professionalisierung der Werbung bringt. Damit beginnt sich Werbung als Massenphänomen durchzusetzen und der Kampf um das knapper werdende Gut Aufmerksamkeit ist eröffnet. Profes- 5 Siehe Gieszinger. 6 Eva-Martha Eckkrammer, Medizin für den Laien vom Pesttraktat zum digitalen Ratgeber-

text: Ausgliederung, Pragmatik, Struktur-, Sprach- und Bildwandel fachexterner Text-sorten unter Berücksichtigung des Medienwechsels (Salzburg: Habilschrift, 2005), S. 40.

7 Hanns Buchli, 6000 Jahre Werbung: Geschichte der Wirtschaftswerbung und der Propa-ganda (Bd. 1-3, Berlin: de Gruyter, 1962-66).

8 Görlach nimmt 1625 bzw. 1650 als Beginn an, Gieszinger arbeitet mit Material ab 1788 und Bendel setzt 1622 ein.

9 Nevett, S. 63. 10 Ibid., S. 101. 11 Zur Entwicklung moderner Werbeagenturen in England siehe auch Diana Hindley und

Geoffrey Hindley, Advertising in Victorian England: 1837-1901 (London: Wayland, 1972), S. 27-41.

12 Pincas und Loiseau, S. 17.

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sionelle, nach 1842 entstehende Werbung zeichnet sich im Vergleich zu ihren Vorläufern u.a. durch die folgenden Merkmale aus: Die Textproduzenten sind keine Laien, sondern auf die Konzeptionalisierung von Werbung spezialisiert. Sie halten Kontakt zu den Herstellern und erheben von außen relevante Daten zum Produkt und zu dessen Stellung am Markt, die eine strategische Sicht auf das Texten ermöglichen. Beständig sind die Werber nun auf der Suche, ihre ei-gene Praxis zu erneuern und effektiver zu machen.

Neben der Zeit, die ich also in etwa auf 1842-2009 eingegrenzt habe, stellt sich die Frage nach dem zu untersuchenden Material, die bei dem immensen Output der Werbebranche brisant ist. Jede Auswahl – und sei sie auch noch so systematisch – wird bestimmte Phänomene und Entwicklungstendenzen aus-blenden, so dass man ein repräsentatives Korpus wohl kaum erwarten kann. Meines Erachtens ist vor allem eine gewisse Breite und Ausgewogenheit der beworbenen Produkte, Branchen und Marken sinnvoll, weil dann die Möglich-keit besteht, textstilistische Entwicklungen bei Konstanz der Produktkategorie nachzuzeichnen. Anthologien und Jahrbücher bieten hier – bei aller Problematik – gute Quellen, da sie zumeist eine zeitlich ausgewogene Auswahl verfügbar machen, die zudem besonders markante und Geschichte machende Beispiele hervorhebt. Außerdem erfahren wir viel Wissenswertes über die näheren Um-stände der Textentstehung, die Motive der Produzenten sowie die größere sozio-kulturelle Situation der jeweiligen Zeit. Meine Beobachtungen stützen sich vor allem auf Pincas/Loiseau,13 Myerson/Vickers,14 Berger15 und Wiedemann.16 Vor allem für die frühe Phase (1840-1870 und davor), für die weniger Texte vorlie-gen, habe ich die Korpora in Gieszinger17 und Görlach18 herangezogen aber auch Hindley/Hindley.19 Generell geht es mir in diesem Beitrag darum, wichtige Eck-punkte einer größeren Entwicklungslinie in der Werbung der letzten 160 Jahre zu skizzieren und dabei das Verhältnis von Metamorphosen und Evolution zu bedenken.

Für die textanalytische Methodik gilt sicherlich: Je mehr Ebenen und Aspekte Berücksichtigung finden, umso detaillierter und tiefgründiger fallen die Ergeb-nisse aus. Da der Wandel der Textsorte so umfassend wie möglich beschrieben werden soll, kommen überspezifische Untersuchungen nicht in Frage. Statt-dessen sollen die Veränderungen an prototypischen Beispielen möglichst facet-tenreich und der Komplexität der Texte angemessen charakterisiert werden. Görlach und Gieszinger haben ähnliche methodische Vorstellungen und schla- 13 Stephane Pincas und Marc Loiseau, Eine Geschichte der Werbung. 14 Jeremy Myerson und Graham Vickers, Rewind: Forty Years of Design and Advertising. 15 Warren Berger, Advertising Today (London: Phaidon, 2001). 16 Julius Wiedemann, Advertising Now: Print (Köln: Taschen, 2006). 17 Sabine Gieszinger, The History of Advertising Language: The Advertisements in The

Times from 1788 to 1996. 18 Manfred Görlach, Text Types and the History of English. 19 Diana Hindley und Geoffrey Hindley, Advertising in Victorian England: 1837-1901.

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gen als Beurteilungskriterien und Untersuchungsebenen die folgenden vor, die ich ergänzt und modifiziert habe: 1. Layout, Textform, Textlänge, Typographie 2. Textgliederung, funktionale Teile, Makrostrukturen 3. Themen, Motive, Argumente, Werbestrategie/-technik 4. Lexik und Morphologie 5. Syntax, Kohäsion/Kohärenz 6. Stil, rhetorische Mittel (insbesondere Sprachspiele, Ambiguität) 7. Sprache-Bild-Bezüge 8. Kontext und Situation Unschwer ist zu erkennen, dass man die verschiedenen Aspekte in größere Di-mensionen ordnen könnte: etwa nach Semantik, Syntax und Pragmatik oder nach Form, Inhalt, Funktion. Genauso gut könnte man situationale von seman-tisch-funktionalen und strukturellen Gesichtspunkten scheiden. Mir scheint eine etwas feinere Unterscheidung jedoch sinnvoller. Ich schlage daher vor, die text-analytischen Beobachtungen nach den folgenden Punkten zu sortieren: äußere Textform, thematische und Sprachhandlungsstruktur, sprachlich-stilistische Ge-staltung, Situation/Kontext. In Anbetracht der extremen Wandelbarkeit der Textsorte Werbung ist die gängige Annahme hervorzuheben, dass es "conven-tional ways of expressing meaning [...] purposeful, goal-directed language ac-tivities, which form patterns of meaning in the social world"20 tatsächlich gibt und wir sie mit dem Terminus Texttyp, Textsorte oder Genre bezeichnen.21 De-ren Wandel will ich so nachzeichnen, dass sowohl die Radikalität und Vehe-menz der Umbrüche über einen größeren Evolutionszeitraum als auch die Kon-tinuitäten des Werbetextens ersichtlich werden.

3 Evolution Es ist weit verbreitet, die Entwicklung der Textsorte Werbung in größere Phasen zu unterteilen.22 Damit verbindet sich zum einen die Vorstellung, soziokulturelle Faktoren seien Auslöser für spürbaren und signifikanten Wandel. Zum anderen suggeriert diese Verfahrensweise eine gewisse Homogenität der einer Periode 20 Michael Stubbs, Text and Corpus Analysis: Computer-Assisted Studies of Language and

Culture (Oxford: Blackwell, 1996), S. 11. 21 Zu einer Theorie der Textsorte bzw. des Textgenres innerhalb der anglistischen Linguistik

siehe auch John M. Swales, Genre Analysis: English in Academic and Research Settings (Cambridge: CUP, 1999), S. 38-76.

22 Die Periodisierungen bei Greg Myers, Words in Ads (London: Arnold, 1994), S. 12-29, Görlach, S. 144-7 und Gieszinger, S. 19 fallen verschieden aus, da sie an unterschiedli-chen soziokulturellen Faktoren und Zäsuren orientiert sind.

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zugehörigen Werbetexte. Beide Annahmen sind nicht ganz korrekt. Punktuelle metamorphotische Wandel der Textsorte können zu jeder Zeit eintreten, so dass es innerhalb einer fixierten Periode eine Vielzahl von markanten Veränderungen geben kann. Neben äußeren Faktoren bleibt vor allem der kreative Drang und professionelle Druck zu neuen Formen des Werbens eine beständige interne Kraft des Wandels. Ich will daher hier auf unorthodoxe Weise anders verfahren, um die große evolutionäre Veränderung des Werbens als Textmuster beschrei-ben zu können. Für zwei Produktkategorien (Pharmaka, Automobile) greife ich jeweils ein Textexemplar der Anfangsphase professioneller Werbung (1880) und eines der jüngeren Werbephase (2000-2005) heraus. Durch einen Vergleich die-ser beiden Extrempunkte lässt sich die lange Entwicklungslinie des Genres auf unterschiedlichen Beschreibungsebenen erfassen. Dieser Methodik liegt die An-nahme zugrunde, dass es Textexemplare gibt, die stellvertretend für die zu einer Zeit prototypische Art zu werben stehen können. Behauptet wird dadurch nicht, dass zu dieser Zeit keine andere Art von Werbung möglich gewesen wäre, son-dern lediglich, dass die gewählten Texte die wichtigsten Züge des Prototyps klar exemplifizieren. Im Folgenden versuche ich, soweit zulässig und möglich, von den beobachteten Texteigenschaften zu verallgemeinern. Meine Behauptungen werde ich, soweit es geht, anhand der gewählten Texte illustrieren.

Abb. 1: Beecham's Pills, England 1880, Hindley/Hindley 1972, Illustration 5.7.

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3.1 Äußere Textform In einer längeren Etablierungsphase der Textsorte Werbung verfügen die Anzei-gen zunächst über kein eigenes graphisches Design.23 Sie ähneln den kurzen Nachrichtentexten und offiziellen Verlautbarungen, zwischen denen sie im Me-dium Zeitung untergebracht sind und entsprechen formlosen, typographisch neutralen und ungegliederten Fließtexten. In dem Maße, wie sich die Werbung dann als eigene Textsorte findet und konsolidiert, emanzipiert sie sich in Typo-graphie und Layout von ihrer medialen Umgebung. Die Geschichte der Wer-bung ist spätestens seit dem beginnenden 19. Jahrhundert eine rasante Diversifi-zierung ihrer äußeren graphischen Form. Gieszinger bezeichnet die typographi-sche Markierung der sich konventionalisierenden funktionalen Textteile (d.h. headline, body copy, signature line, slogan, standing details) als "secondary text type marking". In der Arzneimittelanzeige von 1880 (s. Abb. 1) kann man gut sehen, dass die Textüberschrift ("Beecham's Pills"), die standing details – hier Informationen zu Erhältlichkeit und Packungsgröße – ("sold by all medicine vendors"; "in boxes 13½ & 2/9 each") wie auch die Bildunterschriften ("in the palace", "in the cottage", "at sea", "in the study") durch von der body copy ab-weichende Schrifttypen, -schnitte und -größen hervorgehoben werden. Der Fließtext selbst erscheint relativ ungegliedert und typographisch neutral. In ähn-licher Weise setzt die Automobilanzeige von 1903 (s. Abb. 2) die Überschrift durch Kursivdruck und Kapitälchen im Markennamen vom Fließtext ab. Die signature line ("Cadillac Automobile Co.") sowie die standing details ("We'll be glad to send you Booklet H for the asking [...]") werden schrifttechnisch kaum hervorgehoben, das Layout verhilft ihnen aber zu einer graphischen Blockbil-dung. Schaut man dagegen auf die korrespondierenden, modernen Werbetexte (s. Abb. 3 und 4), so fällt zunächst die Bildlastigkeit der Anzeigen auf. Die we-nigen sprachlichen Aussagen werden entweder sauber vom Bild geschieden oder aber als Beschriftung in das Bild integriert. Im Vordergrund der Wahrnehmung steht nicht der Text, sondern eine große Bildfläche mit wenigen strategisch ge-wählten und visuell gestalteten Elementen. Insgesamt scheint die große Ent-wicklungslinie bezogen auf die äußere Textform von einem Zustand relativer graphischer Unordnung und überbordender Fülle zu einem Zustand relativer Ordnung und einer Sparsamkeit der Zeichen zu führen. Freilich verläuft diese Evolution über viele Zwischenschritte und kennt eine große Variationsbreite zu jedem gegebenen Zeitpunkt. Verallgemeinern aber lässt sich, dass die typo- und textgraphische Gestaltung den professionellen Werbetext als solchen überhaupt erst entstehen lässt, ihm dann in der Folge ein erkennbares und mehr oder we-niger normatives Gesicht verleiht, um dann für Vielfalt und Abwechslung in der Wahrnehmung zu sorgen und sich in der Neuzeit – gefördert durch die enormen

23 Görlach, S. 145 spricht von "total absence of graphic designs which makes the texts indis-

tinguishable from other text types […]".

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technischen Möglichkeiten – als eigenständige semiotische Zeichenressource zu emanzipieren und vor allem durch das Spiel mit Formen, Materialien und Kon-ventionen ihren Bedeutungsanteil am Gesamttext zu vergrößern.24

Abb. 2: Cadillac, N.W. Ayer & Son, USA 1903, Pincas/Loiseau 2008, S. 42.

Maßgeblich für die äußere Form eines Werbetexts ist auch die Art der ver-wendeten Bilder. Hier fällt in der extremen Gegenüberstellung von 1880/1903 und 2005 auf, dass nicht nur der Anteil der Bilder an der Textfläche gestiegen ist. Das moderne, digital manipulierte Foto mit seinem Hyperrealismus hat auch eine größere kommunikative Gewalt als die Zeichnung in schwarz/weiß. Je fle-xibler das Bild in pragmasemantischer und formal-stilistischer Hinsicht wird, desto eher kann es in Konkurrenz zur Sprache treten. Die Teilung der kommuni-kativen Aufgaben zwischen Bild und Sprache ist zudem aber auch eine Frage der konkreten Kommunikationsziele der Werber, von Moden, intendierter Vari-

24 Zu einer Theoretisierung der Typographie als Zeichenressource und ihrer Anwendung in

der Werbung siehe Hartmut Stöckl, "Werbetypographie: Formen und Funktionen", in Syl-via Bendel und Gudrun Held (Hg.), Werbung – grenzenlos: Interkultureller Blick auf mul-timodale Gestaltungsstrategien aktueller Werbetexte (Frankfurt a. M.: Lang, 2008), S. 13-36.

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ation und inszenierten Normbrüchen. Für die Evolution der äußeren Textform scheint mir die Annahme zumindest der folgenden großen Phasen plausibel: 1. Werbeanzeigen bestehen nur aus sprachlichem Text, der typographisch gar

nicht oder nur minimal markiert ist. 2. Zur Sprache treten Bilder hinzu – der sprachliche Text gewinnt graphische

Konturen dadurch, dass Textblöcke (funktionale Teile) durch Schriftstil und Layout markiert werden. Der semantisch-pragmatische Bezug zwischen Sprache und Bild ist meist redundant, nicht vordergründig und leicht zu er-schließen. Der Gebrauch der Bilder ist symbolisch oder von der Präsenta-tion/Demonstration des Produkts motiviert.

3. Die Werbung experimentiert mit den Layoutmöglichkeiten und etabliert ver-

schiedene graphische Muster des Textsatzes und der formalen Integration der Bilder ins Gesamtformat.

4. Bildmotive diversifizieren sich, scheinbar themenfremde Bilder erlangen Po-

pularität, die Bezugsmöglichkeiten zwischen Sprache und Bild werden raffi-nierter und vordergründiger.

5. Der Anteil der Sprache geht zurück. Die Bilder drängen die Textblöcke an

den Rand oder integrieren sie in Form von natürlich wirkenden Schriftzügen auf Bildelementen. Ein Zeichenminimalismus erfasst sowohl den sprachli-chen Text als auch das Bild im Sinne einer Fokussierung auf wenige, zentrale Aussagen. Dabei stehen Sprache und Bild immer mehr in einer komplemen-tären Beziehung zueinander, sie bedürfen einander mit Blick auf die entste-hende Gesamtbedeutung – sie folgen einer "transkriptiven Logik",25 d.h. erklären und kommentieren sich wechselseitig, und funktionieren nach dem Prinzip eines "Wort-Bild-Reißverschlusses".26

3.2 Thematische und Sprachhandlungs-Struktur Werbetexte sind mit Blick auf die in ihnen verhandelten Themen und getätigten Sprachhandlungen ein stark normatives Genre. Nachdem in der Anfangsphase der Werbung vor allem die ausführliche Beschreibung des beworbenen Produkts 25 Werner Holly, "Mit Worten sehen: Audiovisuelle Bedeutungskonstitution und Muster

'transkriptiver Logik' in der Fernsehberichterstattung", Deutsche Sprache 1:2 (2006), S. 135-50.

26 Werner Holly, "Der Wort-Bild-Reißverschluss: Über die performative Dynamik audiovi-sueller Transkriptivität", in Helmuth Feilke und Angelika Linke (Hg.), Oberfläche und Performanz (Tübingen: Niemeyer, 2009), S. 389-406.

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im Vordergrund steht, entwickeln sich mit der Konsolidierung der Textsorte die folgenden prototypischen Themen und Sprachhandlungsfunktionen:

1. Produkt nennen und (visuell) präsentieren 2. Produkteigenschaften beschreiben und Funktionsweise erklären 3. Produkt positiv bewerten 4. Produkt empfehlen und Zufriedenheit versprechen/garantieren 5. zum Kauf/Test des Produkts auffordern 6. über Produktdetails/Erhältlichkeit/Kontaktmöglichkeiten informieren Geht es im Zuge der Professionalisierung des Werbens zunächst um den ex-pliziten Vollzug all dieser Teilschritte, so streben die Werber später danach, die verschiedenen Sprachhandlungen möglichst variantenreich zu realisieren. Dabei kommt es immer mehr zu sprachlicher Indirektheit und zur Konzentration auf einige Themen/Sprachhandlungen unter Auslassung anderer. Die Geschichte der Werbung ist also unter dem Gesichtspunkt der thematischen und Sprachhand-lungsstruktur ein Wandel vom Expliziten zum Impliziten und eine Entwicklung hin zur Reduktion der Themen und Handlungen. Es scheint plausibel anzuneh-men, dass der massenhafte Kontakt der Rezipienten mit dem Genre rasch zu ei-ner Internalisierung des festen Musters führt. Dies entlastet die Textproduzenten von der Notwendigkeit, jede einzelne Teilhandlung ausführen zu müssen. In zu-nehmendem Maße können sie darauf vertrauen, dass auch vergleichsweise mi-nimalistische Zeichenangebote im Sinne des als Genrewissen verinnerlichten Textmusters gelesen werden. Dieser Wandel lässt sich wiederum gut an den ge-wählten Textbeispielen illustrieren.

Die Arzneimittelanzeige von 1880 (s. Abb. 1) verwendet in traditioneller Manier den größten Teil der Anzeige darauf, die Zweckbestimmung und den Nutzen des Produkts in explizitester Art und Weise darzustellen ("[...] for Nervous and Billous Disorders, such as wind and pain in the stomach, sick head-ache, giddiness, fulness and swelling after meals, dizziness and drowsiness [...]"; "for females of all ages [...]"; "[…] for removing any obstruction or irregularity of the system"; "for a weak stomach, impaired digestion, and all disorders of the liver [...]"). Hier mischt sich das nüchterne Beschreiben mit dem Versprechen ("[...] carry off all humours, and bring about all that is required"; "[...] strengthen the whole muscular system, restore the long-lost complexion, bring back the keen edge of appetite, [...] arouse [...] the whole physical energy of the human frame"). Das Produkt wird positiv bewertet, indem auf seinen bisherigen Erfolg verwiesen ("are admitted by thousands to be worth a Guinea a Box [...]"; "[...] will be acknowledged to be WORTH A GUINEA A BOX"), die breite Wirk-samkeit behauptet ("This is no fiction, for they have done it in thousands of cases"; "These are 'FACTS' admitted by thousands, embracing all classes of so-ciety [...]") und der große Absatz des Produkts in hyperbolischer Weise ange-führt wird ("[...] one of the best guarantees to the nervous and debilitated is that BEECHAM'S PILLS have the largest sale of any patent medicine in the world").

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Ebenso findet sich die Aufforderung zum Kauf/Test; einmal in direkter und ex-pliziter Weise ("Every sufferer is earnestly invited to try one box of these pills [...]"), ein anderes Mal indirekt über nachdrückliches Empfehlen bzw. Warnen ("No female should be without them"). Komplettiert wird die Struktur durch das Informieren über Erhältlichkeit ("prepared only, and sold wholesale and retail by the proprietor [...]"; "sent post-free from [...]"; "sold by all druggists [...]") und Verweise auf weiterführende Texte ("N.B. – Full directions are given with each box").

Abb. 3: Pfizer Viagra, TAXI Canada, Kanada 2005, Wiedemann 2006, S. 191.

Vergleichen wir diese Anzeige mit dem modernen Pendant aus 2005 (s. Abb. 3), so fallen zunächst der Slogan ("Talk to your doctor") und der Produktname (Vi-agra) als explizite sprachliche Handlungen des Aufforderns und des Nennens /Präsentierens auf. Das Produkt selbst wird nicht näher beschrieben oder explizit

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bewertet. Aus den Bildzeichen (Hemd in Plastikhülle, angehefteter Reini-gungsauftrag) und dem minimalen sprachlichen Text ("sunny dry cleaning", "Wayne", "remove grass stains") lässt sich aber – wohl gemerkt nur bei Kennt-nis des Medikaments und seiner vermeintlichen Wirkung – ein narratives Szena-rio konstruieren, auf dessen Hintergrund eine positive Produktbewertung mög-lich wird. Eine ähnliche Entwicklung – vom expliziten und vollständigen Vollzug aller Teilhandlungen und -themen hin zu einer minimalistischen und impliziten Umsetzung einer oder weniger – verdeutlichen auch die beiden Au-tomobilanzeigen. Die Cadillac-Werbung (s. Abb. 2) nennt und präsentiert das Produkt ("Cadillac Model B Touring Car"), beschreibt es ("for business or pleasure, for quick and pleasant transit [...]"; "[...] strongly constructed, [...] speedy [...]"; "[...] safely, smoothly and comfortably [...]"; "[...] larger wheels, longer wheel-base, more roomy body"; "[...] Goodrich 3-inch detachable tires"), bewertet es positiv ("No reliable automobile is so easy to buy, to operate, or to maintain, as a Cadillac"; "No automobile at double the money is so [...]"; "[...] superiority in design, construction and performance [...]") und fordert indirekt zum Test/Kauf auf ("Full appreciation of Cadillac [...] is possible only by per-sonal inspection and trial"). Hinzu kommen noch Informationen zu Preisen so-wie ein Verweis auf eine Broschüre, die wohl ein Vorläufer des modernen Pro-duktkatalogs ist. Hält man wiederum die moderne Anzeige aus 2004 (s. Abb. 4) dagegen, so sieht man, dass sich der Text hier auf eine Teilhandlung beschränkt; er beschreibt das Produkt äußerst knapp ("small but tough") und setzt das narra-tive Bild als visuellen Beweis ein.

Abb. 4: Volkswagen Polo, DDB London, UK 2005, Wiedemann 2006, S. 583.

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Zusammenfassend lassen sich mit Blick auf die Evolution der Textstruktur zu-mindest vier wichtige Entwicklungstrends verallgemeinern.

1. Zahl und Explizitheit der getätigten Sprachhandlungen und abgehandelten

Textthemen nehmen ab. Mit einem Minimum an Zeichen wird eine kompak-te und fokussierte Werbebotschaft konstruiert, die der Rezipient selbsttätig und mit einem gewissen Maß an semiotischer Eigentätigkeit erschließen muss.

2. Die Entwicklung verläuft von einem Zustand der Informationshäufung und

einer präzisen Beschreibung und Erläuterung des Produkts hin zu einer In-formationsverknappung. Wurden früher mehrere Aussagen logisch miteinan-der zu einer komplexeren Argumentation verknüpft, so steht heute eine zentrale Aussage, die in entscheidendem Maße bildlich getragen wird und maximal prägnant wie persuasiv sein muss.

3. Die Evolutionslinie verläuft von vorwiegend beschreibenden, explikativen

und bewertenden Textstrukturen hin zu solchen, die auf einen einfachen Merkmalstransfer aus einem werbefremden Bereich auf das beworbene Pro-dukt27 hinauslaufen und zudem eher narrativ konstituiert sind.

4. Die Einstellung der Textproduzenten zur sprachlichen Handlung des Wer-

bens wandelt sich von ernst, objektiv/nüchtern oder auch hyperbolisch an-preisend hin zu distanziert, ironisch-relativierend und semiotisch-spielerisch. Der soziokulturelle Kontext der Werbung, d.h. das Informationsüberfluss-Dilemma und der daraus folgende Mangel an Aufmerksamkeit sowie schwindende Produktdifferenzierung und steigende Werbeablehnung gebie-ten eine Stilisierung der Werbekommunikation zum ästhetisierten Erlebnis.

3.3 Sprachlich-stilistische Gestaltung An dem Beispiel der Cadillac-Anzeige lässt sich ablesen, dass der werbliche Stil – abgesehen von jeweils modebedingten Schlüsselwörtern – pauschal betrachtet vermutlich recht konstant geblieben sein dürfte. Wir kennen auch moderne Au-tomobilanzeigen, die Produkteigenschaften beschreiben und erläutern und dabei zu allerlei rhetorischen Figuren greifen, wie z.B. Parallelismus oder Vergleich. Auch ist in Rechnung zu stellen, dass in Abhängigkeit von der Art des Produkts,

27 Guy Cook, The Discourse of Advertising (London: Routledge, 2001), S. 108ff. nennt eine

solche Merkmalsübertragung, die Winfried Nöth, Dynamik semiotischer Systeme: Vom altenglischen Zauberspruch zum illustrierten Werbetext (Stuttgart: Metzler, 1977) detail-liert semiotisch untersucht hat, "fusion".

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dem sozialen Status der jeweils adressierten Zielgruppe und dem Image der Firma/Marke unterschiedliche Stile und Formulierungstechniken zum Einsatz kommen. Eine starke stilistische Flexibilität des werblichen Textens ist ohnehin zu konstatieren, ist doch das gezielte Abweichen von einer als Norm etablierten Konvention, der bewusste Bruch mit Mustern und die neuartige Kombination von bekannten Mitteln und Methoden das gestalterische Grundprinzip der Wer-bung. Diese Flexibilität hat meines Erachtens zugenommen, wenn man bedenkt, dass die frühe Werbung recht stereotyp formuliert ist und sogar bestimmte stan-dardisierte Routinen und Floskeln entwickelt hatte. Bei aller grundlegenden Konstanz des Funktionalstils Werbung gibt es entlang der hier verfolgten großen Evolutionslinie jedoch auch markante Wandelprozesse, die ich im Folgenden kurz skizzieren möchte.

Auf der Hand liegt, dass die Wortgewaltigkeit und persuasive Argumentati-onsfreude der frühen Jahre einer kalkulierten Zeichenökonomie gewichen ist. Das schließt nicht die ein oder andere lange und sprachmächtige Anzeige in der Gegenwart aus, abnehmende Satzlängen und Textmengen sind aber ein unum-stößlicher Fakt. Damit einher gehen größere Bildmengen und -formate, eine Flexibilisierung der logisch-semantischen Bezüge zwischen Sprache und Bild sowie generell veränderte Wahrnehmungsgewohnheiten.

Obwohl es technisierende Werbetexte insbesondere für bestimmte Produkt-kategorien nach wie vor gibt, scheint man sich von Wissenschaftlichkeit und Technizität nicht mehr den Autoritätsgewinn zu versprechen, den man einmal erzielte. Vielmehr setzt man auch bei technischen Produkten eher auf Allge-meinverständlichkeit, einfache Argumente und eine Popularisierung der Marke mit ihren schwer objektivierbaren Werten. Viele der modernen Produktbehaup-tungen (claims) wirken geradezu banal und platt: Viagra wirkt und Autos sind sowohl gelände- als auch straßentauglich, stabil, beseelt/lebendig, leidenschaft-lich, schnell und schön – ohne dass große argumentative Anstrengungen unter-nommen werden. Es ist die Ästhetik des kommunikativen Erlebnisses, das Textdesign und dessen paraverbale Qualitäten, welche die Einfachheit der Ideen zuerst legitimieren und dann sublimieren. Im Vergleich dazu waren die Anzei-gen der Anfänge um elaborierte Argumentationen bemüht und suchten Autorität in der Anhäufung explizit beschriebener Produkteigenschaften.

Bemerkenswert an den ersten Werbetexten war ihre starke Kohäsivität, die einzelnen sprachlichen Äußerungen wurden formal miteinander verbunden und bezogen sich explizit aufeinander. Heutige Werbetexte sind hingegen durchweg relativ schwach kohäsiv, auch wenn es sich um long copy handelt. Bei einer starken logischen Sinnkontinuität der Texte empfindet man kohäsive Mittel wohl als semantisch überdeterminiert und zeichenökonomisch wenig sinnvoll. Syntaktisch betrachtet wandelt sich die Werbung von einer stark diskursiven,

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expliziten Syntax hin zu einer disjunktiven Grammatik.28 Das bedeutet, viele Satzstrukturen sind unvollständig und elliptische Satzfragmente werden unver-bunden aneinandergefügt. Von dieser gängigen Technik erhofft man sich eine perzeptionsfördernde und aufmerksamkeitserhöhende Wirkung, da die Informa-tion in kleine separate Blöcke gegliedert wird, die gut wahrgenommen und be-halten werden. Außerdem müssen logische Bezüge zwischen den einzelnen Phrasen vom Rezipienten selbst hergestellt werden, was seine Eigentätigkeit er-höht.

Historisch betrachtet sinkt auch der Grad der Förmlichkeit des Werbens. Sind die frühen Werbetexte noch rein schriftsprachlich, so mutet die prototypische moderne Werbung eher umgangssprachlich, gesprochen stilisiert an. Lombardo29 argumentiert, dass es vielfältige Parallelen zwischen gesprochener Sprache und Werbesprache gibt, weil sich die Werber von einer "imitation of orality"30 zahl-reiche Vorteile versprechen, so z.B. größere Authentizität, Unmittelbarkeit und Glaubwürdigkeit. Die wichtigsten Indikatoren gesprochener Umgangssprache sind: unvollständige Sätze, Mangel an Konjunktionen, Annahme geteilter Wis-sensbestände und daher Zeichenökonomie, Intimität der face-to-face-Kommuni-kation durch direkte Anrede (we, you, I), Wiederholung von Lexik und Satzstruktur, stärkere Abhängigkeit der Botschaft von außersprachlichem Kon-text, Nutzung paraverbaler Mittel (Typographie, Layout).

Abschließend lässt sich ein weiterer allgemeiner Trend des Wandels aus-machen, den man mit Simpson31 als eine Zunahme des tickle advertising und ei-ne Abnahme des reason advertising fassen könnte. Während reason ads ihre Botschaft offen, direkt und explizit auf der Basis logischer Zusammenhänge und Argumente formulieren, setzen tickle ads auf indirekte Aussagen, implizite Bot-schaften und appellieren an Emotion, Vorstellungskraft und geheime Be-dürfnisse und Wünsche. Ersterer Werbetyp bedarf geringerer Dekodierungs-anstrengungen und semiotischer Eigenleistungen als letzterer. Freilich ist die Wahl des Typs in gewisser Weise von der Produktkategorie abhängig und beide Strategien lassen sich auch kombinieren – ein verstärkter Einsatz indirekter und impliziter Botschaften scheint aber aus zumindest zwei Gründen evolutions-theoretisch sinnvoll. Erstens garantiert die widerständige, nicht auf den ersten Blick nach einer automatisierten Routine dekodierbare Werbebotschaft Auf-merksamkeit, verlängert die Betrachtungszeit und vertieft die kognitive Ausei-nandersetzung mit dem Kommunikat. Zweitens sind in einer Zeit austausch- und 28 Hartmut Stöckl, Werbung in Wort und Bild: Textstil und Semiotik englischsprachiger An-

zeigenwerbung (Frankfurt a. M.: Lang, 1997), S. 185-94. 29 Linda Lombardo, "Advertising as Motivated Discourse", in Linda Lombardo et al. (Hg.),

Massed Medias: Linguistic Tools for Interpreting Media Discourse (Mailand: LED, 1999), S. 105ff..

30 Ibid., S. 88. 31 Paul Simpson, "'Reason' and 'Tickle' as Pragmatic Constructs in the Discourse of Advertis-

ing", Journal of Pragmatics 33 (2001), S. 589-607.

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verwechselbarer Produktbehauptungen explizite Botschaften unprägnant und wenig spektakulär. Hingegen lenken verrätselte Aussagen, zusätzliches Wissen aktivierende und Inferenzen provozierende Äußerungen den Blick auf die Äs-thetik und das Design des Werbekommunikats und verbessern somit die Chan-cen der Akzeptanz und des Behaltens. 3.4 Situation/Kontext Im Folgenden soll kurz besprochen werden, wie sich die textexternen Faktoren und Rahmenbedingungen der Werbung gewandelt haben. Dabei sind es vor al-lem die Medien, der Markt und Textproduzenten wie -rezipienten, die Verände-rungen in der sozialen Praxis des Werbens herbeiführen.

Erwähnt wurde bereits, dass sich das werbliche Texten mit der Etablierung von Agenturen kontinuierlich professionalisiert hat. Zum einen bedeutet dies ei-ne zunehmend strategische Planung und Gestaltung der Kommunikation, die bald auch der systematischen Reflexion von Kommunikationswirkungen Be-achtung schenkt. Zum anderen setzt eine Arbeitsteilung ein (Text, Art, Kontakt), die spezielle Fertigkeiten fördert aber auch die agenturinterne Kommunikation intensiviert und durch vermehrte Kooperation zu effektiven und kreativen Lö-sungen führt. Für die Autorschaft des Werbetexts kann man also eine Entwick-lungslinie von laienhaft/singulär zu professionell/multipel annehmen.

War die Anzeigen-Werbung anfangs an den Zeitungsleser adressiert und da-mit auf relativ kleine Zielgruppen eingegrenzt, so entstehen durch die Expansion und Differenzierung der Medien größere Zielgruppen. Mit der Diversifizierung der Medienangebote und der Hybridität sozialer Gruppen und Lebensstile frag-mentarisieren diese allerdings spätestens seit den 80er Jahren immer stärker. In ihrer Allgegenwärtigkeit und Masse bedroht sich die Werbung selbst, da sie durch ein übergroßes Informationsangebot beständig die Aufmerksamkeit ver-knappt, um die sie kämpft. Der große Output der Werbebranche liegt wiederum im ständigen Wachstum des Marktes begründet: von einer Situation, in der sich Markenprodukte überhaupt erst etablieren, führt die Entwicklung hin zu einer wahren Inflation der Produkte und Marken. Für die Rezipienten dürfte sich der Status der Werbung ebenfalls verändert haben: Auch wenn Werbekritik schon früh einsetzt,32 ist sie in ihrer artikulierten und grundsätzlichen Art doch eher ein Phänomen der 60er bis 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Heute sieht man ver-stärkt auch das unterhaltende, popkulturelle, ja sogar künstlerische Element der

32 Görlach, S. 148f. nennt Addison (1710), Defoe (1722) und Johnson (1759) als frühe Wer-

bekritiker und zeigt, dass vor allem das Hyperbolische und Aufmerksamkeitsheischende aber auch die schiere Masse der Texte und ihre Vermischung mit journalistischen Inhalten Anlass zu Bedenken gaben.

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Werbung, das sich im Sammeln, Ausstellen und Prämieren von Werbekom- munikaten äußert.

Den weitaus stärksten Wandel erfährt die Werbekommunikation durch den Drang, neue technische Medien und öffentliche Orte zu erschließen, durch die und an denen man werben kann. Die Werber erweisen sich dabei von Beginn an als medientechnische Avantgarde. Schnell erkennen sie die Spezifika und Mög-lichkeiten neu verfügbarer Medien und finden adäquate Ausdrucksformen und Gestaltungstechniken, an denen sich andere, öffentlichkeitswirksame Genres gerne orientieren. Sieht man von den rein mündlichen Kommunikationsformen des Werbens einmal ab (z.B. Marktschreier, fliegende Händler), so verläuft die Entwicklungslinie hier vom schriftbasierten Printtext (Anzeigen, Plakate, Au-ßenwerbung) über den Audiotext (Radio)33 hin zum audiovisuellen Text (Fern-sehen/Kino)34 und findet ihren vorläufigen Abschluss in den vermeintlich inter-aktiven Werbeformen der Neuen Medien.35 Werbewandel ist also bezogen auf die Medien und Orte des Werbens ein Prozess der Diversifikation – von mono-medial zu multimedial. Damit einher geht die Potenzierung der verfügbaren Zei-chensysteme, von Sprache solo hin zu Kombinationen mit Bild und Ton (Musik/Geräusch).

Ein letztes wesentliches Wandelphänomen hängt sowohl mit der Professio-nalisierung des Werbens als auch mit der Diversifizierung der Medien zusam-men. Werbeanzeigen und Plakate waren in der Etablierungsphase der Werbung in der Regel isolierte Einzeltexte, die über einen längeren Zeitraum verwendet wurden. Heute planen Marken für ihre Produkte langfristig angelegte Kampag-nen, in denen mehrere Texte in einem Medium eine Serie bilden, innerhalb derer sich Sinn auch über die Grenzen der Einzeltexte entfaltet. Zudem sind die Kam-pagnen crossmedial angelegt, d.h. zeitgleich oder in bestimmten Sequenzen er-scheinen Texte in verschiedenen Medientypen. So bedienen Marken heute in der Regel simultan den Print-, Radio-, TV-, Kino-, Plakat- und Onlinewerbebereich und erzielen damit neben besseren Durchdringungswerten und nachhaltigeren Kommunikationseffekten vor allem auch bewusst kalkulierte intertextuelle Be-

33 Zu einer grundlegenden Beschreibung der Radiowerbung als multimodaler Text siehe

Hartmut Stöckl, "Hörfunkwerbung – 'Kino für das Ohr': Medienspezifika, Kodeverknüp-fungen und Textmuster einer vernachlässigten Werbeform", in Kersten Sven Roth und Jürgen Spitzmüller (Hg.), Textdesign und Textwirkung in der massenmedialen Kommuni-kation (Konstanz: UVK, 2007), S. 177-202.

34 Zu einer Gegenüberstellung und Analyse von TV- und Radiowerbung siehe Hartmut Stöckl, "Werbekommunikation: Linguistische Analyse und Textoptimierung", in Karlfried Knapp et al. (Hg.), Angewandte Linguistik: Ein Lehrbuch (Tübingen: Francke, 2004), S. 233-54, S. 249ff..

35 Siehe hierzu Nina Janich, "Wirtschaftswerbung offline und online: Eine Bestandsaufnah-me", in Caja Thimm (Hg.), Unternehmenskommunikation offline/online: Wandelprozesse interner und externer Unternehmenskommunikation (Bonner Beiträge zur Medienwissen-schaft 1, Frankfurt a. M.: Lang, 2002), S. 136-63.

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züge, die ein markeneigenes 'Sinnuniversum' schaffen und zu Indirektheit, Implizitheit sowie Zeichenökonomie beitragen. 4 Metamorphosen Eingangs hatte ich behauptet, dass die oben unter Abschnitt 3 erläuterten Ent-wicklungen der Textsorte Werbung nicht als Metamorphosen zu fassen sind, sondern eher als evolutionärer Wandel. Es stellt sich daher die Frage, wie man den Begriff der Metamorphose dazu in Beziehung setzt und was er bezeichnen kann. Ich möchte Metamorphosen hier als markante, d.h. leicht wahrnehmbare und mehr oder weniger radikale Gestaltveränderungen begreifen, die auf allen Ebenen des Werbetexts punktuell vonstattengehen können. Die wahrgenom-mene Form des Textes ändert sich bei einer Konstanz des beim Rezipienten in-ternalisierten Textmusters und der zugrunde liegenden Logik spürbar. Werbe-wandel kann somit als eine Abfolge einer Vielzahl von Metamorphosen betrachtet werden, die die Evolution der Textsorte in unterschiedlichem Maße prägen – einige beeinflussen das Genre und die Werbepraxis nachhaltiger als andere. Markante Metamorphosen werblicher Gestaltung wären z.B.: der Ein-satz von Bildern, die Adaptation werbefremder Texte (Gedichte, Lieder, Comic, Gebrauchsanweisung), der Gebrauch des Reims, die Stilisierung der Kommuni-kate als Kunstwerke, die Verwendung von symbolischen Werbefiguren, die Etablierung von Markenlogos, der Gebrauch ungegenständlicher, abstrakter Bildmotive, die Gestaltung bildlicher und die Materialität des Textes betonender Typographie, die absichtliche Vermischung von werblichem und journalisti-schem Inhalt (Entgrenzung der Werbung, Infomercial, Advertorial), der Einsatz provokanter und tabuisierter Bildmotive, das Vorkommen von no-copy ads und das Entstehen narrativer Werbetexte.

Es liegt auf der Hand, dass die einzelnen Metamorphosen schwer genau auf-zuzeichnen sind, laufen sie doch letztlich auf die Frage hinaus, wer welchen kühnen, hervorstechenden Gestaltungsschritt wann zum ersten Mal getan hat. Hinzu kommt dann, dass es eine kritische Masse von ähnlich gestalteten Texten geben muss, die der Metamorphose zu Prototypizität und Musterhaftigkeit ver-helfen und so in der Wahrnehmung der Kommunikationsgemeinschaft veran-kern. Das Grundprinzip der Entstehung werblicher Metamorphosen ist der Wunsch, aufzufallen, indem man ein zu einer bestimmten Zeit etabliertes und als Norm wahrgenommenes Muster bricht, abwandelt oder mischt.36 Gaede37 präsentiert eine beeindruckende Sammlung von Werbekommunikaten, die er

36 In der Stilistik bezeichnet man dies als Unikalisierung der Texte, vgl. Barbara Sandig, Sti-

listik der deutschen Sprache (Berlin: de Gruyter, 1986), S. 147ff.. 37 Werner Gaede, Abweichen... von der Norm: Enzyklopädie kreativer Werbung (München:

LangenMüllerHerbig, 2002).

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nach den jeweils korrumpierten Normen (bildlich, sprachlich, typographisch, ethisch, sozial etc.) und den neu entstehenden Mustern ordnet. Zu Beginn der Professionalisierung der Werbung scheint die Suche nach effektiveren, für wie-derkehrende Aufträge optimal geeigneten Text- und Gestaltungslösungen ein plausibles Motiv für Metamorphosen. Die Werber erweitern ihr Repertoire, in-dem sie Mittel finden, die der angestrebten Persuasion dienlich sind. Die Meta-morphosen sind also im Grunde davon getrieben, Aufmerksamkeit, Verständ-lichkeit, Akzeptanz, Behalten, Vorstellungskraft, Ablenkung/Verschleierung und ästhetische Attraktivität zu sichern und zu optimieren.38 Meine Beobachtun-gen an verschiedenen Werbeanthologien39 legen die Vermutung nahe, dass viele wichtige Metamorphosen schon früh, d.h. in den ersten 60 Jahren der sich pro-fessionalisierenden Agenturen erfolgen. Viele davon bleiben 'Eintagsfliegen' – erst später werden sie als Trend oder Muster etabliert.

Neben den im System des Werbens und der Motivation der Werber veran-kerten generelleren Gründen für Metamorphosen gibt es meines Erachtens auch spezifische Faktoren, die Metamorphosen begünstigen bzw. auslösen. Diese eignen sich zu einer groben Typisierung von Metamorphosen und sollen im Fol-genden kurz vorgestellt werden.

1. Neue Medien/Techniken: Starke metamorphische Veränderung erfährt der

Werbetext durch die Nutzbarmachung neuer Massenmedien und Medien-techniken. Der Radiospot und der TV-Spot sind so entstanden und wirken auf ältere Werbeformen zurück. So z.B. führt Radiowerbung zwangsläufig zu in-szenierten Dialogen, diese finden sich dann auch bald in der Werbeanzeige. TV-Spots entwickeln eine Reihe von Formaten; vor allem das narrative Mus-ter ist prominent und wird dann auch in der Anzeigenwerbung adaptiert. Die digitale Fotografie ist eine mediale Technik, die die Möglichkeiten des bild-lichen Darstellens und der Kombination und Erschaffung von Welten po-tenziert hat – dies erzeugt eine spürbare Metamorphose der Kommunikate. Evolutionär betrachtet ist Werbung multisensorisch, multikodal und multi-medial geworden.

2. Neue Produkte: Die Werbegeschichte zeigt, dass neuartige Produktkategorien

wie z.B. Computer, Spielkonsolen oder auch social advertising und verän-derte soziale Positionierungen von Produkten am Markt ein großes meta-morphisches Potential besitzen. Die Werber streben offenbar danach, einem neuen Produkt auch eine jeweils eigene gestalterische Identität zu verleihen, so dass zu den spezifischen Inhalten eine entsprechend adäquate Form tritt, die sich vom bisher Praktizierten deutlich abheben soll. Als sich z.B. das

38 Zu einem Modell des persuasiven Prozesses und den persuasiven Funktionen siehe Stöckl

1997, S. 67-77. 39 Insbesondere Pincas und Loiseau.

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Werben für gemeinnützige Organisationen und soziale Anliegen etabliert, findet sich dafür ein eigener provokanter Stil, der den bewusst kalkulierten Schock, eine Enttabuisierung und die Verwendung negativ konnotierter In-halte betreibt.40

3. Einschneidende soziale Ereignisse: In einer inhaltlich-kulturellen Bespie-

gelung der Werbung wird betont, dass vor allem Kriege, Markteinbrüche, Firmenkrisen oder -pannen und große soziale Verwerfungen zu radikalen Veränderungen der Werbepraxis führen können. Solche Auslöser von Meta-morphosen bewirken zunächst inhaltliche Akzentsetzungen, vermögen aber auch der gesamten Gestaltung eine neue Form zu geben. Neben den bekann-ten Kriegs- und Nachkriegswerbungen, die einen spezifischen Stil pflegen, lässt sich hier die relativ junge Tendenz anführen, zu aktuellen kulturellen und sozialen Ereignissen spezielle Werbungen zu schalten. Diese kurzzeiti-gen Werbemaßnahmen versuchen gezielt, die Bekanntheit des jeweiligen Er-eignisses und des öffentlichen Diskurses darüber auszunutzen und entspre-chend positive Konnotationen auf das Produkt zu übertragen.

4. Kunstrichtungen: Kaum ein Faktor wirkt so metamorphisch wie das Bestre-

ben der Werbung, ihre Texte an Kunststile und -techniken anzulehnen. Der Wandel der verschiedenen modernen Kunstströmungen (z.B. Jugendstil, Ku-bismus, Bauhaus, Expressionismus, Pop Art etc.) lässt sich daher an der Werbung sehr gut nachvollziehen. Einerseits arbeiten viele Künstler zeit-weise direkt für die Werbung, andererseits entlehnt man einfach zitatartig wichtige Gestaltungsmittel, die für die Erkennbarkeit des jeweiligen Stils sorgen sollen und dem Kommunikat damit Prestige verleihen.

5. Ökonomisierungszwang: Ähnlich wie der gezielte Musterbruch oder die

Mustermischung ist auch die Verknappung der Botschaften und die strategi-sche Ökonomie der Zeichen ein der Werbung eingeschriebenes Prinzip. Hier zeigt sich ein gewisser Determinismus, der darin besteht, dass mit steigen-dem Werbedruck die verfügbare Aufmerksamkeit nachlässt. Um überhaupt aufzufallen und wahrgenommen zu werden, reduziert man die Zeichen- und Infomengen. Meines Erachtens ist dieses Motiv derzeit der wichtigste Aus-löser werblicher Metamorphosen.

Abschließend noch kurz einige Bemerkungen zum Verhältnis von Werbe-evolution und Metamorphosen und zu Erklärungsmodellen des Wandels allge-

40 Ohnehin gilt, dass Produktkategorien ihre eigenen Gestaltungsstile etablieren, so dass

auch Rezipientenerwartungen entsprechend aufgebaut werden, die man dann durch einen gezielt produktfremden Stil bewusst enttäuschen kann.

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mein. Keller41 prägt in seiner Sprachwandeltheorie die Vorstellung von Prozes-sen der "unsichtbaren Hand" und meint damit, dass es letztlich die Performanz einzelner kommunikativ Handelnder und deren kumulative Effekte sind, die den Wandel auslösen. In Anlehnung daran könnte man die Evolution der Textsorte Werbung als im Verborgenen erfolgende Akkumulierung einzelner Metamor-phosen betrachten. Es sind die 'invisible hands' in den Agenturen, die – der Kre-ativität verpflichtet – Textmuster und Gestaltungslösungen erfinden, um sie immer wieder neu zu verwandeln. Diese Wandelprozesse laufen unaufhörlich, denn jede metamorphische Innovation verblasst nach einiger Zeit – ein Prozess, den Linguisten auch Demotivation nennen. Mit Fix42 könnte man von Prozessen der Ästhetisierung durch Metamorphose und darauf folgender Anästhetisierung durch Neutralisierung/perzeptiven Verschleiß des einstmals Neuartigen und Auffälligen im massenhaften Gebrauch sprechen. Für die Werbung muss man eine Recyclingmentalität reklamieren; d.h. frühere Metamorphosen lassen sich mit gewissem zeitlichen Abstand wiederholen. Dies rührt daher, dass Werber in den mittlerweile umfangreichen Archiven der Branche (agenturinterne und un-abhängige, Zeitschriften, Internetarchive, Vereine, Museen, Anthologien/Jahr-bücher) beständig nach gestalterisch-strategisch markanten Lösungen (seinerzeit Metamorphosen) suchen und diese zu imitieren oder adaptieren streben. Die long copy der Anfangsphase mag nach dem schon länger anhaltenden Trend zu immer kürzeren Texten zu einem zukünftigen Zeitpunkt wieder attraktiv wer-den, weil sie – gemessen am kurzen kulturellen Gedächtnis einer Generation – eine Metamorphose darstellen kann und somit Prägnanz, Aufmerksamkeit und kommunikativen Gewinn verspricht. In diesem Sinne sind die Metamorphosen der Werbung allesamt reversibel und daher eher schwach.

An die Seite der Metapher von der unsichtbaren Hand könnte man zu heuris-tischen Zwecken das Bild eines Teichs setzen, in den man Münzen wirft. Die Münzen wären die jeweils neuartigen Gestaltungsmittel und Formen der Wer-bung; sie schlagen perzeptive Wellen, die aber nach einer Zeit zur Ruhe kom-men. Am Grunde des Teiches, der quasi für das Reservoir kreativer Ressourcen des Werbetextens steht, sedimentieren die Münzen, um als scheinbar neuartige Metamorphosen wieder geborgen und in Umlauf gebracht zu werden. Wenn man also Werbewandel, wie hier angeregt, als graduelle Evolution konzeptuali-siert, die von punktuell und plötzlich auftretenden reversiblen Metamorphosen getrieben wird, so dürfte die Kontinuität im Wandel relativ groß sein. Diskonti-nuitäten sehe ich vorwiegend in der konkreten sprachlich-stilistischen und visu-ell-gestalterischen Durchführung der Werbehandlung. Kontinuität liegt im zu-grunde liegenden und als kommunikativ-kulturelles Wissen geronnenen Text-

41 Rudi Keller, Sprachwandel: Von der unsichtbaren Hand in der Sprache (Tübingen: Fran-

cke, 1994). 42 Ulla Fix, "Die Ästhetisierung des Alltags: Am Beispiel seiner Texte", Zeitschrift für Ger-

manistik Neue Folge 1 (2001a), S. 36-53.

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muster der Werbung, das man als kognitive Folie benötigt, um metamorphische Wandel überhaupt erst korrekt deuten zu können. 5 Textverstehen im Wandel Hier ist kein Platz, ausführlich darzulegen, wie Textverstehen modelliert werden kann, dazu sind die Ansätze zu zahlreich und vielgestaltig. Ich möchte vielmehr die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass sich unsere Vorstellungen von Verste-hen und Kommunikation in Abhängigkeit von wissenschaftlichen Moden und vorherrschenden Denkparadigmen stark gewandelt haben. Sahen wir Verstehen früher primär als Dekodieren des wahrgenommenen Zeichenangebots, als einen kognitiven Nachvollzug semiotisch repräsentierter Bedeutungen, so betrachten wir es heute als aktive mentale Konstruktion von Sinn, als ein kontext-, wissens- und intentionsgeleitetes Handeln mit Zeichen. Ebenso hat sich unsere Sicht auf Kommunikation vom telematischen Austausch fixer Botschaften über einen Ka-nal hin zur Vorstellung von Aushandeln und Kooperieren in einem sozialen Ökosystem verändert. Die Metapher des Transports von Bedeutung ist den Me-taphern vom Stimmen produzierenden Orchester und der Vernetzung verschie-dener Wissensbestände zur Sinnkonstruktion gewichen.

Diese Gewichtungen gründen nicht etwa darin, dass wir heute entscheidend mehr über das Verstehen wüssten. Damals wie heute ist Konsens, dass das Ver-stehen eine Relation zwischen dem Text/Zeichenobjekt, dem Wissen des Rezi-pienten und der Intention des Textproduzenten herstellt. Das Verstehen setzt verschiedene Teilleistungen voraus – wie z.B. wörtliches/syntaktisches Verste-hen, Sinn inferieren, logisch-semantische Textstruktur verstehen, Handlungs-funktion erkennen etc. – und produziert im Ergebnis eine Interpretation, die der Aneignung und Erschließung von Wissensbeständen dienlich ist. Verschiedene Faktoren beeinflussen den Prozess. So hängt der Verstehenserfolg von der Mo-tivation des Rezipienten, von seiner Intelligenz und seinem Vorwissen, von der Rezeptionssituation und vor allem von den Textqualitäten selbst ab. Letztere sind oft unter vier Dimensionen gefasst worden: sprachliche Struktur, logische Gliederung, Kürze/Prägnanz und Stimulanz. Es scheint mir vielmehr plausibel, dass der Wandel und die Akzentsetzungen in der Konzeptualisierung des Ver-stehens auch maßgeblich von der Art der Texte herrühren, mit denen wir es in-nerhalb eines Genres primär zu tun haben. Anhand der bereits diskutierten Werbebeispiele (Pharmaka, Automobile) will ich im Folgenden kurz aufzeigen, wie veränderte Textpraktiken andere Annahmen über dominante Verstehens-prozesse erfordern.

1. Für die frühe Werbung (Beecham's Pills, Cadillac), die alle Teilhandlungen

explizit mittels eines deskriptiv-explikativen Texts vollzieht, muss man ein Verstehen annehmen, das von den Zeichen des Texts getrieben wird, d.h. ei-nen bottom-up-Prozess. Sind die meisten Handlungen hingegen nicht rea-

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lisiert und ist das (sprachliche) Zeichenangebot so dünn wie in der Viagra- und der VW-Anzeige, so erlangen Wissensschemata, kultureller Kontext und die Kenntnis der Textsorte eine primäre Bedeutsamkeit. Hier werden Rezi-pienten eher stärker top-down verfahren müssen.43 Vor allem, wenn Werbung kaum mehr als solche zu erkennen ist44 und wenn sie in starkem Maße inter-textuell operiert, werden internalisierte Musterkenntnisse und eine um-fassende Berücksichtigung der Ko- und Kontexte zu einer entscheidenden Voraussetzung des Verstehens.

2. Muss der Rezipient den frühen Werbetext in linearer Weise sukzessiv lesen,

weil ihm typographisch oder textdesignerisch keine Einstiegspunkte zwi-schendurch geboten werden, so kann er den modernen Werbetext delinear verarbeiten. Der Rezipient wird hier wichtige Zeichen herausgreifen und – gesteuert von seinem Textsortenwissen – entsprechend kombinieren, um eine kontextadäquate Botschaft zu konstruieren. Der Wandel verläuft also von ei-ner linearen Wahrnehmung und Dekodierung fixer Zeichen hin zu einer in-teraktiven, schemagesteuerten Auseinandersetzung mit wenigen, unter-determinierten und daher kontextsensiblen Zeichen. Semiotische Verarbei-tung mutiert zu semiotischer Interaktion.

3. Bilder werden in früher Werbung zumeist als redundantes Illustrationsbei-

werk verwendet. In moderner Werbung hingegen erlangen sie ein überaus großes Gewicht, weil sie in eigenständiger Weise Bedeutungen verfügbar machen, die im Zusammenspiel mit Sprache die Werbehandlung überhaupt erst ermöglichen. Ist der Rezipient also zu Beginn auf eine rein sprachliche Semiotik beschränkt, so synthetisiert er heute Sprache, Bild, Typographie und Layout in eine komplexe Botschaft.45

43 Diese beiden zentralen Textverstehensmodelle firmieren heute unter der salience theory,

siehe Laurent Itti und Christof Koch, "A Salience-Based Search Mechanism for Overt and Covert Shifts of Visual Attention", Vision Research 40 (2000), S. 1489-509 bzw. unter der Schema-Theorie, siehe Wolfgang Schnotz und Maria Bannert, "Construction and Interfe-rence in Learning from Multiple Representations", Learning and Instruction 13 (2003), S. 141-56. Ersteres reklamiert, dass das Verstehen von den auffälligen Zeichen des kommu-nikativen Objekts gesteuert wird, letzteres, dass Verstehen von den mentalen Modellen und Wissensschemata bestimmt ist.

44 Zu den Gestaltungsmitteln und Funktionsweisen solcher verdeckender Werbung siehe Hartmut Stöckl, "Was hat Werbung zu verbergen?: Kleine Typologie des Verdeckens", in Steffen Pappert, Melani Schröter und Ulla Fix (Hg.), Verschlüsseln, Verbergen, Verdecken in öffentlicher und institutioneller Kommunikation (Berlin: E. Schmidt, 2008), S. 167-92.

45 Anthony Baldry und Paul J. Thibault, Multimodal Transcription and Text Analysis: A Multimedia Toolkit and Coursebook with Associated Online-Course (London: Equinox, 2005), S. 19 sprechen diesbezüglich vom "resource integration principle".

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4. Die frühen Werbetexte können – abgesehen von wenigen rhetorischen Tech-niken – wörtlich und pragmatisch direkt verstanden werden. Für moderne Werbung verlängert sich der Weg von den Zeichen zum gemeinten Sinn, weil bewusst Äußerungen gemacht und Bildwelten entworfen werden, die in einem indirekten Bezug zur eigentlichen Werbebotschaft und -intention ste-hen. Die pragma-semantische Indirektheit hat drei Facetten: die präsentierten Zeichen laufen den Erwartungen gegenüber der Textsorte zuwider,46 sie müs-sen auf sekundären Zeichenebenen (konnotativ/Mythos) gelesen werden und sie führen via Metapher oder Metonymie zu anderen, eigentlich gemeinten Bedeutungen.47

6 Anstelle eines Fazits – Statuswandel der Sprache im multimodalen Text Mehrfach wurde betont, dass Bilder in der gegenwärtigen Werbung einen hohen Stellenwert haben. Sie bilden zusammen mit Sprache, Typographie, Layout – und in anderen als den Printmedien auch Musik, Geräusch, Stimmgestaltung – multimodale Gesamtkommunikate. Die Forschung ist sich einig, dass sich dieser Trend zur multisemiotischen Vertextung im letzten Vierteljahrhundert intensi-viert hat.48 Dabei schreibt man vor allem dem Bild und dem Textgraphischen (Textdesign) eine immer prominentere Rolle zu. Sprache dagegen sehen manche als zunehmend marginalisiert und die massenmediale Flut der Bilder erzeugt "sowohl Bilderfaszination und Bildermanie als auch Bilderfeindlichkeit und Medienphobien".49

Den Werbern bieten Bilder von Beginn an kommunikative Vorteile, die sie gezielt auszunutzen suchen. Dies erklärt die Vorreiterrolle der Werbebranche bei der Entwicklung der Ressourcen effektiver visueller Kommunikation. Aus den Eigenschaften von Bildern50 lassen sich die von der Werbegestaltung erhofften Gewinne recht leicht erklären.51

46 Im Sinne von Herbert Paul Grice, "Logic and Conversation", in Peter Cole und J. L. Mor-

gan (Hg.), Syntax and Semantics (Bd. 3, New York: Academic, 1975), S. 41-58 ist der Re-zipient hier dazu angehalten, "konversationelle Implikaturen" zu konstruieren.

47 Zu einer Modellierung des Verstehens gegenwärtiger Werbetexte siehe Stöckl 2008, S. 173-80.

48 Siehe dazu Martin Kaltenbacher, "Perspectives on Multimodality: From the Early Begin-nings to the State of the Art", Information Design Journal and Document Design 12:3 (2004), S. 190-207.

49 Torsten Hoffmann und Gabriele Rippl (Hg.), Bilder: Ein (neues) Leitmedium? (Göttingen: Wallstein, 2006), S. 7.

50 Hartmut Stöckl, "Beyond Depicting: Language-Image-Links in the Service of Adverti-sing", Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik (AAA) 34:1 (2009), S. 3-28, S. 6ff..

51 Zur Funktionsweise von Bildern in persuasiver Kommunikation allgemein siehe Paul Messaris, Visual Persuasion: The Role of Images in Advertising (Thousand Oaks: Sage,

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1. Ikonische Bildzeichen müssen dank ihrer Wahrnehmungsnähe in Rezeption und Verstehen nicht umkodiert werden. Sie wirken unmittelbarer und sind nur schwach grammatikalisiert. All dies senkt den Verarbeitungsaufwand und erklärt die scheinbare Mühelosigkeit des Bildersehens und -verstehens.

2. Die simultane und ganzheitliche Wahrnehmung von Bildern sowie deren op-

tischer Merkmalsreichtum führen dazu, dass sie schnell gelesen und gut be-halten werden. Zudem haben sie direkten Zugang zu unseren Emotionen, was für Anmutung und Appell von Bildern äußerst vorteilhaft ist.

3. In semantischer Hinsicht sind Bilder zum einen 'dicht', d.h. in eine Anord-

nung visueller Zeichen lassen sich viele Aussagen oder Botschaften 'hinein-lesen'. Zu diesem Bedeutungsüberschuss gesellen sich andererseits eine unzureichende Bestimmtheit und inhärente Vagheit. Umso wichtiger werden sprachliche und situative Kontexte. Den Rezipienten verlangt dies eine grö-ßere kognitive und semiotische Eigentätigkeit ("Sympraxis"52) ab – dies stei-gert das für die Werber wichtige involvement, d.h. die Zuwendung zum Textinhalt. Den Gestaltern eröffnet das Bild einen großen semantischen Spielraum beim Verknüpfen von Sprache und Bild. Zudem ist die semanti-sche Unbestimmtheit günstig für brisante, heikle oder tabuisierte Themen.

Über die Gründe für die Zunahme bildlicher Dominanz in der Werbung wie auch in der generellen kommunikativen Landschaft mag man spekulieren. Allein die aufgezählten Bildeigenschaften begründen den Trend vielleicht nicht ausrei-chend. Manche53 haben argumentiert, dass uns Bilder die Orientierung und Na-vigation in großen Datenmengen erleichtern, indem sie dem Leser ein 'Erschauen' der relevanten Informationen und somit eine selektive Lektüre er-möglichen. Insofern sind Bilder in der informationsüberfluteten und kommuni-kationswütigen Neuzeit vielleicht tatsächlich überlegen. Hinzu kommt die rasant gestiegene technische Leichtigkeit im Umgang mit Bildern. Andererseits mag das anthropologische Abbildungsbedürfnis gestiegen sein, weil es für unser Füh-len, Denken und Handeln in der uns umgebenden Welt wichtiger geworden ist.

1997). Messaris sieht iconicity, indexicality und syntactic ambiguity als Hauptmerkmale von Bildern.

52 Rolf Klöpfer, "Sympraxis: Semiotics, Aesthetics and Consumer Participation", in J. Umiker Sebeok (Hg.), Marketing and Semiotics: New Directions in the Study of Signs for Sale (Berlin: de Gruyter, 1987), S. 123-48.

53 Gunther Kress, "Visual and Verbal Modes of Representation in Electronically Mediated Communication: The Potentials of New Forms of Text", in Ilana Snyder (Hg.), Page to Screen: Taking Literacy into the Electronic Era (London: Routledge, 1998), S. 53-79, S. 55ff..

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Mit Fix54 könnte man die derzeitige Fixierung auf Bilder und gewisse Präferen-zen für die visuelle Darstellung von Sachverhalten auch als "Denkstil einer Zeit" fassen.

Klarer als die Gründe für den enorm gewachsenen Stellenwert der Bildkom-munikation sind ihre Wirkungen. Für den multimodalen Werbetext hat die Zu-nahme der Bilder zwangsläufig eine Reduktion der sprachlichen Textanteile sowie auch eine Veränderung des Status von Sprache im Gesamttext zur Folge. Waren früher alle Teilhandlungen und -botschaften sprachlich verfasst, so wird Sprache heute an den Rand gedrängt. An ihrer Stelle müssen Bilder wichtige kommunikative Aufgaben der Textsorte übernehmen. Abschließend soll daher in Beschränkung auf Printwerbung gefragt werden, welche prototypischen Funktionen Sprache in bilddominierten Kommunikaten (Anzeigen/Plakate) noch zufallen.55 Dabei gehe ich von einer aus den jeweils typischen Kodeeigen-schaften von Sprache und Bild und ihren kommunikativen Stärken und Schwä-chen resultierenden Arbeitsteilung aus. Sollte der Anteil der Sprache auch noch so gering sein, muss klar sein, dass nur eine konsequente Wechselseitigkeit der Sinngenerierung als Verstehensmodell in Frage kommt.

1. Kontextualisierung: Sprache liefert – oft mit nur einem Wort oder einer kur-

zen Phrase – einen Kontext, in dem das Bild gelesen und mit Sinn ange-reichert wird. Diese generelle Funktion der Sprache mit Bezug auf das Bild hatte Barthes56 mit dem Begriff "anchorage" im Auge. Der sprachliche Text 'verankert', d.h. kanalisiert und regelt die Deutung des Bildes. Das Bild eines seine Violine zertrümmernden Geigers erlaubt viele Interpretationen – verse-hen mit der Textzeile "The number one address for classical music. And now also for Rock... EMI" steht das Bild als zweifaches Symbol für die Art von Musik, die der beworbene Laden verkauft.57

2. Produktinformation: Häufig reduziert sich die Aufgabe der Sprache darauf,

das beworbene Produkt zu nennen und in Form eines Slogans oder Claims minimal zu beschreiben. Das Bild ist dann frei, einen visuellen Beweis oder eine Illustration für die sprachlich ausgedrückten Produkteigenschaften auf-zubauen. So z.B. ist "Hansaplast anti-sweat foot spray. Puts an end to smelly feet." eine Nennung und Beschreibung des Produkts – das Bild entwickelt ein hyperbolisches, fiktives Szenario (Hund verwendet ferngesteuerte Hunde-

54 Ulla Fix, "Zugänge zu Stil als semiotisch komplexer Einheit: Thesen, Erläuterungen und

Beispiele", in Eva-Maria Jakobs und Annely Rothkegel (Hg.), Perspektiven auf Stil (Tü-bingen: Niemeyer, 2001), S. 113-26, S. 121f..

55 Meine Überlegungen habe ich anhand des Materials angestellt, das auch Hartmut Stöckl 2008, S. 173-80 und Hartmut Stöckl 2009, S. 167-92 zugrunde gelegen hat.

56 Roland Barthes, "Rhetoric of the Image", in Stephen Heath (Hg.), Image, Music, Text (London: Fontana, 1977), S. 32-51.

57 Wiedemann 2006, S. 36.

TEXTSORTENENTWICKLUNG UND TEXTVERSTEHEN ALS METAMORPHOSEN

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attrappe, um Herrchen die Pantoffel bringen zu lassen), welches das Problem konkret illustriert.58

3. Schrift auf Bildobjekten: Sprache gibt ihre Eigenständigkeit teilweise auf,

wenn sie als Beschriftung auf Gegenständen ins Bild integriert wird, so z.B. als Beschriftung der Produktpackung. Sie hat dann auch die Funktion der präzisen Referenz auf einen bestimmten Sachverhalt, die das Bild allein nicht immer verlässlich bewerkstelligen kann. In der Anzeige für einen permanent marker wird der Schriftzug "Jimi Hendrix" – tätowiert auf das Dekolleté ei-ner älteren Frau – Teil der Bildaussage und dient dort als Hinweis auf ver-gangene Zeiten und im Kontext der inferierten Argumentation als Beweis für das Produkt.59

4. Adressierung des Rezipienten: Da Bilder grundlegende Probleme mit der Ar-

tikulation spezifischer Illokutionen haben,60 übernimmt Sprache bei bildli-cher Dominanz auch vorzugsweise die Adressierung des Rezipienten, sei es als Frage, Aufforderung, Warnung oder empfehlender Hinweis. "Have a nice summer", "We strongly recommend the risotto" und "got milk?"61 wären Bei-spiele für direkte Sprechhandlungen, die bildlich nicht vorstellbar sind – wohl aber kann man sie bildlich kontextualisieren.

5. Narration: Sprache eignet sich auch sehr gut zur Narration – dann allerdings

beansprucht der sprachliche Text mehr Platz im Gesamtkommunikat. Das Bild zeigt häufig den fiktiven Handlungsraum, situative Umstände oder die handelnden Personen – der Text entwickelt ein kleines Szenario, eine Ge-schichte oder dialogische Interaktion.

6. Bedeutungsspiel: Schließlich wird Sprache auch dazu verwendet, bewusst

Mehrdeutigkeiten auszulösen, die aber letztlich erst im Ergebnis der Interak-tion von Sprache und Bild voll zum Vorschein kommen. Hier setzen äußerst knappe sprachliche Formulierungen einzelne Begriffe, die metaphorisch-metonymisch oder über andere Mechanismen einen Doppelsinn erlauben. Der Claim "130 horses and 3 cows. Audi A4 with free leather interior" spielt allein verbal mit der Metonymie von Pferd / Pferdestärke und Rind / Rinds-

58 Ibid., S. 206. 59 Ibid., S. 344. 60 Es ist zwar unstrittig, dass man mit dem Zeigen von Bildern bestimmte kommunikative

Handlungen realisiert. Ob und über welche formalen Mittel Bilder verfügen, um Sprech-akte zu signalisieren, muss aber unklar bleiben. Siehe dazu Ulrich Schmitz, "Bildakte? How to Do Things with Pictures", Zeitschrift für germanistische Linguistik (ZGL) 27 (2007), S. 419-33.

61 In der Reihenfolge ihrer Nennung: Wiedemann 2006, S. 76, S. 73, S. 116.

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leder; eine entsprechende literalisierende Bebilderung (weite amerikanische Prärie) bringt das semantische Spiel dann voll zur Geltung.62

Auffällig scheint, dass zumeist dann, wenn Sprache noch in einem längeren Werbetext Verwendung findet, Anstrengungen unternommen werden, um Auf-merksamkeit auf die sprachliche Form zu lenken. Dies geschieht einerseits durch auffällige Stilisierungen, andererseits durch paraverbale Mittel wie Typo-graphie, Layout und ein Hervorheben der Materialität und Herstellungstechnik des Texts. So z.B. textet eine Gore-Tex Anzeige63 im Duktus eines Gedichts: "Wind turns everything in its way into an instrument / Branches sing, rocks howl, the leaves applaud / Wind turns the outdoors into a symphony." Eine An-zeige für die Motorradmarke MZ setzt den Text "Designed with the usual mad-cap German sense of humour. Proudly German" in Fraktur und verstärkt damit die interessante Spannung zwischen der ironischen Textaussage und dem be-kannten Stereotyp des humorlosen Deutschen.64

In dem Bestreben also, ihre Form und Sichtbarkeit vordergründig werden zu lassen, gleicht die (Schrift-)Sprache dem Bild – unbedingte Wahrnehmbarkeit hat oberste Priorität.

62 Ibid., S. 617. 63 Ibid., S. 477. 64 Ibid., S. 636.