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THEATER IM MITTELALTER IN EUROPA 1 THEATER IM MITTELALTER (CA. 6. BIS 15. JH) IN EUROPA Während sich in Asien in den Jahrhunderten nach der Zeitenwende kontinuierlich Theaterformen entwi- ckelten, kam es in Europa nach dem Untergang des römischen Bühnenwesens nicht nur zum Stillstand in der Theaterentwicklung, sondern das Theater, in seiner bereits entwickelten Form, geriet über 500 Jahre völlig in Vergessenheit. Nachdem durch den aus Griechenland importierten Mimus (Spiel ohne Mas- ken) auch Frauen die Theaterbühne betreten durften/mussten und die ge- zeigten Themen wieder und wieder den Ehebruch betrafen, mit durchaus naturalistischen Darstellungen des Geschlechtsverkehrs, sowie die Riten der christlichen Kirche im Mimus vielfach verspottet wurden, lief die Kirche aus ihrer Sicht verständlicherweise Sturm gegen das Unterhaltungstheater. Im 4. Jahrhundert wurde die Absage ans Theater ins Taufbekenntnis über- nommen, und im 5. Jahrhundert drohte sonntäglichen Theaterbesuchern gar die Exkommunikation. Im Jahre 529 n.Chr. wurden durch Kaiser Justinian (Bild) sämtliche Theater des Reichs geschlossen. Szenisches Spiel auf Straßen und Jahrmärkten konnte dieses Verbot aber nicht unterbinden. Ein Glück! Sonst hätte die nächste europäische Theaterepoche aus dem Nichts heraus geboren werden müssen. In Europa bildeten sich viele Staaten. Handel und Gewerbe im großen Stil gingen zurück. Die Naturalwirt- schaft rückte in den Vordergrund. Der Feudalismus (Lehnswesen) entstand. Das städtische Bürgertum, einst Träger der Kultur, verlor allgemein an Bedeutung. Die christliche Kirche thronte über allem. Und dies tat sie durchaus auch mit Feuer und Schwert. Die mittelalterlichen Menschen wurden als Christenheit deklariert und die Kirche bestimmte alle Bereiche des öffentlichen und sozialen Lebens. Und sämtliche Wissenschaft und Philosophie wurde der Theologie untergeordnet. Versuche, sich dieser Ober- und Übermacht zu ent- ziehen, wurden (im späteren MA) gar mit blutiger Inquisition geahndet. Hexenprozesse sollten blindwütig Reste heidnischer Kultur ausrotten, Ketzerverfolgung diente dem Beseitigen von (reformerischen) Gegnern. Und alles, das nach Theater roch, galt als unmoralisch und schamlos und wurde verdammt. Dennoch hielten sich, am Rande der Gesellschaft, außerhalb kirchlicher Kon- trolle, dafür aber auch bar jeden Schut- zes, Narren und Gaukler als Re- präsentanten des Grotesken und Anima- lischen, sehr zur Freude des städtischen Jahrmarktpublikums, sowie auch der Höfischen, sozusagen über Wasser und in der Theaterbranche. Histriones, Joculatoren und Mimen bezeichneten sie sich und waren Tänzer, Akrobaten, Tierbändiger, Musikanten, Vortrags- künstler. Letztere auch Spilman geru- fen (Bilder) warteten mit Neuigkeiten, Spottversen, gesungenen oder rezitierten Heldensagen und Heili- genlegenden auf. Und waren beinahe überall gern gesehen.

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THEATER IM MITTELALTER (CA. 6. BIS 15. JH) IN EUROPA

Während sich in Asien in den Jahrhunderten nach der Zeitenwende kontinuierlich Theaterformen entwi-ckelten, kam es in Europa nach dem Untergang des römischen Bühnenwesens nicht nur zum Stillstand in der Theaterentwicklung, sondern das Theater, in seiner bereits entwickelten Form, geriet über 500 Jahre völlig in Vergessenheit.

Nachdem durch den aus Griechenland importierten Mimus (Spiel ohne Mas-ken) auch Frauen die Theaterbühne betreten durften/mussten und die ge-zeigten Themen wieder und wieder den Ehebruch betrafen, mit durchaus naturalistischen Darstellungen des Geschlechtsverkehrs, sowie die Riten der christlichen Kirche im Mimus vielfach verspottet wurden, lief die Kirche – aus ihrer Sicht verständlicherweise – Sturm gegen das Unterhaltungstheater. Im 4. Jahrhundert wurde die Absage ans Theater ins Taufbekenntnis über-nommen, und im 5. Jahrhundert drohte sonntäglichen Theaterbesuchern gar die Exkommunikation. Im Jahre 529 n.Chr. wurden durch Kaiser Justinian (Bild) sämtliche Theater des Reichs geschlossen.

Szenisches Spiel auf Straßen und Jahrmärkten konnte dieses Verbot aber nicht unterbinden. Ein Glück! Sonst hätte die nächste europäische Theaterepoche aus dem Nichts heraus geboren werden müssen.

In Europa bildeten sich viele Staaten. Handel und Gewerbe im großen Stil gingen zurück. Die Naturalwirt-schaft rückte in den Vordergrund. Der Feudalismus (Lehnswesen) entstand. Das städtische Bürgertum, einst Träger der Kultur, verlor allgemein an Bedeutung. Die christliche Kirche thronte über allem. Und dies tat sie durchaus auch mit Feuer und Schwert. Die mittelalterlichen Menschen wurden als Christenheit deklariert – und die Kirche bestimmte alle Bereiche des öffentlichen und sozialen Lebens. Und sämtliche Wissenschaft und Philosophie wurde der Theologie untergeordnet. Versuche, sich dieser Ober- und Übermacht zu ent-ziehen, wurden (im späteren MA) gar mit blutiger Inquisition geahndet. Hexenprozesse sollten blindwütig Reste heidnischer Kultur ausrotten, Ketzerverfolgung diente dem Beseitigen von (reformerischen) Gegnern. Und alles, das nach Theater roch, galt als unmoralisch und schamlos und wurde verdammt.

Dennoch hielten sich, am Rande der Gesellschaft, außerhalb kirchlicher Kon-trolle, dafür aber auch bar jeden Schut-zes, Narren und Gaukler als Re-präsentanten des Grotesken und Anima-lischen, sehr zur Freude des städtischen Jahrmarktpublikums, sowie auch der Höfischen, sozusagen über Wasser – und in der Theaterbranche. Histriones, Joculatoren und Mimen bezeichneten sie sich – und waren Tänzer, Akrobaten, Tierbändiger, Musikanten, Vortrags-künstler. Letztere – auch Spilman geru-

fen (Bilder) – warteten mit Neuigkeiten, Spottversen, gesungenen oder rezitierten Heldensagen und Heili-genlegenden auf. Und waren beinahe überall gern gesehen.

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DIE GEISTLICHEN SPIELE IM MITTELALTER EUROPAS

Erstaunlich genug, dass ausgerechnet diese aufs Jenseits ausge-richtete Glaubensgemeinschaft, diese weltfremde Kirche selbst es war, aus der das europäische Theater neu erstand.

Zunächst war da ein Anreichern der auf Latein gehaltenen Liturgie1 mit, durch Papst Gregor I. (590 – 604) vereinheitlicht, Gesängen in festgelegter Weise: dem gregorianischen Choral2. (Überhaupt ließ Gregor den römischen Ritus, der der Liturgie der römisch-katholischen Kirche zugrunde lag, überarbeiten.)

Außerdem, da die Gefahr der Wiederkehr heidnischer Kulte einiger-maßen gebannt schien, wurden erneut theatralische Elemente – auf die das Volk salopp ausgedrückt „abfährt“ – in der Liturgie zugelas-sen: Weihrauch und Kerzen bildeten den Anfang.

Aber dennoch war diese lateinische Liturgie nach wie vor nichts für ein Volk voller Analphabeten. Um aus dem christlichen Elfenbeinturm her-

aus das Volk besser erreichen zu können, wurde auf dem 4. Konzil zu Konstantinopel (692) gefordert, dass das Göttliche Vermenschlicht werden müsse. In Folge lockerte die Kirche das Bilderverbot in den Kirchen.

Gesang, Requisiten und die Erlaubnis Bilder zu präsentieren: die Kirche war bereit für IHR Theater.

Und so begann die Kirche im 10. Jahrhundert die Osterliturgie inszenatorisch auszugestalten:

OSTERSPIELE - Einfügung dramatischer Wechselgesänge zwischen Chor und Solisten - Einführung der Tropen: textliche Erweiterungen der liturgischen Gesänge3 - Herabnahme des Kreuzes (Symbol für Jesus) an Karfreitag; in ein Leichentuch gehüllt wurde es mit feierlicher Prozession zu Grabe getragen - Erhebung des Kreuzes am Ostersonntag für die Auferstehung; hierbei bot die Kernszene mit den drei Marien (Verkündigung) und dem Engel höchstes dramaturgisches Potential. Von Bischof Ethelwood von Winchester wurden hierzu Anweisungen überliefert4:

„Während der Lesung sollen sich vier Brüder umkleiden. Einer von ihnen soll mit der Alba bekleidet hereinkommen, sich an die Grabstelle begeben und dort mit einer Palme in der Hand still hinsetzen. Die drei anderen sollen folgen, mit der Cappa bekleidet und mit Weihrauchfässern in der Hand und sich langsam, als ob sie etwas suchten, dem Grabe nähern. Sie stellen die drei Frauen dar, die mit Spezereien kommen, um Jesu Leichnam zu salben. Wenn nun der am Grab sitzende Bruder, der den Engel darstellt, die Frauen herannahen sieht, soll er mit sanfter Stimme zu singen beginnen: >Wen sucht ihr im Grab, oh Christinnen?< Dann sollen die drei einstimmig antworten: >Jesu Nazarenum, den Gekreuzigten, oh Himmlische.< Dann wieder jener: >Er ist nicht hier, er ist auferstanden, wie er vo-rausgesagt hat. Geht und verkündet allen, daß er von den Toten auferstanden ist.< Daraufhin sollen sich die drei Frauen zum Chor wenden mit den Worten: >Halleluja, der Herr ist auferstanden!< Danach soll der am Grab sitzen-de Engel die Frauen zurückrufen mit der Entgegnung: >Kommt und seht die Stätte, wo der Herr begraben war<.« (Zitiert nach Robert Fricker: Das altere englische Drama. Bd.I. S. 24)

Bald schon gestattete die Kirche sich auch die (wirksame) Hinzunahme burlesker Szenen in die Osterliturgie: - Apostel Petrus und Apostel Johannes beim Wettlauf zum Grab des Auferstandenen - die Marien bei einem geschwätzigen Krämer ihre Salben kaufend (später Krämerspiel5)

1 Anders die Ost-Kirche, die für ihre Liturgie nach dem byzantinischen Ritus die jeweilige Landessprache verwendete – und damit dem

Volk verständlich war. Hier gab es schon relativ früh dialogische Elemente zwischen Priester & Gemeinde. 2 einstimmiger, unbegleiteter, liturgischer Gesang der Römisch-katholischen Kirche in lateinischer Sprache. Als gesungenes Wort

Gottes ein wesentlicher Bestandteil der liturgischen Handlung. 3 Der Quem-quaeritis-Tropus (auch Visitatio sepulchri: ‚Besuch des Grabs‘) ist der erste überlieferte dialogische Text im Rahmen

der mittelalterlichen Liturgie, ein Frage-Antwort-Spiel zwischen Engeln und den trauernden Marien am leeren Grab Christi. Vermut-lich wurde er im Gottesdienst antiphonal gesungen, also durch eine Teilung der Singenden in zwei Hälften. 4 Nach Peter Simhandl, Theatergeschichte in einem Band, Henschel Verlag, © 2007, Seite 54, 55

5 Spiel im Spiel, derb-komische Posse. Es beginnt mit einer Ansage vom Krämergesellen Rubin (später auch im Fast-

nachtsspiel eine eigenständige Figur); wenn die drei Marien da sind, wird die Handlung mit unflätigen Reden begleitet; und während der Krämer Salben mischt, vergnügt sich seine junge Frau in eindeutiger Weise mit dem Gesellen Rubin.

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13. bis 15. Jahrhundert

Christus selbst trat als handelnde und sprechende Figur auf. Dadurch wurden viele weitere Szenen mög-lich, (Maria Magdalenas Begegnung mit dem Auferstandenen, Erscheinung Jesus vor dem ungläubigen Thomas, etc.), bis zurück zur Schöpfungsgeschichte. Und diese stoffliche Erweiterung führte zum

Verlassen des Kirchenraums in einer Prozession umkreisten Geistliche und Gemeinde die Kirche, von Spielort zu Spielort, gelangten wieder zum Portal (=Pforte zur Vorhölle), Christus klopfte an, von drinnen antwortete der Teufel, verwei-gerte den Zutritt, musste am Ende aber doch öffnen und den Gläubigen den Weg in den Himmel freigeben. Parallel zu dieser räumlichen Veränderung vollzog sich auch eine sprachliche:

Elemente der Volkssprache durchdringen das Latein (Nur zur Kenntnisnahme: Dies steht im Zusammenhang mit dem Nominalismus [s. Datei SCHOLASTIK] des engl. Philosophen Wilhelm von Ockham: „Sprache ist Konvention, also gibt es keine heilige Sprache.“)

Gründe für den Wandel vom szenischen Ritual zum religiösen Theaterspiel Sozioökonomische Veränderungen führten zu einem Wandel derart, dass die Berufsstände des Handwerkers und der Kaufleute zunahmen, sich ein selbständiges Bürgertum in den Städten herausbildete. Die Bindung an den Lehnsherrn löste sich mehr und mehr, der Mensch war zunehmend auf sich selbst gestellt. Und er begann dadurch das Vertrauen in die Allmacht und Geborgenheit im Schoße Gottes zu verlieren, wurde Zweifler. Diese Zweifel wieder zu zerstreuen, Glauben wieder zu stärken, setzte sich das das religiöse Theater nun zum Ziel.

Spätmittelalterliche Weltanschauung war geprägt von bürgerlichen Idealen: Sachlichkeit, Kalkül, Realismus. der Symbolismus der Romanik wird verdrängt durch den Naturalismus der Gotik überzeitliche Sinnbilder werden verdrängt durch Abbilder der eigenen Zeit geschlossener Kirchenraum als Bühne wird verdrängt vom offenen Zentrum bürger-lichen Lebens (Marktplatz) die klerikale Spielleitung wurde verdrängt von der Spielleitung der Lehrer, Stadt-schreiber, bildenden Künstler

MYSTERIENSPIELE - Auf den Kirchenvorplätzen wurden „unzählige“ Spielorte im und um das Publikum herum aufgebaut - Inhalt der Spiele waren die Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht - Vor dem Kirchenportal GOTTVATER auf einem Thron im Paradies; auf der gegenüberliegenden Seite

des Platzes ein plastischer Höllenrachen, aus dem JESUS am Jüngsten Tag die Seelen erretten konn-te; dann gingen die Teufel beim Kirchenvolk erneut auf Seelenfang

- Das Leiden JESU, die Passion, bildete meist den räumlichen Mittelpunkt des Spiels - Sämtliche Spielorte & Figuren waren dauerhaft anwesend: Gesamtheit des Ordnungs- & Heilsystems - Die Spiele dauerten mehrere Tage oder gar Wochen - Ältestes deutsches Mysterienspiel „Spiel von den klugen und törichten Jungfrauen“ (1312)

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PASSIONSSPIELE - Höhepunkt und Zielpunkt des gesamten mittelalterlichen Theaterspielens - Bis zu 300 Darsteller waren von Nöten, aus den Reihen der Bewohner. Dabei spielten auch und

vor allem die Handwerkerzünfte eine gewichtige Rolle. Ihnen wurde oft die selbständige Ausge-staltung einzelner Szenen übertragen (Shakespeares Sommernachtstraum, die Handwerker-szenen)

- Frauenrollen wurden aber von Männern dargestellt, da die Bühnenpräsentation des weiblichen Körpers als sündig galt.

[In dtsch. Handschriften des 13. Jahrhunderts sind zwei Passionsspiele bruchstückweise erhalten, von denen das erste, mit hauptsächlich lateinischem Text („Ludus paschalis sive de passione Domini“) einzelne deutsche Strophen enthält, während das andre, von einem höfisch gebildeten Dichter herstammend, ganz in deutscher Sprache gehalten ist.]

Von einem der bedeutendsten Passionsspiele, dem Frankfurter Passionsspiel aus der Mitte des 14. Jahrhun-derts, hat sich das Regiebuch erhalten, die sogenannte Dirigierrolle, ein 4 Meter langer Papierstreifen, in dem neben den zu erwartenden Regieanweisungen auch Stichworte und Einsätze einzelner Figuren, sowie Büh-nenbildanweisungen notiert sind. Auf dem Frankfurter Römerberg waren hierzu in einem Oval ein Dutzend „Loca“ (Spielstände) aufgeschlagen, deren Bedeutung wechselte durch Verwendung unterschiedlicher Versatzstücke in der Ausstattung. Die Zu-

schauer wanderten mit den Darstellern von Stand zu Stand. Da alle „Loca“ zu-gleich einzusehen waren, bezeichnet man diese Bühnenform als „Räumliche Simul-tanbühne“. Wie bereits beschrieben lagen auch hier Himmel und Hölle, als die Ge-genpole eines mittelalterlichen Weltbilds, einander gegenüber, der Raum dazwi-schen war die Welt als Ort des christli-chen Heilsgeschehens. Ein anschauliches Bild von solch einem Spielort kann man sich anhand einer überlieferten Grafik zu den Luzerner Pas-sionsspielen von 1583 machen:

Abb.: Renwart Cysats Plan zu den Luzerner Passionspielen von 1583

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FRANKREICH

Das religiöse Theater in Frankreich spiegelte stärker als das deutsche die sozialen und kulturellen Verhältnisse. Seinen Höhepunkt erreichte es wohl um die Mitte des 16. Jahrhunderts im Passionsspiel von Valenciennes. Dort waren die Spielstände allerdings – wie in Frankreich üblich – an einer Längsachse angeordnet. Man spricht in diesem Fall von einer „Flächigen Simultanbühne“.

(http://library.calvin.edu/hda/node/1308) SPANIEN

Nach Einführung von Fronleichnam wurde das Prozessionsspiel zum wichtigsten geistlichen Spiel in Spanien: prächtige Umzüge, bei denen auf Plattformen lebende Bilder mitgetragen wurden, die sich auf den Plätzen in theatralen Aktionen auflösten.

ENGLAND

Hier dominierten die Wagenbühnenspiele. Im großen Theaterstandardwerk von Kindermann findet man hier-zu einen Bericht eines Zeitzeugen:

„Nach Beendigung des ersten Spiels, das am Tor stattfand, bewegte sich der Wagen zum Haus des Bürgermeisters, und während die Szene dort wiederholt wurde, rückte auf den Platz am Tor der nächste Wagen mit der zweiten Szene vor. So hatte jedes Stück seinen besonderen Wagen, und es wurde auf diese Weise gleichzeitig an mehreren Punkten fortlaufend gespielt, so dass die Zuschauer an den verschiedenen Stationen alle den gesamten Zyklus zu sehen bekamen.“

Aber man kannte in England, vor allem in Cornwall, auch die ‚Räumliche Simultanbühne‘; hier wurden die Stationen in einem Kreisrund auf einem Erdwall errichtet. (s.a. THE CASTLE OF PERSERVERANCE)

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DIE FOLGEN DES REALISMUS (UND DER REFORMATION) IM 16. JAHRHUNDERT

Frauen auf der Bühne

Die zunehmende Realismus-Forderung zu Beginn des 16. Jahrhunderts führte dazu, dass auf den Marktplätzen auch Frauen und Mädchen die Bühne betreten durften. Durch ein wirklichkeitsnahes Spiel sollte das Publikum das Bühnengeschehen stärker erleben können. So gelangten höchst spirituelle, leise Szenen in direkte Bühnennachbar-schaft zu lauten, unflätigen Derbheiten.

Bühne und Requisiten

Und mittelalterliche „special effects“ waren an der Tagesordnung: z.B. trug der Jesus-Darsteller unter seiner Perücke eine mit Blut gefüllte Schweinsblase; bei der Dornenkrönung lief ihm dann das Blut reichlich übers Gesicht. Flug- und Versenkungsapparate, Einrichtungen für Manna-Regen und Wasserwunder, Vorsehungen für „ech-te“ Folterszenen. (Richtig schön grausam konnten die Märtyrerspiele werden; aber sie spielten letztendlich, wie auch die Weih-nachtsspiele, Fronleichnamsspiele, Marienklagen und Weltgerichtsspiele, nur eine untergeordnete Rolle.)

Kostüme

Meist imitierte man einfach die zeitgenössische Mode, da es an historisierendem Geschichtsbewusstsein fehlte. Die Figuren im Spiel wurden symbolisch gekennzeichnet: Juden trugen gelbe Spitzhüte, Feinde Jesu rote Perü-cken, überirdische Figuren: Engel trugen weiße Flügel, der Teufel eine Zottelpelz und eine grausige Maske.

Gestik und Sprechweise

An die Stelle der streng ritualisierten, symbolischen Gebärdensprache trat eine alltägliche Körpersprache; an die Stelle des liturgischen Gesangs ein in gehobenem Ton gesprochenes Wort.

Reformation6

Diese führte vielerorts zu Liquidierung der Passionsspiele, und in den katholisch gebliebenen Gegenden verkam es nach und nach zur reinen Volksbelustigung mit sehr unfrommen Begleiterscheinungen. In Folge sah sich der Klerus genötigt rigorose Verbote gegen die Passionsspiele auszusprechen. Auf den Dörfern, in ländlichen, stadt-fernen Gegenden erhielten sie sich aber – und durch eine neue Religiosität, die im Barock (etwa 1575 bis 1770) aufkam, überlebten sie mancherorts bis ins 20. Jahrhundert (z.B. Oberammergau, erstmals 1634).

6 Die im engeren Sinn kirchliche Erneuerungsbewegung zwischen 1517 und 1648, die zur Spaltung des westlichen Christentums in

verschiedene Konfessionen (katholisch, lutherisch, reformiert) führte.

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ZWISCHEN GEISTLICH UND WELTLICH

MORALITÄT Entwickelte sich aus den Mysterienspielen. Beruht auf der Perso-nifikation abstrakter Eigenschaften und Sachverhalte. Allegorische Stücke mit moralischem oder religiös-lehrhaftem Charakter, in denen die einzelnen Figuren Laster oder Tugenden repräsentier-ten (Wollust, Begehrlichkeit, Neid, Habsucht, Geiz, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Verstand, Klugheit, Gerechtigkeit …), lehrhaft, aber nicht trocken, und durchaus derb. Das dramatische Grundelement ist dabei der Streit. Die Seele des Menschen wird zwischen den guten und schlechten Eigenschaf-ten, zwischen den Tugenden und Lastern, hin und her gezogen. Zeitweilig in den Bann des Bösen geraten siegt am Ende aber na-türlich das Gute durch Gottes Gnade. Abb.: http://library.calvin.edu/hda/node/2878

Die bedeutendsten Moralitäten: - THE CASTLE OF PERSEVERANCE (Das Schloss der Beharrlichkeit), 1425, Cornwall - EVERYMAN (engl.) / ELCKERLIJK (flämisch), Ende 15. JH, etwa 900 Zeilen kurz Nachdichtung von Hugo von Hofmannsthal: JEDERMANN Hatte am 1.12.1911 im Berliner Zirkus Schumann (Regie: Max Reinhardt) Uraufführung. Seit 1920 wird das Stück jedes Jahr bei den Salzburger Festspielen am Domplatz aufgeführt.

Abbildungen: THE CASTLE OF PERSEVERANCE

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DIE WELTLICHEN SPIELE IM MITTELALTER EUROPAS

Blieben in ihrer Bedeutung hinter den geistlichen Spielen zurück.

Ihre Ursprünge finden sich - in den mimischen Aktionen fahrender Spielleute (Joculatores, Histriones) - im vorchristlichen Brauchtum

Aus Fruchtbarkeitsriten entwickelten sich z.B. Streitspiele zwischen den Jahreszeiten („Speel van den Winter ende van den Somer“). Aus der Sitte des Maikönigtums entwickelten sich die mit Gesangs- & Tanzeinlagen angereicherten „Neidhartspiele“.

Unter anderem aus dem Nürnberger Schembartlaufen, bei dem maskierte Handwerksgesellen in kleinen Versen und Liedern Prominente der Stadt verspotteten und für ihre Fehltritte rügten, entwickelte sich das „Fastnachtsspiel“. Aus anfänglichen Improvisationen entstanden ers-te schriftlich fixierte, revueartige Spiele. Ziel des derben und obszönen Spotts waren die Bauern, für die Hand-werker Inbegriff der Dummheit. In seiner frühen Form wurde keine moralische Absicht verfolgt. Erst Hans Sachs hat die Gattung auf ein höheres sittliches und literarisches Niveau gehoben.

FRANKREICH

Hier entwickelte sich in der Mitte des 15. Jahrhunderts die Farce („La Farce de Maître Pathelin“ : ein Spiel vom betrogenen Betrüger). Ursprung: improvisierte Szenen, mit denen sich Handwerker, Kaufleute, Studenten … die Zeit vertrieben. In seiner weiterentwickelten Form lebte die Farce vom Wortwitz und der Situationskomik, von drastischer Spielweise und schauspielerischen Paradenummern. Viel Verwechslung und viel Verkleidung waren ein Muss.

Links

Bei YouTube „Passionsspiele Oberammergau“ eingeben Promotionvideos, die einen ganz guten Eindruck vermitteln

Bei YouTube „Jedermann Salzburg“ eingeben gutes Anschauungsmaterial

Über die Innsbrucker Osterspiele http://de.wikipedia.org/wiki/Innsbrucker_Osterspiel

Text zu den Innsbrucker Osterspielen (Anfang 14. JH) http://www.mod-langs.ox.ac.uk/files/docs/german/Das%20Innsbrucker%20Osterspiel%20-%20Set%20Text.pdf

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Moralität

unten: die 3 Marien am leeren Grab

Clemens Holzmeister: Simultanbühne der Fauststadt, 1933–1937 (Ausschnitt) Foto: Karl Ellinger – Salzburger Festspiele