Theater des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit · Das Theater des Spätmittelalters und der...

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Forschungen – Berichte – Texte Herausgegeben von Nicole Colin Carla Dauven - van Knippenberg Ton Nijhuis Wissenschaftlicher Beirat: Josef Früchtl (Philosophie, Universiteit van Amsterdam) Rolf Parr (Literatur- und Medienwissenschaft, Universität Duisburg-Essen) Kiran Patel (Europäische und Globale Geschichte, Universiteit Maastricht) Beate Rössler (Philosophie, Universiteit van Amsterdam) Kati Röttger (Theaterwissenschaft, Universiteit van Amsterdam) Paul Schnabel (Soziologie, Universiteit Utrecht / SCP, Den Haag) Franziska Schößler (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Trier) Frank van Vree (Medienwissenschaft, Universiteit van Amsterdam) Irene Zwiep (Jüdische Studien, Universiteit van Amsterdam) AMSTERDAM GERMAN STUDIES

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Forschungen – Ber ichte – Texte

Herausgegeben vonNicole ColinCarla Dauven - van KnippenbergTon Nijhuis

Wissenschaftlicher Beirat:

Josef Früchtl (Philosophie, Universiteit van Amsterdam)Rolf Parr (Literatur- und Medienwissenschaft, Universität Duisburg-Essen)Kiran Patel (Europäische und Globale Geschichte, Universiteit Maastricht)Beate Rössler (Philosophie, Universiteit van Amsterdam)Kati Röttger (Theaterwissenschaft, Universiteit van Amsterdam)Paul Schnabel (Soziologie, Universiteit Utrecht / SCP, Den Haag)Franziska Schößler (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Trier)Frank van Vree (Medienwissenschaft, Universiteit van Amsterdam)Irene Zwiep (Jüdische Studien, Universiteit van Amsterdam)

A M S T E R D A M G E R M A N ST U D I E S

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Das Theater des Spätmittelalters und der Frühen NeuzeitKulturelle Verhandlungen in einer Zeit des Wandels

Herausgegeben vonElke Huwiler

SYNCHRONWissenschaftsverlag der AutorenSynchron PublishersHeidelberg 2015

Kühndel
Schreibmaschinentext
Sonderdruck
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Inhalt

ELKE HUWILER (Amsterdam)Das Theater des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit: Kulturelle Verhandlungen in einer Zeit des Wandels. Eine Einleitung .............................. 9

Kirche und Kloster

PHILIP KNÄBLE (Göttingen)Theatralität, Initiation, Sakralität – Tanzpraktiken im kirchlichen Kontext des Spätmittelalters .................................................................................. 31

JOHANNES JANOTA (Augsburg)Und gheen myt der Antiphon vor dy eptischen. Zur Gestaltung der lateinischen Osterfeiern in Frauenklöstern und -stiften ................................... 45

CARLA DAUVEN - VAN KNIPPENBERG (Amsterdam)Die Klosterfrauen von Wienhausen feiern Auferstehung ................................. 65

HARUKA OBA (Kyushu / München)Theater und bildende Kunst der Jesuiten. Die frühneuzeitlichen Japanbilder im deutschen Sprachgebiet .............................................................. 81

NIENKE TJOELKER (Innsbruck)Helden der römischen Republik auf der Jesuitenbühne. Drama, Politik und die Gesellschaft im 18. Jahrhundert ................................. 103

Temporäre städtische Bühnen

JELLE KOOPMANS (Amsterdam)Zensurmechanismen in Frankreich im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Forschungsperspektiven und methodologische Überlegungen ...... 121

BEATRICE VON LÜPKE / REBEKKA NÖCKER / KLAUS RIDDER (Tübingen)Ordnungskonfl ikte auf der Bühne des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit ......................................................................................... 135

HEIDY GRECO-KAUFMANN (Bern)Rohe Gewalt, Klamauk und freche Sprüche. Jakob Wilhelmis Auff ührungen von Heiligen- und Märtyrerspielen im Spannungsfeld konkurrierender theatraler Formen ...................................................................... 159

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INHALT6

CORA DIETL (Gießen)Ein ›protestantischer‹ Märtyrer auf der Simultanbühne: Melchior Neukirchs Stephanus ............................................................................... 175

Prozessionale Aufführungsformen

MARION STEINICKE (Koblenz-Landau)Öffentlicher Raum und rituelle Zeichensetzung. Kult- und Kulturpolitik der Visconti im 14. Jahrhundert ............................... 195

GLENN EHRSTINE (Iowa City)Crux interpretationis : Die Heiltumsweisung im Künzelsauer Fronleichnamsspiel .................................................................................................. 215

WERNER RÖCKE (Berlin)Prozessionen und der Vollzug von Recht und Glauben. Performances ritueller Bewegung im Theater des Spätmittelalters ................. 229

MARINA ORTRUD M. HERTRAMPF (Regensburg)Das spanische Fronleichnamsspiel der Frühen Neuzeit: Zwischen religiöser Unterweisung und katholischer Propaganda ................... 243

Wanderbühne, Hoftheater und Schauspielhaus

KAREEN SEIDLER (Berlin)Kunst über alle Künste ein bös Weib gut zu machen: Shakespeares The Taming of the Shrew auf der deutschen Wanderbühne ................................. 269

NADIA THÉRÈSE VAN PELT (Leiden / Southampton)Spielen mit der Wirklichkeit: Abwägen von Risiko und Verantwortung des Publikums im englischen Drama der Frühen Neuzeit .............................. 283

SANDRA DÉSIRÉE THEISS (Bochum)Progressiv oder restaurativ? Ein Osterspiel bei Hofe ........................................ 301

RALF HERTEL (Trier)»What ish my nation?« Produktive Ambivalenz und nationale Identität auf der elisabethanischen Bühne .......................................................... 317

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN ........................................................................ 331

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GLENN EHRSTINE

Crux interpretationis: Die Heiltumsweisung im Künzelsauer Fronleichnamsspiel

Die Handschrift des Künzelsauer Fronleichnamsspiels trägt die Überschrift Re-

gistrum processionis corporis Cristi Sic ordinatur.1 Trotz dieses off enkundigen Hin-weises auf die prozessionale Auff ührungsart des Spiels ist es der germanistischen Forschung lange schwer gefallen, das mimetische Rollenspiel, das in der Hand-schrift zum Ausdruck kommt, in seinem Verhältnis zur spätmittelalterlichen Prozessionskultur des Fronleichnamsfestes zu bestimmen. Vor allem in der älte-ren Forschung gab es immer wieder Versuche, ›Spiel‹ von ›Prozession‹ scharf zu trennen und eine einzige Bühne für die Auff ührung des Spieltexts plausibel zu machen, trotz der drei Stationen des Spielverlaufs, die durch die Handschrift be-zeugt sind.2 Entweder verwies man auf vermeintliche spielinterne Hinweise für ein festes Spielgerüst, um einen näheren Bezug zur Prozession abzustreiten, oder man interpretierte die Stationen der Handschrift als drei aufeinanderfolgendeSpieltage.3 Solange man in der Theaterforschung die Guckkastenbühne als das Maß aller Dinge verstand, galten prozessionale Auff ührungsformen als rückstän-dig, so dass einige Interpreten überzeugt waren, den Wert des Künzelsauer Spiels zu steigern, wenn sie es von der Fronleichnamsprozession abkoppelten.

1 Das Künzelsauer Fronleichnamspiel. Hg. von Peter K. Liebenow. Berlin: de Gruyter 1969, S. 1, vor Z. 1. Alle Zitate aus dem Spiel entstammen dieser Ausgabe.

2 Zur Eröff nung neuer Spielabschnitte fi nden sich Silete-Rufe durch Engel an drei Stel-len der Handschrift, einmal am Anfang und dann »In Secunda Staccione« (Z. 684a) und »In tercia staccione« (Z. 2139b).

3 Albert Schumann, erster Herausgeber des gesamten Spiels, argumentierte dafür, dass die Auff ührung über drei Tage auf unterschiedlichen Bühnengerüsten vor den Mau-ern der Stadt stattfand: Das Künzelsauer Fronleichnamsspiel vom Jahr 1479. Hg. von Albert Schumann. Öhringen: Verlag der Hohenloheschen Buchhandlung [1925], S. XIV, 210. Walther Müller plädierte dagegen für eine einzige Bühne »in einer Kirche oder auf einem freien kirchlichen Vorraum«: Walther Müller: Der schauspielerische Stil im Passionsspiel des Mittelalters. Leipzig: Eichblatt 1927, S. 101. Oskar Sengpiel übernahm Müllers These einer einzigen Bühne, folgte aber Schumann in seiner In-terpretation der Stationen als einzelner Spieltage: Oskar Sengpiel: Die Bedeutung der Prozessionen für das geistliche Spiel des Mittelalters in Deutschland. Breslau: Marcus 1932 (Germanistische Abhandlungen, Bd. 66), S. 96–105. Für die Widerlegung die-ser Bühnenszenarien, vgl. Neil C. Brooks: Processional Drama and Dramatic Pro-cession in Germany in the Late Middle Ages. In: Journal of English and Germanic Philology, Nr . 32 (1933), S. 141–171, hier 162–165. Auch Liebenow neigt dazu, eine feste Bühne anzunehmen: Künzelsauer Fronleichnamspiel (s. Anm. 1), S. 257–258.

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Heute herrscht immerhin weitgehend Einigkeit darüber, dass die Prozession den Rahmen für die Bewegungsregie des Spiels abgegeben hat.4 Kostümierte Schauspieler, gruppiert nach szenischen Auftritten bzw. lebenden Bildern, liefen mit Klerus und vermutlich auch mit Bürgertum und anderen Repräsentanten der Künzelsauer Gesellschaft bei der Prozession mit und begleiteten das heilige Sakra-ment auf einer nicht näher bezeichneten Route durch die Stadt. An den erwähnten drei Stationen machte die Prozession Halt, damit die Akteure je nach benötigten Rollen ein vorbereitetes Spielgerüst besteigen und jeweils eine zusammenhängende Gruppe von Szenen auff ühren konnten. Der Spieltext gibt zu erkennen, dass das Sakrament, die Grundlage der Fronleichnamsfeier, auf den ersten zwei Stations-Gerüsten präsent war,5 und spielinterne Indizien sprechen dafür, dass es auch an der dritten Station ausgestellt war, an der die Passion Christi zur Darstellung kam.6

Nichtsdestotrotz neigt die jüngste Forschung zu dem Spiel immer noch dazu, zwischen Spiel und Prozession als zwei zum Teil inkompatiblen Auff ührungsmo-di zu unterscheiden. Dies lässt sich vor allem in den Erklärungen für das kuriose Fehlen der Kreuzigungsszene im Spiel beobachten, die durch eine adoratio crucis ersetzt wird, in der ein Priester die dritte Stationsbühne betritt und dem Publi-kum ein nicht näher bezeichnetes Kreuz vorhält. Schon 1974 hat Rainer War-ning hierzu bemerkt: »Die Anwesenheit des Sakraments selbst hat hemmend auf die Veranschaulichung gewirkt«.7 Ähnlich argumentierte Ursula Schulze 1999: »Die Figur des Heilands stirbt [...] nicht imitatorisch am Kreuz. Gegenüber dem wahren Leib Christi in Gestalt der Hostie wird die Verbildlichung der zentralen Ereignisse vermieden«.8 Andere, wie z. B. Wilhelm Breuer, machen schlicht tech-

4 Vgl. Wilhelm Breuer: Zur Auff ührungspraxis vorreformatorischer Fronleichnams-spiele in Deutschland. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Nr . 94 (1975; Sonder-heft) , S. 50–71, hier 57–59; Hansjürgen Linke: Künzelsauer Fronleichnamspiel. In: Kurt Ruh et al. (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 5. Berlin, New York: de Gruyter, 1985, Sp. 445–448, hier 446.

5 »Rector processionis vertat se ad sacramentum« (Z. 4a-b). »Accedat Maria sine puero sedens jn sede versus sacramentum« (Z. 1429d-f ) .

6 Bei der Einführung des Propheten Jeremias macht der rector processionis das Publikum aufmerksam auf »das himel brat, das da gegen wertick ist« (Z. 3870). Vgl. hierzu auch die ausführliche Rekonstruktion der Künzelsauer Auff ührung bei Glenn Ehrstine: The True Cross in Künzelsau: Devotional Relics and the Missing Crucifi xion Scene of the Künzelsau Corpus Christi Play. In: Cora Dietl / Christoph Schanze / Glenn Ehrstine (Hg.): Power and Violence in Medieval and Early Modern German Thea-ter. Göttingen : V&R unipress 2014, S. 73–106; Elke Koch: Ungewissheit, Scheitern, Wagnis. Risiko und Ritualität des geistlichen Spiels. In: Renate Schlesier / Ulrike Zell-mann (Hg.): Ritual als provoziertes Risiko. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 137–158, hier 156.

7 Rainer Warning: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels. München: Fink 1974, S. 223–224.

8 Ursula Schulze: Formen der ›Repraesentatio‹ im Geistlichen Spiel. In: Walter Haug (Hg.): Mittelalter und frühe Neuzeit: Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Tübin-gen: Niemeyer 1999 (Fortuna Vitrea, Bd. 16), S. 312–356, hier 326–327. Vgl. inzwi-schen auch Ursula Schulze: Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neu-zeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Berlin: Erich Schmidt 2012, S. 157.

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DIE HEILTUMSWEISUNG IM KÜNZELSAUER FRONLEICHNAMSSPIEL 217

nische Gründe für das Ausbleiben dieser Szene verantwortlich: Ein schweres, aufrichtbares Kreuz, wie es für die Kreuzigung nötig gewesen wäre, hätte sich bei einer Prozession nicht mittragen lassen.9 Bei anderen Fronleichnamsspielen wie z. B. in Zerbst ist jedoch die Kreuzigung oder zumindest die Aufrichtung eines Kreuzes nicht ausgeblieben,10 so dass Breuers Erklärung etwas kurz greift.

Auf der einen Seite erkennen die Interpretationen von Warning und Schulze richtig an, dass der performative Vollzug des Heils im Mittelalter nicht nur in körpergebundenen Repräsentationen bestand, wie die Theatergeschichtsschrei-bung sie in den traditionellen Gattungen des geistlichen Spiels untersucht, son-dern auch in der nicht-textierten Inszenierung von auratischen Gegenständen des Kults. Diese ›heiligen Requisiten‹, wenn man will, beschränkten sich jedoch keineswegs nur auf die Hostie, sondern umfassten auch Reliquien als Horte der heilbringenden Gnade. Die volle Berücksichtigung von vormodernen prozessi-onalen Auff ührungsformen muss also nicht nur unterschiedlichen Bühnen- und Bewegungsformen Rechnung tragen, sondern vor allem auch dem Umstand, dass Prozessionen einen beliebten Rahmen für die öff entliche Zurschaustellung des vor Ort verwahrten Heiltums bildeten, um so den öff entlichen Raum der Stadt zu segnen und den heimischen Heiltumsschatz den begierigen Blicken der Gläubigen zugänglich zu machen. Gerade das Moment der Kreuzigung im Künzelsauer Fronleichnamsspiel bot einen natürlichen Rahmen für eine Heiltumsweisung,11 und zwar von einem Kreuzreliquiar der örtlichen Pfarrkirche, das für die verwandte Künzelsauer Reliquienprozession von 1499 nachgewiesen ist und vier kostbare passionsbezogene Reliquien enthielt, allen voran eine Parti-kel des Heiligen Kreuzes, an dem Jesus starb.

Im Spiel selbst ist das Moment der Kreuzigung in einen engeren Komplex von insgesamt fünf Passionsszenen eingebettet, die alle im sogenannten ›Grundstock‹ des Spiels vorhanden sind, der vermutlich noch älter ist als die ursprüngliche Textfassung von 1479:12

9 Breuer: Zur Auff ührungspraxis vorreformatorischer Fronleichnamsspiele (s. Anm. 4), S. 58. Ähnlich, aber ohne eine spezifi sche Berücksichtigung Künzelsaus: Vintila Ivanceanu / Johannes C. Hofl ehner: Prozessionstheater. Spuren und Elemente von der Antike bis zur Gegenwart. Köln: Böhlau 1995 (Kulturstudien, Sonderband 18), S. 28.

10 »Das krewcze ist aufgericht«. Das Zerbster Prozessionsspiel 1507. Hg. von Willm Reupke. Berlin, Leipzig: de Gruyter 1930 (Quellen zur deutschen Volkskunde, Bd. 4) , S. 38, Z. 283.

11 Zu spätmittelalterlichen Heiltumsweisungen im allgemeinen siehe Hartmut Kühne: Ostensio reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum. Berlin, New York: de Gruyter 2000 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 75); Cristof L. Diedrichs: »Man zeigte uns den Kopf des Heiligen«. Bausteine zu einer Ereigniskultur in Mit-telalter und Früher Neuzeit. Berlin: Weißensee 2008.

12 Zum Grundstock des Spiels, siehe Elizabeth Wainwright: Studien zum deutschen Prozessionsspiel: Die Tradition der Fronleichnamsspiele in Künzelsau und Freiburg

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1. Dornenkrönung2. Geißelung3. Kreuztragung4. Adoratio crucis5. Mater dolorosa

Diese Kernszenen stechen durch ihre Schlichtheit hervor und scheinen im Laufe der langjährigen Spieltradition in Künzelsau im wesentlichen gleich geblieben zu sein, während andere Handlungsabschnitte der Passion, etwa die Gefangen-nahme Christi, Erweiterungstendenzen unterworfen waren.13 In den drei ersten Szenen tritt als stummes lebendes Bild jeweils ein Christus-Darsteller auf; ab-schließend klagt Maria über den Tod des geliebten Sohns. Die Ausnahmestellung der adoratio-Szene wird durch den folgenden Textauszug deutlich, der mit der dritten Szene des Passionskerns, der Kreuztragung, einsetzt:

Accedat Salvator cum cruce

cum duobus militibus.

RECTOR PROCESSIONIS

legat ad populum:

ulna ipse portans

crucem legat:

3690 Sehent an, ir frawen vnd ir man, Vnd lat das euch zu hertzen gan, Das got trug ein crewtz so swer Durch alle sunderin vnd sunder, Vnd wolt dar an gemartert werden3695 Der cristenhait zu frumen hy uff erden, Vnd wolt dar an leiden den dat sein. Das solt ir jm alle danckber sein. Accedat vnus sacerdos

de sacerdotibus, Et laycus

vnus cum eo portans

signum crucis,

Tunc idem SACERDOS tenens

crucem jn manu Et cantat:

Ecce lignum crucis jn quo salus mundi pependit. venite, adoremus ter.

CHORUS Respondeat:

und ihre textliche Entwicklung. München: Arbeo-Gesellschaft 1974 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissace-Forschung, Bd. 16), S. 54–56; Breuer: Zur Auff ührungspraxis vorreformatorischer Fronleichnamsspiele (s. Anm. 4), S. 57; Wolf-gang F. Michael: Die geistlichen Prozessionsspiele in Deutschland. Baltimore: Johns Hopkins Press / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1947 (Hesperia, Bd. 22), S. 39.

13 Wainwright: Studien zum deutschen Prozessionsspiel (s. Anm. 12), S. 85–86, 89–90; Brooks: Processional Drama and Dramatic Procession (s. Anm. 3), S. 166.

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DIE HEILTUMSWEISUNG IM KÜNZELSAUER FRONLEICHNAMSSPIEL 219

Beati jn maculati jn via qui ambulant jn l<ege domini>. Tunc idem SACERDOS legat ad populum:

Nu sehent, liben lewt, Das tzaichen des hailigen creütz hewt.3700 Got, der starb dar an allen spot Vmb vnser willen laid er des dats nat. Das solt ir jn ewerm hertzen tragen Vnd jn ewern sunden nit vertzagen, Das ir nit verdint gotes zorn3705 Vnd sein leiden nit werd an euch verlorn. (Z. 3689a–3705)

Die Gestaltung der Kreuztragung ist typisch für den Rest des Spiels. Einleitend tritt der sogenannte rector processionis auf und erläutert die Szene für das Publi-kum; das Gleiche tut er auch für alle anderen Szenen. Bei der adoratio-Szene wird er jedoch von einem Priester ersetzt, und überhaupt sticht die Kreuzverehrung von anderen Szenen durch seinen ausgeprägten liturgischen Charakter hervor. Das Spiel übernimmt hier nahtlos ein zentrales Moment der Karfreitagsliturgie, nämlich die Antiphon »Ecce lignum crucis« (Siehe, das Holz des Kreuzes), die oft bei der Enthüllung bzw. Weisung eines für die Gemeinde wertvollen Kreuzes angestimmt wird. Was hat es mit dem Kreuz des Künzelsauer Spiels auf sich, dass es so einer Verehrung würdig war?

Der Spieltext selbst bezeichnet dieses Kreuz auf den ersten Blick etwas un-scheinbar als »signum crucis«. Der rector processionis wiederholt diese Bezeich-nung auf Deutsch in seiner Rede an das Publikum, allerdings mit einer leichten Erweiterung: die Rede ist jetzt vom »tzaichen des hailigen creütz«, und bei al-ler Unscheinbarkeit auch dieser Formel macht die Betonung der Heiligkeit des Kreuzes schon etwas hellhörig. Wenn man andere zeitgenössische Quellen in Betracht zieht, dann wird klar, dass der Begriff ›signum crucis‹ unter passenden Umständen einen kreuzförmigen Reliquienbehälter bezeichnen kann. Schon im 8. Jahrhundert wurde in der entstehenden römischen Kreuzverehrungszeremo-nie in der St-Croce-Kapelle die entsprechende Reliquie des Heiligen Kreuzes als »signum crucis« gekennzeichnet.14 Für den spätmittelalterlichen Rahmen des Künzelsauer Fronleichnamsspiels ist das Wiener Heiltumsbuch von 1502 das wohl augenfälligste Beispiel für die Assoziation von Reliquien des Heiligen Kreuzes mit ›signa crucis‹.

14 Anne-Madeleine Plum: Adoratio Crucis in Ritus und Gesang. Die Verehrung des Kreuzes in liturgischer Feier und in zehn exemplarischen Passionsliedern. Tübingen , Basel: Francke 2006 (Pietas Liturgica, Bd. 17), S. 114–115.

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Abb. 1: Wiener Heiltumsbuch, 1502, fol. aiiii verso, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Signatur C.P.2.B.67 Alt

Abb. 2: Wiener Heiltumsbuch, 1502, fol. av recto, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Signatur C.P.2.B.67 Alt

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DIE HEILTUMSWEISUNG IM KÜNZELSAUER FRONLEICHNAMSSPIEL 221

Im Spätmittelalter hat man alljährlich vom sogenannten Heiltumsstuhl aus den gesamten Heiltumsschatz des Wiener Stephansdoms gezeigt. Dies geschah in acht ›Umgängen‹ bzw. Prozessionen, und wie in der Beschreibung des ersten ›Umgangs‹ klar wird, gebührte der erste Platz unter den Reliquien den 38 »kreytz mit Silber vnd gold gezieret darin manigfeltigklichen des holtz des heyligen kreytz mit vil anderm heyltumb« vorhanden war (Abb. 1–2).15 Wie im Künzel-sauer Spieltext wird hier ausdrücklich auf das Holz des »heyligen kreytz« Bezug genommen, und begleitend zur Weisung dieser Kreuze sang man das Respon-sorium »Hoc signum crucis«. Die hier abgebildeten Kreuzreliquiare sind alle ›Zeichen des Kreuzes‹, nicht nur in ihrer kreuzförmigen Gestalt, sondern vor allem durch die jeweils enthaltene Partikel des wahren Kreuzes Christi, die pars pro toto den Gegenstand an sich vertritt.

Dass der Künzelsauer Spieltext das ›signum crucis‹ sonst nicht weiter hervor-hebt, ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Handschrift für den internen Gebrauch der Künzelsauer Stadtpfarrei St. Johannes entstand, für deren Angehörige eine nähere Bezeichnung des Gegenstands überfl üssig war. Der pfarrei-eigene Gebrauch der Handschrift ist zwar keine neue Erkenntnis an sich, ist jedoch in der Forschung nicht konsequent betont worden, was u. a. den Blick auf einen möglichen Einsatz von Reliquien aus dem örtlichen Heiltumsschatz versperrt hat. Nicht nur wurde die Handschrift des Fronleichnamsspiels um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Registratur der Künzelsauer Johanneskirche aufgefunden, sondern die ab 1474 erhaltenen Auff ührungsbelege für die örtliche Fronleichnamsprozession, zunächst 1925 von Albert Schumann und dann 1966 unabhängig von Peter Liebenow entdeckt,16 stammen alle aus den hauseigenen Hei-

15 Das Wiener Heiligthumbuch. Nach der Ausgabe vom Jahre 1502 sammt den Nach-trägen von 1514. Wien: Gerold & Comp. 1882, a4v. Vgl. auch Sabine Heiser: An-denken, Andachtspraxis und Medienstrategie. Das Wiener Heiltumsbuch von 1502 und seine Folgen für das Wittenberger Heiltumsbuch von 1509. In: Andreas Tacke (Hg.): »Ich armer sundiger mensch«. Heiligen- und Reliquienkult am Übergang zum konfessionalen Zeitalter. Göttingen: Wallstein 2004, S. 208–238, hier 221.

16 Für eine eingehende Besprechung der erhaltenen Heiligenpfl egrechnungen und ihrer Verarbeitung durch Schumann, Liebenow und Bernd Neumann, siehe Ralph Joseph Blasting: The »Künzelsau Corpus Christi Play«: A Dramaturgical Analysis. Unver-öff entlichte Dissertation, University of Toronto 1989, S. 227–246. Schumann hatte die von ihm entdeckten Auff ührungsbelege auf einem losen Kartonblatt zwischen Seiten XII und XIII seiner Spielausgabe gedruckt, das in den meisten Fällen abhan-den gekommen ist: Das Künzelsauer Fronleichnamspiel vom Jahr 1479. Hg. von Schumann (s. Anm. 3). Vgl. Bernd Neumann: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Auff ührung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet. München, Zürich: Artemis 1987 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deut-schen Literatur des Mittelalters, Bd. 84 / 85), S. 428, Kommentar zu Nr . 1998; Peter K. Liebenow: Zu zwei Rechnungsbelegen aus Künzelsau. In: Kleine Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, Nr . 21 (1966), S. 11–13; ders.: Das Künzelsauer Fronleichnamsspiel. Weitere Zeugnisse zu seiner Auff ührung. In: Archiv für das Stu-dium der neueren Sprachen und Literaturen, Nr . 205 (1969), S. 44–47; ders.: Belege zur Auff ührung des Fronleichnamsspiels. In: Hohenloher Chronik, 12 September

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ligenpfl egrechnungen der Johannespfarrei. Die Organisation von Spiel und Pro-zession lag also in ein und derselben Hand, nämlich beim örtlichen Klerus. Andere mögliche Spielträger haben keine Spuren in den entsprechenden Quellen hinter-lassen. Zünfte scheinen nach Elizabeth Wainwright erst im 16. Jahrhundert eine nennenswerte Präsenz in der Stadt gehabt zu haben,17 und eine Spielbruderschaft St. Johannes, wie sie von Ralph Blasting erwogen wird, hat es nicht gegeben.18

Ausgerüstet mit der Erkenntnis, dass die Verehrung des ›signum crucis‹ der Spielhandschrift auf die Weisung einer Kreuzreliquie aus dem Umkreis der Kün-zelsauer Johannespfarrei deutet, muss man nicht lange suchen, bis man in den Quellen zur spätmittelalterlichen Prozessionskultur in Künzelsau ein passendes Kreuzreliquiar fi ndet.19 Hier werden die erwähnten Prozessionsbelege aus den örtlichen Heiligenpfl egrechnungen ergänzt durch die Prozessionsordnung einer 1499 ins Leben gerufenen Reliquienprozession am Fest von Johannes dem Täu-fer, dem Künzelsauer Stadtpatron. Dass Bernd Neumann beide Quellen in seine Auff ührungsbelegsammlung aufgenommen hat,20 belegt natürlich die jüngere Erkenntnis, dass Spiel und Prozession in einem Wechselverhältnis zueinander stehen. Dies wird vor allem bei der Prozessionsordnung klar, wo die Weisung des Künzelsauer Heiltumsschatzes an einer Stelle von »reumen mit Herodes« begleitet wird, die vermutlich mit entsprechenden Szenen um die Enthauptung von Johannes dem Täufer im Fronleichnamsspiel verwandt sind.21 Allerdings zeigt Neumanns Auszug der passenden Stelle aus der Prozessionsordnung auf besonders anschauliche Weise, wie die möglichen Beziehungen des Spiels zu den in der Prozession mitgeführten Kultgegenständen editorisch ausgeklammert werden können. Das folgende Zitat gibt die vollständige ›Crux‹-Beschreibung der Prozessionsordnung wieder; Neumanns Text setzt erst nach den kursiv ab-gedruckten Zeilen ein:

1970, 1; ders.: Neue Belege zur Auff ührung des Künzelsauer Fronleichnamsspiels (II) . In: Hohenloher Chronik, 10. Oktober 1970, 2.

17 Wainwright: Studien zum deutschen Prozessionsspiel (s. Anm. 12), S. 43.18 Blasting missversteht die Heiligenpfl egrechnungen der Künzelsauer Johannespfar-

rei als Rechnungsbelege einer Bruderschaft. Vgl. Blasting: The »Künzelsau Corpus Christi Play« (s. Anm. 16). S. 230, 235, 238, 241, 246; Ralph Blasting: The German ›Bruderschaften‹ as Producers of Late Medieval Vernacular Religious Drama. In: Re-naissance and Reformation, Nr . 25 (1989), S. 1–14.

19 Insgesamt lassen sich drei unterschiedliche Prozessionen im spätmittelalterlichen Künzelsau belegen: 1) eine Prozession, die der Klerus des Künzelsauer Landkapitels des Bistums Würzburg bei ihrem alljährlichen Treff en zwei Wochen nach Gründon-nerstag abgehalten hat, bis der Kapitelsitz 1487 nach dem benachbarten Ingolfi ngen verlegt wurde; 2) die 1499 gegründete Reliquienprozession am Fest Johannis des Täufers; 3) die Fronleichnamsprozession, die ab 1474 in den Heiligenpfl egrechnun-gen der Johannespfarrei dokumentiert ist. Vgl. hierzu Ehrstine: The True Cross in Künzelsau (s. Anm. 6).

20 Neumann: Geistliches Schauspiel (s. Anm. 16), S. 428–431, Nr . 1998–2016.21 Wainwright: Studien zum deutschen Prozessionsspiel (s. Anm. 12), S. 49–50.

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DIE HEILTUMSWEISUNG IM KÜNZELSAUER FRONLEICHNAMSSPIEL 223

CRUX

In dem Crucifi x ist vermacht das Heilgtum, mit namens Ein stuck, von dem stammen des

Heiligen creutz Ein stuck von dem grabe unnsers Hern ihu Christi Ein stuck von dem stein do

unnser Herr ihus cristus uf gepredigt hat, unnd ein stuck von dem Stein, da das Heilig creutz,

Sper, kron, unnd nagel uf gelegen sein

CHORUS CANTAT RESPONSORIUM »O CRUX GLORIOSA«

Nach dem so nimpt der pfarrer das itzig crucifi x unnd singt treu mal den Antipha, so hernach volgt, unnd also lautet »Omnis terra adoret te et psallat tibi«. Nach dem unnd das also geschicht, so gen die reumen mit Herodes an, unnd so die ein ende haben, so get der pfarrer wider uf die brucken mit dem Sacrament unnd singt »Salvum fac populum tuum domine et benedic hereditati tue et rege eos et extolle illos usque in eternum«. Das singt er treu mal. Dornach get die process wider an die kirchen mit dem responsorium »Isti sunt sancti«.22

Bei Neumanns Belegauszug fehlt die Beschreibung des Kreuzreliquiars mit seinen vier passionsbezogenen Reliquien vollkommen. Dass dieses Kruzifi x in irgendei-nem Verhältnis zu den folgenden Herodes-Versen steht, geht zwar aus dem gekürz-ten Textauszug hervor, aber seine zeichenhafte Repräsentation der Passion mitsamt der Kreuzigung, oder vielmehr die in den Reliquien enthaltene auratische Präsenz der entsprechenden Momente der Heilsgeschichte, geht komplett verloren. Nur der volle Auszug aus der Reliquienprozessionsordnung verdeutlicht die off enkun-dige Fähigkeit dieses Kruzifi xes, Zeugnis von der Kreuzigung Christi abzulegen und auf diese Weise die Kreuzigungslacuna im Fronleichnamsspiel zu füllen.23

Die Parallelen zwischen der Weisung des Kruzifi xes in der Reliquienprozes-sion und der adoratio crucis des Fronleichnamsspiels sind off enkundig. In beiden Fällen betritt ein Priester ein Schaugerüst, um das Kreuz unter begleitenden liturgischen Gesängen den Zuschauern entgegenzuhalten. Dreimal stimmt der jeweilige Chor eine passende Antiphon an: Im Fall des Spiels war dies die An-tiphon »Ecce lignum crucis«, bei der Prozession dagegen »Omnis terra adoret te«, die auf das Responsorium »O Crux Gloriosa« folgte. Den schlagendsten Beweis dafür, dass dieses Kruzifi x als Schnittstelle zwischen der Reliquienprozes-sion von 1499 und dem Fronleichnamsspieltext von 1479 diente, liefern jedoch die Herodes-Verse, die nicht zufälligerweise gleich nach Weisung des Kruzifi xes vorgetragen wurden. Als Kultgegenstand haftete dem Kruzifi x sein Gebrauchszu-sammenhang in anderen Kontexten noch an. Wir müssen also annehmen, dass die spätere Reliquienprozession etliche Auff ührungspraktiken aus der früheren Fronleichnamstradition in Künzelsau übernommen hat, nicht nur Teile der szen-

22 Ebd., S. 252–255; Neumann: Geistliches Schauspiel (s. Anm. 16), S. 430, Nr . 2007.23 Die Vierzahl der im Kruzifi x enthaltenen Reliquien legt die Vermutung nahe, dass

jeder Arm des Kreuzreliquiars eine Reliquie enthielt. Eine ähnliche Verteilung von Reliquienpartikeln zeigt etwa das Heinrichskreuz aus dem Basler Münsterschatz: Lo-thar Lambacher (Hg.): Schätze des Glaubens. Meisterwerke aus dem Dom-Museum Hildesheim und dem Kunstgewerbemuseum Berlin. Regensburg: Schnell & Steiner 2010, S. 46–47, Nr . 10.

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sichen Darstellung um Herodes, sondern auch die Weisung von Heiltümern aus dem Kirchenschatz der Johannespfarrei.24

Kehren wir noch einmal zu den Passionsszenen des Fronleichnamsspiels zurück, um die Funktion des Kreuzreliquiars innerhalb des Spiels zu rekonst-ruieren. Die drei Szenen vor der Kreuzverehrung unterscheiden sich von allen anderen Szenen aus dem Neuen Testament in der Stummheit der Darsteller. Mit anderen Worten: Der jeweilige Textabschnitt zu diesen Szenen besteht nur aus der einleitenden Rede des rector processionis; die Akteure selbst haben keinen Text. In jedem Fall tritt ein eigener Christus-Darsteller mit seinem ikonographi-schen Attribut auf die Bühne: die Dornenkrönung wurde von dem »Salvator cum corona« dargestellt, die Geißelung von dem »Salvator cum statua« und die Kreuztragung von dem »Salvator cum cruce«. Dass Christus durch mehrere Akteure dargestellt wurde, erklärt sich aus der prozessionalen Auff ührung des Spiels: Jeder Salvator fungierte als Teil eines eigenen lebenden Bildes und zog in dieser Reihenfolge geradezu als Einstimmung auf das auch in der Prozession auf sie folgende Kreuzreliquiar an den Blicken der Zuschauer vorbei.25 Das Publikum konnte sich auf diese Weise ein erstes Bild vom geschundenen Körper des Hei-lands aus der Nähe machen. Solche Nahaufnahmen ergänzten den eigentlichen Auftritt der Darsteller auf der dritten Stationsbühne, bei dem sie in ikonenhafter Pose ihren Körper dem betrachtenden Blick der Zuschauer entgegenhielten. Die ›Veranschaulichung‹ bzw. ›Verbildlichung‹ der Passion fehlt hier keineswegs, selbst wenn die Kreuzigung an sich ausbleibt. Vielmehr sollten diese lebenden Bilder in aller Deutlichkeit an das willig erduldete Leiden des Salvators als Teil seines am Kreuz vollbrachten Erlösungsaktes erinnern. Die so gewonnenen Sinnes-eindrücke blieben dann bei der anschließenden Weisung des Kreuzreliquiars im inneren Auge der Zuschauer haften. Auf diese Weise wurde die zeichenhafte Präsenz des Reliquienkruzifi xes durch die lebende Darstellung der Passion aufge-laden. Umgekehrt verliehen die leiblich mit Christus in Berührung gekommenen Reliquien den lebenden Bildern eine noch größere Authentizität bzw. Intensität. Die in der Antiphon enthaltene Auff orderung an das Publikum – »ecce lignum crucis«; siehe, das Holz des Kreuzes – bekam dazu einen bewusst realen Bezug. Nach der Weisung des Kreuzes erinnerte die anschließende Klage Marias, die, vom Schwert durchbohrt, als Mater dolorosa auftritt, wieder an das menschli-che Leiden des Salvators und bot durch ihre vorbildliche Trauer erneut einen andächtigen Rezeptionsrahmen für die soeben erlebte Kreuzweisung.

In diesem Wechselspiel der Bezüge kommen sehr wohl zwei unterschiedliche Repräsentationsmodi zum Tragen, wie Schulze und Warning anmerken: einmal die Verkörperung der entsprechenden heilsgeschichtlichen Ereignisse durch die Schauspieler, und einmal eine vom Reliquiar ausgehende Immanenz des Hei-

24 Vgl. hierzu ausführlicher Ehrstine: The True Cross in Künzelsau (s. Anm. 6).25 Innerhalb der Prozession waren das Kreuzreliquiar und die zugehörigen lebenden

Bilder wahrscheinlich kurz vor dem Sakrament positioniert. Vgl. hierzu Ehrstine: The True Cross in Künzelsau (s. Anm. 6).

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ligen. Eine ähnliche sakrale Immanenz wohnte auch der konsekrierten Hostie inne, die auch Prozession und Spiel begleitete. Statt jedoch diese Zeichensysteme in ein sich gegenseitig ausschließendes Konkurrenzverhältnis zu setzen, muss man vielmehr die Möglichkeiten ihrer gegenseitigen Interaktion und Ergänzung betonen. Neben dem Sakrament war die numinose Präsenz des Reliquienkreuzes Garant dafür, dass Christus sowohl Spiel als auch Prozession möglichst ›realiter‹ beiwohnte. Gleichzeitig gaben die passionsbezogenen lebenden Bilder des Spiels der innewohnenden Präsenz Christi im Kreuz eine menschliche Leiblichkeit zurück, die die Passionsfrömmigkeit des Spätmittelalters nicht missen wollte. Gerade bei der Kreuzigung hatte aber off ensichtlich die ›wahre Präsenz‹ des Kreuzes in dem entsprechenden Holzfragment des Reliquienkruzifi xes Vorrang vor einer gespielten Repräsentation der heilsgeschichtlichen Ereignisse. Das Spiel operiert also mit einer bewussten Inszenierung der Kreuzpartikel, die durch das Nebeneinander von Reliquie und szenischem Bild das heilswirksame Wahr-nehmungsangebot des Betrachters intensiviert. Das resultierende »Oszillieren zwischen Mimetischem und Nicht-Mimetischem«26 verbindet das Künzelsauer Fronleichnamsspiel letztendlich mit anderen reliquienbezogenen Medien des Heils im Mittelalter, etwa mit szenischen Reliquiaren, die die ihnen anvertrauten Heiltümer durch eine bildhafte Repräsentation ihres Inhalts kennzeichneten,27 oder auch mit literarischen Reliquienlegenden wie dem Orendel, der die Authenti-zität des in Trier aufbewahrten Heiligen Rocks Christi, des sogenannten ›Grauen Rocks‹, durch eine Vorgeschichte des Kultobjekts steigerte.28

Wenn das Kreuzreliquiar aus der Künzelsauer Reliquienprozession von 1499 schon Teil des Fronleichnamsspiels von 1479 war, dann ist es außerdem wahr-scheinlich, dass andere Heiltümer, die für die Reliquienprozession bezeugt sind, bei der Fronleichnamsprozession mitgetragen wurden. Für die Ausstellung Viele

Herren, eine Stadt: Künzelsau unter den Ganerben im Stadtmuseum Künzelsau hat die Kunsthistorikerin Ursula Angelmaier 2012 drei spätgotische Reliquienbüsten aus der Mitte des 15. Jahrhunderts identifi ziert, die mit hoher Wahrscheinlich-keit zum Heiltumsschatz der Johannespfarrei gehörten: einmal eine Büste vom Künzelsauer Stadtpatron Johannes dem Täufer (Abb. 3), eine zweite Büste von Maria Magdalena (Abb. 4) und ein letzter Reliquienbehälter von St. Margarethe (Abb. 5).

26 Christian Kiening: Hybriden des Heils. Reliquie und Text des Grauen Rocks um 1512. In: Peter Strohschneider (Hg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Berlin, New York: de Gruy-ter 2006, S. 371–410, hier 376. Vgl. auch Seeta Chaganti: The Medieval Poetics of the Reliquary: Enshrinement, Inscription, Performance. Houndmills / England, New York: Palgrave Macmillan 2008 (The New Middle Ages) , S. 19–45.

27 Vgl. Silke Tammen: Dorn und Schmerzensmann. Zum Verhältnis von Reliquie, Reliquiar und Bild in spätmittelalterlichen Christusreliquiaren. In: Bruno Reuden-bach / Gia Toussaint (Hg.): Reliquiare im Mittelalter. Berlin: Akademie Verlag 2005 (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte, Bd. V), S. 187–203, hier 197–203.

28 Kiening: Hybriden des Heils (s. Anm. 26).

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Abb. 3: Reliquienbüste Hl. Johannes der Täufer, Lindenholz, um 1425–1450, Stadt Künzelsau, Städtische Sammlung

Abb. 4: Reliquienbüste Hl. Maria Magdalena, Lindenholz, um 1425–1450, Stadt Künzelsau, Städtische Sammlung

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Abb. 5: Reliquienbüste Hl. Margarethe, Lindenholz, um 1425–1450, Stadt Künzelsau, Städtische Sammlung29

Vor 1879 vom Historischen Verein für Württembergisch Franken in Künzel-sau erworben, gehörten diese Büsten eine Zeitlang der Sammlung des Hällisch-Fränkischen Museums Schwäbisch Hall an, bis die Stadt Künzelsau sie 1937 zurückerwarb, wo sie heute Teil der städtischen Sammlung sind. Diese Heiligen scheinen sich in Künzelsau einer besonderen Verehrung erfreut zu haben. So sind sie in der Reliquienprozessionsordnung die einzigen Heiligen, deren Namen durch besondere Überschriften extra hervorgehoben werden,30 und ihre Festtage waren im mittelalterlichen Künzelsau jeweils mit einem Markttag verbunden.31 Im Fronleichnamsspiel haben diese Figuren ebenfalls eigene Auftritte, vor allem der Stadtpatron Johannes der Täufer, dem etwa 300 Zeilen gewidmet sind.32 In

29 Eine Beschreibung der Büsten fi ndet sich in: »Lust auf Geschichte – ausgewählte Mo-mente der Künzelsauer Vergangenheit«. Die Städtische Sammlung Künzelsau zu Gast in der Hirschwirtscheuer. Künzelsau: Swiridoff 2005, S. 44, Abb. 30–32. Ich möchte Ursula Angelmaier an dieser Stelle für ihre freundliche Führung durch die von ihr mitorganisierte Ausstellung herzlich danken.

30 Wainwright: Studien zum deutschen Prozessionsspiel (s. Anm. 12), S. 252–255.31 Ebd., S. 42.32 Johannes: Z. 2139a–2405a, 3781a–3785; Maria Magdalena: Z. 2405b–2523, 3797a–

3817; Margareta: Z. 4351–4358. Vgl. auch C. Cliff ord Flanigan, der allerdings Reli-quienprozession und Fronleichnamsprozession z. T. vermengt: C. Cliff ord Flanigan: Liminality, Carnival, and Social Structure: The Case of Late Medieval Biblical Dra-ma. In: Kathleen M. Ashley (Hg.): Victor Turner and the Construction of Cultural Criticism. Between Literature and Anthropology. Bloomington: Indiana University Press 1990, S. 42–63, hier 50–51.

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Anbetracht der örtlichen Wertschätzung dieser Heiligen (bzw. der Ausführung ihrer Reliquienbehälter in Holz statt eines Edelmetalls) erscheint es durchaus plausibel, dass ihre Büsten nach Einführung der Reformation in Künzelsau er-halten geblieben sind. Was aus dem Kreuzreliquiar geworden ist, das als Haupt-schnittstelle zwischen Fronleichnamsspiel und -prozession gedient hat, können wir leider nicht sagen. Möglicherweise ist ihm seine auratische Präsenz, die für die Zuschauer des Fronleichnamsspiels von so großer Bedeutung war, beim bild-stürmerischem Eifer der Reformation zum Verhängnis geworden.