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Schultergliedmaße 65 10 Schultergliedmaße 10.1 Gewichtsverteilung und Belastung Der muskuläre Aufbau der Schultergliedmaße unter- scheidet sich aufgrund ihrer Funktion erheblich von dem der Beckengliedmaße. Während die Hintergliedmaße und auch der Rumpf großflächige Muskulatur besitzen, die zur Kraftentfaltung und dem Ausführen von größeren Bewegungen dient, sind die Vordergliedmaßen vor allem mit schmalen, sehnigen Muskeln bestückt. Die Hintergliedmaße hat in der Bewegung die Aufgabe, Schub zu entwickeln, der dann über das Becken und die Wirbelsäule nach vorne weitergeleitet wird. Die Schulter- gliedmaße ist dazu konstruiert, diesen Schub im Augenblick des Auußens und Stützens abzufangen, um dann die kine- tische Energie, die durch das Durchfesseln in der Stützbein- phase entsteht, zu nutzen, um das Pferd für die Vorwärts- bewegung in der Stemmphase (S. 203) aktiv abzudrücken . Damit diese Belastung ohne Verschleiß der beteiligten Gelenke und Bindegewebe ablaufen kann, sind eine ana- tomisch korrekte Gelenkstellung, positiv unterstützende Hufbearbeitung und das Training der Muskel-/Sehnen- konstruktion der Schultergliedmaße erforderlich. Laut Statistik findet man die meisten Sehnen- und Muskelerkrankungen sowie Gelenkentzündungen im Be- reich der Vordergliedmaßen. Hierfür ist u. a. die Ge- wichtsbelastung dieser Gliedmaßen verantwortlich. Der Masseschwerpunkt des Pferdes liegt nicht in der Mitte seines Rumpfes, sondern weiter kranial im Bereich der 11./12. Rippe. Diese Verlagerung nahe an die Vorhand kommt durch die Länge des Pferdehalses und durch die Größe und das Gewicht des Pferdeschädels zustande. Dadurch kommt es zu einer Gewichtsverteilung im Verhältnis der Vorhand zur Hinterhand, bei der die Vor- hand des Pferdes ca. 58 % übernimmt, die wesentlich stärker bemuskelte Hinterhand hingegen nur 42%. Mit dieser natürlichen Vorhandbelastung kann das Pferd im nicht domestizierten Zustand gut leben. k Praxistipp Beobachtet man ein unausgebildetes Pferd auf der Weide in Bewegung, so kann man sehen, dass das Pferd vor- handlastig trabt und galoppiert. Weiterhin bewegt sich das Pferd mit erhobenem Hals, was seinem natürlichen Instinkt als Fluchttier, möglichst viel zu überblicken, ent- spricht. Durch den erhobenen Hals wird die Schulterglied- maße durch ihren Hauptvorführer, den Arm-Kopf-Muskel (M. brachiocephalicus), bewegt. Dies geschieht mit eher gestrecktem Rücken. Da das Pferd in der Natur nicht noch zusätzlich durch Sattel und Reiter belastet wird, hat dieser Bewegungsablauf hier keine strukturellen Folgeschäden. Soll ein Pferd aber zum Reittier umfunktioniert werden, so darf man diesen Bewegungsablauf nicht übernehmen. Sonst kommt es zu Verschleißerscheinungen, vor allem im Bereich der Schultergliedmaßen und des zervikothora- kalen Übergangs. In der Ausbildung zum Reitpferd soll das Pferd lernen, sich über den Rücken zu bewegen, seine Hinterhand unter den Schwerpunkt zu führen und sich zu versam- meln. Dies ist einmal für die Brückenfunktion der BWS (S.174) und LWS von Bedeutung, aber ebenso für die Ent- lastung der knöchernen, muskulären, sehnigen und bandartigen Strukturen der Schultergliedmaße. Durch die korrekte klassische Pferdeausbildung kommt es nur zu einer geringen Verlagerung der Gewichtsvertei- lung Richtung Hinterhand. Viel wichtiger ist aber die Qualität des Bewegungsablaufs in allen 3 Grundgangar- ten an der Hand oder unter dem Reiter. Gewünscht wird eine geschmeidige Muskulatur im Be- reich des Rumpfes und des Schultergürtels, die in der La- ge ist, die Schubkraft der Beckengliedmaße federnd abzu- fangen. Sind diese federnde Muskelarbeit der Rumpfträger (M. serratus ventralis) und ein achsengerechtes Auußen ge- währleistet, so werden die Gelenke der Schultergliedma- ße im Rahmen ihrer physiologischen Möglichkeiten be- lastet. Um dem Pferd diesen geschmeidigen Bewegungsablauf zu ermöglichen, muss der Schwerpunkt des Reiters mit dem Schwerpunkt des Pferdes übereinstimmen. Nur so kann sich das Paar in einer Balance bewegen. Wird der Reiter zu weit nach hinten gesetzt, so wird es dem Pferd erschwert bis unmöglich gemacht, sich im Widerrist auf- zuwölben und seinen Reiter zu tragen. Doch auch eine Gewichtsverlagerung vor den Schwerpunkt des Pferdes bringt es aus der Balance und wird es dazu veranlassen, zu sehr auf die Vorhand (S.198) zu kommen. 10.2 Knochen der Schultergliedmaße Abb. 10.1, Abb. 10.2, Abb. 10.3 und Abb. 10.4 zei- gen das Skelett der Schultergliedmaße. Wichtige Kno- chenpunkte sind beschriftet. 10.2.1 Schulterblatt (Skapula) Das Schulterblatt liegt als platter Knochen dem Thorax des Pferdes an. Sein dorsales Ende (Margo dorsalis) ist von einem Knorpel (Cartilago scapulae) überzogen. Dieser liegt lateral der Dornfortsätze des Widerrists und dient als Muskelansatzfläche, aber auch zur Stoßbrechung. Da- durch erklärt es sich, dass man einen Schulterblattknorpel nur bei Huftieren (härtere Fußung) vorfindet. Die Cartila- go scapulae kann im Alter teilweise verknöchern. Der dorsale Rand des Schulterblatts (Margo dorsalis) ist breit, die Skapula verjüngt sich nach ventral zum Schulterblatthals und endet in der Gelenkpfanne. Ein aus: Wieland u.a., Bewegungsapparat Pferd (ISBN 9783132417250) © 2018 Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

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10 Schultergliedmaße

10.1

Gewichtsverteilung und Belastung

Der muskuläre Aufbau der Schultergliedmaße unter-scheidet sich aufgrund ihrer Funktion erheblich von demder Beckengliedmaße. Während die Hintergliedmaßeund auch der Rumpf großflächige Muskulatur besitzen,die zur Kraftentfaltung und dem Ausführen von größerenBewegungen dient, sind die Vordergliedmaßen vor allemmit schmalen, sehnigen Muskeln bestückt.

Die Hintergliedmaße hat in der Bewegung die Aufgabe,Schub zu entwickeln, der dann über das Becken und dieWirbelsäule nach vorne weitergeleitet wird. Die Schulter-gliedmaße ist dazu konstruiert, diesen Schub im Augenblickdes Auffußens und Stützens abzufangen, um dann die kine-tische Energie, die durch das Durchfesseln in der Stützbein-phase entsteht, zu nutzen, um das Pferd für die Vorwärts-bewegung in der Stemmphase (S.203) aktiv abzudrücken .

Damit diese Belastung ohne Verschleiß der beteiligtenGelenke und Bindegewebe ablaufen kann, sind eine ana-tomisch korrekte Gelenkstellung, positiv unterstützendeHufbearbeitung und das Training der Muskel-/Sehnen-konstruktion der Schultergliedmaße erforderlich.

Laut Statistik findet man die meisten Sehnen- undMuskelerkrankungen sowie Gelenkentzündungen im Be-reich der Vordergliedmaßen. Hierfür ist u. a. die Ge-wichtsbelastung dieser Gliedmaßen verantwortlich. DerMasseschwerpunkt des Pferdes liegt nicht in der Mitteseines Rumpfes, sondern weiter kranial im Bereich der11./12. Rippe. Diese Verlagerung nahe an die Vorhandkommt durch die Länge des Pferdehalses und durch dieGröße und das Gewicht des Pferdeschädels zustande.

Dadurch kommt es zu einer Gewichtsverteilung imVerhältnis der Vorhand zur Hinterhand, bei der die Vor-hand des Pferdes ca. 58% übernimmt, die wesentlichstärker bemuskelte Hinterhand hingegen nur 42%. Mitdieser natürlichen Vorhandbelastung kann das Pferd imnicht domestizierten Zustand gut leben.

k PraxistippBeobachtet man ein unausgebildetes Pferd auf der Weidein Bewegung, so kann man sehen, dass das Pferd vor-handlastig trabt und galoppiert. Weiterhin bewegt sichdas Pferd mit erhobenem Hals, was seinem natürlichenInstinkt als Fluchttier, möglichst viel zu überblicken, ent-spricht. Durch den erhobenen Hals wird die Schulterglied-maße durch ihren Hauptvorführer, den Arm-Kopf-Muskel(M. brachiocephalicus), bewegt. Dies geschieht mit ehergestrecktem Rücken. Da das Pferd in der Natur nicht nochzusätzlich durch Sattel und Reiter belastet wird, hat dieserBewegungsablauf hier keine strukturellen Folgeschäden.Soll ein Pferd aber zum Reittier umfunktioniert werden,so darf man diesen Bewegungsablauf nicht übernehmen.Sonst kommt es zu Verschleißerscheinungen, vor allemim Bereich der Schultergliedmaßen und des zervikothora-kalen Übergangs.

In der Ausbildung zum Reitpferd soll das Pferd lernen,sich „über den Rücken zu bewegen“, seine Hinterhandunter den Schwerpunkt zu führen und sich zu versam-meln. Dies ist einmal für die Brückenfunktion der BWS(S.174) und LWS von Bedeutung, aber ebenso für die Ent-lastung der knöchernen, muskulären, sehnigen undbandartigen Strukturen der Schultergliedmaße.

Durch die korrekte klassische Pferdeausbildung kommtes nur zu einer geringen Verlagerung der Gewichtsvertei-lung Richtung Hinterhand. Viel wichtiger ist aber dieQualität des Bewegungsablaufs in allen 3 Grundgangar-ten an der Hand oder unter dem Reiter.

Gewünscht wird eine geschmeidige Muskulatur im Be-reich des Rumpfes und des Schultergürtels, die in der La-ge ist, die Schubkraft der Beckengliedmaße federnd abzu-fangen.

Sind diese federnde Muskelarbeit der Rumpfträger (M.serratus ventralis) und ein achsengerechtes Auffußen ge-währleistet, so werden die Gelenke der Schultergliedma-ße im Rahmen ihrer physiologischen Möglichkeiten be-lastet.

Um dem Pferd diesen geschmeidigen Bewegungsablaufzu ermöglichen, muss der Schwerpunkt des Reiters mitdem Schwerpunkt des Pferdes übereinstimmen. Nur sokann sich das Paar in einer Balance bewegen. Wird derReiter zu weit nach hinten gesetzt, so wird es dem Pferderschwert bis unmöglich gemacht, sich im Widerrist auf-zuwölben und seinen Reiter zu „tragen“. Doch auch eineGewichtsverlagerung vor den Schwerpunkt des Pferdesbringt es aus der Balance und wird es dazu veranlassen,zu sehr auf die Vorhand (S.198) zu kommen.

10.2

Knochen der Schultergliedmaße

▶Abb. 10.1, ▶Abb. 10.2, ▶Abb. 10.3 und ▶Abb. 10.4 zei-gen das Skelett der Schultergliedmaße. Wichtige Kno-chenpunkte sind beschriftet.

10.2.1 Schulterblatt (Skapula)

Das Schulterblatt liegt als platter Knochen dem Thoraxdes Pferdes an. Sein dorsales Ende (Margo dorsalis) istvon einem Knorpel (Cartilago scapulae) überzogen. Dieserliegt lateral der Dornfortsätze des Widerrists und dientals Muskelansatzfläche, aber auch zur Stoßbrechung. Da-durch erklärt es sich, dass man einen Schulterblattknorpelnur bei Huftieren (härtere Fußung) vorfindet. Die Cartila-go scapulae kann im Alter teilweise verknöchern.

Der dorsale Rand des Schulterblatts (Margo dorsalis)ist breit, die Skapula verjüngt sich nach ventral zumSchulterblatthals und endet in der Gelenkpfanne. Ein

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Margo ventralis ist dadurch nicht vorhanden. Der Margocranialis ist gut zu palpieren, der Margo caudalis meistnur im dorsalen Bereich, danach ist er durch die Muskel-bäuche des M. triceps brachii und des M. latissimus dorsischwer zu ertasten. Am kaudalen Rand entspringen dermächtige M. triceps brachii sowie der M. deltoideus.

Die plane Außenfläche der Skapula wird von der Schul-terblattgräte (Spina scapulae) im Längsverlauf geteilt. Diedadurch entstehenden Schulterblattgruben werden alsFossa supraspinata und Fossa infraspinata bezeichnet. Diekraniale Fossa supraspinata ist wesentlich schmaler alsdie kaudale Fossa infraspinata. Die Muskeln, die in der

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Margo dorsalis

Angulus caudalis

Angulus cranialis

Margo cranialis

Spina scapulaeFossa supraspinata

Tuber spinae scapulae

Tuberculum supraglenoidale

Tuberculum majus

Crista tuberculi majoris

Condylus humeriEpicondylus lateralis

Caput radii

Corpus radii

Os carpi intermediumOs carpi ulnare

Os carpale 3

Os metacarpale 3

Phalanx distalisOs sesamoideum distale

Phalanx media

Phalanx proximalisOs sesamoideum proximalia

Os metacarpale 4Os carpale 4

Os carpi accessorium

Processus styloideus lateralis

Spatium interosseumantebrachii

Corpus ulnae

Olekranon

Tuberolecrani

Fossaolecrani

Crista humeri

Corpus humeri

Collum humeriCaput humeri

Collum scapulae

Fossa infraspinataMargo caudalis

▶Abb. 10.1 Knochen der rechtenVordergliedmaße, laterale Ansicht (Foto: Bea-trix Schulte Wien, Deutsches Institut fürPferde-Osteopathie).

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Fossa supraspinata bzw. Fossa infraspinata ihren Ur-sprung haben, sind nach diesen Flächen benannt (M. su-praspinatus und M. infraspinatus).

Das mediale Schulterblatt weist eine großflächige Fossasubscapularis auf, welcher sich dorsal von kranial undkaudal je eine Facies serrata anschließt. Der M. subscapu-

laris entspringt in der Fossa subscapularis und inseriertam Tuberculum minus. Die Facies serrata dient dem M.serratus ventralis cervicis et thoracis als Insertionsstelle.

Der Margo cranialis weist an seinem distalen Ende eineEinkerbung (Incisura scapulae) auf. Über die Incisura sca-pulae verläuft der von medial kommende N. suprascapu-

10.2 Knochen

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Tuberculum infraglenoidale

Olekranon

Facies serrata

Fossa subscapularis

Incisura scapulae

Processus coracoideus

Tuberculum minus

Tuberositas teres major

Epicondylus medialis

Tuberositas radii

Processus styloideusmedialis

Os carpale 3

Os metacarpale 3

Phalanx proximalis

Phalanx distalisPhalanx media

Os sesamoidea proximalismedialis

Os carpale (1) +2

Os metacarpale 2

Os carpi radiale

▶Abb. 10.2 Knochen der rechtenVordergliedmaße, mediale Ansicht (Foto:Beatrix Schulte Wien, Deutsches Institut fürPferde-Osteopathie).

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laris zu seinem Innervationsgebiet. An dieser Stelle kannes durch Traumata zur Läsion des Nervs kommen.

Der Schulterblatthals besitzt an seinem ventralen Endeeine Gelenkpfanne (Cavitas glenoidalis), die zusammenmit dem Oberarmkopf das Bug- oder Schultergelenk bil-det. Die Cavitas glenoidalis besitzt kraniomedial einen

Einschnitt, die Incisura glenoidalis. Kranial, proximal derGelenkpfanne, sitzt das Tuberculum supraglenoidale, dasdemM. biceps brachii als Ursprung dient.

Medial am Tuberculum supraglenoidale liegt der Raben-schnabelfortsatz (Proc. coracoideus) als Rudiment des Ra-benschnabelbeins. Hier entspringt der M. coracobrachialis.

10 – Schultergliedmaße

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Tuberculum supraglenoidale

Cavitas glenoidaleTuberculum majus

Os carpi intermediumOs carpi radialeOs carpale (1) +2

Phalanx distalisPhalanx media

Phalanx proximalis

Tuberculum minusTuberculum intermediumSulcus intertubercularis

Processus coronoideus lateralis

Processus coronoideus medialis

Os carpale 3Os metatarsale 2Os metatarsale 3

Os metatarsale 4

Os carpale 4

Os carpi urnale

Trochlea radii

▶Abb. 10.3 Knochen der rechtenVordergliedmaße, kraniale Ansicht (Foto:Beatrix Schulte Wien, Deutsches Institut fürPferde-Osteopathie).

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Der Schultergürtel von Wirbeltieren besteht ursprünglichaus 3 Knochen (Schulterblatt, Schlüsselbein und Raben[schnabel]bein). Beim Pferd ist einzig das Schulterblattausgeprägt, das Schlüsselbein (Clavicula) wird nur als Seh-nenstreifen imM. brachiocephalicus angedeutet.

10.2.2 Oberarmknochen (Humerus)

Der Oberarm des Pferdes ist ein kräftiger Röhrenknochenund wird im groben Aufbau in Kopf (Caput humeri), Hals(Collum humeri) und Körper (Corpus humeri) unterteilt.

Der Gelenkkopf zeigt beim stehenden Pferd mit seinerGelenkfläche nach kraniodorsal und artikuliert mit derCavitas glenoidalis der Skapula. Er ist nicht so rund wiebeim menschlichen Skelett, sondern eher flach gewölbt,was für die Biomechanik ausschlaggebend ist.

Kranial bildet der Kopf 2 Höcker aus: den kraniolateralgelegenen großen Rollhügel (Tuberculum majus), der gutzu palpieren ist und als kraniale Abgrenzung des Bugge-lenks dient. Kraniomedial befindet sich der kleine Roll-

hügel Tuberculum minus. Zwischen den beiden Tuberculabefindet sich eine vertikal verlaufende Rinne, der Sulcusintertubercularis. Der Sulcus intertubercularis wird wie-derum in einen medialen und lateralen Abschnitt unter-teilt durch das ebenso vertikal verlaufende Tuberculum in-termedium. Beide Tubercula lassen sich jeweils noch in ei-nen kranialen und einen kaudalen Abschnitt unterteilen.

Durch den Sulcus intertubercularis verläuft die Ur-sprungssehne des M. biceps brachii, die durch Knorpel-einlagerungen verstärkt ist und sich strukturell an dasTuberculum intermedium anpasst. Am Tuberculum majusfinden die Mm. supraspinatus und infraspinatus ihrenAnsatz. Der M. supraspinatus hat sein 2. Ansatzgebiet amTuberculum minus (Pars cranialis), am gesamten Tuber-culum minus inseriert der M. subscapularis.

Kaudal des Ansatzes des M. infraspinatus inseriert derM. teres minor an der Tuberositas teres minor.

Distal der Tuberositas teres minor verläuft die Lineamusculi tricipitis in einem Bogen auf der lateralen Seitedes proximalen Drittels des Humerusschafts. Diese Mus-

10.2 Knochen

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Angulus caudalis

Spina scapulaeFossa subscapularis

Tuberositas deltoidea

Tuberculum minusPars caudalis

Tuberculum infraglenoidale

Epicondylus medialis

Caput radii

Corpus radii

Os carpi accessoriumOs carpi intermediumOs carpi radiale

Os carpale (1)2-4

Os metacarpale 4

Proc styloideusmedialis

Phalanx distalis Os sesamoideum distale

Ossa sesamoidea proximaliaPhalanx media

Phalanx proximalis

Proc styloideus lateralis

Corpus ulnae

Olekranon

Tuber olecrani Fossa olecrani

Corpus humeri

Margo caudalis

Tuberculum majusPars caudalis

Epycondylus lateralis

Spatium interosseumantebrachii

Os metacarpale 2Os metacarpale 3

▶Abb. 10.4 Knochen der rechtenVordergliedmaße, palmare Ansicht (Foto:Beatrix Schulte Wien, Deutsches Institut fürPferde-Osteopathie).

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kellinie bietet dem Caput laterale des M. triceps brachiiseinen Ursprung.

Distal der Linea musculi tricipitis (▶Abb. 10.18) befin-det sich die prominente Tuberositas deltoidea als Ansatz-punkt für den M. deltoideus. Die Tuberositas deltoideazählt zu den palpierbaren Knochenpunkten am Humerus.

Die laterale Seite des Corpus humeri wird vom Sulcusmusculi brachialis durchzogen. In ihm verläuft spiralför-mig der M. brachialis von kaudoproximal nach kraniodis-tal. Mit ihm verläuft der N. radialis, der dem Knochen di-rekt aufliegt und vom Caput laterale des M. triceps bra-chii bedeckt wird. In seinem Verlauf im Sulcus musculibrachialis kann es durch äußere traumatische Einwirkungzu Läsionen des N. radialis kommen.

Medial und etwa auf der Hälfte der Länge des Corpushumeri befindet sich die Tuberositas teres major als An-satzpunkt für den M. teres major.

Distal geht das Corpus humeri in den breiten Gelenk-knorren (Condylus humeri) über, der eine Gelenkrolle(Trochlea humeri) aufweist, die durch eine sagittale Füh-rungsrinne in einen medialen und einen lateralen Ab-schnitt unterteilt wird. Der laterale Abschnitt weist nocheinmal einen sagittal verlaufenden Führungskamm auf.Die Trochlea humeri artikuliert mit Ulna und Radius imEllbogengelenk und weist medial und lateral je eineBandgrube und einen Bandhöcker für den Ansatz der Kol-lateralbänder des Ellbogengelenks auf.

Kaudal des Condylus humeri befinden sich 2 Epicondy-len: Am Epicondylus medialis entspringen die Beugemus-keln des Unterarms, am Epicondylus lateralis die Unter-armstrecker. Die kaudale Vertiefung zwischen den beidenEpicondylen (Fossa olecrani) nimmt den Proc. anconeusdes Olekranons auf.

10.2.3 Unterarmknochen (Radius und Ulna)

Der Unterarm wird von der Speiche (Radius) und der ihrkaudal anliegenden Elle (Ulna) gebildet. Der Radius bildetden Unterarm in seiner vollen Länge aus, die Ulna ist nurim proximalen Drittel zu finden und verwächst an ihremdistalen Ende mit dem Radius. Radius und Ulna sind nichtwie beim Menschen gelenkig verbunden. Der freie Raumzwischen beiden Knochen, der proximal offen bleibt, wirdals Spatium interosseum antebrachii bezeichnet. Das Bin-degewebe, das Ulna und Radius verbindet (Membrana in-terossea antebrachii), verknöchert in fortgeschrittenemAlter. Übrig bleiben Reste, die proximal als mediales undlaterales Querband zwischen Elle und Speiche dienen.

Radius

Der Radius ist beim Pferd der Unterarmknochen, der dieHauptlast übernimmt. Er ist ein einfacher Röhrenkno-chen mit Caput, Collum und Corpus radii. Das Caput radiiweist eine konkave Gelenkfläche, die Fovea capitis radii,auf. Sie dient der Artikulation mit der Trochlea humeri

zum Ellbogengelenk. Ihr mediolateraler Durchschnitt istgrößer als der kraniokaudale. Lateral und medial liegenBandhöcker, an denen die Kollateralbänder des Ellbogen-gelenks ansetzen. An der dorsomedialen Seite befindetsich die Tuberositas radii, die dem M. biceps brachii alsAnsatz dient. An der medialen Fläche des Corpus radii be-findet sich keine Muskulatur, sie liegt unmittelbar unterder Haut (Planum cutaneum). Die laterale Seite wird vonden Unterarmstreckern bedeckt.

Die Gelenkrolle (Trochlae radii) bildet das distale Endeder Speiche und dient zur Artikulation mit dem Karpal-gelenk (Facies articularis carpea). Die Facies articulariscarpea ist konkav, im kaudalen Abschnitt konvex. Kaudalund etwas proximal der Trochlea verläuft eine transver-sale Knochenleiste (Crista transversa) als Insertionsflächefür Bänder. Auf der kranialen Seite verlaufen proximalder Trochlea 3 vertikal ausgerichtete Rinnen: In der me-dialen Rinne verläuft der M. abductor pollicis longus, inder mittleren der M. extensor carpi radialis und lateralder M. extensor digitalis communis. Es besteht auch eindistaler Fortsatz auf der medialen Seite der Speiche, derProc. styloideus medialis.

Ulna

Das proximale Ende der Ulna überragt den Radius undwird als Ellbogen (Olekranon) bezeichnet. Der Ellbogen-höcker (Tuber olecrani) dient allen 3 Köpfen des M. tri-ceps brachii als Ansatz und reicht kaudal bis zur 5. Rippe.Die kranial ausgeprägte Gelenkfläche zur Artikulationmit der Trochlea humeri (Incisura trochlearis) ist in ih-rem distalen Anteil immer knorpelfrei, was darauf hin-weist, dass sie nicht die Last des Humerus trägt, sondernein kaudales Widerlager und die Limitierung der Exten-sion im Ellbogengelenk zur Aufgabe hat. Kraniodistal derIncisura trochlearis ragt der Proc. anconeus hervor. Distalder Incisura trochlearis liegt die Incisura radialis, die mitdem Radiuskopf artikuliert. Sie ist trotz Verwachsung derbeiden Knochen ausgebildet. Lateral der Incisura radialiserheben sich medial und seitlich die sog. Kronenfortsätze(Procc. coronoideus lateralis und medialis).

Das Corpus ulnae ist beim Pferd kurz, da die Elle mitder Speiche verschmilzt. Das distale Ende des Radius, derProc. styloideus lateralis, wird entwicklungsgeschichtlichaber als Endstück der Ulna gesehen.

10.2.4 Vorderfußwurzelknochen(Ossa carpi)

Antebrachiale oder proximale Reihe

Zu den Knochen der proximalen (antebrachialen) Vorder-fußwurzelreihe gehören, von medial aufgezählt:● Os carpi radiale● Os carpi intermedium● Os carpi ulnare● Os carpi accessorium

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Das Os carpi radiale ist der größte Knochen in dieser Rei-he, während das Os carpi ulnare den kleinsten Anteil bil-det. Das Os carpi accessorium liegt am weitesten lateralund besitzt sowohl eine Gelenkfläche zum Radius (Proc.styloideus lateralis) als auch zum Os carpi ulnare.

Dem Os carpi accessorium kommt eine Sonderstellungunter den Handwurzelknochen zu. Der auch als Erbsen-bein bezeichnete Knochen hat abgesehen von der Stoß-brechfunktion, welche er mit den anderen Knochen über-nimmt, noch weitere wichtige Funktionen. Er dient denMm. flexor und extensor carpi ulnaris als Ansatz. Durchseine Lage schützt er die medial von ihm verlaufendenBeugesehnen. Durch eine Blockade kann er zu Reizungender tiefen und oberflächlichen Beugesehne wie auch derSehnenscheide kommen.

Metakarpale oder distale Reihe

Die 5 Knochen der distalen (metakarpalen) Reihe, vonmedial gezählt, heißen:● Os carpale primum (C I)● Os carpale secundum (C II)● Os carpale tertium (C III)● Os carpale quartum (C IV)● Os carpale quintum (C V)

Das Os carpale primum ist, vom medialen Seitenband be-deckt, etwa linsengroß. Häufig ist es nicht als einzelnerKnochen ausgebildet, sondern mit dem Os carpale secun-dum verwachsen. Es kann auf dem Röntgenbild mit einerChipfraktur verwechselt werden. Das Os carpale secun-dum gibt das Gewicht des Pferdes hauptsächlich an dasMC II (mediales Griffelbein) weiter. Das Os carpale terti-um (C III) ist der stärkste Knochen der distalen Reihe undartikuliert distal ausschließlich mit dem MC III. Das Oscarpale quartum (C IV), überträgt sein Gewicht sowohlauf das MC III als auch auf das MC IV. Das Os carpalequintum (C V) ist nur sehr selten nachweisbar.

10.2.5 Mittelhandknochen(Ossa metacarpalia)

Der fünfstrahlig ausgebildete Metakarpus, wie er bei unsMenschen und den Fleischfressern zu finden ist, hat sichbeim Pferd auf 3 Knochen reduziert. Die Last trägt dasMetakarpale III (Röhrbein), Metakarpale II und IV sind alsmediales und laterales Griffelbein noch rudimentär vor-handen.

Das Metakarpale III ist als tragender Röhrenknochenausgebildet. Seine Basis besitzt Gelenkflächen zur Artiku-lation mit C II, III und IV. Auf seiner dorsomedialen Seitebefindet sich die Tuberositas ossis metacarpalis III als An-satz für den M. extensor carpi radialis. Der Körper (Cor-pus) bildet das lange Mittelstück der Röhre, das distaleEnde bildet der Kopf (Caput), an dem sich Bandhöckerund -gruben für die Seitenbänder des Fesselgelenks be-

finden. Die Gelenkfläche des Caput ossis metacarpalis IIIzum Fesselbein weist einen sagittal verlaufenden Kammauf, der die Gelenkrolle teilt.

Die Griffelbeine liegen dem Metakarpale III palmar an.Sie besitzen proximal jeweils eine relativ breite Basis(Köpfchen) und an ihrem distalen Ende ein Knöpfchen,das unter der Haut gut zu tasten ist. Die Basis des medialgelegenen Metakarpale II artikuliert mit C I (falls vorhan-den) und C II, das lateral gelegene Metakarpale IV mit CIV und falls vorhanden mit C V. Die Griffelbeine reichenbis ins distale Drittel des Metakarpale III, wobei das me-diale Knöpfchen meistens weiter distal liegt.

10.2.6 Vorderzehenknochen(Ossa digitorum manus)

Das Pferd steht im Vergleich mit dem Menschen sozusa-gen auf den Spitzen seiner Mittelfinger (▶Abb. 10.31).End-, Mittel- und Grundgelenk des menschlichen Mittel-fingers entsprechen dem Huf-, Kron- und Fesselgelenkdes Pferdes.

In diesem Zusammenhang bezeichnet man das Hufbeinals Phalanx distalis, das Kronbein als Phalanx media unddas Fesselbein als Phalanx proximalis.

Zu den 3 Phalangen der Zehe gehören ebenso 3 Sesam-beine: Das Strahlbein (Os sesamoideum distale) und diebeiden Gleichbeine (Os sesamoidea proximalia).

Fesselbein (Os compedale)

Die Phalanx proximalis (Fesselbein, Os compedale) ist einkurzer Röhrenknochen und im Verhältnis zum restlichenPferdekörper rasse- und typbedingt unterschiedlich lang.Pferde mit längerer Fessel fußen elastischer als Pferdemit kurzem Fesselbein, die eher hart zu sitzen sind.

Distal findet man am Fesselbein eine sattelförmige Ge-lenkerhöhung (Trochlea), die von einer sagittal verlaufen-den Furche geteilt wird. Mit dieser Sagittalrinne artiku-liert der Sagittalkamm des Kronbeins. Diese anatomischeVorrichtung macht das Krongelenk zum Sattelgelenk, dasvorrangig als Wechselgelenk fungiert. Rotationen, Abduk-tion und Adduktion sind nur begrenzt möglich.

An der Palmarfläche bilden 2 Fesselbeinleisten das Fes-selbein-Dreieck (Trigonum phalangis proximalis).

Gleichbeine

Die proximalen Sesambeine (Ossa sesamoidea proxima-lia) sind in die Gelenkkapsel des Fesselgelenks integriert.Sie sind paarig angelegt und spiegelgleich in ihrer Form,daher ihre Bezeichnung als Gleichbeine. Mit ihrer dorsa-len Fläche liegen sie dem Fesselbein distal an. Ihre pal-mare Fläche dient der tiefen Beugesehne als Gleitlager.Auf ihrer Höhe ändert sich die Richtung des Sehnenver-laufs; sie vergrößern durch ihre Konvexität nach palmardie Hebelwirkung der Beugesehnen.

10.2 Knochen

Schu

ltergliedm

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Kronbein (Os coronale)

Die Phalanx media (Kronbein, Os coronale) ist nach distalkonvex und nach proximal konkav geformt. Der mittlereTeil, der Körper (Corpus) des Kronbeins, ist quaderförmig.Die Bandgruben für die Ligg. collateralia liegen eher dor-sal.

Das Kronbein besitzt dorsal einen Proc. extensorius,der der gemeinsamen Strecksehne einen Ansatz bietet.Palmar bildet sich eine Verdickung zur Kronbeinlehne(Tuberositas flexoria) aus, an der die oberflächliche Beu-gesehne ihren Ansatz findet.

Der proximale Anteil des Kronbeins weist eine Gelenk-vertiefung (Fovea articularis) auf. Diese wird durch einenSagittalkamm zweigeteilt und artikuliert mit dem Fessel-bein.

Hufbein (Os ungulare)

Das Hufbein (Phalanx distalis) befindet sich vollständig inder Hufkapsel. Dem Hufbein seitlich angelagert sind je-weils die Hufknorpel zu finden. Das Hufbein ist mit demKronbein durch ein reines Sattelgelenk, dem Hufgelenk,verbunden. Die 3 Flächen des Hufbeins sind:● Wandfläche (Facies parietalis)● Sohlenfläche (Facies solearis)● Gelenkfläche (Facies articularis)

Die Facies parietalis bildet den Rückenteil, die knöcherneGrundlage der Zehenspitze und die beiden Seitenteile.Der mediale Seitenteil steht von Natur aus steiler als derlaterale. Die Facies solearis stellt die konkave Sohlenflä-che dar. Auf ihr befindet sich die Ansatzstelle der tiefenBeugesehne (Facies flexoria). Die Facies flexoria besitztzudem 2 große Sohlenlöcher (For. solare mediale und For.solare laterale), durch die die Zehenarterien verlaufen.Die Wand- und die Sohlenfläche bilden den Tragrand,wobei das Gewicht des fußenden oder stehenden Pferdesbereits im Inneren der Hornkapsel abgefangen wird.

Die Facies articularis kontaktiert das Kronbein. Pro-ximal am Hufbein befindet sich der Kronrand, den mannicht knöchern palpieren kann, da er in der Hufkapselliegt. Zu palpieren ist das Saumband, das über den Kron-rand läuft. Dorsal am Kronrand befindet sich der Ansatzder gemeinsamen Strecksehne (Proc. extensorius).

Strahlbein (Os sesamoideum distale)

Das Strahlbein hat die Form eines Weberschiffchens undist Bestandteil des Hufgelenks. Es liegt dem Hufbein pal-mar an. Die proximale Fläche (Facies articularis phalangismediae) ist mit hyalinem Knorpel überzogen und artiku-liert distal mit dem Kronbein. Die palmare Fläche desStrahlbeins (Facies flexoria) ist mit Faserknorpel über-zogen und bildet eine Gleitfläche für die tiefe Beugesehne.

Zwischen dem Strahlbein und der tiefen Beugesehneliegt ein großer Schleimbeutel, die Bursa podotrochlea-

ris. Tiefe Beugesehne, Bursa podotrochlearis und Strahl-bein bilden gemeinsam die funktionelle und anatomischeEinheit der Hufrolle.

! MerkeEin Stoffaustausch zwischen Hufgelenk und Bursapodotrochlearis ist durch den Vorgang der Diffusionmöglich. Hierzu ist eine ständige Be- und Entlastungder Gliedmaße durch kontinuierliche Bewegung desPferdes erforderlich, ebenso wie ein funktionieren-der Hufmechanismus. Boxenhaltung und der da-durch entstehende Bewegungsmangel, Überbelas-tung sowie fehlerhafte Hufbearbeitung reduzierendie Durchblutung, was auf Dauer zu Pathologien derHufrolle führen kann.

10.3

Aufhängung des Brustkorbs

Die Entlastung der Schultergliedmaße als Ausbildungszielgewinnt umso mehr an Bedeutung, sobald man sich ihreknöchernen Grundlagen vor Augen führt.

Im Gegensatz zu uns Menschen und vielen anderenTieren besitzt das Pferd wie alle Huftiere kein Schlüssel-bein. Dies würde die notwendige Flexibilität der Rumpf-aufhängung beeinträchtigen. Das bedeutet, der gesamteThorax ist rein durch Muskulatur zwischen den Schulter-blättern aufgehängt, es besteht keine knöcherne Verbin-dung, wie es an der Beckengliedmaße durch das Ilio-sakralgelenk der Fall ist.

Im Augenblick der Stützbeinphase ist es die Aufgabeder sog. Rumpfträger (Mm. pectorales, M. serratus ven-tralis, M. subclavius, M. sternomandibularis und M. bra-chiocephalicus), die Last des Pferdekörpers (plus Reiter-gewicht) abzufangen.

Im Schritt wird das stützende Vorderbein durch eingleichseitiges oder diagonales Hinterbein unterstützt, imTrab stützt zusätzlich das jeweils diagonale Hinterbein.Im Galopp allerdings hat das Pferd auf dem inneren Vor-derbein den Moment der Einbeinstütze. Dies bedeutet,dass der Galopp und die Arbeit mit Sprüngen die Vor-hand am besten kräftigt, jedoch auch am meisten belas-ten kann, wenn die Rumpfträger nicht gut arbeiten.

Die Verbindung zwischen Skapula und Thorax wird inder Osteopathie als „Skapula – thorakales Gelenk“ be-zeichnet, obwohl – wie oben beschrieben – keine wahre(knöcherne) Verbindung besteht.

Man spricht hier von einer Synsarkose, da es sich umeine fleischige (muskulär-ligamentäre) Verbindung han-delt. Man findet sowohl Muskulatur, die die Schulter-gliedmaße am Thorax aufhängt (Aufhänger der Schulter-gliedmaße), als auch eine Muskelgruppe, welcher dieFunktion des Thoraxträgers zukommt (Rumpfträger).

10 – Schultergliedmaße

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10.3.1 Aufhängung der Schultergliedmaße

Die Aufhängung der Schultergliedmaße am Thorax wirdvom M. trapezius, M. rhomboideus, M. latissimus dorsiund vom M. omotransversarius übernommen.

M. trapezius (Trapezmuskel)

c Steckbrief: M. trapezius● Ursprung:

– Pars cervicalis: Nackenstrang ab 2. HW– Pars thoracica: Lig. supraspinale vom 1.–10. BW

● Ansatz:– Halsteil zur gesamten Spina scapulae– Brustteil zum oberen Drittel der Spina scapulae

● Innervation: R. dorsalis der Nn. accessorii (XI)● Funktion:

– Vorführer und Abduktor der Schultergliedmaße– kaudale Rotation der Skapula– bei Kontraktion beider Anteile Dorsalgleiten der

Skapula

Der M. trapezius ist ein platter und flächiger, direkt unterder Haut liegender Muskel, der aus einer Pars cervicalisund einer Pars thoracica besteht (▶Abb. 10.5). Der zervi-kale Anteil verläuft vom Nackenband zur gesamten Längeder Spina scapulae, während der thorakale Anteil vomLig. supraspinale nur zum dorsalen Drittel der Spina sca-

pulae zieht. Bei gemeinsamer Kontraktion beider Anteilehebt er die Skapula dorsal an, leitet also das Abfußen derentsprechenden Vordergliedmaße ein.

Seine Pars cervicalis führt bei Kontraktion die Vorder-gliedmaße kranial, die Pars thoracica ebenso. Diese ge-meinsame Funktion, trotz des anatomisch unterschiedli-chen Verlaufs, erklärt sich aus dem Ansatzgebiet der Parsthoracica. Dieses liegt dorsal der Drehachse, um die dieSkapula sich bewegt.

k PraxistippEine Atrophie der Muskulatur im Bereich der Lage desKopfeisens des Sattels wird umgangssprachlich gerne alsAtrophie des Trapezmuskels bezeichnet.Durch Druck im Bereich des kaudalen Schulterblattran-des kommt es u. a. zumWegdrücken (Extension) derBWS, wodurch der Thorax im Verhältnis zur Skapula ab-sinkt. Dadurch entsteht das Bild einer Muskellücke bzw.einer Atrophie im Bereich des Trapezmuskels. Dabei han-delt es sich aber nicht um einen sichtbaren Abbau desM. trapezius. Dieser wäre viel zu dünnhäutig, um einesolche Lücke zu bilden. Die Muskulatur, die atrophiert,ist v. a. der M. spinalis im betroffenen Bereich.Diese Atrophie kommt zum einen durch den einwirken-den Druck zustande, zum anderen aber auch durch dieVerhinderung der Aufwölbung des Widerrists.

10.3 Brustkorbaufhängung

Schu

ltergliedm

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Pars cervicalis

Pars thoracica

▶Abb. 10.5 M. trapezius, Lateralansicht. Dünnhäutiger Muskel, besteht aus einer Pars cervicalis und einer Pars thoracica.

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M. rhomboideus (Rautenmuskel)

c Steckbrief: M. rhomboideus● Ursprung:

– cervicis: Nackenstrang auf Höhe des 2.–7. HW– thoracis: vom Lig. supraspinale auf Höhe 1.–8. BW

● Ansatz: Innenfläche des Schulterblattknorpels● Innervation: Ventraläste der segmentalen Hals- und

Brustwirbel● Funktion:

– Feststeller, Heber und Rückführer der Schulterglied-maße (Rotation kranial der Skapula)

– Heber des Halses

Auch der M. rhomboideus besteht aus einer Pars cervicisund einer Pars thoracis (▶Abb. 10.6). Sein Halsteil kommtvom Lig. nuchae und zieht medial zur Cartilago scapulae(Margo dorsalis scapulae). Der Brustteil zieht vom Lig. su-praspinale ebenfalls medial an die Cartilago scapulae.Durch diesen Ansatz dient er dem Pferd als Schulterglied-maßenheber. Das Anheben der Skapula leitet gemeinsammit der Beugung der Zehen, des Karpal-, Ellbogen- unddes Schultergelenks die Hangbeinphase der Schulter-gliedmaße ein.

Der kranial an der Cartilago scapulae ansetzende Anteilrotiert die Skapula kranial und fungiert somit als Schul-tergliedmaßenrückführer.

Durch den Verlauf des Halsteils von Schulterblatt zurHWS besteht eine der Verbindungen zwischen Schulter-gliedmaße und HWS.Die Pars cervicis dienen als Auf-wärtsbeweger des Halses.

10 – Schultergliedmaße

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M. rhomboideus cervicis

Ligamentum nuchae

Cartilago scapulae

M. rhomboideus thoracis

▶Abb. 10.6 M. rhomboideus, Lateralansicht. Er besteht aus einer Pars cervicis und einer Pars thoracis.

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M. latissimus dorsi (breitester Rückenmuskel)

c Steckbrief: M. latissimus dorsi● Ursprung: am Lig. supraspinale ab 3. BW bis 6. LW

und an der Fascia thoracolumbalis● Ansatz: strahlt in den M. tensor fasciae antebrachii

und in den M. teres major ein● Innervation: N. thoracodorsalis (Plexus brachialis)● Funktion:

– Rückführer der Schultergliedmaße– Beuger des Buggelenks– bei fixierter Gliedmaße Vorzieher des Rumpfes

Der M. latissimus dorsi hat die anatomische Besonder-heit, dass er keine knöchernen Insertionsstellen besitzt.Er hat seinen Ursprung am Lig. supraspinale (ab Höhe 3.BWK) und an der Fascia thoracolumbalis. Die Fascia tho-racolumbalis verlängert sich in die Fascia glutea, welchesich in die Oberschenkelfaszie fortsetzt. Durch diese fas-ziale Verbindung hat der M. latissimus dorsi Einfluss aufden Tonus der gesamten dorsalen Muskelkette. Der M. la-tissimus dorsi verläuft kranial-ventral und strahlt medialdes Buggelenks in den M. teres major sowie in den M.tensor fascia antebrachii ein (▶Abb. 10.7). Er verbindetdas Schultergelenk mit dem gesamten Rücken.

Er dient als stärkster Rückführer der Schultergliedma-ße und bewegt in der Stützbeinphase den Rumpf nachvorne. Somit stellt er den Gegenspieler zum M. brachio-cephalicus dar. Seine höchste Kraftentfaltung muss erbeim Abstützen der Vordergliedmaße entwickeln, ebensobeim Landen nach dem Sprung.

Bei festgehaltenem Rücken wird über den M. latissimusdorsi die freie Vorführphase der Schultergliedmaße ge-hemmt. Für eine endgradige Skapularotation kaudal in derVorführphase der Schultergliedmaße müssen seine Mus-kelfasern in gut dehnbarem Zustand sein. Ist dies nicht derFall, hat das entweder zur Folge, dass die Vorführphase derjeweiligen Vordergliedmaße verkürzt ist oder es erfolgt einAusweichen der BWS in Extension. Es kommt zu einem re-duzierten Raumgriff, zu Spanntritten, die aus einer ver-mehrten Beugung des Ellbogengelenks resultieren.

Der M. latissimus dorsi wird häufig durch unpassendeSättel, fehlerhafte Gurtung oder Vorgurte komprimiert.Durch die dadurch entstehenden Verspannungen kannsich das Pferd nicht mehr frei über den Rücken und mitraumgreifender losgelassener Schulter bewegen.

k PraxistippEine Dehnung des M. latissimus dorsi bei zu weit nachdorsal geführtem Vorderbein führt zur Extension derBWS.Diese Dehnung soll nie bei arthrotischen Verände-rungen der Wirbelgelenke und Kissing spines angewen-det werden! Auch bei gesunden Pferden soll eine Kom-pression der Facettengelenke vermieden werden, indemdas Bein vor allem nach kranial anstatt dorsal geführtwird. Eine Alternative zur oben beschriebenen Dehnungstellt das Aufwölben der BWS dar (▶Abb. 10.8).

M. omotransversarius (Schulter-Hals-Muskel)

c Steckbrief: M. omotransversarius● Ursprung: Faszie im lateralen Schulterbereich● Ansatz: Querfortsätze der 2.–4. Halswirbel● Innervation: Ventraläste der Nn. cervicales● Funktion:

– Vorführer der Schultergliedmaße– bei einseitiger Kontraktion/festgestellter Gliedma-

ße: Seitwärtszieher des Halses

Der Verlauf des M. omotransversarius lässt sich aus sei-nem Namen herleiten. Er kommt aus der Schulterfaszie(omos = große Schulter) und zieht an die Transversalfort-sätze der 2.–4. Halswirbel. Er ist mit den Fasern des M.brachiocephalicus verwachsen. Dadurch übernimmt ernicht nur die Aufhängung der Schultergliedmaße, erübernimmt auch einen kleinen Anteil beim Tragen desRumpfes. Seine hauptsächliche Funktion liegt im Vorfüh-ren der Schultergliedmaße und bei einseitiger Kontrak-tion bewirkt er eine Lateralflexion der HWS zu seiner Sei-te (▶Abb. 13.12).

10.3 Brustkorbaufhängung

Schu

ltergliedm

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Fascia thoracolumbalis

▶Abb. 10.7 M. latissimus dorsi, Latera-lansicht.

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