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Theorien der sozialen Gerechtigkeit

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Theorien der sozialen Gerechtigkeit

Wolfgang Kersting

Theorien der sozialen Gerechtigkeit

Verlag J. B. Metzler Stuttgart· Weimar

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Theorien der sozialen Gerechtigkeit / Wolfgang Kersting. - Stuttgart; Weimar: Metzler, 2000

ISBN 978-3-476-01752-9

ISBN 978-3-476-01752-9 ISBN 978-3-476-01668-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-01668-3

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© 2000 Springer-Verlag GmbH Deutschland Urspriinglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung

und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2000

Fur Angela, Edna und Erasmus

I nhaltsverzeichnis

Vorwort

Zur Semantik der Verteilungsgerechtigkeit .

Wer verteilt? . . . . . . . . . . . . . . . . 2 An wen wird verteilt? . . . . . . . . . . . 3 Debita innata: die 6konomischen Lebensbedingungen

zukunftiger Generationen . . . . . . . . . . . 4 Was wird verteilt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Gott, Schicksal und moralische Weltordnung. . . . . . 6 Guterknappheit und "minimum content of natural law" 7 Kooperationsgemeinschaft und Solidaritatsgemeinschaft 8 Transzendentale Guter. . . . . . 9 Guterrivalitat .......... .

10 Gegebenheiten und Ressourcen 11 Verteilungsgerechtigkeit

und rechtfertigungstheoretischer Subjektivismus 12 Verteilungsgerechtigkeit und Egalitarismus. 13 Egalisierungsoptionen . . . . . . . . . . . 14 Individualistische und institutionalistische

Gerechtigkeitstheorien. . . . . . . . . . .

II Zur Geschichte der Verteilungsgerechtigkeit

1 /ustitia directiva und iustitia distributiva . . 2 Arithmetische und geometrische Gleichheit 3 Aristoteles und Platon . . . . . . . . . . 4 Hobbes uber distributive Gerechtigkeit . 5 Distributive Gerechtigkeit bei Kant . . . 6 Die iustitia distributiva Gottes . . . . . . 7 Gerechtigkeit und gesellschaftliche Wohlordnung

bei Rawls und Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Hayek und "die Illusion der sozialen Gerechtigkeit" 9 Autonomieethische Verteilungsgerechtigkeit

des egalitaren Liberalismus . . . . . . . . . . . . .

III Soziale Gerechtigkeit und Differenzprinzip bei John Rawls .

Vertrag, Urzustand und allgemeine Verteilungsgerechtigkeit .

2 Konfliktgrammatik des Ausgangszustandes 3 Koordination und Kooperation . . . . . . . 4 Soziale Grundguter, Lebensplane und das Gute

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VIII Inhaltsverzeichnis

5 Kantischer Konstruktivismus und Gerechtigkeit 83 6 Zwei Grundsatze der Gerechtigkeit . . . . . . . 92 7 Das Differenzprinzip und die falsche Genauigkeit

in der politischen Philosophie . . . . . 95 8 Gerechtigkeit und Effizienz . . . . . . . 106 9 Die Politikferne des Differenzprinzips. . 109

10 Naturliche Freiheit, Liberale Gleichheit und Differenzprinzip. . . . . . . . . . . 112

11 Differenzprinzip und egalitaristische Gerechtigkeit 118 11.1 Das Argument von der moralischen Willkur . 120 11.2 Soziale Gerechtigkeit und Ackermans Master Geneticist 124 11.3 Verdienst versus berechtigte Erwartung . . . . . . . 126 11.4 Das Argument vom Gemeinbesitz der Begabungen. 133 11.5 Gerechtigkeitstheorie und Personenkonzeption. 137 11.6 Kontingenz, Selbstaneignung

und Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . 147 12 Differenzprinzip und Sozialstaatsbegrundung. . . . . 159

12.1 Konvergenz von Gerechtigkeitsgemeinschaft und Kooperationsgemeinschaft . . . . . . . . . . 160

12.2 Eine kontraktualistische Begrundungsskizze fur Sozialstaatlichkeit . . . . . . . 163

13 Benutzungsgebuhr statt common asset: ein alternatives Begrundungsargument 168

IV Ressourcengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit: Ronald Dworkins Interpretation der liberalen Gleichheit . 172

Vertrag und menschenrechtliche Tiefengrammatik . 172 2 Freiheit, Gleichheit und Autonomie. . . . . . . . . . 173 3 Egalitaristischer Ordnungsentwurf . . . . . . . . . . 178 4 Neutralitatsliberalismus und Gleichheitsliberalismus . 180 5 Wohlfahrtsgleichheit und Ressourcengleichheit . 183 6 Gerechte Verteilungen sind ,ambition-sensitive'

und ,endowment-insensitive' . . . . . . . . 189 7 Dworkins Prinzip der Ressourcengleichheit. . . . 193

7.1 DieAuktion 193 7.2 Naturliche Benachteiligung und Ressourcengleichheit

7.2.1 Die Kompensationsl6sung 7.2.2 Das Argument des Takts ........ . 7.2.3 Die Versicherungsl6sung ........ . 7.2.4 Noch einmal: Ressourcengleichheit und

Wohlfahrtsgleichheit . . . . . . . . . . . 7.3 Naturliche Begunstigung und Ressourcengleichheit. 7.4 Marktrisikoversicherung ........... . 7.5 Ressourcengleichheit in der wirklichen Welt .... .

197 198 200 201

203 205 209 212

Inhaltsverzeichnis IX

7.6 Nur eine drittbeste L6sung . . . . . . . . . . . . . 214 7.7 Strukturpolitische Zuruckhaltung . . . . . . . . . . 216 7.8 Das Ressourcengleichheitsprinzip ist unbegrundet 219

8 Wohlfahrtsstaat, individuelle Autonomie und burgerliche Selbstandigkeit . . . . . . . . . . . . . . 221

9 Liberaler Egalitarismus und Arbeitslosigkeit . . . . 224 10 Institutionalistische und individualistische Theorien

der Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . 226 11 "A Bureaucratic Nightmare". . . . . . . . . . . . . . 236 12 Cartesian ism us der Verteilungsgerechtigkeit. . . . . 240

12.1 Philosophische Scheidekunste: Rousseau und Dworkin . 245 12.2 Person und Kontingenz bei Dworkin und Rawls. 250

13 Autonomie, Natur und Egalisierungstechnologie . . . 253 14 Sockelegalitaristische Ressourcengleichheit ...... 260

14.1 Gerechtigkeitsdialoge in Ackermans Raumschiff. 260 14.2 Genuine equality of opportunity und stakeholder society:

Ackermans und Aistotts Vorschlag zur Ressourcengleichheit . 263 14.3 Van Parijs' "Unconditional Basic Income". . . . . 266 14.4 Basiseinkommen, Burgergeld und Burgerarbeit . . . . . .. 274

V Gerechtigkeitsphilosophie und Gesellschaftskritik: Thomas Nagels moralischer Kathedersozialismus. 280

Gleichheit und Unparteilichkeit . . . . . . . 282 2 Imaginative Identifikation . . . . . . . . . . . . 285 3 Moralismus, Sozialismus, Gesellschaftskritik . . 288 4 Deduzierter Egalitarismus, common sense und Solidaritat 290 5 Das Problem der Motivation. . . . . . . . . . . . . . . 291 6 Das Beste von allem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 7 Schematische Darstellung des Nagelschen Arguments 296 8 Politisch bedeutungslose philosophische Radikalitat . 297 9 Distributionsfixierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

VI Selbstbesitz, Freiheit und Gerechtigkeit. Robert Nozicks Gerechtigkeitstheorie des absoluten Eigentums . . . . 301

Soziale Gerechtigkeit und absolutes Eigentumsrecht 302 2 Die Grundsatze der entitlement theory. . . . . . . . 305 3 Gerechtigkeit und Geschichtskorrektur . . . . . . . . 306 4 Historische Grundsatze und strukturelle Grundsatze 309 5 Das Wilt-Chamberlain-Beispiel . . . . . . . . . 315 6 Der Grundsatz der gerechten Appropriation . 320

6.1 Lockes Konzeption des Arbeitseigentums . 322 6.2 Das Lockesche und das Nozicksche Proviso 323 6.3 Nozicks Proviso und minimale Sozialstaatlichkeit 327

X Inhaltsverzeichnis

7 Kritik der Nozickschen Aneignungstheorie . 8 Die Geschichte von Adam und Bedam . . . 9 Selbstbesitz, Dingbesitz und Eigentumsrecht 10 Libertare Self-ownership-These, unverkurztes

Autonomieverstandnis und Minimalsozialstaat 11 Rechte ohne Grunde . . . . . . . . . . . . . . .

11.1 Menschenrechte sind grammatische Satze . 11.2 Koharentistische Begrundung .. 11.3 Monismus der negativen Freiheit . . . . . .

VII Liberalismus sans phrase I: Verdienstethischer Naturalismus und Entwicklungschancengleichheit .

Rousseau und Rawls. . . . . . 2 Kritik der Rechtsform . . . . . 3 Fairer Wettbewerb und Gleichheit . 4 Prozedurale FairneB und HintergrundfairneB. 5 Verdienstethische Entdramatisierung der Differenz

von Natur und Freiheit . . . . . . 6 Eine miBgluckte Metapher . . . . . 7 Eine perfektionistische Deutung

des Prinzips der Chancengleichheit

VIII Liberalismus sans phrase II: Politische Solidaritat und Eigenverantwortung .

Ein Paradigmenwechsel ............ . 2 Sozialstaatsinterne Gerechtigkeitsprobleme:

Ausbildungsfinanzierung und Rentensicherung 3 Drei Klassen sozialer Normen . . . . . . 4 Verteilungsgerechtigkeit und Gleichheit. 5 Solidaritat und Suffizienz. . . 6 Kein Wohlfahrtsminimalismus 7 Wohlfahrtsrechte . . . . . . . 8 Schuldigkeit und Gutigkeit . . 9 Wohlfahrtsstaatskritik, Starkung der

Eigenverantwortung und offensive Arbeitsmarktpolitik .

Bibliographie . .

Personenregister

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336 346 347 348 350

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Vorwort

"The issues are so complex and ramified that any simplicistic doctrine proposing an easy answer to the riddle of distributive justice can be dismissed out of hand" (Nicholas Rescher, DistributiveJustice).

Friedrich August von Hayek hat den Verdacht geaufiert, daB der Begriff der sozia­len oder distributiven Gerechtigkeit eine Bedeutungschimare, ein semantisches Irr­licht sei. In dieser Vermutung sah er sich unter anderem auch dadurch bekraftigt, daB die Anhanger und Freunde der sozialen Gerechtigkeit bis heute sich nicht dar­auf haben einigen konnen, was denn unter einer gerechten Verteilung okonorni­scher Guter zu verstehen sei.1 Jeder Blick in die Wirklichkeit wie in die Theorie be­statigt diesen deprimierenden Befund aufs neue. Bis heute ermangelt der Sozialstaat einer zuverlassigen normativen Hintergrundtheorie. Dies ist uberaus bedenklich, denn selbst die maBvollste sozialstaatliche Umverteilung bedeutet eine Einschrankung der burger­rechtlichen Verfugungsfreiheit uber den Ertrag der eigenen Leistung. Der Sozial­staat ist also erheblich legitimationsbedurftig. Er verlangt nach einer Begrundung, die einsichtig machen kann, daB das menschenrechtlich ausgezeichnete liberale Ordnungsmodell der Marktwirtschaft und des demokratischen Rechtsstaats aus moralischer Notwendigkeit einer normativen Einschrankung unterworfen werden muB. Diese Begrundungslast wiegt besonders schwer, weil die mogliche gerechtig­keitstheoretische Relativierung privater Verfugungsrechte die staatliche Zwangsbe­fugnis einschlieBen muB. Nur zu oft wird ubersehen, daB der Sozialstaat wie der Rechtsstaat ein Zwangssystem ist, daB die Benevolenz wohlfahrtsstaatlicher Vertei­lungen auf einem Sockel erzwungener Abgaben ruht. Ein Sozialstaatsbeweis muB daher einsichtig machen, daB die sozialstaatliche Umverteilung nicht nur moralisch wlinschenswert oder gerechtigkeitstheoretisch erforderlich, sondern vor allem auch legitim erzwingbar ist.

Dieses anspruchsvolle sozialstaatliche Legitimationsprogramm ist bis heute po­litikphilosophisch noch nicht eingelost worden. Statt eines begrifflich scharfen und politisch orientierungskompetenten legitimatorischen Profils kann der herrschende Sozialstaat nur eine diffuse, erheblich gefuhlslastige, freilich in hohem MaBe kon­sensfahige Gerechtigkeitsprasumtion vorweisen. Sie bildet den undeutlichen Hin­tergrund einer fUr den politis chen Alltag wie fur das Selbstverstandnis des Sozial­arbeiterwesens gleichermaBen tauglichen Gebrauchsrhetorik der sozialen Gerechtigkeit, deren politisch-moralische Persuasivitat im umgekehrten Verhaltnis

1 Hayek 1996.

2 Vorwort

zur semantischen Klarheit steht. Gerade weil der Begriff der distributiven Gerech­tigkeit keine kriterielle Scharfe besitzt, vermag er sich natiirlich dem politis chen Op­portunismus und den Begehrlichkeiten der Verteilungslobby zu empfehlen. Er ist moralisch geschmeidig, kann jedem Maximierungsinteresse den Anschein morali­scher Berechtigung geben. Die Rhetorik der sozialen Gerechtigkeit beutet undeut­liche moralische Intuitionen aus und bietet die jeweils angestrebte sozio-okonomi­sche Besserstellung als inhaltliche Klarstellung an. Der Wunsch nach deutlicherer begrifflicher Kontur findet freilich in den Grundiiberzeugungen des common sense genausowenig Riickhalt wie in der Grammatik unserer politisch-kulturellen Selbst­verstandigung. Die Frage gerechter Verteilungskriterien gehort zu den dunkelsten Zonen des moralischen BewuBtseins; keinerlei geteilte Uberzeugungen bieten hier eine gesicherte Wissensgrundlage. Was eine gerechte Verteilung ist, versteht sich nicht von selbst. Auch ist nicht zu hoffen, die Umrisse einer allgemein zustimmungsfahigen Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit im direkten Zugriff auf unsere grundle­genden normativen Wert- und Beurteilungsperspektiven gewinnen zu konnen. Es bedarf daher aufwendiger Interpretations- und Explikationsanstrengungen, urn einen plausiblen Argumentationszusammenhang zwischen den unangefochtenen normativen Grundorientierungen und den problemangemessenen Grundsatzen einer gerechten Verteilung herzustellen. Ein sorgfaltiges Abwagen ist notig, urn die unterschiedlichen Anspriiche unserer moralischen Basisprinzipien auszubalancie­ren und dem Begriff der Verteilungsgerechtigkeit einen festen Halt im vielstrangi­gen Dimensionsgeflecht der grundlegenden moralischen Wertperspektiven unseres ethisch-kulturellen Selbstverstandnisses zu geben.

Daher ist es nicht verwunderlich, daB nur im Rahmen des philosophischen Libe­ralismus Theorien der Verteilungsgerechtigkeit entwickelt worden sind. Denn nur der philosophische Liberalismus ist aufgrund seiner konstruktivistischen Erkennt­nistheorie methodologisch in der Lage, diese Herausforderung anzunehmen und eine gerechtigkeitstheoretische Sozialstaatsbegriindung zu entwerfen. Durch philo­sophieeigentiimliche begriffliche Zuspitzung und gedankliche Radikalisierung zum einen, durch die Verwendung geeigneter Modelle, Konstrukte und kontrafaktischer Arrangements zum anderen vermag er den argumentativ-interpretativen Briicken­schlag zwischen den allgemeinen Wert- und Beurteilungsperspektiven unseres moralischen Selbstverstandnisses und der besonderen Problemstruktur der Frage gerechter Verteilung zu leisten, der erforderlich ist, urn Distributionsprinzipien zu entwickeln, die zugleich in den normativen Grundlagen unserer moralischen und politis chen Uberzeugungen wurzeln und eine problemgerechte Klarstellung bie­ten und daher den diffusen wohlfahrtsstaatlichen Diskurs der sozialen Gerechtig­keit philosophisch disziplinieren konnen. Ein solcher Rationalitatsfortschritt ist nur von dem hermeneutischen Konstruktivismus des Liberalismus zu erwarten, nicht jedoch von dem Kommunitarismus.2 Daher sucht man auch vergeblich nach

2 Vgl. Kersting 1999b.

Vorwort 3

kommunitaristischen Theorien der Verteilungsgerechtigkeit, die in explikatorischer Konkurrenz zu den Gerechtigkeitskonzeptionen des Liberalismus alternative ge­rechtigkeitstheoretische Ausdeutungen unserer moralischen Oberzeugungen an­bieten. Denn der Kommunitarismus biirdet anfallende Rechtfertigungslasten un­mittelbar geteilten Oberzeugungen, gemeinsamen Wertvorstellungen und lebensweltlichen Oblichkeiten auf. Jedoch herrscht gerade auf dem Gebiet der so­zialen oder distributiven Gerechtigkeit ein eklatanter Mangel an Selbstverstandlich­keit. Daher sind hier philosophische Problemvermessungen, begriffliche Klarun­gen und normative Abwagungen natig, urn unter Einsatz bewahrter, insbesondere der kontraktualistischen Begriindungstradition entstammender Konzepte koharente Interpretationsvorschlage zu erarbeiten. Und diese Explikations- und Interpretationsleistungen kann nur die konstruktivistische politische Philo sophie des egalitaren Liberalismus erbringen.

Angefangen hat es mit John Rawls' Theory of Justice von 1971, in der eine ehrgei­zige vertragstheoretische Begriindung von Distributionsprinzipien fiir soziale und akonomische Grundgiiter entwickelt wird. Dworkin, Nagel, Ackerman und andere haben die Rawlssche Thematik dann aufgegriffen und in zugleich kritischer und sympathetischer Auseinandersetzung mit seinen gerechtigkeitstheoretischen Inno­vationen eigene Konzeptionen der sozialen Gerechtigkeit entwickelt, die sich aile­samt als philosophische Ausdeutung und verteilungsgerechtigkeitstheoretische Ausmiinzung der liberalen Kerniiberzeugung von der grundlegenden moralischen Gleichheit ailer Menschen verstehen. So ist ein vielgestaltiger liberaler Egalitaris­mus entstanden, der das rechtsstaatliche Begriindungsprogramm der klassischen politischen Philo sophie durch ein sozialstaatliches Begriindungsprogramm ver­vollstandigen will. In ihm wird der Gesellschaft die Aufgabe iibertragen, durch eine angemessene Korrektur der Verteilungsentscheidungen des Marktes jeden Biirger mit einem fairen Anteil an den kooperativ erwirtschafteten Giitern zu versorgen. Was die einzelnen Konzeptionen freilich unter einem fairen Anteil verstehen, hangt von dem Equalisandum ab, das die Theorie zur Bemessungsgrundlage der ega­litiiren Gerechtigkeit erklart. Diese Entscheidung hat groBen Einflufi auf die Phy­siognomie des Egalitarismus und das von ihm verlangte gesellschaftliche Vertei­lungsprofil. Unterschiedliche Sozialstaatsbilder entstehen, wenn die Begriindung marktkorrektiver Umverteilungen sich an der Vorstellung der Wohlfahrtsgleichheit orientiert oder sich auf das Programm einer Sicherstellung der Gleichheit lebens­planrelevanter Ressourcen stiitzt, wenn die egalitare Gerechtigkeit den Staat zur Auszahlung eines bedingungslosen und arbeitsfreien Grundeinkommens ver­pflichtet oder sich auf die Einrichtung eines differenzierten Erziehungs- und Aus­bildungswesens konzentriert, das den Individuen gleiche Chancen zur Entwicklung ihrer Fahigkeiten und Fertigkeiten einraumt.

Ich werde in diesem Buch die wichtigsten Gerechtigkeitskonzeptionen des ega­litaren Liberalismus untersuchen: das Rawlssche Differenzkriterium, die Ressour­cengleichheitskonzeption von Dworkin und den Unparteilichkeitsegalitarismus von Thomas Nagel. Jedoch stiitzt sich meine kritische Analyse der egalitaren Ge-

4 Vorwort

rechtigkeit nicht allein auf diese drei philosophisch elaboriertesten Theorien des li­beralen Egalitarismus. Ich beschaftige mich auch mit den Konzeptionen von Ackerman und Arneson, mit der Ackermanschen und Alstottschen Vorstellung von einer stakeholder sociery, der Van Parijsschen Idee eines gegenleistungsfreien Grundeinkommens und den Beckschen Oberlegungen zur Burgerarbeit. Eingelei­tet wird diese kritische Analyse des liberalen Egalitarismus durch zwei Kapitel zur Semantik und zur Geschichte der Verteilungsgerechtigkeit. Unter einer Semantik der Verteilungsgerechtigkeitverstehe ich eine metatheoretische Untersuchung, die eine all­gemeine Beschreibung des Theorieprogramms der Philo sophie der Verteilungsge­rechtigkeit gibt, seine Grundbegriffe einfuhrt, seine Grundprobleme aufzeigt und typologische Unterscheidungen fUr einen orientierenden Oberblick uber die Ge­samtdiskussion bereitstellt. Das Geschichtskapitel gibt einen kurzen Einblick in ei­nige wichtige Etappen der Bedeutungsgeschichte des Begriffs der iustitia distributiva.

Eine philosophisch zufriedenstellende Untersuchung von Verteilungsgerech­tigkeitstheorien mun mehrere Fragestellungen miteinander verbinden und meh­rere Betrachtungsebenen durchlaufen. Da ist erst einmal die Frage der internen Konsistenz; da ist zum anderen die Frage der normativen Koharenz; da ist drittens die Frage der philosophischen oder metaphysischen Voraussetzungen und Impli­kationen; und da ist schlienlich die Frage der politis chen Folgen. Die Untersu­chung der internen Konsistenz widmet sich dem inneren Argumentationsgefuge der Theorie, ihrem begrundungstheoretischen Duktus und dem logischen Ver­haltnis ihrer zentralen Lehrstucke. Bei der Frage der normativen Koharenz geht es hingegen um die Beziehungen des entfalteten Gerechtigkeitskonzepts zu den so­wohl von der Theorie selbst in Anspruch genommenen normativen Vorausset­zungen unserer moralischen Grunduberzeugungen als auch zu anderen wichtigen Wertperspektiven und Beurteilungsdimensionen unseres Selbstverstandnisses. Die Frage der normativen Koharenz verlangt also eine kartographische Vermes­sung unserer moralischen Oberzeugungslandschaft, die eine zuverlassige Ortsbe­stimmung der zu untersuchenden Gerechtigkeitskonzeption gestattet. Bei den phi­losophischen oder metaphysis chen Voraussetzungen und Implikationen einer Gerechtigkeitstheorie handelt es sich um zumeist verborgene, von dem Theoreti­ker unbedachte Annahmen und Konsequenzen vornehmlich personentheoreti­scher Natur. Der Kritiker mun diese Voraussetzungen und Implikationen freilegen und ihre Haltbarkeit und Angemessenheit prUfen. In meiner Analyse erweist sich diese dritte Betrachtungsdimension als besonders wichtig, denn es zeigt sich, dan das philosophische Schicksal des egalitaren Liberalismus von einem angemessenen Personen- und Subjektivitatsbegriff abhangig ist, dan gerade die personentheore­tischen Voraussetzungen und Implikationen in hohem Mane uber das Gelingen seiner Gerechtigkeitstheorie entscheiden. Diese Einsicht erreicht man jedoch nur, wenn man die ausgetretenen universalistischen Diskurspfade des moralphiloso­phis chen und gerechtigkeitsphilosophischen Liberalismus verlant, sich nicht auf eine Analyse der internen argumentationslogischen Statik seiner epistemologi­schen Modelle und Konstruktionen beschrankt und die dunkle Metaphysik des

Vorwort 5

Egalitarismus, seine personen- und freiheitsphilosophischen Vorstellungen zu Tage fOrdert.

Auch die vierte Fragestellung konzentriert sich auf eine innerhalb der Theorie­bildung des egalitaren Liberalismus weitgehend unbelichtete Dimension. Es sollte im Rahmen politikphilosophischer Reftexion selbstverstandlich sein, daB sich ge­rechtigkeitstheoretische Entwiirfe ihres Verhaltnisses zur politis chen Wirklichkeit vergewissern, urn angemessene Vorstellungen iiber ihre politischen Kosten und die Konsequenzen ihrer Verwirklichung entwickeln zu konnen. Aber, so wird sich zei­gen, an nichts scheint der egalitare Liberalismus weniger interessiert zu sein als an der gegebenen Wirklichkeit und den Bedingungen seiner zukiinftigen Verwirkli­chung. Jedoch kann einer politischen Philosophie ein derartiger Hartetest nicht er­spart werden; mit ihrer politischen Ernsthaftigkeit steht immerhin auch ihr philosophischer Ruf auf dem Spiel. Daher gehe ich in meiner Untersuchung der Gerechtigkeitskonzeptio­nen des egalitaren Liberalismus auch ihrem Politikverstandnis nacho Ich frage nach ihrer Einschatzung der vorfindlichen wohlfahrtsstaatlichen Realitat und nach ihren politischen Konsequenzen, zum einen nach den politischen Auswirkungen, die diese Theorie hatte, wenn sie Wirklichkeit wiirde, und zum anderen nach ihrer struk­turpolitischen Phantasie, nach den politis chen Instrumenten und Strategien, die in der gegenwartigen Situation anzuwenden waren, urn erste Schritte zur Verwirkli­chung der Theorie zu machen.

Das Ergebnis meiner Untersuchung des Theorieprogramms des liberalen Egalita­rismus ist durch und durch negativ. Auf je unterschiedliche Weise zeigen die Konzeptionen von Rawls, Dworkin, Nage4 Arneson und anderen Egalitaristen, daj die Versuche, dem gerechtig­keitsrelevanten Gleichheitsgedanken iiber den Rahmen rechtsstaatlicher Antidiskriminierungspoli­tik hinaus Bedeutungfor eine marktkorrektive Verteilung soZio-okonomischer Giiter zu geben, ver­hangnisvolle Auswirkungen for Theorie und Praxis hat. Der Versuch, die natiirlichen und sozialen Ausgangsungleichheiten als biirgerrechtliche Anspruchsgrundlage mora­lisch zu diskreditieren, fuhrt zu kontrafaktischen Egalitatskonstruktionen, von denen kein akzeptabler Weg in die politische Wirklichkeit zuruckfiihrt, hat iiberdies be­trachtliche freiheitsprekare Auswirkungen, die die Konzeption des egalitaren Libera­lismus in einen deutlichen Gegensatz zu den Grundiiberzeugungen des normativen Individualismus und den darin begriindeten individualrechtlichen und biirgerrechtli­chen Verfiigungsrechten setzen. Auch wird deutlich, daB die von dem Wohlfahrts­egalitarismus geforderten divers en interpersonellen Eudamonievergleiche nach dem glasernen Biirger verlangen und zur Etablierung einer totalitaren Informationsbe­schaffungsbiirokratie fiihren miissen. Weiterhin ist zu kritisieren, daB insbesondere die Konzeptionen des egalitaren Liberalismus, die auf die Egalisierung der unglei­chen natiirlichen und sozialen Ausgangsbedingungen der individuellen Lebenskar­rieren dringen, sich zur Begriindung ihrer Thesen der Beihilfe iiberaus fragwiirdiger personentheoretischer und metaphysischer Vorstellungen bedienen.

Ein weiterer schwerwiegender Einwand ist methodologischer Natur. Der ega­litare Liberalismus, der Gerechtigkeit als gesellschaftliche Anstrengung urn den Ausgleich der Auswirkungen natiirlicher wie sozialer Ungleichheit versteht, wird

6 Vorwort

unweigerlich dazu getrieben, Gerechtigkeit als Kompensationsmathematik zu ope­rationalisieren. Damit verletzt er nicht nur den beherzigenswerten Grundsatz des Aristoteles, daB die Genauigkeitserwartungen einer Theorie sich an der Natur ihres Gegenstandes ausrichten sollten; damit kappt er vor allem auch alle Verbindung zur politischen Praxis. Die Gerechtigkeitstheorien des egalitaren Liberalismus sind wenig mehr als politisch unverbindliche und begrifflich exaltierte Konstruktions­spiele, die eine um politische Verwirklichungschancen besorgte politische Philoso­phie ebenso enttauschen wie eine um theoretische Klarstellung und Orientierung ihres Handelns bemuhte Politik. Ich komme letztlich zu der Uberzeugung, daB die Vorstellung einer gerechtigkeitsethischen Regulation des Marktgeschehens zum Zwecke der egalitaren Neutralisierung vormarktlicher natiirlicher und sozialer Ungleichheiten oder zur Sicherstellung gleicher welfaristischer Ausschuttungen genau die Kritik verdient, die Hayek gegen das Unternehmen der theoretischen wie politis chen Rettung unserer common-sense-Intuitionen von sozialer Gerechtigkeit ge­richtet hat. Dies Unternehmen ist gescheitert. Der egalitare Liberalismus ist in eine sowohl politikphilosophische wie politische Sackgasse geraten. Das moralische Be­wuBtsein sollte daraus die bittere Lehre ziehen, seinen Vorstellungshaushalt und seine Grundbegrifflichkeit zu revidieren. Eine Verteilungsgerechtigkeit, die den Be­reich ubersichtlicher Allokationssituationen mit eindeutig zustandigen Kriterien verlaBt, und die Gesamtgesellschaft unter die Gerechtigkeitsregie egalitarer Demo­kratie zwingt und in eine heftig rotierende Verteilungsmaschinerie verwandelt, die zur egalitaren Korrektur einer durch vormarktliche Gegebenheiten verursachten Einkommens- und Lebenserfolgsungleichheit eingesetzt wird, sollte nicht langer den Leitstern progressiver und moralisch sensibler Gesellschaftspolitik bilden.

Ich gelange in meiner Untersuchung zu der Uberzeugung, daB eine Sozialstaats­begrundung im Rahmen des egalitaren Liberalismus nicht gelingen kann.3 Ich ge­lange freilich nicht zu der Uberzeugung, daB eine Sozialstaatsbegrundung unmog­lich ist, weil jede Ausweitung kollektiven Handelns uber den rechtsstaatlichen Aufgabenkreis hinaus illegitim sei. Ich halte eine Sozialstaatsbegrundung fur mog­lich; und ich halte sie fUr notwendig. Denn die bestehenden sozialstaatlichen Sy­steme sind nicht nur einer deutlichen und konturenscharfen politis chen Rekon­struktion zu unterwerfen, sie verlangen auch nach einer neuen moralischen Grundlegung, die sich von den vagen Vorstellungen einer sozialen Gerechtigkeit als Gleichheitsherstellung und Ungleichheitskompensation befreit und Halt in den un­strittigen Grundlagen des normativen Individualismus und politischen Liberalis­mus findet. Diese neue moralische Grundlegung verlangt einen Paradigmenwech­sel, einen Wechsel yom gescheiterten Paradigma der egalitaristischen Gerechtigkeit zum Paradigma der politischen Solidaritat.

3 Ich riicke mit diesem Buch daher auch von vielen eigenen friiheren Arbeiten ab, in denen ich dem Theorieprogramm des egalitaren Liberalismus noch mit groBer Sympathie begegnet bin; vgl. z. B. Kersting 1997; Kersting 1998b; Kersting 1999a; Kersting 1999b.

Vorwort 7

Um diese These zu begrunden, unternehme ich zwei Argumentationsschritte. Zuerst vervollstandige ich die Auseinandersetzung mit dem liberalen Egalitarismus durch eine kritische Analyse der sozialstaatspolemischen Position des libertarianism, die Robert Nozick in seinem Buch Anarcry, State, and Utopia von 1974 entwickelt hat und die die bislang theoretisch phantasievollste und argumentativ raffinierteste Zuruckweisung des Sozialstaats bietet. Da auch diese Untersuchung zu einem nega­tiven Ergebnis fuhrt, die Sozialstaatsablehnung genausowenig moralisch uberzeugen kann wie das Projekt egalitarer Verteilungsgerechtigkeit, ist es notwendig, sich nach einer alternativen normativen Grundlage sozialer Sicherungssysteme umzusehen. Ich entwickle daher in einem zweiten Schritt einen Liberalismus der politischen Soli­daritat, stelle die von dieser Liberalismusversion geforderten Revisionen des Sozial­staatsdiskurses der politis chen Philosophie heraus und schildere in Umrissen die von ihr favorisierte politische Praxis. Ich nenne ihn Liberalismus sans phrase.

Dieser Liberalismus ohne Umschweife ist die Antwort auf die vielfaltigen philo­sophischen, methodologischen, moralischen und politischen Schwachen des Egali­tarismus und Libertismus. Der Liberalismus sans phrase verlangt den Ubergang von dem Minimalstaat zu einem Minimalsozialstaat. Die Grenzen des Minimalsozial­staats liegen sowohl diesseits der imaginierten Umverteilungsmaschinerien des Egalitarismus als auch der gegebenen wohlfahrtsstaatlichen Wirklichkeit. Das Redistributionsvolumen der politischen Solidaritat ist wei taus geringer als das der umverteilungsintensiven Programme des Egalitarismus, soil aber auch bei weitem das Sozialbudget unterschreiten, das etwa die bundesrepublikanische sozialsstaat­liche Wirklichkeit zur ungeschmalerten Selbsterhaltung und Zufriedenstellung der etablierten Verteilungslobby benotigt. Der Liberalismus sans phrase verlangt eine sowohl okonomische als auch moralische Evaluation gegenwartiger sozialstaatlicher Verhaltnisse, die die Grundlage for ihre okonomische Restrukturierung und burgerethische Verbesserung bildet. Denn der gegebene Sozialstaat hat nicht nur die Grenzen seiner Finanzierbarkeit erreicht, er erzeugt auch immense moralische Kosten. Als soziale Rahmenordnung der Marktwirtschaft konzipiert ist der Sozialstaat mittlerweile zu einer burgerfeind­lichen und lebensethisch verhangnisvollen Einrichtung geworden, die Burger in Klienten verwandelt, die aus der lebensethischen und selbstwertstiftenden Balance von Leistung und Gegenleistung geraten und zusehends die Fahigkeit zur eigen­verantwortlichen Lebensfuhrung, zur Selbstbeanspruchung und zum Umgang mit Lebensrisiken verlieren.

Der Liberalismus sans phrase beruht auf vier Saulen. Da ist zuerst der verdienst­ethische Naturalismus, der sich gegen die unangemessenen personentheoretischen Vorstellungen des Egalitarismus richtet und die damit verbundenen Programme einer kontingenzkritischen gerechtigkeitsethischen Korrektur natiirlicher Bega­bungs- und Fahigkeitenunterschiede und unterschiedlicher Sozialisationsmilieus entschieden ablehnt. Mit dem verdienstethischen Naturalismus wird jede Form von Kompensationismus verabschiedet, denn gerade der liberale Egalitarismus zeigt, daB keine Kompensation des geringeren Talents moglich ist, ohne daB die Gesell­schaft das groBere Talent in Produktionshaft nimmt. Politische Solidaritat reagiert

8 Vorwort

im Rahmen verrechtlichter Anspruchsgrundlagen und Auszahlungsverpflichtun­gen auf definierte Bediirfnisse und verwirft jede gesellschaftliche Verantwortung fiir eine Angleichung unterschiedlicher natiirlicher und sozialer Startbedingungen, die iiber die engagierte Gewahrleistung von Chancengleichheit hinausginge. Politi­sche Solidaritat ist dem Suffizienzprinzip verpflichtet, gibt nicht gleich, sondern genug. Da ist zweitens das Prinzip der Entwicklungschancengleichheit. Die gesellschaftli­che Verantwortung fiir Entwicklungschancengleichheit verlangt nicht, wie die Ega­litaristen meinen, die Minderbegabten durch Transferzahlungen zu entschadigen, sondern die Einrichtung eines allgemein zuganglichen, vertikal wie horizontal hin­reichend ausdifferenzierten Erziehungs- und Ausbildungssystems, das jedem die Chance einraumt, seine Begabungen und Talente zu entfalten und die ihm mogli­chen Fahigkeiten zu trainieren. Die dritte Komponente des Liberalismus sans phrase ist eine dem Suffizienzprinzip verpflichtete einkommensneutrale Grundversorgung, die diejenigen, die sich kein hinreichendes Arbeitseinkommen verschaffen konnen und iiber kein Vermogen verfiigen, sozial und finanziell durch einschlagige Lei­stungen verschiedener Versicherungssysteme absichert. Die vierte Komponente des Liberalismus sans phrase ist arbeitsmarktpolitische Offensivitat, denn Arbeit ist nicht nur ein okonornisch wichtiges, sondern auch ein biirgerethisch wertvolles Gut, urn dessen Mehrung sich eine biirgerfreundliche Politik bemiihen mun. Der Liberalis­mus sans phrase verlangt eine Arbeitsmarktpolitik, die der beschaftigungspoliti­schen Unverantwortlichkeit der Tarifparteien zu Lasten der gesetzlichen Kassen und der zukiinftigen Generationen entgegenwirkt und dem ungerechten Lobbyis­mus der organisierten Arbeitsplatzbesitzer ein Ende macht, die durch ein sowohl okonornisch wie ethisch kluges Anreizsystem Eigenverantwortung ermutigt und durch Ausdifferenzierung des Lohnsektors, durch Flexibilisierung der arbeits- und tarifrechtlichen Rahmenbedingungen und durch Subventionsabbau im Fall wirt­schaftlich iiberlebter Industriezweige zum einen und Subventions engagement im Fall zukunftstrachtiger Produktionsentwicklungen zum anderen die Beschafti­gungssituation signifikant verbessert.