Tobias Hell - Analysis 3 · Skriptum zur Vorlesung Analysis 3 Gewöhnliche Differentialgleichungen...

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Skriptum zur Vorlesung Analysis 3 Gewöhnliche Differentialgleichungen & Funktionentheorie Tobias Hell Universität Innsbruck Wintersemester 2017/18

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Skriptum zur Vorlesung

Analysis 3

Gewöhnliche Differentialgleichungen&

Funktionentheorie

Tobias Hell

Universität InnsbruckWintersemester 2017/18

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Inhaltsverzeichnis

I Gewöhnliche Differentialgleichungen 1

1 Einführung und Beispiele 31.1 Grundlegendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.2 Spezielle skalare Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2 Allgemeine Lösungstheorie 112.1 Satz von Picard-Lindelöf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.2 Satz von Peano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172.3 Globale Existenz und Eindeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182.4 Stetige Abhängigkeit von den Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222.5 Autonome Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

3 Lineare Systeme 313.1 Struktur und Darstellung des Lösungsraums . . . . . . . . . . . . . . . . . 313.2 Die Matrixexponentialfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343.3 Lineare Systeme mit konstanten Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . 373.4 Skalare lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten . . . . 393.5 Lineare Systeme mit analytischen Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . 403.6 Ableitung nach dem Anfangswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

4 Stabilitätstheorie 49Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

II Funktionentheorie 55

5 Präliminarien 575.1 Komplexe Zahlen und die komplexe Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575.2 Konvergenz und Mengen in C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595.3 Funktionen in der komplexen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625.4 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675.5 Integration entlang von Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

i

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ii Inhaltsverzeichnis

6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen 816.1 Lemma von Goursat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816.2 Cauchyscher Integralsatz in einer Kreisscheibe . . . . . . . . . . . . . . . . 836.3 Berechnung zweier Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 856.4 Cauchysche Integralformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 876.5 Analytische Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 926.6 Folgen holomorpher Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 946.7 Durch Integrale definierte holomorphe Funktionen . . . . . . . . . . . . . . 95Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus 1037.1 Nullstellen und Polstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1037.2 Residuensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067.3 Singularitäten und meromorphe Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1097.4 Argumentprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1137.5 Homotopien und einfach zusammenhängende Gebiete . . . . . . . . . . . . 1167.6 Der komplexe Logarithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1197.7 Laurent-Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

8 Konforme Abbildungen 1278.1 Das Dirichlet-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1278.2 Grundlegendes zu konformen Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1298.3 Das Schwarzsche Lemma und die Automorphismen der Einheitskreisscheibe1328.4 Die Automorphismen der oberen Halbebene . . . . . . . . . . . . . . . . . 1358.5 Beweis des Riemannschen Abbildungssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 137Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

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Teil I

GewöhnlicheDifferentialgleichungen

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Kapitel 1

Einführung und Beispiele

In diesem einführenden Kapitel werden wir neben ersten Definitionen spezielle Typenvon Differentialgleichungen, welche bereits aus Analysis 1 bekannt sind, vgl. [Hel13c,Kapitel 5], genauer untersuchen und diese um exakte Differentialgleichungen erweitern.

1.1 Grundlegendes

Bei einem System gewöhnlicher Differentialgleichungen n-ter Ordnung handeltes sich um d Gleichungen der Form

F(t, x, x′, x′′, . . . , x(n)

)= 0 , (DGlg)

wobei d, n ∈ N und die Funktion F : Ω ⊂ R×Rd(n+1) → Rd gegeben sind. Ist d = 1 , sospricht man von einer gewöhnlichen Differentialgleichung. Unter einer Lösung von(DGlg) verstehen wir eine auf einem Intervall I ⊂ R definierte und n-mal differenzierbareFunktion µ : I → Rd mit

(t, µ(t), µ′(t), µ′′(t), . . . , µ(n)(t)

)∈ Ω für alle t ∈ I , welche

∀ t ∈ I : F(t, µ(t), µ′(t), µ′′(t), . . . , µ(n)(t)

)= 0

erfüllt.

Beispiel 1.1 (Kreisgleichung)Wir betrachten die skalare gewöhnliche Differentialgleichung

xx′ + t = 0 .

Dann istµ : (−1, 1)→ R : t 7→

√1− t2

eine Lösung dieser Differentialgleichung.

Lässt sich (DGlg) nach x(n) auflösen, also als

x(n) = f(t, x, x′, x′′, . . . , x(n−1)

)mit f : D ⊂ R ×

(Rd)n → Rd schreiben, so nennen wir obige Differentialgleichung ex-

plizit, während (DGlg) als implizit bezeichnet wird.

3

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4 1 Einführung und Beispiele

Reduktion auf ein System erster Ordnung. Betrachten wir das System

x(n) = f(t, x, x′, x′′, . . . , x(n−1)

)gewöhnlicher Differentialgleichungen in expliziter Form und setzen

y :=

xx′

x′′

...x(n−1)

sowie g(t, y) :=

y2

y3...yn

f(t, y)

,

so führt dies auf das Differentialgleichungssystem

y′ = g(t, y)

erster Ordnung von nd Gleichungen. Ist ν : I →(Rd)n eine Lösung von y′ = g(t, y) ,

dann ist µ := ν1 eine Lösung des ursprünglichen Systems x(n) = f(t, x, x′, x′′, . . . , x(n−1)

)und umgekehrt. Lösungen des Systems erster Ordnung und des reduzierten Systems n-ter Ordnung entsprechen einander also eineindeutig. Daher werden wir in vielen Fälleno. B. d.A. Systeme erster Ordnung der Form

x′ = f(t, x)

mit f : D ⊂ R×Rd → Rd betrachten.

Bemerkung. In diesem Kontext ist anstelle von x′ auch die Schreibweise x gebräuch-lich.

Anfangswertproblem. Wir betrachten das System

x′ = f(t, x)

erster Ordnung mit f : D ⊂ R×Rd → Rd . Verlangen wir für (t0, x0) ∈ D zusätzlich vonjeder Lösung µ : I → Rd , dass µ(t0) = x0 , so spricht man von einem Anfangswertpro-blem, für welches wir

x′ = f(t, x) , x(t0) = x0

schreiben. Man nennt dann x(t0) = x0 die Anfangsbedingung sowie t0 die Anfangs-zeit und x0 den Anfangswert. Zusammengefasst verstehen wir unter einer Lösung desobigen Anfangswertproblems eine auf einem Intervall I ⊂ R mit t0 ∈ I definierte unddifferenzierbare Funktion µ : I → Rd , welche die folgenden drei Bedingungen erfüllt:

(1) ∀ t ∈ I : (t, µ(t)) ∈ D

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1 Einführung und Beispiele 5

(2) ∀ t ∈ I : µ′(t) = f (t, µ(t))

(3) µ(t0) = x0

Geometrische Darstellung. Wir betrachten wiederum das System

x′ = f(t, x)

erster Ordnung mit f : D ⊂ R×Rd → Rd und eine Lösung µ : I → Rd , d. h.

∀ t ∈ I : µ′(t) = f (t, µ(t)) .

Dann ist der GraphΓ(µ) = (t, µ(t)) : t ∈ I ⊂ D

das Bild einer differenzierbaren Kurve Cµ und diese wird Lösungskurve oder Inte-gralkurve genannt. Die Menge aller Lösungskurven wird auch als Lösungsportraitbezeichnet.

Die Lösungskurven lassen sich in das sogenannte Richtungsfeld einpassen, welchesdurch

D → R×Rd : (t, x) 7→[

1f(t, x)

]gegeben ist. Des Weiteren bezeichnet man die Niveaumengen

Nc(f) = (t, x) ∈ D : f(t, x) = c für c ∈ R

als Isoklinen1.

1.2 Spezielle skalare Differentialgleichungen

In diesem Abschnitt betrachten wir einige elementare Typen von skalaren Differential-gleichungen.

1.2.1 Differentialgleichungen mit trennbaren Variablen

Es seien I, J ⊂ R zwei offene Intervalle sowie f ∈ C(I;R) und g ∈ C(J ;R) . Weiters gelte

∀x ∈ J : g(x) 6= 0 .

Wir betrachten die Differentialgleichung

x′ = f(t)g(x)

mit trennbaren Variablen.1Kurven gleicher Steigung

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6 1 Einführung und Beispiele

Satz 1.2 (Existenz und Eindeutigkeit für trennbare Variablen)Für alle (t0, x0) ∈ I × J besitzt das Anfangswertproblem

x′ = f(t)g(x) , x(t0) = x0

eine eindeutige lokale Lösung, d. h. es gibt ein α > 0 und eine eindeutig bestimmte Lösungµ : (t0 − α, t0 + α) → J des Anfangswertproblems. Ist F eine Stammfunktion von f aufI und G eine Stammfunktion von 1/g auf J , so erhält man diese Lösung, indem man

G(x)− F (t) = G(x0)− F (t0)

bei (t0, x0) nach x auflöst.

Beweis. Existenz: Wir setzen h(t, x) := G(x)−F (t)−G(x0) +F (t0) für (t, x) ∈ I×J .Da

∂xh(t0, x0) = G′(x0) =1

g(x0)6= 0 ,

gibt es nach dem Satz über implizite Funktionen, vgl. [Hel13b, Satz 3.30, S. 45],offene Umgebungen U ⊂ I von t0 und V ⊂ J von x0 und eine Funktion µ ∈ C1(U ;V )mit

∀ (t, x) ∈ U × V : x = µ(t)⇔ h(t, x) = 0⇔ G(x)− F (t) = G(x0)− F (t0) .

Implizites Differenzieren führt auf

µ′(t) = −∂1h(t, µ(t))

∂2h(t, µ(t))=

F ′(t)

G′(µ(t))= f(t)g(µ(t))

für alle t ∈ U .

Eindeutigkeit: Es sei α > 0 und µ : (t0 − α, t0 + α) → R eine Lösung des Anfangs-wertproblems. Wir setzen

F (t) :=

ˆ t

t0

f(τ) dτ und G(x) :=

ˆ x

x0

dξg(ξ)

für t ∈ I und x ∈ J . Da µ′(t) = f(t)g(µ(t)) für alle t ∈ (t0 − α, t0 + α) , istˆ t

t0

µ′(τ)

g(µ(τ))dτ =

ˆ t

t0

f(τ) dτ

und die Substitutionformel führt auf

G(µ(t)) =

ˆ µ(t)

x0

dηg(η)

=

ˆ t

t0

f(τ) dτ = F (t) .

Aus G′(x) = 1/g(x) 6= 0 für alle x ∈ J folgt, dass G streng monoton und insbesondereH : J → G(J) : x 7→ G(x) bijektiv ist. Also ist

µ(t) = H−1(F (t))

für alle t ∈ (t0 − α, t0 + α) . Dies zeigt die Eindeutigkeit.

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1 Einführung und Beispiele 7

1.2.2 Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung

Auf einem Intervall I ⊂ R betrachten wir die lineare Differentialgleichung

x′ = f(t)x+ g(t)

erster Ordnung, wobei f, g ∈ C(I;R) .

Satz 1.3 (Existenz und Eindeutigkeit für lineare Dglg. erster Ordnung)Für alle (t0, x0) ∈ I ×R besitzt das Anfangswertproblem

x′ = f(t)x+ g(t) , x(t0) = x0

die eindeutige Lösung µ : I → R gegeben druch

µ(t) = eF (t)x0 +

ˆ t

t0

eF (t)−F (τ)g(τ) dτ (Variation-der-Konstanten-Formel)

für t ∈ I , wobei F (t) :=´ tt0f(τ) dτ .

Beweis. Existenz: Durch Differenzieren verifiziert man leicht, dass es sich bei µ um eineLösung des Anfangswertproblems handelt.

Eindeutigkeit: Es genügt für x0 ∈ R die Eindeutigkeit der Lösung

µ0 : I → R : t 7→ eF (t)x0

des homogenen Anfangswertproblems

x′ = f(t)x , x(t0) = x0

zu zeigen. Dazu sei η0 : I → R eine weitere Lösung. Auf I gilt dann

η′0 = fη0 ⇐⇒ e−F(η′0 − fη0

)= 0 ⇐⇒ d

dte−F η0 = 0

η0(t0)=x0⇐⇒ η0 = eFx0 = µ0 .

1.2.3 Exakte Differentialgleichungen

Es seien U ⊂ R2 offen und F1, F2 ∈ C(U ;R) . Die skalaren Differentialgleichungen

F1(x, y) + F2(x, y)y′ = 0 und F1(x, y)x′ + F2(x, y) = 0

lassen sich zur Pfaffschen Gleichung

ω := F1(x, y) dx+ F2(x, y) dy = 0

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8 1 Einführung und Beispiele

zusammenfassen. Hierbei ist ω eine stetige 1-Form auf U . Eine Lösung von ω = 0 ist einregulärer Weg γ : I → U mit

∀ t ∈ I : ω (γ(t)) γ(t) = 0 .

Man nennt die Pfaffsche Gleichung ω = 0 exakt, falls ω exakt ist, wenn es also eineFunktion f ∈ C1(U ;R) mit

ω = df

gibt. Ist ξ ∈ U ein regulärer Punkt von f , d. h. f ′(ξ) 6= 0 , so erhält man eine Lösung derexakten Pfaffschen Gleichung ω = df = 0 durch ξ , indem man

f(x, y) = f(ξ)

um ξ nach x bzw. y lokal auflöst.

Bemerkung. Ist U einfach zusammenhängend, so gilt

ω exakt ⇐⇒ ∂xF2 = ∂yF1 .

Die Bedingung ∂xF2 = ∂yF1 besagt, dass das zu ω gehörige Vektorfeld

F : U → R2 :

[xy

]7→[F1(x, y)F2(x, y)

]die Integrabilitätsbedingungen erfüllt und damit eine Stammfunktion besitzt, da U ein-fach zusammenhängend ist, vgl. [Hel13b, Satz 4.29, S. 80] und Abschnitt 7.5.

Eulerscher Multiplikator. Ist ω = 0 nicht exakt, kann jedoch als

g · ω = dh = 0

mit h ∈ C1(U ;R) und g ∈ C1(U ;R \ 0) geschrieben werden, so nennt man g einenintegrierenden Faktor oder Eulerschen Multiplikator. Dann ist nämlich g · ω = 0exakt und es kann wie zuvor verfahren werden, da ω = 0 und g ·ω = 0 dieselben Lösungenhaben.

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1 Einführung und Beispiele 9

Aufgaben

(1.1) Spezielle Differentialgleichungen: Lösen Sie folgende Anfangswertproble-me:

(a) x′ − x log |t|+ log t2 = 0 , x(−1) = 2 + e

(b) x′ = 2x+ t2e t3+2t , x(1) = 0

(c) x′ = cos(t− x) + sin(t+ x) , x(π/4) = π/4

(d) x(5) − 2x(3) + x(2) − x(1) + 2x = 0 , x(0) = x′(0) = x′′(0) = x′′′(0) = 0,x(4) = 1

(e) x− tx′ =√t2 + x2 , x(1) = 0

Hinweis. Setzen Sie y := x/t in (e).

(1.2) Zwischenwerteigenschaft differenzierbarer Funktionen:

(a) Zeigen Sie, dass die Ableitung f ′ einer differenzierbaren Funktion f : [a, b]→R die Zwischenwerteigenschaft besitzt, d. h. f ′ nimmt jeden Wert zwischenf ′(a) und f ′(b) an.

(b) Es sei x0 ∈ R . Zeigen Sie mittels der Zwischenwerteigenschaft für die Ablei-tung, dass das Anfangswertproblem

x′ = sign t , x(0) = x0

keine Lösung besitzt.

(1.3) Orthogonaltrajektorien: Skizzieren Sie das Richtungsfeld und das Lösungs-porträt der Differentialgleichung

xx′ + t = 0 . (?)

Bestimmen Sie eine Differentialgleichungen, sodass die Lösungskurven die Inte-gralkurven von (?) orthogonal schneiden (Orthogonaltrajektorien). Skizzieren Siewiederum das Richtungsfeld und das Lösungsporträt.Bemerkung: Plotten Sie die Richtungsfelder und Lösungskurven in z. B. Matlab.

(1.4) Existenz und Eindeutigkeit in einem Spezialfall: Es seien t0, x0, v0, c1, c0 ∈R . Zeigen Sie wie folgt, dass das Anfangswertproblem

x′′ + c1x′ + c0x = 0 , x(t0) = x0 , x

′(t0) = v0 ,

eine eindeutige Lösung auf ganz R besitzt.

(a) Existenz. Konstruieren Sie mittels eines geeigneten Ansatzes eine Lösung.

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10 1 Einführung und Beispiele

(b) Eindeutigkeit. Erklären Sie, warum es genügt, den Fall x0 = v0 = 0 zu be-trachten. Zeigen Sie, dass jede Lösung von µ : R→ R von

x′′ + c1x′ + c0x = 0 , x(t0) = 0 , x′(t0) = 0

konstant Null ist, indem Sie die Funktion

ϕ : R→ R : t 7→ µ(t)2 + µ′(t)2

betrachten und ein δ > 0 finden, sodass ϕ′ ≤ δϕ und damit e−δtϕ(t) ≡ 0schließen.

(1.5) Exakte Differentialgleichungen: Lösen Sie die Anfangswertprobleme

(a) 2xy + (2y + x2)y′ = 0 , y(0) = 1 ,

(b) 3x2y + (x3 + 2y)y′ = 0 , y(0) = −1 ,

(c) 2xy + (x2 + 2y)y′ = 0 , y(−2) = −1 .

(1.6) Bernoullische Differentialgleichung:

(a) Es seien α ∈ R \ 0, 1 und f, g ∈ C(I) , wobei I ⊂ R ein Intervall bezeichnet.Führen Sie die Differentialgleichung

y′(t) = f(t)y(t) + g(t)y(t)α

mittels der Substitution x := y1−α auf eine lineare Differentialgleichung ersterOrdnung zurück.

(b) Lösen Sie das Anfangswertproblem

y′ = 5y − 5ty3 , y(1) = 1/√

2 .

(G2) Integrierender Faktor:

(a) Es sei U ⊂ R2 ein einfach zusammenhängendes Gebiet und

ω = F1 dx+ F2 dy

eine stetige 1-Form auf U . Leiten Sie eine hinreichende Bedingung für dieExistenz eines integrierenden Faktors für ω = 0 , welcher nur von x abhängt,her.

(b) Finden Sie einen Eulerschen Multiplikator für

(x2 + y2 + x) dx+ xy dy = 0 .

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Kapitel 2

Allgemeine Lösungstheorie

In diesem Kapitel werden wir unter anderem die Frage beantworten, unter welchen Vor-aussetzungen auf die Existenz und Eindeutigkeit einer Lösung des Anfangswertproblems

x′ = f(t, x) , x(t0) = x0 (AWP)

geschlossen werden kann, wobei d ∈ N sowie f : D ⊂ R × Rd → Rd und (t0, x0) ∈ D .Darüber hinaus werden wir uns, sofern eine eindeutige Lösung existiert, mit der stetigenAbhängigkeit der Lösung von (AWP) von den Daten, also der rechten Seite und demAnfangswert, beschäftigen.

2.1 Satz von Picard-Lindelöf

Im Fall einer stetigen rechten Seite f ist (AWP) äquivalent zu einer zugehörigen Inte-gralgleichung, dies ist Inhalt des folgenden Lemmas.

Lemma 2.1 (AWP ↔ Integralgleichung)Es sei f stetig und I ⊂ R ein Intervall mit t0 ∈ I . Dann ist die stetige Funktionµ : I → Rd genau dann eine Lösung von (AWP), wenn

∀ t ∈ I : µ(t) = x0 +

ˆ t

t0

f (τ, µ(τ)) dτ .

Beweis. Die Aussage folgt unmittelbar aus dem Hauptsatz der Differential- undIntegralrechnung, vgl. [Hel13c, Satz 4.13 und Satz 4.16, S. 95/96].

Bemerkung. Man beachte, dass die Erfüllung der Integralgleichung natürlich implizitauch bedeutet, dass (t, µ(t)) ∈ D für alle t ∈ I .

Picard1-Iteration. Für eine stetige rechte Seite f wollen wir nun ausgehend vonder Integralgleichung

µ(t) = x0 +

ˆ t

t0

f (τ, µ(τ)) dτ

eine Lösung von (AWP) konstruieren. Dazu setzen wir µ0(t) :≡ x0 und

µk+1(t) := x0 +

ˆ t

t0

f (τ, µk(τ)) dτ für k ∈ N0 . ((k + 1)-te Picard-Iterierte)

1Charles Émile Picard, 1856–1941, französischer Mathematiker

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12 2 Allgemeine Lösungstheorie

Im Fall, dass wir die gleichmäßige Konvergenz von µkk∈N0 auf einem entsprechendenIntervall nachweisen können, erhalten wir mit µ∞(t) := limk→∞ µk(t) eine Lösung von(AWP), da dann

µ∞(t) = limk→∞

µk+1(t) = x0 + limk→∞

ˆ t

t0

f (τ, µk(τ)) dτ = x0 +

ˆ t

t0

f (τ, µ∞(τ)) dτ .

Beispiel 2.2 (Picard-Iterierte)Für das skalare Anfangswertproblem

x′ = tx , x(0) = 1

erhalten wir für die Picard-Iteration

µk(t) =k∑j=0

t2j

2jj!, k ∈ N0 ,

und offenbar giltµ∞(t) = e t

2/2 für alle t ∈ R .

Da µkk∈N0 auf jedem Kompaktum gleichmäßig gegen µ∞ konvergiert, ist µ∞ eineLösung des Anfangswertproblems.

Euler-Verfahren. Eines der einfachsten numerischen Verfahren zur Lösung vonAnfangswertproblemen ist das Euler-Verfahren. Man erhält es, indem man das beider Picard-Iteration auftretende Integral mit der linken Rechtecksregel approximiert.Genauer geht man wie folgt vor: Man wählt für T > t0 und N ∈ N eine Zerlegung

Z : t0 < t1 < . . . < tN = T

des Intervalls [t0, T ] und setzt hn := tn+1 − tn für n = 0, . . . , N − 1 . Wir nehmen nunan, dass das Anfangswertproblem (AWP) eine eindeutige Lösung auf [t0, T ] besitzt undbezeichenn diese mit µ : [t0, T ]→ Rd . Die linke Rechtecksregel führt auf

µ(t1) = x0 +

ˆ t0+h0

t0

f (τ, µ(τ)) dτ ≈ x0 + h0f(t0, x0)

für t ∈ [t0, T ] . Man approximiert also µ(t1) durch den Funktionswert der Tangente anden Graphen von µ zum Zeitpunkt t . Dieser Vorgehensweise folgend, setzt man y0 := x0

undyn+1 := yn + hnf(tn, yn) für n = 0, . . . , N − 1

und das dadurch definierte Einschrittverfahren heißt (explizites) Euler-Verfahren.

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2 Allgemeine Lösungstheorie 13

Beispiel 2.3 (Anwendung des Euler-Verfahrens)Für α ∈ R betrachten wir das skalare Anfangswertproblem

x′ = αx , x(0) = 1 .

Wählen wir für T ∈ R und N ∈ N die äquidistante Zerlegung

Z : tn := t0 + n TN , n = 0, . . . , N ,

so erhalten wiryn =

(1 + αT

N

)n für n = 0, . . . , N

und schließlich ist

limN→∞

yN = limN→∞

(1 + αT

N

)N= eαT = µ(T ) .

Das Euler-Verfahren konvergiert also in diesem Fall gegen die Lösung des Anfangs-wertproblems.

Für den Fall, dass die stetige rechte Seite f Lipschitz-stetig in der zweiten Komponenteist, weisen wir nun die Eindeutigkeit einer Lösung nach. Dazu benötigen wir das folgende,vielseitig einsetzbare Lemma als Vorbereitung.

Lemma 2.4 (Gronwall2-Lemma)Es sei I ⊂ R ein Intervall und t0 ∈ I sowie ϕ : I → [0,∞) eine stetige Funktion mit

∀ t ∈ I : ϕ(t) ≤ C + L

∣∣∣∣ˆ t

t0

ϕ(τ) dτ∣∣∣∣ (?)

für Konstanten C,L ≥ 0 . Dann gilt

∀ t ∈ I : ϕ(t) ≤ CeL|t−t0| .

Beweis. O.B. d.A. sei I ⊂ [t0,∞) . Für t ∈ I setzen wir

η(t) := C + L

ˆ t

t0

ϕ(τ) dτ ,

dann ist η′(t) = Lϕ(t) und[t 7→ η(t)e−Lt

]monoton fallend, denn mit (?) erhalten wir

Lϕ(t) = η′(t) ≤ Lη(t) und daher ist

ddtη(t)e−Lt = e−Lt

(η′(t)− Lη(t)

)≤ 0 .

Folglich gilt

ϕ(t)e−Lt(?)

≤ η(t)e−Lt ≤ η(t0)e−Lt0 = Ce−Lt0

und somit ist ϕ(t) ≤ CeL(t−t0) .2Thomas Hakon Grönwall, 1877–1932, schwedischer Mathematiker

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14 2 Allgemeine Lösungstheorie

Satz 2.5 (Eindeutigkeit)Es sei f : D ⊂ R×Rd → Rd stetig und global Lipschitz-stetig in der zweiten Komponente,d. h.

∃L ≥ 0 ∀ (t, x), (t, y) ∈ D : ‖f(t, x)− f(t, y)‖ ≤ L‖x− y‖ .

Sind µ, η : I → Rd zwei Lösungen von (AWP) , dann ist µ = η .

Beweis. Für t ∈ I ist

‖µ(t)− η(t)‖ =

∥∥∥∥ˆ t

t0

[f (τ, µ(τ))− f (τ, η(τ))] dτ∥∥∥∥ ≤

∆-Unglg.≤

∣∣∣∣ˆ t

t0

‖f (τ, µ(τ))− f (τ, η(τ))‖ dτ∣∣∣∣ ≤ L ∣∣∣∣ˆ t

t0

‖µ(τ)− η(τ)‖ dτ∣∣∣∣ .

Setzen wir ϕ(t) := ‖µ(t)− η(t)‖ , so erhalten wir mit C := 0 die Ungleichung

ϕ(t) ≤ C + L

∣∣∣∣ˆ t

t0

ϕ(τ) dτ∣∣∣∣

für alle t ∈ I . Nach dem Gronwall-Lemma gilt daher

∀ t ∈ I : ‖µ(t)− η(t)‖ = ϕ(t) ≤ CeL|t−t0| = 0 ,

also ist µ = η .

Satz 2.6 (Picard-Lindelöf3, quantitative Version)Es seien (t0, x0) ∈ R × Rd und a, r > 0 sowie Za,r := [t0 − a, t0 + a] × Br(x0) . Weiterssei f : Za,r → Rd stetig und global Lipschitz-stetig in der zweiten Komponente, d. h. esexistiere ein L ≥ 0 mit

∀ (t, x), (t, y) ∈ Za,r : ‖f(t, x)− f(t, y)‖ ≤ L‖x− y‖ .

Dann existiert genau eine Lösung µ : [t0 − α, t0 + α]→ Rd von (AWP), wobei

α := mina, rM

mit M := max ‖f(t, x)‖ : (t, x) ∈ Za,r

und r/M :=∞ , falls M = 0 .

Beweis. Im Fall M = 0 ist f ≡ 0 und µ :≡ x0 die gesuchte, eindeutige Lösung. Dahernehmen wir im Weiteren an, dass M > 0 . Der Beweis erfolgt nun in drei Schritten.

Schritt 1: (Eindeutigkeit)

3Ernst Leonard Lindelöf, 1870–1946, finnischer Mathematiker

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2 Allgemeine Lösungstheorie 15

Die Eindeutigkeit haben wir unter diesen Voraussetzungen bereits in Satz 2.5 gezeigt.

Schritt 2: (Wohldefiniertheit der Picard-Iteration)

Für t ∈ [t0 − α, t0 + α] setzen wir

µ0(t) := x0 und µk+1(t) := x0 +

ˆ t

t0

f (τ, µk(τ)) dτ , k ∈ N0 ,

wobei wir die Wohldefiniertheit überprüfen müssen. Es gilt also sicherzustellen, dass

∀ k ∈ N0 ∀ τ ∈ [t0 − α, t0 + α] : (τ, µk(τ)) ∈ Za,r .

Für k = 0 ist dies offenbar erfüllt, da (t0, x0) ∈ Za,r . Nun erhält man induktiv für k ∈ Nund t ∈ [t0 − α, t0 + α] , dass

‖µk(t)− x0‖ =

∥∥∥∥ˆ t

t0

f (τ, µk−1(τ)) dτ∥∥∥∥ ∆-Unglg.

≤∣∣∣∣ˆ t

t0

‖f (τ, µk−1(τ))‖ dτ∣∣∣∣ ≤

≤∣∣∣∣ˆ t

t0

M dτ∣∣∣∣ ≤M |t− t0| ≤Mα ≤ r .

Schritt 3: (Gleichmäßige Konvergenz der Picard-Iteration)

Wir beweisen zunächst mittels vollständiger Induktion über k , dass

∀ t ∈ [t0 − α, t0 + α] : ‖µk+1(t)− µk(t)‖ ≤MLk|t− t0|k+1

(k + 1)!(?)

für alle k ∈ N0 .

(IA) k = 0: ‖µ1(t)− µ0(t)‖ =

∥∥∥∥ˆ t

t0

f(τ, x0) dτ∥∥∥∥ ≤M |t− t0| X

(IS) Es sei k ∈ N0 und es gelte (?). (IV)

k → k + 1:

‖µk+2(t)− µk+1(t)‖ ≤∣∣∣∣ˆ t

t0

‖f (τ, µk+1(τ))− f (τ, µk(τ))‖ dτ∣∣∣∣ ≤

≤ L∣∣∣∣ˆ t

t0

‖µk+1(τ)− µk(τ)‖ dτ∣∣∣∣ (IV)≤ MLk+1

(k + 1)!

∣∣∣∣ˆ t

t0

|τ − t0|k+1 dτ∣∣∣∣ =

= MLk+1 |t− t0|k+2

(k + 2)!

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16 2 Allgemeine Lösungstheorie

Nun zeigen wir, dass µkk∈N0 auf [t0−α, t0+α] gleichmäßig konvergiert. Dazu verwendenwir die Teleskopsumme

µk(t)− x0 =k−1∑j=0

(µj+1(t)− µj(t)) für k ∈ N .

Mit (?) erhalten wir für die Reihe∑∞

j=0 (µj+1(t)− µj(t)) eine konvergente Majoranteunabhängig von t und daher konvergiert diese auf [t0 − α, t0 + α] nach dem Konver-genzkriterium von Weierstraß gleichmäßig, siehe [Hel13c, Satz 8.7, S. 139]. Alsokonvergiert auch µk gleichmäßig auf [t0 −α, t0 +α] . Für t ∈ [t0 −α, t0 +α] setzen wir

µ∞(t) := limk→∞

µk(t) .

Man beachte, dass Γ(µ∞) ⊂ Za,r . Als gleichmäßiger Grenzwert stetiger Funktionen istµ∞ ebenfalls stetig, vgl. [Hel13c, Satz 8.4, S. 138]. Für alle k ∈ N0 und t ∈ [t0−α, t0 +α]gilt, dass

‖f (t, µk(t))− f (t, µ∞(t))‖ ≤ L ‖µk(t)− µ∞(t)‖ ,

konvergiert auch f (·, µk(·))k∈N0gleichmäßig auf [t0 − α, t0 + α] . Nach dem Satz über

die Vertauschung von Integration und Grenzwert bei gleichmäßiger Konvergenz, siehe[Hel13c, Satz 8.5, S. 138], gilt

µ∞(t) = limk→∞

µk+1(t) = x0 + limk→∞

ˆ t

t0

f (τ, µk(τ)) dτ = x0 +

ˆ t

t0

f (τ, µ∞(τ)) dτ

für alle t ∈ [t0−α, t0 +α] und folglich ist µ∞ nach Lemma 2.1 eine Lösung von (AWP).

Bemerkung. Anstatt die gleichmäßige Konvergenz nachzuweisen, kann auch mit demSatz von Lebesgue argumentiert werden, vgl. [Hel13a, Satz 3.26, S. 125]. Einen alter-nativen Beweis, welcher den Banachschen Fixpunktsatz verwendet, werden wir inAnalysis 4 kennenlernen.

Beispiel 2.7 (Anwendung des Satzes von Picard-Lindelöf)Das skalare Anfangswertproblem

x′ = sin(tx) , x(t0) = x0

besitzt für alle (t0, x0) ∈ R2 eine eindeutig Lösung auf ganz R , denn für alle a, r > 0ist die rechte Seite [(t, x) 7→ sin(tx)] auf Za,r stetig und Lipschitz-stetig bezüglich derzweiten Komponente, da diese stetig differenzierbar ist. Da

∀ (t, x) ∈ R2 : | sin(tx)| ≤ 1 ,

folgt damit die Aussage.

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2 Allgemeine Lösungstheorie 17

Wir nennen f : D ⊂ R×Rd → Rd lokal Lipschitz-stetig in der zweiten Komponente,wenn für alle (t, x) ∈ D eine Umgebung U von (t, x) existiert, sodass f |U∩D globalLipschitz-stetig in der zweiten Komponente ist.

Korollar 2.8 (Satz von Picard-Lindelöf, qualitative Version)Es sei D ⊂ R×Rd offen und f : D ⊂ R×Rd → Rd stetig sowie lokal Lipschitz-stetig inder zweiten Komponente. Dann hat für alle (t0, x0) ∈ D das Anfangswertproblem (AWP)eine eindeutige lokale Lösung, d. h. es gibt ein α > 0 , sodass (AWP) auf [t0 − α, t0 + α]genau eine Lösung besitzt.

Beweis. Da wir nach Voraussetzung a, r > 0 finden können, sodass

Za,r = [t0 − a, t0 + a]×Br(x0) ⊂ D

und f auf Za,r stetig sowie bezüglich der zweiten Komponente global Lipschitz-stetig ist,folgt die Aussage unmittelbar aus Satz 2.6.

2.2 Satz von Peano

Nachfolgender Satz, welcher in Analysis 4 bewiesen werden wird, liefert die Existenzeiner Lösung im Fall einer lediglich stetigen rechten Seite. Allerdings besitzt das Anfangs-wertproblem dann im Allgemeinen keine eindeutige Lösung mehr, vgl. Beispiel 2.10.

Satz 2.9 (Peano4, quantitative Version)Es seien (t0, x0) ∈ R × Rd und a, r > 0 sowie Za,r := [t0 − a, t0 + a] × Br(x0) . Weiterssei f : Za,r → Rd stetig. Dann existiert mindestens eine Lösung µ : [t0 − α, t0 + α]→ Rd

von (AWP), wobei

α := mina, rM

mit M := max ‖f(t, x)‖ : (t, x) ∈ Za,r

und r/M :=∞ , falls M = 0 .

Beweis. Für den Beweis wird der Satz von Arzelà-Ascoli benötigt, welchen wir inAnalysis 4 behandeln werden.

Beispiel 2.10 (Undendlich viele Lösungen)Für alle a, b ∈ R mit a ≤ b ist µa,b : R→ R gegeben durch

µa,b(t) :=

127(t− a)3 , t ≤ a ,0 , a < t < b ,127(t− b)3 , t ≥ b ,

für t ∈ R eine Lösung des Anfangswertproblems

x′ =3√x2 , x(0) = 0 .

4Giuseppe Peano, 1858–1932, italienischer Mathematiker

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18 2 Allgemeine Lösungstheorie

2.3 Globale Existenz und Eindeutigkeit

Wir stellen uns nun die Frage, ob ein Intervall maximaler Länge existiert, auf dem dasAnfangswertproblem (AWP) eine eindeutige Lösung besitzt. Die Antwort liefert nachfol-gender Satz.

Satz 2.11 (Globaler Existenz- und Eindeutigkeitssatz)Es sei D ⊂ R × Rd offen und f : D → Rd stetig sowie lokal Lipschitz-stetig in derzweiten Komponente. Dann existiert für alle (t0, x0) ∈ D ein eindeutig bestimmtes offenesIntervall Imax := (t−, t+) ⊂ R mit t0 ∈ Imax , sodass

(1) das Anfangswertproblem (AWP) eine eindeutige Lösung µmax : Imax → Rd besitzt,

(2) jede auf einem Intervall I ⊂ R gegebene Lösung die Einschränkung von µmax aufI ist.

Beweis. Wir unterteilen den Beweis in vier Schritte.

Schritt 1: (Konstruktion der maximalen Lösung)

Nach dem Satz von Picard-Lindelöf existieren

t− := inf a ∈ R : (AWP) hat eine Lösung auf [a, t0]

undt+ := sup b ∈ R : (AWP) hat eine Lösung auf [t0, b]

in R . Wir setzen Imax := (t−, t+) und zeigen, dass (AWP) auf Imax eindeutig lösbar ist.Dazu betrachten wir das Intervall

In :=[t− + 1

n , t+ −1n

]für n ≥ N und N ∈ N hinreichend groß im Fall, dass t− und t+ endlich sind. Ansonstenersetzen wir die entsprechende Intervallgrenze durch n bzw. −n . Für jedes n ≥ N besitztdann (AWP) eine Lösung µn auf In . Um eine Lösung auf Imax zu erhalten, setzen wir

µmax(t) := µn(t)

für t ∈ Imax und n ≥ N mit t ∈ In . Es gilt nun zu überprüfen, ob µmax tatsächlichwohldefiniert ist. Dazu zeigen wir, dass

µn = µn+1

∣∣In

für alle n ≥ N .

Es sei n ≥ N . Angenommen, es gibt ein s ∈ In mit µn(s) 6= µn+1(s) . Wir betrachtendie stetige Funktion u : In → [0,∞) gegeben durch

u(t) := ‖µn(t)− µn+1(t)‖ für t ∈ In .

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2 Allgemeine Lösungstheorie 19

Offenbar gilt dann u(s) > 0 . O. B. d.A. sei s > t0 . Die Menge

t ∈ [t0, s] : u(t) = 0 = u−1 (0) ∩ [t0, s]

ist kompakt und daher existiert

tmax := max t ∈ [t0, s] : u(t) = 0

und es gilt tmax < s . Nach dem Satz von Picard-Lindelöf hat (AWP) auf einemIntervall [tmax − α, tmax + α] mit α > 0 genau eine Lösung und daher gilt µn = µn+1 ineiner Umgebung von tmax – offensichtlich ein Widerspruch.

Schritt 2: (Lösungseigenschaft und Eindeutigkeit der maximalen Lösung)

Die Definition von µmax impliziert, dass µmax eine Lösung von (AWP) auf Imax ist. Umdie Eindeutigkeit nachzuweisen, nehmen wir an, µ wäre eine weitere Lösung auf Imax mitµ 6= µmax . Dann würde ein s ∈ Imax mit ‖µ(s)− µmax(s)‖ > 0 existieren und dies führtwie im ersten Schritt des Beweises unmittelbar auf einen Widerspruch.

Schritt 3: (Maximalität des Lösungsintervalls)

Es sei I ⊂ R ein Intervall und µ : I → Rd eine Lösung von (AWP) auf I . Dann giltI ⊂ [t−, t+] . Ist t− bzw. t+ endlich, so ist t− /∈ I bzw. t+ /∈ I , denn ansonsten würdeman mit Satz von Picard-Lindelöf einen Widerspruch erhalten. Also gilt I ⊂ Imax .

Ist t0 ∈ I , so folgt, wie in Schritt 1 des Beweises, dass µ|I = µmax|I . Aufgrund derStetigkeit der Lösungen gilt dann µ = µmax|I . Im Fall, dass t0 ∈ ∂I , können wir mitdem Satz von Picard-Lindelöf µ auf ein Intervall J ⊃ I fortsetzen, sodass t0 ∈ Jund damit greift wiederum obige Argumentation.

Schritt 4: (Eindeutigkeit des maximalen Lösungsintervalls)

Wäre I ⊂ R nun ein weiteres Intervall mit den genannten Eigenschaften, so folgt ausebendiesen, dass I ⊂ Imax und Imax ⊂ I , also I = Imax .

Bemerkung. Man nennt in der Situation des obigen Satzes Imax das maximale Lö-sungsintervall und µmax die maximale Lösung. Allgemeiner werden wir außerdemmit Imax(t0, x0) das maximale Lösungsintervall und mit µmax(· ; t0, x0) die maximale Lö-sung zu den Anfangswerten (t0, x0) ∈ D bezeichnen. Unter der allgemeinen Lösungder Differentialgleichung

x′ = f(t, x)

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20 2 Allgemeine Lösungstheorie

versteht man die für (t0, x0) ∈ D und t ∈ Imax(t0, x0) definierte Funktion

µ(t ; t0, x0) := µmax(t ; t0, x0) .

Wie man sich leicht überzeugt, gilt für alle (t0, x0) ∈ D sowie s, t ∈ Imax(t0, x0) , dass

Imax (s, µ(s ; t0, x0)) = Imax(t0, x0)

undµ (t ; s, µ(s ; t0, x0)) = µ(t ; t0, x0) . (Kozyklus-Eigenschaft)

Definition 2.12 (Abstand zu einer Menge)Ist M ⊂ Rd eine nichtleere Menge und ξ ∈ Rd , so bezeichnet

dist(ξ,M) := infx∈M‖ξ − x‖2

den Abstand von ξ zu M .

Satz 2.13 (Randverhalten der maximalen Lösung)Es sei D ⊂ R×Rd offen und f : D → Rd stetig sowie lokal Lipschitz-stetig in der zweitenKomponente. Ist t− bzw. t+ endlich, so gilt für die maximale Lösung µmax : Imax → Rd

von (AWP)‖µmax(t)‖ → ∞ oder dist ((t, µmax(t)), ∂D)→ 0

für t ↓ t− bzw. t ↑ t+ , wobei zweiteres nur auftreten kann, wenn ∂D 6= ∅ .

Beweis. Wir setzen γ(t) := (t, µmax(t)) für t ∈ Imax und treffen für den Fall t+ <∞ dieWiderspruchsannahme, dass weder ‖µmax(t)‖ → ∞ noch dist (γ(t), ∂D) → 0 für t ↑ t+ .Dann gibt es eine Folge tnn∈N mit Werten in Imax und tn ↑ t+ für n → ∞ sowieKonstanten M, δ > 0 mit

∀n ∈ N : γ(tn) ∈ K

wobeiK := (t, x) ∈ D : ‖x‖ ≤M,dist ((t, x), ∂D) ≥ δ .

Wir setzen nun

K := (t, x) ∈ D : ‖x‖ ≤ 2M,dist ((t, x), ∂D) ≥ δ/2 .

undm := sup

y∈K‖f(y)‖ .

Für h < minMm ,

δ/21+m

gilt

∀n ∈ N ∀ t ∈ [tn, tn + h] : γ(t) ∈ K ,

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2 Allgemeine Lösungstheorie 21

denn

‖µmax(t)‖ ≤ ‖µmax(tn)‖+ ‖µmax(t)− µmax(tn)‖ ≤M +

∣∣∣∣ˆ t

tn

f(γ(τ)) dτ∣∣∣∣ < 2M

und

dist (γ(t), ∂D) ≥ dist (γ(tn), ∂D)− ‖γ(t)− γ(tn)‖ ≥ δ − h(1 +m) > δ2 .

Man beachte, dass aufgrund der Stetigkeit von γ obige Ungleichungen bei festem n ∈ Nzeigen, dass γ(t) für alle t ∈ [tn, tn + h] für kleines h > 0 im Inneren von K liegt. Damitliegt aber γ(t) für alle t ∈ [tn, tn + h] mit t < t+ im Inneren von K . Wählen wir nunN ∈ N mit t+ − tn < h für alle n ≥ N , so erhalten wir

∀n ≥ N ∀ t ∈ [tn, t+) : γ(t) ∈ K .

Da für n ≥ N somitˆ t+

tn

‖f (γ(τ)) ‖ dτ ≤ (t+ − tn)m <∞ ,

können wir µmax(t+) durch

µmax(t+) := x0 +

ˆ t+

t0

f(γ(τ)) dτ

definieren. Folglich existiert γ(t+) := limt↑t+ γ(t) und da K abgeschlossen ist, schließenwir auf γ(t+) ∈ K . Mit dem Satz von Picard-Lindelöf folgt die Existenz eines ε > 0 ,sodass eine Lösung auf [t+, t+ + ε] existiert und dies steht offensichtlich im Widerspruchzur Definition von t+ . Für t ↓ t− geht man analog vor.

Satz 2.14 (Linear beschränkte rechte Seite)Es seien I ⊂ R ein offenes Intervall und D := I × Rd sowie f : D → Rd stetig undlokal Lipschitz-stetig bezüglich der zweiten Komponente. Des Weiteren sei f linear be-schränkt, d. h. es extistieren stetige Funktionen α, β : I → [0,∞) mit

∀ (t, x) ∈ D : ‖f(t, x)‖ ≤ α(t) + β(t)‖x‖ .

Dann gilt für alle (t0, x0) ∈ D und das maximale Lösungsintervall Imax zu (AWP), dassImax = I .

Beweis. Wir treffen die Widerspruchsannahme Imax I . Dann gilt O.B. d.A. für t+ <∞ , dass

limt↑t+‖µmax(t)‖ =∞ .

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22 2 Allgemeine Lösungstheorie

Wir setzen J := [t0, t+] und

α0 := maxt∈J

α(t) sowie β0 := maxt∈J

β(t) .

Für t ∈ [t0, t+) gilt dann

‖µmax(t)‖ ≤ ‖x0‖+

ˆ t

t0

‖f(τ, µmax(τ))‖ dτ ≤ ‖x0‖+

ˆ t

t0

(α(τ) + β(τ)‖µmax(τ)‖) dτ ≤

≤ ‖x0‖+ α0(t+ − t0) + β0

ˆ t

t0

‖µmax(τ)‖ dτ .

Mit C := ‖x0‖+ α0(t+ − t0) liefert das Gronwall-Lemma

∀ t ∈ [t0, t+) : ‖µmax(t)‖ ≤ Ceβ0(t+−t0) ,

also ist µmax(t) für t ↑ t+ beschränkt – Widerspruch.

Korollar 2.15 (Globale Existenz und Eindeutigkeit für lineare Systeme)Es seien I ⊂ R ein offenes Intervall sowie A : I → Rd×d und g : I → Rd stetig. Für alle(t0, x0) ∈ I ×Rd besitzt dann das Anfangswertproblem

x′(t) = A(t)x+ g(t) , x(t0) = x0

eine eindeutige Lösung auf I .

Beweis. Die rechte Seite ist offenbar lokal Lipschitz-stetig bezüglich der zweiten Kompo-nente und die lineare Beschränktheit folgt aus

‖A(t)x+ g(t)‖ ≤ ‖A(t)‖‖x‖+ ‖g(t)‖ für (t, x) ∈ I ×Rd .

Daher folgt die Aussage unmittelbar aus Satz 2.14.

2.4 Stetige Abhängigkeit von den Daten

Wir zeigen nun, dass kleine Abweichungen in den Daten zu kleinen Abweichungen derLösung führen. Dies wird schließlich die Wohlgestelltheit des Anfangswertproblems

x′ = f(t, x) , x(t0) = x0

für eine stetige und bezüglich der zweiten Komponente lokal Lipschitz-stetige rechte Seitef : D ⊂ R×Rd → Rd zeigen, d. h. das Anfangswertproblem erfüllt dann folgendes:

. Existenz

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2 Allgemeine Lösungstheorie 23

. Eindeutigkeit

. Stetige Abhängigkeit von den den Daten

Satz 2.16 (Stetige Abhängigkeit vom Anfangswert)Es sei D ⊂ R×Rd offen und f : D → Rd stetig sowie bezüglich der zweiten Komponenteglobal Lipschitz-stetig mit Lipschitz-Konstante L ≥ 0 . Für alle (t0, x0), (t0, x0) ∈ D giltdann

∀ t ∈ Imax(t0, x0) ∩ Imax(t0, x0) : ‖µ(t; t0, x0)− µ(t; t0, x0)‖ ≤ ‖x0 − x0‖eL|t−t0| .

Beweis. Wir setzen C := ‖x0 − x0‖ sowie

ϕ(t) := ‖µ(t; t0, x0)− µ(t; t0, x0)‖

für t ∈ Imax(t0, x0) ∩ Imax(t0, x0) und erhalten

ϕ(t) ≤ ‖x0 − x0‖+

∥∥∥∥ˆ t

t0

[f (τ, µ(τ ;x0))− f (τ, µ(τ ; x0))] dτ∥∥∥∥ ≤ C + L

∣∣∣∣ˆ t

t0

ϕ(τ) dτ∣∣∣∣ .

Daher folgt die Aussage aus dem Gronwall-Lemma.

Bemerkung. Man beachte, dass nach dem Satz von Picard-Lindelöf

Imax(t0, x0) ∩ Imax(t0, x0) 6= ∅

gilt.

Satz 2.17 (Stetige Abhängigkeit von der rechten Seite)Es sei D ⊂ R×Rd offen und f : D → Rd stetig sowie bezüglich der zweiten Komponenteglobal Lipschitz-stetig mit Lipschitz-Konstante L ≥ 0 . Weiters sei f : D → Rd stetig undfür ein Intervall I ⊂ R bezeichne µ : I → Rd die Lösung bzw. µ : I → Rd eine Lösungdes Anfangswertproblems

x′ = f(t, x) bzw. x′ = f(t, x)

mit Anfangsbedingung x(t0) = x0 , wobei (t0, x0) ∈ D . Ist ε > 0 derart, dass

∀ (t, x) ∈ D :∥∥∥f(t, x)− f(t, x)

∥∥∥ < ε ,

so gilt dann∀ t ∈ I : ‖µ(t)− µ(t)‖ ≤ ε|t− t0|eL|t−t0| .

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24 2 Allgemeine Lösungstheorie

Beweis. Dass die beiden Lösungen µ und µ beide auf einem Intervall I 6= ∅ definiertwerden können, folgt aus dem Satz von Picard-Lindelöf und dem Satz von Peano.Setzen wir ϕ(t) := ‖µ(t)− µ(t)‖ für t ∈ I und C := ε|t− t0| , so folgt mit

ϕ(t) ≤∣∣∣∣ˆ t

t0

∥∥∥f(τ, µ(τ))− f(τ, µ(τ))∥∥∥ dτ

∣∣∣∣ ≤≤∣∣∣∣ˆ t

t0

‖f(τ, µ(τ))− f(τ, µ(τ))‖ dτ∣∣∣∣+

∣∣∣∣ˆ t

t0

∥∥∥f(τ, µ(τ))− f(τ, µ(τ))∥∥∥ dτ

∣∣∣∣ ≤≤ L

∣∣∣∣ˆ t

t0

ϕ(τ) dτ∣∣∣∣+ C

die Aussage aus dem Gronwall-Lemma.

2.5 Autonome Systeme

Ein Differentialgleichungssystemx′ = F (x) (AS)

mit stetiger rechter Seite F : D ⊂ Rd → Rd nennt man autonom. Jedes nichtautonomeSystem

y′ = f(t, y)

kann in ein automes System umgeschrieben werden, indem man

x(t) :=

[t

y(t)

]und F (t) :=

[1

f(t, y(t))

]setzt und offenbar entsprechen Lösungen der beiden Systeme einander eineindeutig. ImWeiteren sei F stets lokal Lipschitz-stetig.

Betrachten wir nun für t0 ∈ R und x0 ∈ D das zu (AS) zugehörige Anfangswertpro-blem, so können aufgrund der Translationsinvarianz o. B. d.A. annehmen, dass t0 = 0 .In weiterer Folge betrachten wir also das Anfangswertproblem

x′ = F (x) , x(0) = x0

und bezeichnen dessen maximale Lösung mit [t 7→ ϕt(x0)] . Da wir stets Null als Startzeitwählen, setzen wir Imax(x0) := Imax(0, x0) . Man nennt

ϕ : (t, x) ∈ R×D : t ∈ Imax(x) → D : (t, x) 7→ ϕt(x)

den vom Vektorfeld F erzeugten Fluss.

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2 Allgemeine Lösungstheorie 25

Bemerkung. Man nennt F : D ⊂ Rd → Rd vollständig, falls

∀x0 ∈ D : Imax(x0) = R .

Ist F vollständig, so gilt:

(1) ϕ0 = idD

(2) ∀ s, t ∈ R : ϕt ϕs = ϕs+t (Gruppeneigenschaft)

Die Familie ϕtt∈R wird als die von F erzeugte Einparameter-Gruppe bezeichnet.Falls zudem F ∈ C1(D;Rd) und D offen, dann ist ϕt : D → D für alle t ∈ R einDiffeomorphismus.

Für x0 ∈ D nennt manT (x0) := ϕ (Imax(x0), x0) ⊂ D

Trajektorie von (AS) durch x0 . Die Menge aller Trajektorien wird als Phasenporträtbezeichnet.

Satz 2.18 (Klassifikation von Trajektorien)Es sei x0 ∈ D und F lokal Lipschitz-stetig. Dann trifft auf die maximale Lösung desAnfangswertproblems

x′ = F (x) , x(0) = x0 ,

also auf ϕ(· , x0) : Imax(x0)→ Rd , sowie die zugehörige Trajektorie T (x0) genau eine derfolgenden Aussagen zu:

(1) Es gilt Imax(x0) = R und ϕ(· , x0) ist konstant, also T (x0) = x0 .

(2) Das maximale Lösungsintervall ist Imax(x0) = R und ϕ(· , x0) nichtkonstant undperiodisch, also T (x0) das Bild einer geschlossenen Kurve.

(3) Die maximale Lösung ϕ(· , x0) ist injektiv, also T (x0) das Bild einer doppelpunkt-freien Kurve.

Beweis. Es sei ϕ(· , x0) : Imax(x0) → Rd nicht injektiv. Wir zeigen, dass ϕ(· , x0) dannperiodisch ist. Insbesondere beinhaltet dies dann auch den Fall, dass ϕ(· , x0) konstantist. Dazu wählen wir t1, t2 ∈ Imax(x0) = (t−, t+) mit t1 6= t2 und ϕ(t1 , x0) = ϕ(t2 , x0) .Dann ist

η : (t− − t1 + t2, t+ − t1 + t2)→ Rd : t 7→ ϕ(t+ t1 − t2 , x0)

die maximale Lösung von

x′ = F (x) , x(t2) = ϕ(t2 , x0)

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26 2 Allgemeine Lösungstheorie

und somitt− − t1 + t2 = t− und t+ − t1 + t2 = t+ .

Da t1 6= t2 , ist dies allerdings nur dann möglich, wenn t− = −∞ und t+ =∞ , also wennImax(x0) = R . Des Weiteren gilt nun

∀ t ∈ R : ϕ(t , x0) = ϕ(t+ t1 − t2 , x0) ,

also ist ϕ(· , x0) periodisch mit Periode |t1 − t2| > 0 .

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2 Allgemeine Lösungstheorie 27

Aufgaben

(2.1) Picard-Iteration: Bestimmen Sie die Lösung des Anfangswertproblems

x′ =

[x2

x1

], x(0) =

[01

]mittels der Picard-Iteration.

(2.2) Euler-Verfahren: Implementieren Sie das explizite Euler-Verfahren und berech-nen Sie damit eine Näherung der Lösung des Anfangswertproblems

x′ = sin(tx) , x(0) = 1 .

Plotten Sie die Näherungslösung und das Richtungsfeld.

(2.3) Anwendung des Satzes von Picard-Lindelöf:

(a) Bestimmen Sie mit dem Satz von Picard-Lindelöf a priori ein Intervall,auf dem das Anfangswertproblem

x′ = 2t√

1− x2 , x(0) = 0

eine eindeutige Lösung besitzt. Berechnen Sie sodann diese Lösung. Erhältman durch Fortsetzung eine Lösung auf ganz R ?

(b) Bestimmen Sie mit dem Satz von Picard-Lindelöf a priori ein Intervall,auf dem das Anfangswertproblem

x′ = x2 , x(1) = −1

eine eindeutige Lösung besitzt. Berechnen Sie sodann diese Lösung. Was istdas maximale Lösungsintervall?

(2.4) Stetige Differenzierbarkeit und Lipschitz-Stetigkeit: Es seiD ⊂ R×Rdoffen und f : D → Rd stetig differenzierbar. Zeigen Sie, dass f auf jeder konvexenund kompakten Menge K ⊂ D Lipschitz-stetig in der zweiten Komponente ist.

(2.5) Unendlich viele Lösungen: Es sei α ∈ (0, 1) . Zeigen Sie, dass das Anfangs-wertproblem

x′ = xα , x(0) = 0

unendlich viele Lösungen besitzt. Warum ist der Satz von Picard-Lindelöfhier nicht anwendbar?

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28 2 Allgemeine Lösungstheorie

(2.6) Kozyklus-Eigenschaft: Es sei D ⊂ R × Rd offen und f : D → Rd stetig so-wie lokal Lipschitz-stetig in der zweiten Komponente. Es bezeichne Imax(t0, x0) dasmaximale Lösungsintervall und µ(· ; t0, x0) die maximale Lösung des Anfangswert-problems

x′ = f(t, x) , x(t0) = x0 .

Zeigen Sie: Für alle (t0, x0) ∈ D sowie s, t ∈ Imax(t0, x0) gilt , dass

Imax (s, µ(s ; t0, x0)) = Imax(t0, x0)

undµ (t ; s, µ(s ; t0, x0)) = µ(t ; t0, x0) . (Kozyklus-Eigenschaft)

(2.7) Maximales Lösungsintervall: Bestimmen Sie Imax(t0, x0)

(a) für (t0, x0) ∈ R2 undx′ = tx2 , x(t0) = x0 .

(b) für t0 ∈ R \ 0 und x0 ∈ R sowie

t2x′ = x2 , x(t0) = x0 .

(c) für t0 > 0 und x0 ∈ R sowie

x′ =x2

t, x(t0) = x0 .

(d) für (t0, x0) ∈ R2 undx′ = x2 , x(t0) = x0 .

(2.8) Es sei I ⊂ R ein offenes Intervall und D := I × Rd . Zeigen Sie: Ist f : D → Rd

global Lipschitz-stetig, so besitzt das Anfangswertproblem

x′ = f(t, x) , x(t0) = x0

für alle (t0, x0) ∈ D eine eindeutige Lösung auf ganz I .

(2.9) Stetige Abhängigkeit vom Anfangswert: Es sei µ : R → R die Lösung desAnfangswertproblems

x′ = sin(tx) , x(0) = x0

mit x0 ∈ R . Finden Sie eine Konstante C > 0 , sodass für alle |x0| ≤ C gilt, dass

∀ t ∈ [0, 1] : |µ(t)| ≤ TOL

wobei TOL = 10−2 .

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2 Allgemeine Lösungstheorie 29

(2.10) Mathematisches Pendel: Schreiben Sie die skalare Differentialgleichung

y′′ = − sin y

in ein autonomes Systemx′ = F (x)

erster Ordnung um und bestimmen Sie alle Ruhelagen, d. h. alle x ∈ R2 , für dieF (x) = 0 gilt. Für welche Anfangswerte x0 ∈ R2 ist die Lösung des Anfangswert-problems

x′ = F (x) , x(0) = x0

konstant und für welche periodisch? Interpretieren Sie Ihre Ergebnisse entspre-chend.

(2.11) Stetige Abhängigkeit: Es bezeichne η : R → R die Lösung des Anfangswert-problems

y′′ = − sin y , y(0) = ϕ0 , y′(0) = v0

und η : R→ R die Lösung des Anfangswertproblems

y′′ = −y , y(0) = ϕ0 , y′(0) = v0

für ϕ0, v0 ∈ R . Stellen Sie für ε > 0 hinreichende Bedingungen an ϕ0 und v0 ,sodass

∀ t ∈ R : |η(t)− η(t)| < ε .

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Kapitel 3

Lineare Systeme

In diesem Kapitel beschäftigen wir uns nun mit linearen Systemen

x′ = A(t)x+ g(t) , (LS)

wobei die auf einem Intervall I ⊂ R definierten Funktionen

A : I → Rd×d und g : I → Rd

als stetig vorausgesetzt werden. In Korollar 2.15 haben wir bereits gezeigt, dassfür jede Anfangszeit t0 ∈ I und jeden Anfangswert x0 ∈ Rd das zugehörige Anfangs-wertproblem eine eindeutige Lösung auf ganz I besitzt, welche wir im Folgenden mitµg(· ; t0, x0) : I → Rd bezeichnen werden.

Man nennt (LS) homogen, falls g ≡ 0 , ansonsten inhomogen. Mit

L (g) :=µ ∈ C1(I;Rd) : ∀ t ∈ I : µ′(t) = A(t)µ(t) + g(t)

bezeichnen wir die Lösungsmenge von (LS), dann ist L (0) die Lösungsmenge der zuge-hörigen homogenen Gleichung.

3.1 Struktur und Darstellung des Lösungsraums

Superpositionsprinzip. Es seien g1, g2 ∈ C(I;Rd) . Dann gilt für µ1 ∈ L (g1) undµ2 ∈ L (g2) sowie α1, α2 ∈ R , dass

α1µ1 + α2µ2 ∈ L (α1g1 + α2g2) .

Insbesondere ist L (0) ein R-Vektorraum.

Satz 3.1 (Algebraische Struktur des Lösungsraums linearer Systeme)

(1) Für jedes t0 ∈ I istRd → L (0) : x0 7→ µ0(· ; t0, x0) (?)

ein Isomorphismus.

(2) Es ist L (0) ≤ C1(I;Rd) und dim L (0) = d .

31

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32 3 Lineare Systeme

(3) Für jedes µg ∈ L (g) gilt

L (g) = µg + L (0) = µg + µ0 : µ0 ∈ L (0)

und man nennt in diesem Kontext µg eine partikuläre Lösung des inhomogenenSystems. Also ist L (g) ein d-dimensionaler affiner Unterraum von C1(I;Rd) .

Beweis. Die Linearität von (?) folgt aus dem Superpositionsprinzip, die Bijektivität ausder eindeutigen Lösbarkeit des zugehörigen Anfangswertproblems. Damit sind (1) und(2) gezeigt.

(3) „⊃“: Zu η ∈ µg + L (g) gibt es ein µ0 ∈ L (0) mit η = µg + µ0 und nach demSuperpositionsprinzip ist dann η ∈ L (g + 0) .„⊂“: Für η ∈ L (g) setze µ0 := η − µg und schließe mit dem Superpositionsprinzipµ0 ∈ L (g − g) = L (0) . Dann ist η = µg + µ0 ∈ µg + L (0) .

Satz 3.2 (Lineare Unabhängigkeit von Lösungen)Es seien n ∈ N mit n ≤ d und µ1, . . . , µn ∈ L (0) . Dann sind folgende Aussagenäquivalent:

(1) µ1, . . . , µn sind linear unabhängig

(2) ∀ t0 ∈ I : µ1(t0), . . . , µn(t0) sind linear unabhängig

(3) ∃ t0 ∈ I : µ1(t0), . . . , µn(t0) sind linear unabhängig

Beweis. Für alle t0 ∈ I und j = 1, . . . , n gilt

∀ t ∈ I : µj(t) = µ0 ((t; t0, µj(t0)) .

Da Rd → L (0) : x0 7→ µ0(· ; t0, x0) für jedes t0 ∈ I ein Isomorphismus ist, folgen damitdie Äquivalenzen.

Eine Basis von L (0) nennt man auch ein Fundamentalsystem. Für t0 ∈ I wird dieeindeutige Lösung des matrixwertigen Anfangswertproblems

x′ = A(t)x , x(t0) = Id

Resolvente genannt und mit R(· , t0) bezeichnet.

Satz 3.3 (Resolvente und Variation der Konstanten)Es sei t0 ∈ I .

(1) Für alle s, t ∈ I gilt

R(t, s)R(s, t0) = R(t, t0) und R−1(t, s) = R(s, t) .

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3 Lineare Systeme 33

(2) Für alle t ∈ I und x0 ∈ Rd ist

µg(t ; t0, x0) = R(t, t0)x0 +

ˆ t

t0

R(t, τ)g(τ) dτ . (Variation der Konstanten)

Beweis. (1) Aus

ddtR(t, t0)R−1(s, t0) = A(t)R(t, t0)R−1(s, t0) und R(t, t0)R−1(s, t0)

∣∣t=s

= Id

folgt R(t, t0)R−1(s, t0) = R(t, s) und damit der erste Teil der Aussage, womit man un-mittelbar auf

R−1(t, s) = R−1(t, s)R(t, t) = R−1(t, s)R(t, s)R(s, t) = R(s, t)

und die zweite Aussage schließt.

(2) Wir setzen µ(t) := R(t, t0)x0 +´ tt0R(t, τ)g(τ) dτ für t ∈ I . Dann folgt die Aussage

unter Verwendung der Produktregel aus

µ′(t) = A(t)R(t, t0)x0 +ddtR(t, t0)

ˆ t

t0

R(t0, τ)g(τ) dτ = A(t)µ(t) + g(t)

und µ(t0) = x0 .

Herleitung der Variation-der-Konstanten-Formel. Es sei t0 ∈ I undx0 ∈ Rd . Die Lösung des homogenen Anfangswertproblems ist durch

µ0(t; t0, x0) = R(t, t0)x0 für t ∈ I

gegeben. Um das inhomogene Anfangswertproblem zu lösen, machen wir den Ansatz

µ(t) := R(t, t0)C(t) für t ∈ I

mit einer noch zu bestimmenden Funktion C ∈ C1(I;Rd) . Es wird also der Anfangswertx0 „variiert“. Einsetzen führt auf

µ′(t) = A(t)R(t, t0)C(t) +R(t, t0)C ′(t) = A(t)µ(t) +R(t, t0)C ′(t)!

= A(t)µ(t) + g(t)

und wir erhalten das Anfangswertproblem

C ′ = R(t0, t)g(t) , C(t0) = x0 ,

dessen Lösung offenbar durch

C(t) = x0 +

ˆ t

t0

R(t0, τ)g(τ) dτ

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34 3 Lineare Systeme

für t ∈ I gegeben ist. Demnach ist

µ(t) = R(t, t0)x0 +

ˆ t

t0

R(t, τ)g(τ) dτ

für t ∈ I und insbesondere µ = µg(·; t0, x0) .

Satz 3.4 (Wronski1-Determinante)Es sei t0 ∈ I . Für t ∈ I setzen wir

W (t) := detR(t, t0) . (Wronski-Determinante)

Dann gilt für alle t ∈ I , dassW ′(t) = W (t) trA(t)

und daher

W (t) = exp

(ˆ t

t0

trA(τ) dτ).

Beweis. Wir setzen R := R(t, t0) sowie A := A(t) und bezeichnen mit Ri die i-te Zeilevon R für i = 1, . . . , d . Nach der Produktregel erhalten wir

W ′(t) =d∑i=1

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

R1...R′i...Rd

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣=

d∑i=1

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

R1...

Ai−R...Rd

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣=

d∑i,j=1

Aij

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

R1...

Ri−1

RjRi+1...Rd

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣= trAdetR .

Mit W (t0) = detR(t0, t0) = det Id = 1 folgt damit die Aussage.

3.2 Die Matrixexponentialfunktion

Wir betrachten die homogene lineare Differentialgleichung

x′ = Ax

für A ∈ Rd×d . Ist d = 1 , so ist

µ0(t ; t0, x0) = e (t−t0)Ax0 für alle t, t0, x0 ∈ R .

1Josef Hoëné-Wronski, 1776–1853, polnischer Mathematiker

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3 Lineare Systeme 35

Wir wir nun sehen werden, lässt sich dies auf den Fall d > 1 direkt übertragen. Dazuwerden wir nun die Matrixexponentialfunktion

[t 7→ e tA

]definieren.

Es sei A ∈ Rd×d . Wir setzen

e tA :=∞∑n=0

tn

n!An für t ∈ R .

Man beachte, dass die Reihe bezüglich jeder Norm auf Rd×d konvergiert, denn aufgrundder Submultiplikativität einer Operatornorm ‖ · ‖ gilt

∀n ∈ N0 :

∥∥∥∥ tnn!An∥∥∥∥ ≤ |t|nn!

‖A‖n

und somit konvergiert e tA nach dem Majorantenkriterium absolut bezüglich dieserOperatornorm ‖ · ‖ und aufgrund der Äquivalenz der Normen auf Rd×d auch für jedeandere Norm.

Bemerkung. Man beachte, dass eine matrixwertige Reihe genau dann konvergiert,wenn sie elementweise konvergiert.

Beispiel 3.5 (Bestimmung einer Matrixexponentialfunktion)Für

A :=

[0 10 0

]gilt An = 0 für alle n ∈ N0 mit n ≥ 2 , es handelt sich bei A also um eine nilpotenteMatrix. Folglich ist

e tA = I + tA =

[1 t0 1

]für t ∈ R . Man beachte, dass

e tA 6=[e0 e t

e0 e0

].

Satz 3.6 (Ableitung der Matrixexponentialfunktion)Für A ∈ Rd×d ist die Matrixexponentialfunktion

[t 7→ e tA

]auf ganz R differenzierbar

und es giltddt

e tA = Ae tA = e tAA .

Beweis. Aufgrund der lokal gleichmäßigen Konvergenz gilt

ddt

e tA =

∞∑n=0

Anddttn

n!= A

∞∑n=1

tn−1

(n− 1)!An−1 = A

∞∑n=0

tn

n!An = Ae tA

und ebensoddt

e tA = e tAA .

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36 3 Lineare Systeme

Ist A ∈ Rd×d , so ist nach obigem Satz die Revolvente zu x′ = Ax durch

R(t, t0) = e (t−t0)A

und der von A erzeugte Fluss durch

ϕ(t, x0) = e tAx0

für t ∈ R und x0 ∈ Rd gegeben. Für t0 ∈ R und x0 ∈ Rd lautet die Lösung desAnfangswertproblem

x′ = Ax , x(t0) = x0

folglich µ0(t; t0, x0) = e (t−t0)Ax0 für t ∈ R .

Satz 3.7 (Eigenschaften der Matrixexponentialfunktion)Für A,B ∈ Rd×d und s, t ∈ R gilt:

(1) AB = BA⇒ e tAe tB = e t(A+B)

(2) e tAesA = e (t+s)A

(3)(e tA)−1

= e−tA

Beweis. (1) Wir setzenM(t) := e tAe tB für t ∈ R .

Dann ist M(0) = I und

M ′(t) = AM(t) +M(t)BAB=BA

= (A+B)M(t)

und folgich M(t) = e t(A+B) für alle t ∈ R .

Aussagen (2) und (3) folgen unmittelbar aus (1).

Satz 3.8 (Resolvente und Matrixexponentialfunktion)Es sei I ⊂ R ein Intervall. Wir betrachten das lineare System

x′ = A(t)x+ g(t)

mit A ∈ C(I;Rd×d) und g ∈ C(I;Rd) . Gilt

∀ t ∈ I : A(t)

ˆ t

t0

A(τ) dτ =

(ˆ t

t0

A(τ) dτ)A(t) ,

so ist

R(t, t0) = exp

(ˆ t

t0

A(τ) dτ)

für alle t0, t ∈ I .

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3 Lineare Systeme 37

Beweis. Es ist

ddt

exp

(ˆ t

t0

A(τ) dτ)

=

∞∑n=0

1

n!

ddt

(ˆ t

t0

A(τ) dτ)n

= A(t) exp

(ˆ t

t0

A(τ) dτ)

und daher folgt mit exp(´ t

t0A(τ) dτ

)∣∣∣t=t0

= Id , dass

exp

(ˆ t

t0

A(τ) dτ)

= R(t, t0) für t ∈ I .

3.3 Lineare Systeme mit konstanten Koeffizienten

Nach Satz 3.6 ist jede Spalte von[t 7→ e tA

]Lösung von

x′ = Ax

und da e0A = Id , ist

L (0) =

d⊕j=1

[t 7→

(e tA)−j

].

Satz 3.9 (Berechnung der Matrixexponentialfunktion)Es seien A ∈ Rd×d und t ∈ R . Dann gilt:

(1) ∀T ∈ GLd(R) : e tA = T e tT−1ATT−1

(2) Es sei n ∈ N mit n ≤ d und A habe Blockdiagonalgestalt A = diag(A1, . . . , An) .Dann ist

e tA = diag(e tA1 , . . . , e tAn

).

Beweis. (1) Für T ∈ GLd(R) setzen wir

M(t) := T e tT−1ATT−1 , t ∈ R .

Dann ist M Lösung des Anfangswertproblems

x′ = Ax , x(0) = I

und folglich M(t) = e tA für alle t ∈ R .

(2) Der Beweis dieser Aussage verbleibt als Übung.

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38 3 Lineare Systeme

Berechnung der Matrixexponentialfunktion mittels JordanscherNormalform. Es sei A ∈ Rd×d . Wie aus der Linearen Algebra bekannt ist, gibtes ein T ∈ GLd(C) und ein n ∈ N mit

T−1AT = diag(J1, . . . , Jn) . (Jordansche Normalform)

Für j = 1, . . . , n ist dabei

Jj :=

λ 1 0

. . . . . .. . . 1

0 λj

, (Jordan-Kästchen)

wobei λ ein Eigenwert von A ist. Es sei j ∈ 1, . . . , n und t ∈ R . Ist m ∈ N mitJj ∈ Cm×m , so setzen wir

Pj :=

0 1 0

. . . . . .. . . 1

0 0

∈ Rm×m und Dj := λIm ,

dann ist Jj = Pj +Dj und da PjDj = DjPj , folglich

e tJj = e tDje tPj = e tλ

1 t t2

2 . . . tm−1

(m−1)!

. . . . . . . . ....

. . . . . . t2

2

0. . . t

1

.

Daher kann die Matrixexponentialfunktion durch

e tA = T e tT−1ATT−1 = T diag

(e tJ1 , . . . , e tJn

)T−1

berechnet werden.

Variation der Konstanten im Fall konstanter Koeffizienten. Es seienA ∈ Rd×d und I ⊂ R ein Intervall sowie g ∈ C(I;Rd) . Wir betrachten das inhomogenelineare System

x′ = Ax+ g(t)

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3 Lineare Systeme 39

mit konstanten Koeffizienten. Weiters sei (t0, x0) ∈ I × Rd . In diesem Fall gilt fürdie Resolvente R(t, t0) = e (t−t0)A und damit erhalten wir mit der Variation-der-Konstanten-Formel

µg(t; t0, x0) = e (t−t0)Ax0 +

ˆ t

t0

e (t−τ)Ag(τ) dτ

für t ∈ I .

3.4 Skalare lineare Differentialgleichungen mit kon-stanten Koeffizienten

Wir betrachten die homogene skalare Differentialgleichung

y(n) + cn−1y(n−1) + . . .+ c1y

′ + c0y = 0 (SL)

wobei n ∈ N und c0, . . . , cn−1 ∈ R . Setzt man

x :=

y...

y(n−1)

und A :=

0 1 0 . . . 00 0 1 . . . 0...

. . . . . ....

0 . . . . . . 0 1−c0 −c1 −c2 . . . −cn−1

,

so führt dies auf das äquivalente System

x′ = Ax .

Dann sind die Eigenwerte von A gerade die Nullstellen (mit Vielfachheiten) des zu (SL)gehörigen charakteristischen Polynoms

χA(λ) = λn + cn−1λn−1 + . . .+ c1λ+ c0 ∈ C[λ] .

Samtliche Aussagen über das System x′ = Ax übertragen sich nun unmittelbar auf dieskalare Gleichung (SL).

Bemerkung. Dies erklärt, warum und wie man durch den Ansatz

y = eλt , λ ∈ C ,

die allgemeine Lösung von (SL) erhält.

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40 3 Lineare Systeme

3.5 Lineare Systeme mit analytischen Koeffizienten

Es sei I ⊂ R ein Intervall und t0 ∈ I sowie A : I → Rd×d analytisch, d. h. A besitzt diePotenzreihendarstellung

A(t) =∞∑n=0

An(t− t0)n

mit Koeffizienten An ∈ Rd×d für n ∈ N0 und für den Konvergenzradius ρ(A, t0) gilt

ρ(A, t0) ≥ dist(t0, ∂I) .

Wir betrachten nun das lineare System

x′ = A(t)x

mit analytischen Koeffizienten und wir werden zeigen, dass die Lösung jedes zugehörigenAnfangswertproblems analytisch auf I ist. Dazu benötigen wir folgende Lemmata.

Lemma 3.10 (Cauchyprodukt)Es seien αnn∈N0 ∈ RN0 und βnn∈N0 ∈ RN0 sowie die beiden Reihen

∞∑n=0

αn und∞∑n=0

βn

absolut konvergent. Dann ist∞∑n=0

(n∑j=0

αjβn−j

)absolut konvergent (Cauchy-Produkt)

und es gilt ( ∞∑n=0

αn

( ∞∑n=0

βn

)=∞∑n=0

(n∑j=0

αjβn−j

).

Beweis. Für jedes N ∈ N ist

N∑n=0

∣∣∣∣∣∣n∑j=0

αjβn−j

∣∣∣∣∣∣ ≤( ∞∑n=0

|αn|

( ∞∑n=0

|βn|

)

und daher die Reihe∑∞

n=0

(∑nj=0 αjβn−j

)absolut konvergent. Nach dem Umord-

nungssatz gilt somit∞∑n=0

(n∑j=0

αjβn−j

)=

∞∑n=0

∞∑j=0

αnβj

( ∞∑n=0

αn

( ∞∑n=0

βn

).

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3 Lineare Systeme 41

Bemerkung. Obiger Satz überträgt sich direkt auf den mehrdimensionalen Fall, alsowenn etwa die Folgen Werte in Rd×d annehmen.

Lemma 3.11 (Abschätzung für Potenzreihen)Es seien αnn∈N0 ∈ (Rd)N0 und t0 ∈ R . Existieren Konstanten L,M > 0 mit

∀n ∈ N0 : ‖αn+1‖ ≤M

(n+ 1)Ln

n∑j=0

Lj‖αj‖ ,

so ist die Potenzreihe∞∑n=0

αn(t− t0)n

für alle t ∈ (t0 − L, t0 + L) absolut konvergent.

Beweis. Mittels vollständiger Induktion über n zeigt man, dass

∀n ∈ N :n∑j=0

Lj‖αj‖ ≤‖α0‖n!

n∏j=1

(j +ML)

und insgesamt erhält man damit

∀n ∈ N : ‖αn+1‖ ≤M‖α0‖

(n+ 1)!Ln

n∏j=1

(j +ML) := βn+1 .

Setzen wir weiters β0 := ‖α0‖ sowie β1 := ‖α1‖ , dann folgt für t ∈ (t0 − L, t0 + L) aus

limn→∞

∣∣∣∣βn+1(t− t0)n+1

βn(t− t0)n

∣∣∣∣ = limn→∞

n+ML

n+ 1

|t− t0|L

=|t− t0|L

< 1

nach dem Quotientenkriterium die absolute Konvergenz der Reihe

∞∑n=0

βn(t− t0)n .

Aus dem Majorantenkriterium schließen wir nun auf die absolute Konvergenz von∑∞n=0 αn(t− t0)n , denn

∀n ∈ N0 : ‖αn‖ ≤ βn .

Satz 3.12 (Analytizität der Lösung)Es sei (t0, x0) ∈ I × Rd . Ist A : I → Rd×d analytisch, so ist die maximale Lösungµ : I → Rd des Anfangswertproblems

x′ = A(t)x , x(t0) = x0 (LSA)

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42 3 Lineare Systeme

analytisch und besitzt die Potenzreihendarstellung

µ(t) =∞∑n=0

cn(t− t0)n

mit Koeffizienten cn ∈ Rd für n ∈ N0 und Konvergenzradius ρ(µ, t0) ≥ ρ(A, t0) .

Beweis. Wir setzen formal die Reihendarstellung in die Differentialgleichung ein underhalten mit der Formel für das Cauchy-Produkt

0!

=∞∑n=0

(n+ 1)cn+1(t− t0)n −

( ∞∑n=0

An(t− t0)n

)( ∞∑n=0

cn(t− t0)n

)=

=∞∑n=0

((n+ 1)cn+1 −

n∑j=0

An−jcj

)(t− t0)n .

Daher setzen wir c0 := x0 und definieren rekursiv

cn+1 :=1

n+ 1

n∑j=0

An−jcj für n ∈ N0 .

Es sei L < ρ(A, t0) . Dann ist AnLnn∈N0 eine Nullfolge und somit beschränkt durcheine Konstante M > 0 . Folglich gilt

‖cn+1‖ ≤1

n+ 1

n∑j=0

‖An−j‖‖cj‖ ≤M

(n+ 1)Ln

n∑j=0

Lj‖cj‖

und damit folgt die Aussage aus Lemma 3.11.

Bemerkung. Nach obigem Satz erhält man die Lösung des Anfangswertproblems(LSA), indem man den Potenzreihenansatz

µ(t) =∞∑n=0

cn(t− t0)n

in die Differentialgleichung einsetzt und anschließend die Koeffizienten cnn∈N mittelsKoeffizientenvergleich bestimmt – dies kann in der Praxis allerdings durchaus herausfor-dernd sein.

3.6 Ableitung nach dem Anfangswert

Die stetige Abhängigkeit der Lösung von den Daten haben wir bereits gezeigt. Nunwerden wir die differenzierbare Abhängigkeit der Lösung vom Anfangswert untersuchen.

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3 Lineare Systeme 43

Satz 3.13 (Ableitung nach dem Anfangswert)Es sei D ⊂ R × Rd offen und die stetige Funktion f : D → Rd bezüglich der zweitenKomponente stetig differenzierbar. Dann ist für alle (t0, x0) ∈ D und t ∈ Imax(t0, x0) dieAbbildung

[x 7→ µ(t ; t0, x)]

stetig differenzierbar und setzen wir

R(t ; t0, x0) := ∂xµ(t ; t0, x0) , (parameterabhängige Resolvente)

so gilt außerdem

∂tR(t ; t0, x0) = ∂xf (t, µ(t ; t0, x0))R(t ; t0, x0) . (Variationsgleichung)

Da R(t0 ; t0, x0) = Id , handelt sich bei R(t ; t0, x0) also um die Resolvente zu y′ = A(t)ymit A(t) := ∂xf (t, µ(t ; t0, x0)) .

Beweis. Für x nahe bei x0 setzen wir

η(t) := µ(t ; t0, x)− µ(t ; t0, x0) .

Dann ist

η′(t) = f (t, µ(t ; t0, x))− f (t, µ(t ; t0, x0)) = ∂xf (t, µ(t ; t0, x0)) η(t) + g(t, x) ,

wobei g(t, x) = o(‖x − x0‖) für x → x0 aufgrund der stetigen Abhängigkeit der Lösungvom Anfangswert. Bezeichnet R(t ; t0, x0) die Resolvente des obigen linearen Systems, soerhalten wir mit der Variation-der-Konstanten-Formel

η(t) = R(t ; t0, x0)(x− x0) +

ˆ t

t0

R(t ; τ, x0)g(τ, x) dτ

mit´ tt0R(t ; t0, x0)g(τ, x) dτ = o(‖x−x0‖) für x→ x0 , wie man leicht mittels Anwendung

der Dreiecksungleichung einssieht.

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44 3 Lineare Systeme

Aufgaben

(3.1) Lösungsraum eines linearen Systems:

(a) Bestimmen Sie die allgemeine Lösung der Differentialgleichung

y′′ − y = (1 + t)e t .

(b) Schreiben Sie die Differentialgleichung in ein lineares System

x′ = A(t)x+ g(t)

um und bestimmen sie L(0) sowie L(g) .

(3.2) Hamilton-Funktion: Schreiben Sie für g ∈ C(R;R) die skalare Differentialglei-chung

y′′ = g(y)

in ein autonomes Systemx′ = F (x)

um und geben Sie die zugehörige Pfaffsche Gleichung ω = 0 an. Bestimmen Sie eineStammfunktion von ω . Wie hängen das Phasenporträt des autonomen Systems unddiese Stammfunktion zusammen? Skizzieren Sie die Trajektorien des autonomenSystems für g(y) = 2y , y ∈ R . Wie lautet die allgemeine Lösung der zugehörigenskalaren Differentialgleichung?

(3.3) Wronski-Determinante und Variation der Konstanten:

(a) Gegeben sei die skalare Differentialgleichung

y′′ + c1(t)y′ + c0(t)y = f(t) (?)

mit c1, c2, f ∈ C(I;R) für ein Intervall I ⊂ R . Es bezeichne µ1 : I → R dieLösung der homogenen Gleichung mit Anfangsbedingung y(t0) = 1, y′(t0) = 0und µ2 : I → R jene mit Anfangsbedingung y(t0) = 0, y′(t0) = 1 , wobeit0 ∈ I . Weiters bezeichne W (t) für t ∈ I die Wronski-Deterimante des zu (?)äquivalenten linearen Systems

x′ = A(t)x+ g(t) .

Zeigen Sie: Durch µp(t) := C1(t)µ1(t) + C2(t)µ2(t) für t ∈ I ist eine Lösungder inhomogenen Gleichung (?) gegeben, falls

C ′1(t) = −µ2(t)f(t)

W (t)und C ′2(t) =

µ1(t)f(t)

W (t).

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3 Lineare Systeme 45

(b) Bestimmen Sie die allgemeine Lösung der skalaren Differentialgleichung

y′′ + y = sin(t) .

(3.4) Resolvente und Matrixexponentialfunktion: Ist für

(a) A(t) =

[1 t0 1

](b) A(t) =

[t 10 0

]die Resolvente des Systems x′ = A(t)x durch

R(t, t0) = exp

(ˆ t

t0

A(τ) dτ)

für t, t0 ∈ R gegeben?

(3.5) Lineare Skalare Differentialgleichung: Wir betrachten die skalare Diffe-rentialgleichung

y′′ − 2y′ + y = e t .

(a) Bestimmen Sie die allgemeine Lösung der Differentialgleichung.

(b) Schreiben Sie die Differentialgleichung in ein System erster Ordnung um undbestimmen Sie L(0) und L

([t 7→ [0, e t]T

])mit der Variation-der-Konstanten-

Formel.

(3.6) Lineare Skalare Differentialgleichung II: Wir betrachten das Anfangs-wertproblem

y′′ + 2y′ + y = 2x+ 1 , y(1) = 0 , y′(1) = 3 .

Schreiben Sie die skalare Differentialgleichung in ein lineares System erster Ordnungum und bestimmen Sie die Resolvente. Lösen Sie mittels Variation-der-Konstanten-Formel das zugehörige Anfangswertproblem.

(3.7) Berechnung der Matrixexponentialfunktion: Es sei t ∈ R . Berechnen Siee tA für

(a) A =

[−3 1−1 −1

], (b) A =

−1 0 01 −1 00 1 0

.Bestimmen Sie L(g) für A aus (a) und

g : R→ R : t 7→[

e t

e−2t

].

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46 3 Lineare Systeme

(3.8) Analytizität der Lösung: Es seien I ⊂ R ein Intervall sowie A : I → Rd×d

und g : I → Rd analytisch auf I . Zeigen Sie, dass für alle t0 ∈ I und x0 ∈ Rd diemaximale Lösung µmax des Anfangswertproblems

x′ = A(t)x+ g(t) , x(t0) = x0

analytisch ist und ρ(µmax, t0) ≥ minρ(A, t0), ρ(g, t0) ≥ dist(t0, ∂I) .

(3.9) Potenzreihenansatz: Bestimmen Sie die allgemeine Lösung der skalaren Diffe-rentialgleichung

y′′ − 4y′ + 3y = 0

mittels Potenzreihenansatz.

(3.10) Hermite-Polynome: Es sei n ∈ N0 . Wir betrachten die skalare Differentialglei-chung

y′′ − 2ty′ + 2ny = 0 . (Hermitesche Differentialgleichung)

(a) Zeigen Sie, dass die Lösungen der Hermiteschen Differentialgleichung analy-tisch auf R sind.

(b) Bestimmen Sie die Lösung des zugehörigen Anfangswertproblems mit An-fangsbedingung

y(0) =

0 , n ungerade,c0 , n gerade

und y′(0) =

c1 , n ungerade,0 , n gerade

für c0, c1 ∈ R durch einen Potenzreihenansatz und zeigen Sie, dass es sich umein Polynom Hn handelt. Dieses Polynom ist ein Vielfaches des sogenanntenn-ten Hermite-Polynoms.

(3.11) Potenzreihenentwicklung um schwache Singularität: Der Nullpunkt isteine schwach singuläre Stelle der Besselschen Differentialgleichung 0-ter Ordnung,welche

y′′ +y′

t+ y = 0 (?)

lautet. Zeigen Sei, dass durch

J0(t) :=∞∑n=0

(−1)nt2n

4n(n!)2und Y0(t) := J0(t)(log t/2 + γ) +

∞∑n=1

(−1)n−1Hnt2n

4n(n!)2,

wobei Hn :=∑n

k=11k für n ∈ N und γ := limn→∞(Hn − log n) , ein Fundamental-

system von (?) auf (0,∞) gegeben ist.

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3 Lineare Systeme 47

(3.12) Exponential und Kommutator: Es sei A ∈ Rd×d . Wir betrachten die Abbil-dung

adA : Rd×d → Rd×d : B → [A,B] := AB −BA .

Zeigen Sie für B ∈ Rd×d , dass

exp(adA)(B) = eABe−A .

Was erhält man im Fall, dass A und B kommutieren?

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Kapitel 4

Stabilitätstheorie

Es seien D ⊂ Rd offen und F ∈ C1(D;Rd) . Wir betrachten das autonome System

x′ = F (x) .

Man nennt x0 ∈ D eine Ruhelage oder einen stationären Punkt des Systems, fallsF (x0) = 0 . Untersucht werden soll nun das Verhalten von Lösungen des zugehörigenAnfangswertproblems mit Anfangswert in der Nähe einer Ruhelage des Systems. Es be-zeichne wiederum ϕ den von F erzeugten Fluss.

Definition 4.1 (Stabilität)Es sei x0 eine Ruhelage des Systems x′ = F (x) .

. x0 stabil :⇐⇒ ∀ε > 0∃δ > 0∀ξ ∈ Bδ(x0) ∀t ∈ [0,∞)∩Imax(ξ) : ‖ϕt(ξ)− x0‖ < ε

. x0 instabil :⇐⇒ x0 nicht stabil

. x0 attraktiv :⇐⇒ ∃ δ > 0 ∀ ξ ∈ Bδ(x0) : [0,∞) ⊂ Imax(ξ) ∧ limt→∞

ϕt(ξ) = x0

. x0 asymptotisch stabil :⇐⇒ x0 stabil und attraktiv

Satz 4.2 (Stabilitätssatz für lineare System mit konstanten Koeff.)Es seien A ∈ Rd×d und λ1, . . . , λn ∈ C die verschiedenen Eigenwerte von A sowie mj

die algebraische und mj die geometrische Multiplizität von λj für j = 1, . . . , n . Für dietriviale Ruhelage 0 des Systems x′ = Ax gilt dann:

(1) ∃ j = 1, . . . , n : Reλj > 0 =⇒ 0 instabil

(2) ∀ j = 1, . . . , n : Reλj < 0 ⇐⇒ 0 asymptotisch stabil

(3) ∀ j = 1, . . . , n : Reλj ≤ 0 ∧ (Reλj = 0⇒ mj = mj) ⇐⇒ 0 stabil

Beweis. Die Ruhelage 0 ist genau dann stabil bzw. attraktiv, wenn[t 7→ e tAv

]beschränkt bzw. lim

t→∞e tAv = 0

für alle verallgemeinerten Eigenvektoren v ∈ Rd von A . Daher genügt es für j = 1, . . . , ndas Jordankästchen

λj 1 0. . . . . .

. . . 10 λj

49

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50 4 Stabilitätstheorie

zu betrachten, wodurch unmittelbar die Aussagen folgen.

Beispiel 4.3 (Stabilität für ebene Systeme mit konstanten Koeff.)Es sei A ∈ R2×2 und J ∈ R2×2 die reelle Jordansche Normalform von A . Für die trivialeRuhelage 0 des Systems x′ = Ax erhält man folgende Klassifizierung:

J Eigenwerte Nullpunkt ist Bezeichnung[λ1 00 λ2

]λ1 < 0 < λ2 instabil Sattelpunkt[

λ1 00 λ2

]λ1 < λ2 < 0 asymptotisch stabil stabiler zwei-tangentiger Knoten[

λ1 00 λ2

]0 < λ1 < λ2 instabil instabiler zwei-tangentiger Knoten[

0 00 λ

]λ < 0 stabil Gerade von stabilen Ruhelagen[

0 00 λ

]λ > 0 instabil Gerade von instabilen Ruhelagen[

λ 00 λ

]λ < 0 asymptotisch stabil stabiler viel-tangentiger Knoten[

λ 00 λ

]λ > 0 instabil instabiler viel-tangentiger Knoten[

0 00 0

]- stabil Ebene von Ruhelagen[

λ 10 λ

]λ < 0 asymptotisch stabil stabiler ein-tangentiger Knoten[

λ 10 λ

]λ > 0 instabil instabiler ein-tangentiger Knoten[

0 10 0

]- instabil Gerade von Ruhelagen[

α −ββ α

]α < 0 6= β asymptotisch stabil stabiler Strudel[

α −ββ α

]β 6= 0 < α instabil instabiler Strudel[

0 −ββ 0

]β 6= 0 stabil Zentrum

Das charakteristische Polynom von A lautet

det(A− λI) = λ2 − λ trA+ detA .

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4 Stabilitätstheorie 51

Setzen wir s := trA und d := detA , so lauten die Eigenwerte

λ1,2 =1

2

(s±

√s2 − 4d

).

Die obige Klassifizierung lässt sich somit auch in der (s, d)-Ebene entsprechend veran-schaulichen.

Satz 4.4 (Stabilitätssatz von Ljapunow1)Es sei x0 ∈ D eine Ruhelage von x′ = F (x) . Dann gilt:

(1) Haben alle Eigenwerte von F ′(x0) negativen Realteil, dann ist x0 asymptotischstabil.

(2) Gibt es einen Eigenwert von F ′(x0) mit positiven Realteil, so ist x0 instabil.

Beweis. O.B. d.A. sei x0 = 0 . Wir setzen A := F ′(0) und schreiben

F (x) = Ax+ g(x)

mit g(x) = o(‖x‖) für x→ 0 . Es seien λ1, . . . , λd die Eigenwerte von A .

(1) Nach Voraussetzung gibt es ein α > 0 , sodass α < −Reλj für alle j = 1, . . . , d .Dann existiert eine Konstante c > 1 mit

∀ t ≥ 0:∥∥e tA∥∥ ≤ ce−αt .

Da g(x) = o(‖x‖) für x→ 0 , können wir ein δ > 0 mit

‖x‖ < δ ⇒ ‖g(x)‖ ≤ α

2c‖x‖

finden. Nach der Variation-der-Konstanten-Formel ist für x ∈ D der Fluss durch

ϕt(x) = e tA(x+

ˆ t

0e−Aτg (ϕτ (x)) dτ

)gegeben. Für ‖x‖ < δ erhalten wir daher

‖ϕt(x)‖ ≤ e−αt(c‖x‖+

α

2

ˆ t

0eατ‖ϕτ (x)‖ dτ

),

sofern ‖ϕτ (x)‖ < δ für alle 0 ≤ τ ≤ t . Ist nun ‖x‖ =: ε < δ/c und setzen wir außerdemη(t) := eαt‖ϕt(x)‖ , so gilt

η(t) ≤ cε+α

2

ˆ t

0η(τ) dτ

1Alexander Michailowitsch Ljapunow, 1857–1918, russischer Mathematiker und Physiker

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52 4 Stabilitätstheorie

und somit nach dem Gronwall-Lemma

‖ϕt(x)‖ ≤ cεe−αt/2 < δ .

Folglich ist [0,∞) ⊂ Imax(x) und limt→∞ ϕt(x) = 0 , also der Nullpunkt asymptotischstabil.

(2) Wie aus der Linearen Algebra bekannt ist, gibt es zu ε > 0 ein T ∈ GLd(C) mit

T−1AT =

λ1 ∗. . .

0 λd

=: B , (Schursche Normalform)

sodass die Summe der Beträge der Elemente von B oberhalb der Diagonalen kleiner alsε sind. Setzen wir y := T−1x , so erhalten wir das äquivalente System

y′ = By + h(y)

mit h(y) = o(‖y‖) für y → 0 . O. B. d.A. sei also A = B . Außerdem kann O.B. d.A.angenommen werden, dass Reλ1, . . . ,Reλk > 0 und Reλk+1, . . . ,Reλd ≤ 0 für eink ∈ N . Wir wählen nun α > 0 mit α < Reλj für alle j = 1, . . . , k . Für x ∈ D betrachtenwir die Funktion

η(t) :=k∑j=1

|ϕt(x)j |2 −d∑

j=k+1

|ϕt(x)j |2

und wählen ε > 0 so klein, dassη′(t) ≥ βη(t)

für ein 0 < β < α − ε und ϕt(x) hinreichend nahe bei 0 . Dann liefert die Anwendungdes Gronwall-Lemmas

η(0)eβt ≤ η(t) ≤ ‖ϕt(x)‖

und wählen wir x so, dass η(0) > 0 , steht dies offenbar im Widerspruch zur Stabilitätdes Nullpunktes.

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4 Stabilitätstheorie 53

Aufgaben

(4.1) Klassifikation von Ruhelagen: Klassifizieren Sie die Stabilität des Nullpunk-tes des linearen Systems x′ = Ax für A ∈ R2×2 anhand der Eigenwerte in der Spur-Deterimanten-Ebene, vgl. Beispiel 4.3. Fertigen Sie entsprechende Phasenporträtsan.

(4.2) Stabilität im Räuber-Beute-Modell: Es seien ε1, ε2, γ1, γ2 > 0 . BestimmenSie die Ruhelagen des autonomen Systems

N ′1 = N1 · (ε1 − γ1N2) , N ′2 = −N2 · (ε2 − γ2N1) (Lotka-Volterra-Gleichungen)

und untersuchen Sie diese auf Stabilität.

(4.3) Gedämpftes mathematisches Pendel: Für a > 0 und k > 0 betrachen wir dieskalare Differentialgleichung

y′′ + ay′ + k sin(y) = 0 .

Schreiben Sie diese in ein autonomes System erster Ordnung. Bestimmen Sie dieRuhelagen des autonomen Systems und untersuchen Sie diese auf Stabilität.

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Teil II

Funktionentheorie

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Kapitel 5

Präliminarien

In diesem Kapitel werden einige Grundlagen besprochen, welche wir im Weiteren benö-tigen werden.

5.1 Komplexe Zahlen und die komplexe Ebene

Eine komplexe Zahl z ∈ C lässt sich in der Form

z = x+ iy

schreiben, wobei i die imaginäre Einheit bezeichnet, welche i2 = −1 erfüllt. Die reelleZahl x ∈ R bzw. y ∈ R wird dann Realteil bzw. Imaginärteil von z genannt und wirschreiben

x = Re z und y = Im z .

Die reellen Zahlen sind jene komplexe Zahlen, deren Imaginärteil Null ist, daher fassenwir R als Teilmenge von C auf. Eine komplexe Zahl, deren Realteil Null ist, heißt reinimaginär.

Die komplexe Zahl z = x+ iy ∈ C kann mit dem Punkt (x, y) ∈ R2 identifiziert werdenund somit die komplexen Zahlen mit der üblichen euklidischen Ebene. Die x-Achse wirddann reelle Achse und die y-Achse die imaginäre Achse genannt, da Punkte auf der x-Achse bzw. y-Achse den reellen bzw. rein imaginären Zahlen entsprechen.

Die Addition und Multiplikation komplexer Zahlen erhält man aus den üblichen Rechen-regeln für reelle Zahlen und durch Verwendung der Identität i2 = −1 . Genauer gilt fürzwei komplexe Zahlen z1, z2 ∈ C mit z1 = x1 + iy1 und z2 = x2 + iy2 , dass

z1 + z2 = (x1 + x2) + i(y1 + y2)

und

z1z2 = (x1x2 − y1y2) + i(x1y2 + y1x2) .

Dies definiert die Addition und Multiplikation für komplexe Zahlen und es gelten natür-lich, wie sich leicht nachrechnen lässt, das Kommutativ-, Assoziativ- und Distributivge-setz. Die Addition entspricht der Vektoraddition in der Ebene, die Multiplikation werden

57

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58 5 Präliminarien

wir etwas später veranschaulichen.

Der Betrag der komplexen Zahl z = x+ iy ist definiert als

|z| =√x2 + y2

und ist der Abstand des Punktes (x, y) vom Ursprung. Der Betrag ist eine Norm auf Cund damit gilt insbesondere die Dreiecksungleichung, also ist

|z + w| ≤ |z|+ |w| für alle z, w ∈ C .

Für z, w ∈ C folgt aus

|z| ≤ |z − w|+ |w| und |w| ≤ |z − w|+ |z|

die umgekehrte Dreiecksungleichung

||z| − |w|| ≤ |z − w| .

Weitere nützliche Identitäten sind

|Re z| ≤ |z| und | Im z| ≤ |z| , z ∈ C .

Die konjugiert komplexe Zahl von z = x+ iy ist durch

z := x− iy

definiert und sie entspricht der Spiegelung von z an der reellen Achse. Für z ∈ C giltdaher

z reell ⇐⇒ z = z und z rein imgarinär ⇐⇒ z = −z .

Des Weiteren ist

Re z =z + z

2, Im z =

z − z2i

und |z|2 = zz .

Jede komplexe Zahl z ∈ C \ 0 besitzt die Polardarstellung

z = re iϕ , r > 0 ,

wobei das Argument ϕ ∈ R häufig mit arg z bezeichnet wird und bis auf ein ganzzahli-ges Vielfaches von 2π eindeutig ist. Offensichtlich gilt |z| = r und ϕ ist gerade der positivorientierte Winkel zwischen der positiven reellen Achse und dem Halbstrahl, welcher vomUrsprung beginnend durch z verläuft.

Die Multiplikation zweier reeller Zahlen ist eine Homothetie, denn für z = re iϕ undw = se iϑ gilt

zw = rse i (ϕ+ϑ) .

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5 Präliminarien 59

5.2 Konvergenz und Mengen in C

Eine Folge zn∞n=1 ∈ CN komplexer Zahlen nennt man konvergent mit Grenzwertz ∈ C , wenn

limn→∞

|zn − z| = 0

und in diesem Fall schreibt man z = limn→∞ zn oder zn → z für n → ∞ . Da derBetrag in C mit der euklidischen Norm in R2 übereinstimmt, konvergiert zn genau danngegen z , wenn die zugehörige Folge von Punkten in der komplexen Ebene gegen den zuz gehörenden Punkt konvergiert. Des Weiteren gilt

zn → z ⇐⇒ Re zn → Re z ∧ Im zn → Im z

für n→∞ , vgl. Aufgabe (5.4).

Eine Folge zn∞n=1 ∈ CN heißt Cauchyfolge, wenn

|zn − zm| → 0 für n,m→∞.

Aufgrund der Vollständigkeit von R ist jede reelle Cauchyfolge konvergent. Dies ist auchin C der Fall.

Satz 5.1 (Vollständigkeit)C ist vollständig.

Beweis. Aufgabe (5.5).

Wir widmen uns nun einigen topologische Betrachtungen.

Für z0 ∈ C und r > 0 ist die offene Kreisscheibe Br(z0) mit Radius r und Mittelpunktz0 durch

Br(z0) := z ∈ C : |z − z0| < r

gegeben. Wir definieren weiters die abgeschlossene Kreisscheibe

Br(z0) := z ∈ C : |z − z0| ≤ r

und den Kreis

∂Br(z0) := z ∈ C : |z − z0| = r

mit Radius r um z0 .

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60 5 Präliminarien

Ein Punkt z0 ∈ C heißt innerer Punkt der Menge Ω ⊂ C , wenn ein r > 0 existiert,sodass

Br(z0) ⊂ Ω .

Die Menge aller inneren Punkte von Ω nennt man das Innere von Ω und bezeichnet esmit Ω . Die Menge Ω ⊂ C ist offen, wenn

Ω = Ω ,

sie ist abgeschlossen, wenn ihr Komplement C\Ω offen ist. Diese Definitionen stimmenmit den üblichen in R2 überein.

Ein Punkt z ∈ C wird Häufungspunkt von Ω ⊂ C genannt, wenn es eine Folgezn∞n=1 ∈ ΩN gibt, sodass

zn 6= z für alle n ∈ N und limn→∞

zn = z .

Der Abschluss von Ω ist die Vereinigung der Menge Ω und der Menge all ihrer Häu-fungspunkte, er wird mit Ω bezeichnet. Wie man sich leicht überzeugt, ist Ω genau dannabgeschlossen, wenn Ω = Ω , vgl. Aufgabe (5.6).

Der Abschluss bietet uns eine weitere Möglichkeit einen Häufungspunkt zu charakteri-sieren, denn es gilt

z ∈ C ist Häufungspunkt von Ω ⊂ C ⇐⇒ z ∈ Ω \ z .

Der Rand von Ω ⊂ C ist durch

∂Ω := Ω \ Ω

gegeben.

Die Menge Ω ⊂ C ist beschränkt, wenn ein M > 0 existiert, sodass

|z| ≤M für alle z ∈ Ω .

Ist Ω beschränkt, so definieren wir den Durchmesser von Ω mittels

diam Ω := supz,w∈Ω

|z − w| .

Eine Menge K ⊂ C ist genau dann kompakt, wenn sie abgeschlossen und beschränktist. Wie im Reellen erhält man folgenden Satz.

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5 Präliminarien 61

Satz 5.2 (Charakterisierung von Kompaktheit mittels Folgen)Die Menge Ω ⊂ C ist genau dann kompakt, wenn jede Folge zn∞n=1 ⊂ Ω eine konver-gente Teilfolge mit Grenzwert in Ω besitzt.

Eine offene Überdeckung von Ω ist eine Familie Ωii∈I von offenen Mengen, sodass

Ω ⊂⋃i∈I

Ωi ,

wobei die Indexmenge I nicht notwendigerweise abzählbar sein muss.

Satz 5.3 (¨Uberdeckungssatz von Heine-Borel)Eine Menge Ω ⊂ C ist genau dann kompakt, wenn jede offene Überdeckung von Ω eineendliche Teilüberdeckung besitzt.

Eine weitere wichtige Eigenschaft kompakter Mengen, welche wir später benötigen wer-den, liefert der folgende Satz.

Satz 5.4 (Schachtelung kompakte Mengen)Ist Ω1 ⊃ Ω2 ⊃ . . . ⊃ Ωn ⊃ . . . eine Folge nicht-leerer kompakter Mengen in C mit

diam Ωn → 0 für n→∞ ,

so gibt es genau einen Punkt z ∈ C mit z ∈ Ωn für alle n ∈ N .

Beweis. Für jedes n ∈ N wählen wir einen beliebigen Punkt zn ∈ Ωn . Die Bedingunglimn→∞ diam Ωn = 0 impliziert, dass es sich bei zn∞n=1 um eine Cauchyfolge handelt.Daher besitzt sie einen Grenzwert, d.h. limn→∞ zn = z für ein z ∈ C . Da jede MengeΩn abgeschlossen ist, muss z ∈ Ωn für alle n ∈ N gelten. Angenommen, es gäbe einenweiteren Punkt z ∈ C mit dieser Eigenschaft und z 6= z , dann gäbe es ein ε > 0 mit|z − z| > ε im Widerspruch zu limn→∞ diam Ωn = 0 .

Wir werden noch eine letzte topologische Eigenschaft benötigen: Man nennt eine offeneMenge Ω ⊂ C zusammenhängend, wenn es nicht möglich ist, Ω in zwei nicht-leere,disjunkte und offene Mengen zu zerlegen, d.h. es gibt keine zwei offenen und disjunkteMengen Ω1,Ω2 ⊂ C mit Ω1 6= ∅ 6= Ω2 , sodass

Ω = Ω1 ] Ω2 .

Die Definition einer abgeschlossenen zusammenhängenden Menge erhält man, indem manin obiger Definition „offen“ durch „abgeschlossen“ ersetzt. Eine zusammenhängende offeneMenge ∅ 6= Ω ⊂ C nennt man ein Gebiet.In C ist eine Menge genau dann zusammenhängend, wenn sie wegzusammenhängend ist,vgl. Aufgabe (5.7).

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62 5 Präliminarien

5.3 Funktionen in der komplexen Ebene

Wir beginnen nun mit der Betrachtung von Funktionen in der komplexen Ebene.

5.3.1 Stetige Funktionen

Man nennt die Funktion

f : Ω ⊂ C→ C

im Punkt z0 ∈ Ω stetig, falls

∀ ε > 0 ∃ δ > 0 ∀z ∈ Ω ∩Bδ(z0) : |f(z)− f(z0)| < ε .

Dies ist äquivalent dazu, dass

f(zn)→ f(z0) für n→∞

und jede konvergente Folge zn∞n=1 ∈ ΩN mit limn→∞ zn = z0 . Die Funktion f nenntman stetig auf Ω, wenn sie in jedem Punkt von Ω stetig ist. Da die Konvergenz komplexerZahlen zu jener der zugehörigen Punkte des R2 äquivalent ist, ist f als Funktion vonz = x+ iy genau dann stetig, wenn es das Vektorfeld

Ω ⊂ R2 → R2 :

[xy

]7→[Re f(x+ iy)Im f(x+ iy)

]ist, wobei wir nun Ω als Teilmenge des R2 aufgefasst haben.

Ist f stetig, so ist offensichtlich auch [z 7→ |f(z)|] stetig. Die Funktion f besitzt im Punktz0 ∈ Ω ein Maximum, falls

|f(z)| ≤ |f(z0)| für alle z ∈ Ω ,

ein Minimum liegt vor, falls die umgekehrte Ungleichung gilt. Analog zum reellen Fall,erhält man folgenden Satz.

Satz 5.5 (Min-Max-Eigenschaft)Ist K ⊂ C kompakt und f : K → C stetig, so ist die Funktion f beschränkt und nimmtihr Minimum und Maximum in K an.

5.3.2 Holomorphe Funktionen

Es sei Ω ⊂ C offen und f : Ω → C . Dann heißt f im Punkt z0 ∈ Ω holomorph oderauch komplex differenzierbar, falls der Differentialquotient

limh→0

f(z0 + h)− f(z0)

h=: f ′(z0) (5.1)

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5 Präliminarien 63

existiert, wobei h ∈ C\0mit z0+h ∈ Ω . In diesem Fall nennt man f ′(z0) dieAbleitungvon f im Punkt z0 . Man beachte, dass h von allen Seiten gegen 0 streben kann. DesWeiteren nennt man f holomorph in Ω , falls f in jedem Punkt z0 ∈ Ω holomorph ist.Die Funktion f ist in einer abgeschlossenen Menge A ⊂ C holomorph, falls sie es in eineroffenen Menge ist, welche A enthält. Ist eine Funktion auf ganz C holomorph, so sprichtman von einer ganzen Funktion.

Beispiel 5.6 (Polynomfunktionen)Jede Polynomfunktion

p : C→ C : z 7→ a0 + a1z + . . .+ anzn , a0, . . . , an ∈ C ,

ist ganz und

p′(z) = a1 + . . .+ nanzn−1 .

Beispiel 5.7 (Kehrwert)Die Funktion

z 7→ 1

z

ist in jeder offenen Menge Ω ⊂ C \ 0 holomorph und

ddz

1

z= − 1

z2für z 6= 0 .

Beispiel 5.8 (Konjugation)Die Funktion [z 7→ f(z) = z] ist nicht holomorph, denn der Grenzwert

limh→0

f(z + h)− f(z)

h= lim

h→0

h

h

existiert nicht.

Aus (5.1) folgt direkt, dass f genau dann in z0 ∈ Ω holomorph ist, wenn es eine komplexeZahl a ∈ C gibt, sodass

f(z0 + h) = f(z0) + ah+ hψ(h) ,

wobei die Funktion ψ für alle betragsmäßig kleinen h definiert ist und ψ(h) → 0 fürh→ 0 gilt, also wenn

f(z0 + h) = f(z0) + ah+ o(h) für h→ 0 .

Natürlich ist dann a = f ′(z0) . Dies liefert wie gewohnt die Interpretation der Ableitungals lineare Approximation. Wie in einer reellen Veränderlichen, erhält man die folgendenAbleitungsregeln.

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64 5 Präliminarien

Satz 5.9 (Differentiationsregeln)Es seien f und g holomorph in Ω ⊂ C . Dann gilt:

(1) f + g ist holomorph in Ω und (f + g)′ = f ′ + g′ .

(2) fg ist holomorph in Ω und (fg)′ = f ′g + fg′ .

(3) Falls g(z0) 6= 0 , so ist f/g holomorph in z0 und

(f/g)′ =f ′g − fg′

g2.

Sind des Weiteren f : Ω→ U ⊂ C und g : U → C holomorph, so gilt die Kettenregel

(g f)′(z) = g′ (f(z)) f ′(z) für alle z ∈ Ω .

Beweis. Die Aussagen werden genau wie die Differentiationsregeln für Funktionen ineiner reellen Veränderlichen bewiesen.

Wir wollen nun den Zusammenhang zwischen der komplexen und reellen Ableitung – dertotalen Ableitung – untersuchen. Wie wir in Beispiel 5.8 gesehen haben, ist [z 7→ z]nicht komplex differenzierbar, jedoch ist das zugehörige Vektorfeld

F : R2 → R2 :

[xy

]7→[x−y

]sehr wohl total differenzierbar, genauer sogar unendlich oft differenzierbar. An diesemBeispiel sehen wir, dass die Existenz der reellen Ableitung nicht ausreicht, um die Exis-tenz der komplexen Ableitung zu garantieren.

Wir betrachten zu einer Funktion [z 7→ f(z) = f(x+ iy) = u(x, y) + iv(x, y)] das zuge-hörige Vektorfeld

F :

[xy

]7→[u(x, y)v(x, y)

].

Dann ist F im Punkt P0 = (x0, y0) differenzierbar, wenn eine lineare Abbildung

L : R2 → R2

existiert, sodass

F (P0 +H)− F (P0)− L(H)

|H|→ 0 für |H| → 0 mit H ∈ R2 .

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5 Präliminarien 65

Dies ist äquivalent dazu, dass

F (P0 +H) = F (P0) + JF (P0)H + o(|H|) für |H| → 0 ,

wobei JF die Jakobimatrix von F bezeichnet, es ist also

JF =

[∂xu ∂yu∂xv ∂yv

].

Die Auswertung f ′(z0) der komplexen Ableitung ist also eine komplexe Zahl, währendes sich bei der Auswertung der totalen Ableitung des zugehörigen Vektorfelds F umeine Matrix handelt. Dennoch hängen diese beiden Ableitungen zusammen. Um diesenZusammenhang zu erkennen, betrachten wir (5.1) für h = h1 ∈ R . Setzen wir z := x+iy ,z0 := x0 + iy0 und f(z) =: f(x, y) , so ist

f ′(z0) = limh1→0

f(x0 + h1, y0)− f(x0, y0)

h1= ∂xf(z0) .

Wählen wir andererseits h rein imaginär, nämlich h = ih2 mit h2 ∈ R , so erhalten wir

f ′(z0) = limh2→0

f(x0, y0 + h2)− f(x0, y0)

ih2= −i∂yf(z0) .

Ist f holomorph, so gilt daher

∂xf + i∂yf = 0 . (5.2)

Für f(x, y) = u(x, y) + iv(x, y) erhält man aus (5.2) durch Trennung in Real- und Ima-ginärteil die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen

∂xu = ∂yv und ∂yu = −∂xv .

Wir führen nun die sogenannten Wirtinger1-Ableitungen ein, diese sind durch dieDifferentialoperatoren

∂z := 12 (∂x − i∂y) und ∂z := 1

2 (∂x + i∂y)

gegeben. Der Differentialoperator ∂ := ∂z wird Cauchy-Riemann-Operator genanntund nach (5.2) beschreibt dieser gerade die Cauchy-Riemann-Gleichungen in komplexerForm. Daher gilt für eine holomorphe Funktion f , dass ∂f = 0 .

1Wilhelm Wirtinger, 1865–1945, österreichischer Mathematiker

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66 5 Präliminarien

Bemerkung. Für eine holomorphe Funktion f = u+iv besagen die Cauchy-RiemannschenDifferentialgleichungen, dass es sich bei

F (x, y) =

[−u(x, y)v(x, y)

]um ein quellen- und wirbelfreies Vektorfeld handelt, dass also

divF = rotF = 0 .

Satz 5.10 (Holomorphie und Wirtinger-Ableitungen)Ist f holomorph in z0 = x0 + iy0 , so gilt

∂f(z0) = 0 und f ′(z0) = ∂zf(z0) = 2∂zu(z0) .

Wenn außerdem F wiederum das zu f gehörende Vektorfeld bezeichnet, so ist F diffe-renzierbar und

detJF (x0, y0) = |f ′(z0)|2 .

Beweis. Die ersten beiden Aussagen folgen unmittelbar aus den bisherigen Betrachtun-gen. Die Differenzierbarkeit von F folgt aus

JF (x0, y0)(h1, h2) = (∂xu− i∂yu) (h1 + ih2) = f ′(z0)h ,

wobei h = h1+ih2 . Durch Anwendung der Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungenerhalten wir somit

detJF (x0, y0) = (∂xu∂yv − ∂xv∂yu) (x0, y0) =((∂xu)2 + (∂yu)2

)(x0, y0) =

= |2∂zu(x0, y0)|2 = |f ′(z0)|2 .

Wir haben also gesehen, dass wenn f holomorph ist, die Cauchy-Riemannschen Differen-tialgleichungen erfüllt sind. Der nächste Satz enthält die Umkehrung dieser Aussage.

Satz 5.11 (Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen ⇒ holomorph)Die komplexwertige Funktion f = u + iv sei auf einer offenen Menge Ω ⊂ C definiert.Sind u und v stetig differenzierbar und erfüllen die Cauchy-Riemannschen Differential-gleichungen in Ω , so ist f holomorph in Ω und f ′ = ∂zf .

Beweis. Da für z = x+ iy ∈ Ω gilt, dass

u(x+ h1, y + h2)− u(x, y) = ∂xu(x, y)h1 + ∂yu(x, y)h2 + |h|ψ1(h)

und

v(x+ h1, y + h2)− v(x, y) = ∂xv(x, y)h1 + ∂yv(x, y)h2 + |h|ψ2(h) ,

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5 Präliminarien 67

wobei ψj(h) → 0 für |h| → 0 , j = 1, 2 , und h = h1 + ih2 , folgt aus den Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen

f(z + h)− f(z) = (∂xu(x, y)− i∂yu(x, y))h+ |h|ψ(h)

mit ψ(h) = ψ1(h) + iψ2(h) . Daher ist f holomorph und

f ′ = 2∂zu = ∂zf .

Komplexe 1-Formen. In [Hel13b, Anhang B] wurden bereits reelle 1-Formen be-sprochen. Darauf aufbauend werden nun komplexe 1-Formen eingeführt.

Es sei U ⊂ Rd offen. Eine 1-Form auf U ist eine Abbildung

ω : U → L(Rd;C) ,

wobei L(Rd;C) :=f : Rd → C; f ist R-linear

. Man nennt 1-Formen auch Pfaff-

sche2-Formen oder Differentialformen ersten Grades.

Es sei Ω ⊂ C offen und f : Ω→ C holomorph. Dann ist

df : Ω→ L(R2;C) : z 7→ df(z)

eine 1-Form und setzen wir

dz := dx+ i dy und dz := dx− i dy ,

so erhalten wir

df = ∂xf dx+ ∂yf dy = 12 (∂xf − i∂yf) dz + 1

2 (∂xf + i∂yf) dz = ∂zf dz + ∂zf dz .

5.4 Potenzreihen

Das Paradebeispiel einer Potenzreihe ist die komplexe Exponentialfunktion, welchefür z ∈ C durch

ez =∞∑n=0

zn

n!

gegeben ist. Für reelle Argumente stimmt diese mit der reellen Exponentialfunktion über-ein. Da ∣∣∣∣znn!

∣∣∣∣ =|z|n

n!,

2Johann Friedrich Pfaff, 1765–1825, deutscher Mathematiker

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68 5 Präliminarien

ist∞∑n=0

∣∣∣∣znn!

∣∣∣∣ = e |z|

und somit die Reihe∞∑n=0

zn

n!

absolut konvergent.

In diesem Abschnitt werden wir unter anderem beweisen, dass [z 7→ ez] ganz ist und mandie Ableitung durch gliedweises Differenzieren erhält, d.h.

(ez)′ =∞∑n=1

zn−1

(n− 1)!=∞∑n=0

zn

n!= ez .

Im Gegensatz dazu, konvergiert die geometrische Reihe

∞∑n=0

zn

nur für |z| < 1 und in diesem Fall ist der Reihenwert 1/(1 − z) , also eine in C \ 1holomorphe Funktion. Den Reihenwert berechnet man genau wie im Reellen, denn

N∑n=0

zn =1− zN+1

1− z,

und für |z| < 1 ist limN→∞ zN+1 = 0 .

Allgemeiner bezeichnet man eine Reihe der Form

∞∑n=0

anzn mit ann∈N0 ∈ CN0 (5.3)

als Potenzreihe und um die absolute Konvergenz dieser Reihe zu überprüfen, muss

∞∑n=0

|an||z|n

untersucht werden. Konvergiert also die Reihe (5.3) für z0 ∈ C absolut, so auch für allez ∈ C mit |z| ≤ |z0| .

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5 Präliminarien 69

Satz 5.12 (Konvergenzradius einer Potenzreihe)Für eine Potenzreihe

∑∞n=0 anz

n existiert ein R ∈ [0,∞] , welche derKonvergenzradiusder Potenzreihe genannt wird, sodass folgende Aussagen gelten.

(1) Ist |z| < R , so konvergiert die Reihe absolut.

(2) Für |z| > R divergiert die Reihe.

Wenn wir die Konventionen 1/0 := ∞ und 1/∞ := 0 treffen, dann ist R durch dieHadamardsche3 Formel

1/R = lim supn→∞

|an|1/n

gegeben.

Beweis. Es sei L := 1/R , wobei R durch die Hadamardsche Formel gegeben ist. Wirnehmen an, dass R 6= 0,∞ , diese beiden Fälle werden in Aufgabe (5.13) behandelt. Für|z| < R wählen wir ε > 0 mit

r := (L+ ε)|z| < 1 .

Für hinreichend große n ∈ N gilt |an|1/n ≤ L+ ε und daher

|an||z|n ≤ ((L+ ε)|z|)n = rn .

Der Vergleich mit der geometrischen Reihe∑rn zeigt, dass

∑anz

n absolut konvergiert.

Dass die Reihe für |z| > R divergiert, zeigt man auf ähnliche Weise, vgl. Aufgabe (5.13).

Bemerkung. Man nennt BR(0) den Konvergenzkreis der Potenzreihe (5.3). Es giltzu beachten, dass Satz 5.12 keine keine Aussage über das Konvergenzverhalten der Reiheam Rand des Konvergenzkreises |z| = R trifft, dort kann die Reihe entweder konvergierenoder divergieren, vgl. Aufgabe (5.14).

Weitere Beispiele für Potenzreihen, welche in der gesamten komplexen Ebene konvergie-ren, sind die trigonometrische Funktionen gegeben durch

cos z :=

∞∑n=0

(−1)nz2n

(2n)!und sin z :=

∞∑n=0

(−1)nz2n+1

(2n+ 1)!für z ∈ C .

Eine einfache Rechnung ergibt die Eulerschen Formeln

cos z =e iz + e−iz

2und sin z =

e iz − e−iz

2ifür z ∈ C .

3Jacques Hadamard, 1865–1963, französischer Mathematiker

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70 5 Präliminarien

Der nachfolgende Satz liefert einen ersten Zusammenhang zwischen Potenzreihen undholomorphen Funktionen.

Satz 5.13 (analytisch ⇒ holomorph)Es sei ann∈N0 ∈ CN0 . Die Potenzreihe

∑∞n=0 anz

n definiert in ihrem KonvergenzkreisBR(0) eine holomorphe Funktion, d. h.

f : BR(0)→ C : z 7→∞∑n=0

anzn

ist holomorph. Die Ableitung von f ist ebenfalls eine Potenzreihe, welche man durchgliedweises Differenzieren erhält, d.h.

f ′(z) =∞∑n=0

nanzn−1 für z ∈ BR(0) .

Des Weiteren hat f ′ denselben Konvergenzradius wie f .

Beweis. Da limn→∞ n√n = 1 , ist

lim supn→∞

|an|1/n = lim supn→∞

|nan|1/n

und damit stimmen die Konvergenzradien von

∞∑n=0

anzn und

∞∑n=0

nanzn

überein.Um die erste Aussage zu beweisen, zeigen wir, dass die durch die Reihe

g(z) :=

∞∑n=0

nanzn−1 für z ∈ BR(0)

definierte Funktion die Ableitung von f ist. Es sei R der Konvergenzradius von f und|z0| < r < R . Für N ∈ N zerlegen wir f in der Form

f(z) = SN (z) + EN (z) ,

wobei

SN (z) :=N∑n=0

anzn und EN (z) :=

∞∑n=N+1

anzn .

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5 Präliminarien 71

Nun wählen wir h ∈ C \ 0 mit |z0 + h| < r und erhalten

f(z0 + h)− f(z0)

h− g(z0) =

(SN (z0 + h)− SN (z0)

h− S′N (z0)

)+

+(S′N (z0)− g(z0)

)+EN (z0 + h)− EN (z0)

h.

Aus der algebraischen Identität

an − bn = (a− b)n−1∑k=0

akbn−k−1 , a, b ∈ C ,

folgt ∣∣∣∣EN (z0 + h)− EN (z0)

h

∣∣∣∣ ≤ ∞∑n=N+1

|an|∣∣∣∣(z0 + h)n − zn0

h

∣∣∣∣ ≤ ∞∑n=N+1

|an|nrn−1 .

Da g für |z| < R absolut konvergiert, können wir zu gegebenem ε > 0 ein N1 ∈ N finden,sodass ∣∣∣∣EN (z0 + h)− EN (z0)

h

∣∣∣∣ < ε

3für N > N1 .

Außerdem gilt limN→∞ S′N (z0) = g(z0) und somit gibt es ein N2 ∈ N mit∣∣S′N (z0)− g(z0)

∣∣ < ε

3für N > N2 .

Für N > maxN1, N2 können wir ein δ > 0 mit |h| < δ finden, sodass∣∣∣∣SN (z0 + h)− SN (z0)

h− S′N (z0)

∣∣∣∣ < ε

3.

Somit ist ∣∣∣∣f(z0 + h)− f(z0)

h− g(z0)

∣∣∣∣ < ε

und damit die Aussage gezeigt.

Als direkte Konsequenz des obigen Satzes erhält man folgendes Korollar.

Korollar 5.14 (Potenzreihen definieren C∞-Funktionen)Eine Potenzreihe ist in ihrem Konvergenzkreis unendlich oft komplex differenzierbar undman erhält alle Ableitungen durch gliedweises Differenzieren.

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72 5 Präliminarien

Bis jetzt haben wir nur Potenzreihen mit Zentrum im Ursprung betrachtet. Allgemeinernennt man eine Reihe

f(z) :=∞∑n=0

an(z − z0)n

eine Potenzreihe mit Zentrum z0 ∈ C . Der Konvergenzkreis ist nun BR(z0) , der Kon-vergenzradius R wiederum durch die Hadamardsche Formel gegeben. Man erhält fdurch Verschiebung von

g(z) :=

∞∑n=0

anzn ,

denn f(z) = g(w) für w = z − z0 . Daher behalten unsere bisherigen Überlegungen fürPotenzreihen mit Zentrum in z0 ∈ C ihre Gültigkeit.

Eine Funktion f : Ω→ C , Ω ⊂ C offen, nennt man analytisch im Punkt z0 ∈ Ω , wennes eine Potenzreihe

∑an(z − z0)n mit positivem Konvergenzradius gibt, sodass

f(z) =∞∑n=0

an(z − z0)n

für alle z in einer Umgebung von z0 . Kann f in jedem Punkt von Ω in eine Potenzreiheentwickelt werden, so nennt man f analytisch in Ω .

Nach Satz 5.13 ist jede analytische Funktion holomorph. Im nächsten Kapitel werdenwir zeigen, dass auch die Umkehrung gilt.

5.5 Integration entlang von Kurven

Ein Weg oder eine parametrisierte Kurve ist eine Abbildung der Form

γ : [a, b]→ C ,

wobei a, b ∈ R mit a < b . Wir nennen den Weg γ glatt oder regulär, wenn γ ∈ C1 ([a, b])und γ(t) 6= 0 für alle t ∈ [a, b] . In den Randpunkten t = a und t = b , sind mit γ(a) undγ(b) die einseitigen Grenzwerte

γ(a) = limh→0+

γ(a+ h)− γ(a)

hund γ(b) = lim

h→0−

γ(b+ h)− γ(b)

h

gemeint. Diese Ableitungen nennt man die rechtsseitige Ableitung von γ in a und dielinksseitige Ableitung von γ in b .

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5 Präliminarien 73

Von einem stückweise glatten Weg sprechen wir, wenn γ stetig ist und es

a = a0 < a1 < . . . < an = b

gibt, sodass γ in den Intervallen [ak, ak+1] , k = 0, . . . , n − 1 , regulär ist. Insbesonderemuss der rechtsseitige Grenzwert in ak nicht mit dem linksseitigen übereinstimmen.

Die parametrisierten Kurven

γ : [a, b]→ C und γ : [c, d]→ C

sind äquivalent, wenn es eine bijektive, differenzierbare und streng monoton wachsendeAbbildung, also einen orientierungserhaltenden Parameterwechsel

ψ : [a, b]→ [c, d]

gibt, sodass

γ (t) = γ(ψ(t)) .

Eine Äquivalenzklasse von regulären Wegen bezüglich dieser Äquivalenzrelation wird eineglatte Kurve genannt. Analog definiert man eine stückweise glatte Kurve. Ist γ eineParametrisierung der Kurve C, so nennt man die Punkte γ(a) und γ(b) Endpunkte vonC und aufgrund der vorhandenen Orientierung sagt man, dass C in γ(a) beginnt und inγ(b) endet.

Mit γ− bezeichnen wir einen Weg, welchen man durch orientierungsumkehrende Umpa-rametrisierung aus γ erhält. Eine mögliche Parametrisierung ist durch

γ− : [a, b]→ C : t 7→ γ−(t) = γ(b+ a− t)

gegeben.

Da für uns in erster Linie stückweise glatte Kurven von Interesse sein werden, ist eine sol-che gemeint, wenn wir von einer Kurve sprechen. Für z0 ∈ C und r > 0 ist beispielsweiseγ gegeben durch

γ(t) := z0 + re i t für t ∈ [0, 2π]

eine positiv orientierte Parametrisierung des Kreises ∂Br(z0) .

Für eine stetige Funktion f auf einer offenen Menge Ω ⊂ C und eine Kurve C mitParametrisierung γ : [a, b]→ C und imC ⊂ Ω definieren wir das Integral von f längsC durch das Integral der zugehörigen 1-Form ω := f dz entlang von C , also durch

ˆCf(z) dz =:

ˆCω =

ˆ b

af (γ(t)) γ(t) dt , (komplexes Kurvenintegral)

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74 5 Präliminarien

vgl. [Hel13b, Anhang B].

Ist C eine stückweise glatte Kurve mit stückweise glatter Parametrisierung γ wie zuvor,so definieren wir das Integral von f längs C durch

ˆCf(z) dz =:

ˆCω =

n−1∑k=0

ˆ ak+1

ak

f (γ(t)) γ(t) dt .

Die Länge der Kurve C ist

LC :=

ˆ b

a|γ(t)| dt ,

vgl. [Hel13b, Abschnitt 2.1].

Satz 5.15 (Eigenschaften des komplexen Kurvenintegrals)Es seien Ω ⊂ C offen und f, g : Ω → C stetig. Weiters sei C eine Kurve mit imC ⊂ Ωund γ : [a, b]→ C eine Parametrisierung von C .

(1) Das Integral ist linear, d.h. für α, β ∈ C giltˆC

(αf(z) + βg(z)) dz = α

ˆCf(z) dz + β

ˆCg(z) dz .

(2) Bezeichnet C− die Kurve C mit umgekehrter Orientierung, so istˆCf(z) dz = −

ˆC−

f(z) dz .

(3) Es gilt die Ungleichung∣∣∣∣ˆCf(z) dz

∣∣∣∣ ≤ ‖f‖∞,C LC = supt∈[a,b]

|f (γ(t))|LC . (Standardabschätzung)

Beweis. Die erste Eigenschaft folgt direkt aus der Definition und der Linearität desRiemann-Integrals, die zweite wird in Aufgabe (5.16) behandelt. Die Abschätzung∣∣∣∣ˆ

Cf(z) dz

∣∣∣∣ ≤ supt∈[a,b]

|f (γ(t))|ˆ b

a|γ(t)| dt = ‖f‖∞,C LC

zeigt die dritte Eigenschaft.

Eine Stammfunktion von f : Ω ⊂ C → C ist eine holomorphe Funktion F : Ω → C

mit F ′(z) = f(z) für alle z ∈ Ω .

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5 Präliminarien 75

Satz 5.16 (Stammfunktion und Kurvenintegral)Ist F eine Stammfunktion der stetigen Funktion f in Ω und C eine in Ω verlaufendeKurve, welche in w1 ∈ Ω beginnt und in w2 ∈ Ω endet, so gilt

ˆCf(z) dz = F (w2)− F (w1) .

Beweis. Handelt es sich bei C um eine glatte Kurve mit Parametrisierung γ : [a, b]→ C ,dann ist

ˆCf(z) dz =

ˆ b

af (γ(t)) γ(t) dt =

ˆ b

a

ddtF (γ(t)) dt =

= F (γ(b))− F (γ(a)) = F (w2)− F (w1)

nach der Kettenregel und dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung.

Ist C stückweise glatt, erhalten wir durch dieselbe Argumentation

ˆCf(z) dz =

n−1∑k=0

[F (γ(ak+1))− F (γ(ak))] = F (γ(an))− F (γ(a0)) =

= F (w2)− F (w1) .

Korollar 5.17 (Integral über eine geschlossene Kurve)Ist C eine geschlossene Kurve in der offenen Menge Ω ⊂ C und f eine stetige Funktionmit einer Stammfunktion in Ω , so gilt

˛Cf(z) dz = 0 .

Beispielsweise besitzt die Funktion [z 7→ f(z) := 1/z] keine Stammfunktion in der offenenMenge C \ 0 , denn wenn C den Einheitskreis mit Parametrisierung γ gegeben durchγ(t) := e i t für 0 ≤ t ≤ 2π bezeichnet, dann ist

‰Cf(z) dz =

ˆ 2π

0

ie i t

e i t dt = 2πi 6= 0 .

Wir werden später sehen, dass diese einfache Rechnung noch weitreichende Konsequenzenmit sich bringt.

Korollar 5.18 (f ′ = 0⇒ f konstant)Ist f holomorph im Gebiet Ω und gilt f ′ = 0 , dann ist f konstant.

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76 5 Präliminarien

Beweis. Es sei w0 ∈ Ω fest. Es genügt f(w) = f(w0) für alle w ∈ Ω zu zeigen. Da Ωzusammenhängend ist, können wir für jedes w ∈ Ω eine Kurve C finden, welche w0 undw verbindet. Offensichtlich ist f eine Stammfunktion von f ′ und somit

ˆCf ′(z) dz = f(w)− f(w0) .

Laut Annahme ist f ′ = 0 und daher verschwindet das Integral auf der linken Seite.

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5 Präliminarien 77

Aufgaben

(5.1) Teilmengen der komplexen Ebene: Beschreiben Sie geometrisch die Teilmen-gen der komplexen Ebene, welche durch die nachfolgenden Relationen definiertwerden.

(a) |z − z1| = |z − z2| , wobei z1, z2 ∈ C .

(b) 1z = z .

(c) Re z = 3 .

(d) Re z > c und Re z ≥ c , wobei c ∈ R .

(e) Re(az + b) > 0 , wobei a, b ∈ C .

(f) |z| = Re z + 1 .

(g) Im z = c , wobei c ∈ R .

(5.2) Lösen Sie für w := se iϑ , s > 0 und ϑ ∈ R , die Gleichung zn = w in C mit n ∈ N .Wieviele Lösungen gibt es?

(5.3) Gleichungen in C: Lösen Sie folgende Gleichungen über C .

(a) z2 = 4i

(b) z5 = 32

(5.4) Gegeben sei die Folge zn∞n=1 ∈ CN und z ∈ C . Beweisen Sie: Für n→∞ gilt

zn → z ⇐⇒ Re zn → Re z ∧ Im zn → Im z .

(5.5) Zeigen Sie, dass C vollständig ist.

(5.6) Es sei Ω ⊂ C . Zeigen Sie:

Ω abgeschlossen ⇐⇒ Ω = Ω

(5.7) Eine Menge Ω ⊂ C wird wegzusammenhängend genannt, wenn je zwei Punktein Ω durch einen stückweise glatten Weg verbunden werden können, welcher ganzin Ω verläuft. Zeigen Sie mittels folgender Anleitung, dass eine offene Menge in Cgenau dann wegzusammenhängend ist, wenn sie zusammenhängend ist.

(a) Es sei Ω offen und wegzusammenhängend. Weiters nehmen wir an, dass

Ω = Ω1 ] Ω2 ,

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78 5 Präliminarien

wobei Ω1,Ω2 ⊂ C nicht-leere offene und disjunkte Mengen sind. Wählew1 ∈ Ω1 und w2 ∈ Ω2 und einen Weg γ : [0, 1] → Ω mit γ(0) = w1 undγ(1) = w2 . Es sei

t∗ := sup0≤t≤1

t : γ(s) ∈ Ω1 für alle 0 ≤ s ≤ t

Führen Sie die obigen Annahmen auf einen Widerspruch, indem Sie den Punktγ(t∗) betrachten.

(b) Es sei Ω offen und zusammenhängend und w ∈ Ω fest, Ω1 ⊂ Ω die Menge allerPunkte, welche mit w durch einen in Ω verlaufenden Weg verbunden werdenkönnen, und Ω2 ⊂ Ω die Menge aller Punkte, welche nicht mit w durch einenWeg in Ω verbunden werden können. Zeigen Sie, dass Ω1 und Ω2 offen unddisjunkt sind und dass

Ω = Ω1 ] Ω2 .

Zeigen Sie schließlich, dass Ω = Ω1 .

(5.8) Cauchy-Riemannsche Differentialgleichungen: Es sei λ ∈ C . Zeigen Sie,dass

f : C→ C : z 7→ eλz

die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfüllt.

(5.9) Es seien U, V ⊂ C offen. Zeigen Sie: Sind die Funktionen f : U → V und g : V → C

differenzierbar als Funktionen der beiden reellen Variablen x und y und h := g f ,so gilt

∂zh = ∂zg ∂zf + ∂zg ∂zf

und

∂zh = ∂zg ∂zf + ∂zg ∂zf .

Dies ist die komplexe Version der Kettenregel.

(5.10) Zeigen Sie: In Polarkoordinaten lauten die Cauchy-Riemannschen Differentialglei-chungen

∂ru =1

r∂ϕv und

1

r∂ϕu = −∂rv .

Verwenden Sie dieses Ergebnis um zu zeigen, dass die durch

log z = log r + iϕ , wobei z = re iϕ mit ϕ ∈ (−π, π) ,

definierte komplexe Logarithmusfunktion in dem durch r > 0 und −π < ϕ < πgegebenen Gebiet holomorph ist.

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5 Präliminarien 79

(5.11) Zeigen Sie, dass

4∂z∂z = 4∂z∂z = ∆2 ,

wobei ∆2 den zweidimensionalen Laplace-Operator

∆2 = ∂2x + ∂2

y

bezeichnet.

(5.12) Verwenden Sie Aufgabe (5.11) um zu zeigen, dass Real- und Imaginärteil einer inΩ holomorphen Funktion f harmonisch sind, d.,h. ∆ Re f = ∆ Im f = 0 in Ω .

(5.13) Vollenden Sie den Beweis von Satz 5.12

(a) für R = 0 und R =∞(b) und zeigen Sie für R 6= 0,∞ , dass die Potenzreihe für |z| > R divergiert .

(5.14) Zeigen Sie:

(a) Die Potenzreihe∞∑n=1

nzn

divergiert für alle Punkte des Einheitskreises.

(b) Die Potenzreihe∞∑n=1

zn

n2

konvergiert für alle Punkte des Einheitskreises.

(c) Die Potenzreihe∞∑n=1

zn

n

konvergiert für alle Punkte des Einheitskreises mit Ausnahme des Punktesz = 1 .

(5.15) Betrachten Sie die Funktion

f : R→ R : x 7→ H(x)e−1/x2 =

e−1/x2 , x > 0 ,

0 , x ≤ 0 .

Zeigen Sie, dass f ∈ C∞(R) und f (n)(0) = 0 für alle n ≥ 1 . Schließen Sie, dass fin 0 nicht analytisch ist.

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80 5 Präliminarien

(5.16) Beweisen Sie Aussage (2) in Satz 5.15.

(5.17) Abschätzen zweier Integrale: Zeigen Sie, dassˆ b

af (γR(t)) γR(t) dt→ 0 für R→∞

in folgenden Situationen:

(a) Betrachten Sie die Funktion

f : C→ C : z 7→ e iz

z

und parametrisieren Sie den Viertelkreis mit Mittelpunkt im Ursprung undRadius R > 0 im 1. Quadranten mittels γR : [a, b]→ C .

(b) Betrachten Sie die Funktion

f : C→ C : z 7→ e−z2

und parametrisieren Sie den Achtelkreisbogen mit Mittelpunkt im Ursprungund Radius R > 0 , welcher von R nach Re iπ/4 verläuft, durch γR : [a, b]→ C .

(5.18) Die nachfolgenden Berechnungen werden für uns zu einem späteren Zeitpunkt nochvon Interesse sein.

(a) Berechnen Sie das Integral‰∂Br(0)

zn dz

für r > 0 und n ∈ N , wobei hier das Integral über den positiven orientiertenKreis ∂Br(0) gemeint ist.

(b) Nun berechnen Sie‰∂Br(z0)

zn dz

für z0 ∈ C mit 0 /∈ Br(z0) .

(c) Zeigen Sie für |a| < r < |b| , dass‰∂Br(0)

dz(z − a)(z − b)

=2πia− b

.

(5.19) Es sei f im Gebiet Ω stetig . Zeigen Sie, dass sich jeweils zwei Stammfunktionenvon f nur um eine additive Konstante unterscheiden.

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Kapitel 6

Der Cauchysche Integralsatz und seineAnwendungen

Nachdem wir im letzten Kapitel einige Grundlagen geschaffen haben, werden wir nunerste wichtige Aussagen der Funktionentheorie kennenlernen.

6.1 Lemma von Goursat

Mit dem nachfolgenden Satz legen wir den Grundstein für viele weitere Resultate.

Satz 6.1 (Lemma von Goursat1)Es sei Ω ⊂ C offen und f : Ω→ C holomorph. Dann gilt für jedes Dreieck T ⊂ Ω , dessenInneres ganz in Ω liegt, dass ˛

Tf(z) dz = 0 .

Beweis. Es bezeichne T (0) das ursprüngliche Dreieck mit positiver Orientierung, d(0) denDurchmesser und p(0) den Umfang von T (0) . Als ersten Konstruktionsschritt halbierenwir die Seiten des Dreiecks und verbinden anschließend die Seitenmittelpunkte. Dadurchentstehen vier neue Dreiecke T (1)

1 , T(1)2 , T

(1)3 , T

(1)4 , welche zum ursprünglichen ähnlich

sind. Die Orientierung jedes dieser Dreiecke sei wiederum positiv gewählt, dann ist‰T (0)

f(z) dz =4∑

k=1

‰T

(1)k

f(z) dz .

Offensichtlich gilt für ein k = 1, . . . , 4 , dass∣∣∣∣‰T (0)

f(z) dz∣∣∣∣ ≤ 4

∣∣∣∣∣‰T

(1)k

f(z) dz

∣∣∣∣∣ .Nun benennen wir das Dreieck T (1)

k in T (1) um. Bezeichnet d(1) den Durchmesser undp(1) den Umfang von T (1) , so ist d(1) = d(0)/2 und p(1) = p(0)/2 . Unterteilen wir T (1)

wiederum in vier kleinere Dreiecke, so erhalten wir auf dieselbe Weise das Dreieck T (2) .Wiederholte Anwendung dieses Procederes liefert eine Folge

T (0), T (1), . . . , T (n), . . .

1Édouard Jean-Baptiste Goursat, 1858–1936, französischer Mathematiker

81

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82 6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen

von Dreiecken mit ∣∣∣∣‰T (0)

f(z) dz∣∣∣∣ ≤ 4n

∣∣∣∣‰T (n)

f(z) dz∣∣∣∣

und

d(n) = 2−nd(0) , p(n) = 2−np(0) ,

wobei d(n) den Durchmesser und p(n) den Umfang von T (n) bezeichnet. Des Weiterensei T (n) das „massive“ Dreieck mit Rand T (n) . Aufgrund der Konstruktion sind dieseDreiecke eine geschachtelte Folge von kompakten Mengen

T (1) ⊃ T (2) ⊃ . . . ⊃ T (n) ⊃ . . .

mit limn→∞ diam T (n) → 0 . Nach Satz 5.4 gibt es genau einen Punkt z0 mit z0 ∈ T (n)

für alle n ∈ N0 . Da f holomorph in z0 ist, gilt

f(z) = f(z0) + f ′(z0)(z − z0) + ψ(z)(z − z0)

mit ψ(z) → 0 für z → z0 . Die Konstante f(z0) und die lineare Funktion f ′(z0)(z − z0)besitzen jeweils eine Stammfunktion und daher erhalten wir nach Korollar 5.17 durchIntegration obiger Gleichung‰

T (n)

f(z) dz =

‰T (n)

ψ(z)(z − z0) dz .

Aus z0 ∈ T (n) und z ∈ T (n) = ∂T (n) folgt |z − z0| ≤ d(n) und daher aus Satz 5.15 (3)∣∣∣∣‰T (n)

f(z) dz∣∣∣∣ ≤ d(n)p(n)‖ψ‖∞,T (n) = 4−nd(0)p(0)‖ψ‖∞,T (n) .

Die Aussage des Satzes folgt nun aus∣∣∣∣‰T (0)

f(z) dz∣∣∣∣ ≤ 4n

∣∣∣∣‰T (n)

f(z) dz∣∣∣∣ ≤ d(0)p(0)‖ψ‖∞,T (n) ,

denn ‖ψ‖∞,T (n) → 0 für n→∞ .

Korollar 6.2 (Lemma von Goursat für Rechtecke)Ist f holomorph in der offenen Menge Ω ⊂ C , welche das Rechteck R und sein Inneresenthält, so gilt ˛

Rf(z) dz = 0 .

Beweis. Die Aussage folgt unmittelbar aus Satz 6.1, indem man R in zwei Dreieckezerlegt.

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6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen 83

6.2 Cauchyscher Integralsatz in einer Kreisscheibe

Zuerst zeigen wir die Existenz einer Stammfunktion in einer Kreisscheibe mittels desLemmas von Goursat.

Satz 6.3 (Lokale Existenz einer Stammfunktion)Eine in einer offenen Kreisschreibe holomorphe Funktion besitzt in dieser eine Stamm-funktion.

Beweis. O.B. d.A. können wir annehmen, dass die Kreisscheibe, welche wir mit D be-zeichnen, ihren Mittelpunk im Ursprung hat. Für z ∈ D sei γz jener Streckenzug, welcherzuerst von 0 nach Re z und anschließend von Re z nach z verläuft. Wir setzen

F (z) :=

ˆγz

f(w) dw

und wollen nun zeigen, dass F in D holomorph ist und F ′ = f gilt. Dazu sei z ∈ D festund h ∈ C \ 0 betragsmäßig so klein gewählt, dass z + h ∈ D . Betrachtet man dieDifferenz

F (z + h)− F (z) =

ˆγz+h

f(w) dw −ˆγz

f(w) dw ,

so sieht man, dass f entlang der Strecke von 0 nach Re z in den beiden entgegengesetztenRichtungen integriert wird. Somit verbleibt das Integral über den Streckenzug von z überRe z und Re(z+h) nach z+h . Ergänzen wir diesen Streckenzug durch ein Dreieck mit denEckpunkten z, z+Reh, z+h und ein Rechteck mit Eckpunkten Re z,Re(z+h), z+Reh, z ,jeweils mit positiver Orientierung, so verbleibt nach dem Lemma von Goursat nur dasIntegral von f entlang der Strecke η von z nach z + h . Somit ist

F (z + h)− F (z) =

ˆηf(w) dw .

Aufgrund der Stetigkeit von f gilt

f(w) = f(z) + ψ(w) ,

mit ψ(w)→ 0 für w → z und daher

F (z + h)− F (z) = f(z)

ˆηdw +

ˆηψ(w) dw = f(z)h+

ˆηψ(w) dw .

Aus ∣∣∣∣ˆηψ(w) dw

∣∣∣∣ ≤ ‖ψ‖∞,η|h| und ‖ψ‖∞,η → 0 für h→ 0

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84 6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen

folgt schließlich

limh→0

F (z + h)− F (z)

h= f(z)

und somit ist F holomorph und eine Stammfunktion von f in D .

Der obige Satz besagt, dass lokal jede holomorphe Funktion eine Stammfunktion besitzt.

Satz 6.4 (Cauchyscher Integralsatz in einer Kreisscheibe)Ist f holomorph in einer offenen Kreisscheibe, so gilt

˛Cf(z) dz = 0

für jede geschlossene Kurve C , welche in dieser Kreisscheibe verläuft.

Beweis. Nach Satz 6.3 hat f in dieser Kreisscheibe eine Stammfunktion und daher folgtdie Aussage aus Korollar 5.17.

Korollar 6.5 (Integration entlang eines Kreises)Es sei Ω ⊂ C offen. Ist f : Ω→ C holomorph und imC ⊂ Ω ein Kreis, dessen Inneres inΩ liegt, so ist

˛Cf(z) dz = 0 .

Beweis. Es existiert eine Kreisscheibe D , welche C enthält, sodass f holomorph in Dist. Daher folgt die Behauptung, indem wir Satz 6.4 auf D anwenden.

Satz 6.3, Satz 6.4 und Korollar 6.5 lassen sich ohne weitere Schwierigkeiten auf Be-reiche verallgemeinern, deren Inneres wir problemlos definieren und in denen wir einenentsprechenden Streckenzug in einer offenen Umgebung dieses Bereichs und seines Ran-des konstruieren können. Das Entscheidende im Beweis von Satz 6.3 war, dass wir unsohne Probleme entlang eines Streckenzuges in horizontaler und vertikaler Richtung be-wegen konnten.

Die folgende Definition formulieren wir etwas salopp, jedoch sollte sie in sämtlichen An-wendungen zweifelsohne klar sein. Eine geschlossene Kurve, deren Inneres wir offensicht-lich als solches erkennen können und für die eine Konstruktion wie in Satz 6.3 in einerUmgebung der Kurve problemlos möglich ist, nennen wir eine Spielzeugkurve. Als po-sitiv orientiert bezeichnen wir eine solche Kurve, wenn das Innere links des Randes inDurchlaufrichtung liegt. Einfache Beispiele von Spielzeugkurven, die wir bereits kennen-gelernt haben, sind Kreise, Dreiecke und Rechtecke.

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6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen 85

Für eine Spielzeugkurve C ist das Entscheidende, dass˛Cf(z) dz = 0 ,

wenn f in einer offenen Menge holomorph ist, welche die Kurve C und ihr Inneres enthält.Dieser Sachverhalt ist der Cauchysche Integralsatz für Spielzeugkurven.

6.3 Berechnung zweier Integrale

Wir wenden nun den Cauchyschen Integralsatz an, um zwei Integrale zu bestim-men.

Beispiel 6.6 (Berechnung einer Fourier-Transformierten)Für ξ ∈ R zeigen wir, dass

F([x 7→ e−x

2/2/√

2π])

(ξ) :=1√2π

ˆ ∞−∞

e−x2/2e−iξx dx = e−ξ

2/2 , (6.1)

wobei man F die Fourier-Transformation nennt.

Gleichung (6.1) ist für ξ = 0 erfüllt, denn

1√2π

ˆ ∞−∞

e−x2/2 dx = 1 .

Es sei nun ξ > 0 . Wir betrachten die ganze Funktion[z 7→ f(z) := e−z2/2/

√2π]und für

R > 0 das positiv orientierte Rechteck γR mit den Eckpunkten R,R+ iξ,−R+ iξ,−R .Aus dem Cauchyschen Integralsatz folgt

˛γR

f(z) dz = 0 . (6.2)

Das Integral entlang der Strecke auf der reellen Achse, also entlang der unteren Seite desRechtecks, lautet

1√2π

ˆ R

−Re−x

2/2 dx

und dieses konvergiert gegen 1 für R → ∞ . Entlang der rechten Seite des Rechtecksergibt sich das Integral

I(R) :=

ˆ ξ

0f(R+ iy)i dy =

i√2π

ˆ ξ

0e−(R2+2iRy−y2)/2 dy .

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86 6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen

Dieses Integral konvergiert gegen 0 für R→∞ , da ξ fest ist und

|I(R)| ≤ Ce−R2/2 für ein C > 0 .

Analog zeigt man, dass das Integral entlang der linken Seite für R→∞ gegen 0 strebt.Integration entlang der Oberseite des Rechtecks γR liefert schließlich

1√2π

ˆ −RR

e−(x+iξ)2/2 dx = −eξ2/2√2π

ˆ R

−Re−x

2/2e−iξx dx→ −eξ2/2F(f)(ξ)

für R→∞ . Bilden wir daher den Grenzwert R→∞ in (6.2) erhalten wir

1− eξ2/2F (f) (ξ) = 0

und somit die gewünschte Formel. Im Fall ξ < 0 verwendet man das an der reellen Achsegespiegelte Rechteck.

Beispiel 6.7 (Klassische Anwendung des Cauchyschen Integralsatzes)Ein weiteres klassisches Beispiel ist

ˆ ∞0

1− cosx

x2dx =

π

2.

Wir betrachten die Funktion f gegen durch

f(z) :=1− e iz

z2für z ∈ C \ 0 .

Für R > ε > 0 sei γ jene Spielzeugkurve, welche wir erhalten, wenn wir die Streckevon −R nach −ε , den negativ orientierten Halbkreis γ−ε um 0 in der oberen Halbebenemit Radius ε , die Strecke von ε nach R und den in der oberen Halbebene gelegenenpositiv orientierten Halbkreis γ+

R um 0 mit Radius R verbinden. Da es sich bei γ umeine Spielzeugkurve handelt, folgt aus dem Cauchyschen Integralsatz

ˆ −ε−R

1− e ix

x2dx+

ˆγ−ε

1− e iz

z2dz +

ˆ R

ε

1− e ix

x2dx+

ˆγ+R

1− e iz

z2dz = 0 .

Zuerst bilden wir den Grenzwert R→∞ und da∣∣∣∣1− e iz

z2

∣∣∣∣ ≤ 2

|z|2für Im z ≥ 0 ,

konvergiert das Integral entlang γ+R gegen Null. Folglich ist

ˆ|x|≥ε

1− e ix

x2dx =

ˆγ+ε

1− e iz

z2dz ,

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6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen 87

wobei γ+ε den entsprechenden Halbkreis mit positiver Orientierung bezeichnet. Als nächs-

tes beachte man, dass

f(z) =−iz

+R(z) ,

wobei R(z) für z → 0 beschränkt ist. Entlang von γ+ε ist z = εe iϕ und dz = iεe iϕ dϕ ,

0 ≤ ϕ ≤ π . Somit giltˆγ+ε

1− e iz

z2dz →

ˆ π

0(−i i) dϕ = π für ε→ 0 .

Nehmen wir den Realteil, so erhalten wirˆ ∞−∞

1− cosx

x2dx = π

und da der Integrand gerade ist, die gewünschte Formel.

6.4 Cauchysche Integralformeln

Nachfolgender Satz zeigt, dass man Funktionswerte einer holomorphen Funktion im In-neren einer Kreisscheibe durch ein Integral über den Rand erhält.

Satz 6.8 (Cauchysche Integralformel)Es sei f in einer offenen Menge holomorph, welche den Abschluss der offenen KreisscheibeD enthält. Bezeichnet C den positiv orientierten Rand von D , so gilt

f(z) =1

2πi

‰C

f(ξ)

ξ − zdξ für alle z ∈ D .

Beweis. Wir fixieren z ∈ D und betrachten das „Schlüsselloch“ Γδ,ε aus Abbildung 6.1,wobei δ die Breite des Korridors und ε den Radius des kleineren Kreises mit Mittelpunktz bezeichnet. Da

[ξ 7→ F (ξ) := f(ξ)

ξ−z

]außerhalb des Punktes ξ = z holomorph ist, folgt‰

Γδ,ε

F (ξ) dξ = 0

aus dem Cauchyschen Integralsatz angewandt auf die Spielzeugkurve Γδ,ε . Veren-gen wir nun den Korridor indem wir δ gegen 0 streben lassen, so heben sich die Integraleentlang der beiden Seiten des Korridors im Grenzwert aufgrund der Stetigkeit von Fauf. Es verbleiben die Integrale über den positiv orientierten Kreis C und den negativorientierten Kreis ∂B−ε (z) . Wir schreiben

F (ξ) =f(ξ)− f(z)

ξ − z+f(z)

ξ − z

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88 6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen

Γδ,ε

C

z

Abbildung 6.1 Das Schlüsselloch Γδ,ε .

und sehen, dass der erste Summand auf der rechten Seite beschränkt ist und somit seinIntegral entlang ∂B−ε (z) für ε→ 0 gegen 0 konvergiert. Da

∂B−ε (z)

f(z)

ξ − zdξ = f(z)

∂B−ε (z)

1

ξ − zdξ =

= −f(z)

ˆ 2π

0

εie−i t

εe−i t dt =

= −2πif(z) ,

erhalten wir ‰C

f(ξ)

ξ − zdξ − 2πif(z) = 0

für ε→ 0 .

Bemerkung. Der Beweis von Satz 6.8 funktioniert auf gleiche Weise für alle Spiel-zeugkurven. Ist beispielsweise f holomorph in einer offenen Menge, welche das positivorientierte Rechteck R enthält, so gilt

f(z) =1

2πi

‰R

f(ξ)

ξ − zdξ

für alle z im Inneren von R . Um dies zu beweisen, muss lediglich im Beweis von Satz 6.8das „kreisförmige“ Schlüsselloch durch ein „rechteckiges“ Schlüsselloch ersetzt werden. DesWeitern ist

1

2πi

‰R

f(ξ)

ξ − zdξ = 0

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6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen 89

für z außerhalb von R , da [ξ 7→ F (ξ) = f(ξ)/(ξ − z)] dann in einer offenen Menge, wel-che R und sein Inneres enthält, holomorph ist.

Auf diesem Weg erhält man also die Cauchysche Integralformel für sämtlicheSpielzeugkurven.

Korollar 6.9 (Cauchysche Integralformel für Ableitungen)Ist f in einer offenen Menge Ω ⊂ C holomorph, so ist f in Ω unendlich oft komplexdifferenzierbar. Des Weiteren gilt für einen positiv orientierten Kreis C ⊂ Ω , dessenInneres ebenfalls in Ω enthalten ist, dass

f (n)(z) =n!

2πi

‰C

f(ξ)

(ξ − z)n+1dξ

für alle z im Inneren von C .

Beweis. Wir beweisen die Aussage mittels Induktion über n , der Fall n = 0 ist geradedie Cauchysche Integralformel. Angenommen, f ist (n− 1)-mal komplex differen-zierbar und

f (n−1)(z) =(n− 1)!

2πi

‰C

f(ξ)

(ξ − z)ndξ .

Für betragsmäßig kleines h ∈ C \ 0 hat der Differenzenquotient für f (n−1) die Form

f (n−1)(z + h)− f (n−1)(z)

h=

(n− 1)!

2πi

‰C

f(ξ)

h

[1

(ξ − z − h)n− 1

(ξ − z)n

]dξ .

Setzen wir A := 1/(ξ − z − h) und B := 1/(ξ − z) und verwenden die Identität

An −Bn = (A−B)[An−1 +An−2B + . . .+ABn−2 +Bn−1

],

so erhalten wir

1

(ξ − z − h)n− 1

(ξ − z)n=

=h

(ξ − z − h)(ξ − z)[An−1 +An−2B + . . .+ABn−2 +Bn−1

]und somit unter Verwendung von [Hel13a, Satz 3.26, S. 125] für h → 0 den Induktions-schritt

(n− 1)!

2πi

‰Cf(ξ)

1

(ξ − z)2

n

(ξ − z)n−1dξ =

n!

2πi

‰C

f(ξ)

(ξ − z)n+1dξ .

Als unmittelbare Konsequenz erhalten wir folgende Umkehrung des Cauchyschen In-tegralsatzes.

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90 6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen

Korollar 6.10 (Satz von Morera2)Es sei f in der offenen Kreisscheibe D stetig. Gilt für jedes in D enthaltene Dreieck T ,dass ˛

Tf(z) dz = 0 ,

so ist f holomorph.

Beweis. Im Beweis von Satz 6.3 haben wir bereits gezeigt, dass f eine Stammfunktion Fin D besitzt, also gilt F ′ = f . Nach Satz 6.9 ist F unendlich oft komplex differenzierbarund somit insbesondere zweimal. Daher ist f holomorph.

Korollar 6.11 (Cauchysche Ungleichung)Es seien R > 0 und z0 ∈ C sowie f holomorph in einer offenen Menge, welche BR(z0)enthält. Dann gilt ∣∣∣f (n)(z0)

∣∣∣ ≤ n!‖f‖∞,∂BR(z0)

Rn.

Beweis. Die Ungleichung erhalten wir unmittelbar aus der Cauchyschen Integral-formel für f (n)(z0) , denn∣∣∣f (n)(z0)

∣∣∣ =

∣∣∣∣∣ n!

2πi

‰∂BR(z0)

f(ξ)

(ξ − z0)n+1dξ

∣∣∣∣∣ =

=n!

∣∣∣∣∣ˆ 2π

0

f(z0 +Re iϕ)

(Re iϕ)n+1 iRe iϕ dϕ

∣∣∣∣∣ ≤ n!

‖f‖∞,∂BR(z0)

Rn2π .

Wir zeigen nun die Umkehrung der Aussage von Satz 5.13 und somit, dass

f holomorph ⇐⇒ f analytisch.

Satz 6.12 (holomorph ⇒ analytisch)Es sei Ω ⊂ C offen und f : Ω→ C holomorph. Ist BR(z0) ⊂ Ω , z0 ∈ Ω und R > 0 , dannist f um z0 in eine Potenzreihe entwickelbar. Genauer gilt

f(z) =

∞∑n=0

an(z − z0)n

für alle z ∈ BR(z0) und die Koeffizienten sind durch

an =f (n)(z0)

n!, n ∈ N0 ,

gegeben.2Giacinto Morera, 1856–1909, italienischer Mathematiker

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6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen 91

Beweis. Es sei z ∈ BR(z0) fest. Nach der Cauchyschen Integralformel ist

f(z) =1

2πi

‰∂BR(z0)

f(ξ)

ξ − zdξ .

Die Idee besteht nun darin,

1

ξ − z=

1

ξ − z0 − (z − z0)=

1

ξ − z0

1

1−(z−z0ξ−z0

)für festes ξ ∈ ∂BR(z0) in eine geometrische Reihe zu entwickeln. Es existiert ein 0 < r < 1mit ∣∣∣∣z − z0

ξ − z0

∣∣∣∣ < r

und somit ist

1

1−(z−z0ξ−z0

) =∞∑n=0

(z − z0

ξ − z0

)n,

wobei die Reihe gleichmäßig in ξ ∈ ∂BR(z0) konvergiert. Daher kann die Reihe gliedweiseintegriert werden und wir erhalten die Potenzreihenentwicklung

f(z) =∞∑n=0

(1

2πi

‰∂BR(z0)

f(ξ)

(ξ − z0)n+1dξ

)· (z − z0)n .

Die Cauchyschen Integralformeln liefern nun unmittelbar die behauptete Formelfür die Koeffizienten.

Korollar 6.13 (Satz von Liouville3)Eine ganze und beschränkte Funktion ist konstant.

Beweis. Es sei f : C → C ganz und beschränkt. Es genügt f ′ = 0 zu zeigen, denn C istzusammenhängend und wir können dann Korollar 5.18 anwenden. Für z ∈ C undR > 0 liefert die Cauchysche Ungleichung∣∣f ′(z)∣∣ ≤ M

R,

wobei M > 0 eine Schranke für f bezeichnet. Wir erhalten das Resultat indem wir denGrenzwert R→∞ bilden.

3Joseph Liouville, 1809–1882, französischer Mathematiker

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92 6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen

Als Anwendung bisheriger Resultate wollen wir nun den Hauptsatz der Algebrabeweisen.

Korollar 6.14 (Existenz einer Nullstelle)Jedes nichtkonstante Polynom

P = anzn + . . .+ a0

mit komplexen Koeffizienten hat eine Nullstelle in C .

Beweis. Angenommen, P hätte keine Nullstelle. Dann wäre 1/P eine ganze und be-schränkte Funktion und somit nach dem Satz von Liouville konstant. Dies wider-spricht jedoch der Annahme, dass P nichtkonstant ist.

Korollar 6.15 (Hauptsatz der Algebra)Jedes Polynom P = anz

n + . . . + a0 vom Grad n ∈ N mit komplexen Koeffizienten hatgenau n Nullstellen in C . Sind w1, . . . , wn die Nullstellen von P , so ist

P = an(z − w1) · . . . · (z − wn) .

Beweis. Nach Korollar 6.14 hat P eine Nullstelle w1 . Setzen wir z = (z − w1) + w1

in P ein und verwenden den binomischen Lehrsatz, dann erhalten wir

P (z) = bn(z − w1)n + . . .+ b1(z − w1) + b0

mit neuen Koeffizienten b1, . . . , bn , wobei bn = an . Aus P (w1) = 0 folgt b0 = 0 undsomit

P (z) = (z − w1)(bn(z − w1)n−1 + . . .+ b1

)= (z − w1)Q(z)

mit einem Polynom Q vom Grad n− 1 . Mittels Induktion über den Grad des Polynomsschließen wir, dass P genau n Nullstellen und die Faktorisierung

P (z) = c(z − w1) · . . . · (z − wn)

besitzt, wobei c ∈ C . Ein Koeffizientenvergleich liefert schließlich an = c .

6.5 Analytische Fortsetzung

Satz 6.16 (Verschwindend auf Menge mit Häufungspunkt ⇒ konstant Null)Es sei f eine im Gebiet Ω ⊂ C holomorphe Funktion, welche auf einer Teilmenge von Ωmit Häufungspunkt in Ω verschwindet. Dann ist f identisch Null.

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6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen 93

Beweis. Es sei z0 ∈ Ω der Grenzwert der Folge zk∞k=1 ∈ (Ω \ z0)N und f(zk) = 0für alle k ∈ N . Zuerst zeigen wir, dass f in einer Umgebung von z0 identisch verschwin-det. Dazu wählen wir eine Kreisscheibe D ⊂ Ω mit Mittelpunkt z0 und betrachten diePotenzreihenentwicklung

f(z) =∞∑n=0

an(z − z0)n

von f um z0 in D . Wenn f nicht identisch Null wäre, dann existierte ein kleinster Indexm mit am 6= 0 und

f(z) = am(z − z0)m (1 + g(z − z0)) ,

wobei g(z−z0)→ 0 für z → z0 . Für hinreichend großes k ∈ N führt die Wahl z = zk 6= z0

nun auf einen Widerspruch, denn am(zk−z0)m 6= 0 und 1+g(zk−z0) 6= 0 , aber f(zk) = 0 .

Wir vollenden den Beweis, indem wir verwenden, dass Ω zusammenhängend ist. Es sei

U := z ∈ Ω: f(z) = 0 ,

dann ist U per definitionem offen und, wie wir eben gezeigt haben, nicht-leer. Die MengeU ist auch abgeschlossen, denn für zn∞n=1 ∈ UN mit limn→∞ zn = z gilt f(z) = 0aufgrund der Stetigkeit von f und da f in einer Umgebung von z verschwindet, folgtz ∈ U . Bezeichne V nun das Komplement von U in Ω , dann sind U und V offen unddisjunkt. Da

Ω = U ] V

und Ω zusammenhängend ist, muss entweder U oder V leer sein. Nun ist aber z0 ∈ Uund somit U = Ω .

Korollar 6.17 (Identitätssatz)Es seien f und g zwei im Gebiet Ω ⊂ C holomorphe Funktionen, welche auf einer Teil-menge von Ω mit Häufungspunkt in Ω übereinstimmen. Dann gilt f = g in Ω .

Beweis. Die Behauptung folgt unmittelbar durch Anwendung von Satz 6.16 auf dieDifferenz f − g .

Ist f holomorph auf einer Teilmenge Ω′ eines Gebiets Ω ⊂ C mit Häufungspunkt in Ωsowie F holomorph auf Ω und gilt weiters

F |Ω′ = f ,

so nennen wir F die analytische Fortsetzung von f auf Ω . Nach dem Identitätssatzist diese Fortsetzung eindeutig.

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94 6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen

6.6 Folgen holomorpher Funktionen

Wir zeigen nun, dass unter entsprechenden Voraussetzungen, die Grenzfunktion einerFolge holomorpher Funktionen ebenfalls holomorph ist. Es sei Ω ⊂ C offen.

Satz 6.18 (Weierstraßscher Konvergenzsatz, Teil 1)Ist fn : Ω → C∞n=1 eine Folge holomorpher Funktionen, welche auf jeder kompaktenTeilmenge von Ω gleichmäßig gegen die Funktion f konvergiert, so ist f in Ω holomorph.

Beweis. Es sei D eine Kreisscheibe mit D ⊂ Ω und T ⊂ D ein Dreieck. Da fn holomorphist, folgt aus dem Satz von Goursat

˛Tfn(z) dz = 0 für alle n ∈ N .

Laut Annahme konvergiert fn auf D gleichmäßig gegen f , somit ist f stetig und˛Tfn(z) dz →

˛Tf(z) dz für n→∞ .

Damit ist´T f(z) dz = 0 und laut dem Satz von Morera f holomorph in D . Die

Kreisscheibe D war beliebig und somit ist f holomorph in ganz Ω .

Bemerkung. Satz 6.18 wird häufig verwendet, um holomorphe Funktionen als Reihe

F (z) :=∞∑n=1

fn(z)

zu definieren. Ein prominentes Beispiel ist die Riemannsche Zeta-Funktion, welchefür Re s > 1 durch

ζ(s) =∞∑n=1

1

ns

gegeben ist, vgl. Aufgabe (6.14).

Im nächsten Satz betrachten wir nun die Konvergenz der Folge der Ableitungen.

Satz 6.19 (Weierstraßscher Konvergenzsatz, Teil 2)Unter den Vorraussetzungen von Satz 6.18 konvergiert die Folge der Ableitungen f ′n∞n=1

auf jeder kompakten Teilmenge von Ω gleichmäßig gegen f ′ .

Beweis. O.B. d.A. nehmen wir an, dass fn∞n=1 auf ganz Ω gleichmäßig konvergiert. Essei δ > 0 und

Ωδ :=z ∈ Ω: Bδ(z) ⊂ Ω

.

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6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen 95

Um die Aussage des Satzes zu beweisen, genügt es zu zeigen, dass für alle δ > 0 die Folgeder Ableitungen f ′n∞n=1 auf Ωδ gleichmäßig gegen f ′ konvergiert . Dies kann durch dasBeweisen der Ungleichung

supz∈Ωδ

|F ′(z)| ≤ 1

δsupξ∈Ω|F (ξ)| (6.3)

für in Ω holomorphe Funktionen F erreicht werden, denn dann können wir diese aufF = fn−f anwenden. Ungleichung (6.3) folgt aus der Cauchyschen Integralformelund der Definition von Ωδ , denn für alle z ∈ Ωδ ist Bδ(z) ⊂ Ω und

F ′(z) =1

2πi

‰∂Bδ(z)

F (ξ)

(ξ − z)2dξ .

Daher ist

|F ′(z)| = 1

∣∣∣∣∣‰∂Bδ(z)

F (ξ)

(ξ − z)2dξ

∣∣∣∣∣ ≤≤ 1

2πsupξ∈Ω|F (ξ)| 1

δ22πδ =

=1

δsupξ∈Ω|F (ξ)| .

Natürlich konvergiert unter den Voraussetzungen von Satz 6.19 für alle k ∈ N0 die Folgeder k-ten Ableitungen

f

(k)n

∞n=1

gleichmäßig gegen f (k) auf jeder kompakten Teilmengevon Ω .

6.7 Durch Integrale definierte holomorphe Funktio-nen

Im vorangegangen Abschnitt haben wir gesehen, wie man holomorphe Funktionen alsReihe holomorpher Funktionen definieren kann. Einige spezielle Funktionen sind jedochals Integrale der Form

f(z) =

ˆ b

aF (z, s) ds

gegeben, wobei die Funktion F holomorph bezüglich des ersten Arguments und stetigbezüglich des zweiten ist. Unter welchen Voraussetzungen ist f holomorph?

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96 6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen

Der nachfolgende Satz stellt hinreichende Voraussetzungen an die Funktion F , sodass fholomorph ist. Durch eine affine Transformation können wir erreichen, dass a = 0 undb = 1.

Satz 6.20 (Durch Integrale definierte holomorphe Funktionen)Gegeben sei die Funktion

F : Ω× [0, 1]→ C : (z, s) 7→ F (z, s) ,

wobei Ω ⊂ C offen sei. Weiters erfülle F folgende Bedingungen:

(1) F (·, s) ist holomorph für alle s ∈ [0, 1] .

(2) F ist stetig auf Ω× [0, 1] .

Dann ist die durch

f(z) :=

ˆ 1

0F (z, s) ds

für z ∈ Ω definierte Funktion f holomorph.

Beweis. Für n ∈ N betrachten wir die Riemann-Summe

fn(z) =1

n

n∑k=1

F (z, k/n) .

Aufgrund von (1) ist fn holomorph und wir behaupten, dass in jeder Kreisscheibe D mitD ⊂ Ω die Folge fn∞n=1 gleichmäßig gegen f konvergiert. Da eine stetige Funktion aufeiner kompakten Menge gleichmäßig stetig ist, gilt

∀ε > 0 ∃δ > 0:

(|s1 − s2| < δ ⇒ sup

z∈D|F (z, s1)− F (z, s2)| < ε

).

Für n > 1/δ und z ∈ D erhalten wir somit

|fn(z)− f(z)| =

∣∣∣∣∣n∑k=1

ˆ k/n

(k−1)/n(F (z, k/n)− F (z, s)) ds

∣∣∣∣∣ ≤≤

n∑k=1

ˆ k/n

(k−1)/n|F (z, k/n)− F (z, s)| ds <

<

n∑k=1

ε

n= ε .

Nach Satz 6.18 ist f holomorph in D und da D beliebig war, ist f holomorph in Ω .

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6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen 97

Ein Beispiel einer durch ein Integral definierten holomorphen Funktion ist die EulerscheGammafunktion, welche für Re z > 0 durch

Γ(z) :=

ˆ ∞0

tz−1e−t dt

gegeben ist, vgl. Aufgabe (6.15).

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98 6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen

Aufgaben

(6.1) Es sei f : Ω ⊂ C→ C stetig komplex differenzierbar und T ⊂ Ω ein Dreieck, dessenInneres in Ω enthalten ist. Verwenden Sie den Satz von Green um zu zeigen, dass

˛Tf(z) dz = 0 .

Bemerkung: Dies ist ein alternativer Beweis des Satzes von Goursat unter derzusätzlichen Annahme, dass f ′ stetig ist.

(6.2) Verschärfung des Lemmas von Goursat: Es sei z0 ∈ Ω und f : Ω→ C stetigund holomorph auf C \ z0 . Zeigen Sie: Dann gilt für jedes Dreieck T ⊂ Ω mitEckpunkt z0 , dessen Inneres in Ω liegt, dass

˛Tf(z) dz = 0 .

(6.3) Lokale Existenz einer Stammfunktion: Es seiD ⊂ C eine offene Kreisscheibeund f : D → C stetig. Weiters gelte für jedes Dreieck T ⊂ D , dass

˛Tf(z) dz = 0 .

Zeigen Sie, dass f eine Stammfunktion besitzt.

(6.4) Zeigen Sie, dassˆ ∞

0

sinx

xdx =

π

2.

Hinweis: Zeigen Sie zuerst, dass´∞

0sinxx dx = 1

2i

´∞−∞

e ix−1x dx und integrieren Sie

dann über einen entsprechenden Halbkreis.

(6.5) Zeigen Sie, dassˆ ∞

0sin(x2) dx =

ˆ ∞0

cos(x2) dx =

√2π

4.

Dies sind die Fresnel4-Integrale.Hinweis: Integrieren Sie

[z 7→ e−z2

]entlang des Kreissektors mit Eckpunkten 0, R,Re iπ/4 ,

wobei R > 0 .

4Augustin Jean Fresnel, 1788–1827, französischer Mathematiker

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6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen 99

(6.6) Berechnen Sie für a > 0 und b ∈ R die Integraleˆ ∞

0e−ax cos bx dx und

ˆ ∞0

e−ax sin bx dx

durch Integration von[z 7→ e−Az

], A :=

√a2 + b2 , entlang eines geeigneten Kreis-

sektors mit Winkel ω , wobei cosω = a/A .

(6.7) Es sei f im Streifen S := z ∈ C : − 1 < Im z < 1 holomorph und

∀ z ∈ S : |f(z)| ≤ A(1 + |z|)η

für ein η ∈ R und A ≥ 0 . Zeigen Sie, dass für alle n ≥ 0 ein An ≥ 0 existiert,sodass ∣∣∣f (n)(x)

∣∣∣ ≤ An(1 + |x|)η für alle x ∈ R .

Hinweis: Verwenden Sie die Cauchysche Ungleichung.

(6.8) Es sei R0 > 0 und f : BR0(0)→ C holomorph.

(a) Für 0 < R < R0 und |z| < R zeigen Sie, dass

f(z) =1

ˆ 2π

0f(Re iϕ)Re

(Re iϕ + z

Re iϕ − z

)dϕ .

Hinweis: Beachten Sie, dass für w := R2/z das Integral von [ξ 7→ f(ξ)/(ξ − w)]entlang von ∂BR(0) verschwindet. Verwenden Sie diese Tatsache zusammenmit der Cauchyschen Integralformel.

(b) Zeigen Sie für 0 < r < R und γ ∈ R , dass

Re

(Re iγ + r

Re iγ − r

)=

R2 − r2

R2 − 2Rr cos γ + r2.

(6.9) Es sei u : B1(0)→ R zweimal stetig differenzierbar und harmonisch, d. h.

∆2u(x, y) = 0

für alle (x, y) ∈ B1(0) .

(a) Zeigen Sie, dass eine holomorphe Funktion f auf B1(0) existiert, sodass

Re f = u .

Zeigen Sie weiters, dass Im f bis auf eine additive reelle Konstante eindeutigbestimmt ist.

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100 6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen

(b) Leiten Sie nun die Poissonsche Integralformel her, welche folgendes besagt:Ist u in B1(0) harmonisch und auf B1(0) stetig, so gilt

u(z) =1

ˆ 2π

0Pr(ϑ− ϕ)u

(e iϕ) dϕ ,

wobei z = re iϑ und Pr den Poisson-Kern für den Einheitskreis bezeichnet,welcher durch

Pr(γ) =1− r2

1− 2r cos γ + r2

gegeben ist.

(6.10) Identitätssatz:

(a) Es sei Ω ⊂ C ein Gebiet und f : Ω → C holomorph mit f 6= 0 . Zeigen Sie,dass die Nullstellenmenge

N (f) = z ∈ Ω: f(z) = 0

von f keinen Häufungspunkt in Ω besitzt.

(b) Zeigen Sie, dass es keine holomorphe Funktion f : C→ C mit

∀n ∈ N : f(n) = 1n

gibt.

(6.11) Harmonische Funktionen:

(a) Wir betrachten ∆: C2(R2;R)→ C(R2;R) . Zeigen Sie, dass ker ∆ ⊂ A(R2;R) ,wobei A(R2;R) die Menge der analytischen Funktionen von R2 nach R2 be-zeichnet.

(b) Finden Sie alle beschränkten Funktionen u ∈ C2(R2;R) mit ∆u = 0 .

(6.12) Identitätssatz für harmonische Funktionen: Gegeben sei ein Gebiet Ω ⊂R2 sowie eine harmonische Funktion u ∈ C2(Ω;R) .

(a) Zeigen Sie, dass u im Allgemeinen nicht identisch in Ω verschwindet, wenn uin einer Menge mit Häufungspunkt in Ω identisch verschwindet.

(b) Zeigen Sie: Gilt u ≡ 0 in einer Umgebung in Ω , so ist u ≡ 0 in Ω .

(6.13) Der Weierstraßsche Approximationssatz besagt, dass jede stetige Funktionauf dem Intervall [0, 1] gleichmäßig durch Polynome approximiert werden kann,vgl. [Hel13, Satz 1.11, S. 5]. Kann jede stetige Funktion auf B1(0) gleichmäßig durchPolynome in der Variablen z approximiert werden?

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6 Der Cauchysche Integralsatz und seine Anwendungen 101

(6.14) Zeigen Sie, dass die für Re s > 1 durch

ζ(s) :=∞∑n=1

1

ns

definierte Riemannsche Zeta-Funktion in der Halbebene z ∈ C : Re z > 1holomorph ist.

(6.15) Gamma-Funktion: Zeigen Sie, dass die für Re z > 0 durch

Γ(z) :=

ˆ ∞0

tz−1e−t dt

definierte Eulersche Gammafunktion in der Halbebene z ∈ C : Re z > 0holomorph ist.Hinweis: Es genügt zu zeigen, dass Γ in jedem Streifen

Sδ,M := z ∈ C : δ < Re z < M , 0 < δ < M <∞ ,

holomorph ist. Verwenden Sie

Γ(z) = limε→0+

ˆ 1/ε

εtz−1e−t dt für Re z > 0 .

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Kapitel 7

Meromorphe Funktionen und derLogarithmus

Wir wenden uns nun den möglichen (isolierten) Singularitäten einer Funktion zu. Diesesind

. hebbare Singularitäten,

. Pole,

. wesentliche Singularitäten.

Wie wir bereits wissen, besagt unter entsprechenden Voraussetzungen der CauchyscheIntegralsatz, dass ˛

Cf(z) dz = 0

für eine holomorphe Funktion f in einer offenen Menge, welche die geschlossene KurveC und ihr Inneres enthält. Was ergibt das Integral, wenn f eine Polstelle im Inneren vonC hat?

Wie wir bereits gesehen haben, gilt für [z 7→ f(z) := 1/z], dass‰Cf(z) dz = 2πi ,

wobei C einen positiv orientierten Kreis mit Mittelpunkt im Ursprung bezeichnet. DiesesResultat wird im Weiteren eine wesentliche Rolle spielen.

7.1 Nullstellen und Polstellen

Eine Singularität einer Funktion f ist ein Punkt z0 ∈ C , sodass f in einer Umgebungvon z0 definiert ist, jedoch nicht in z0 . Oftmals spricht man in diesem Fall von einerisolierten Singularität.

Die komplexe Zahl z0 ist eine Nullstelle von f , wenn f(z0) = 0 . Insbesondere sind nachdem Identitätssatz die Nullstellen einer nichttrivialen holomorphen Funktion isoliert,d. h. für eine in Ω ⊂ C holomorphe Funktion f 6≡ 0 mit f(z0) = 0 , z0 ∈ Ω , existiert eineoffene Umgebung U von z0 mit f(z) 6= 0 für alle z ∈ U \ z0 .

103

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104 7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus

Satz 7.1 (Nullstelle einer holomorphen Funktion)Es sei f eine im Gebiet Ω ⊂ C holomorphe Funktion, welche in Ω nicht identisch ver-schwindet und in z0 ∈ Ω eine Nullstelle besitzt. Dann existiert eine Umgebung U ⊂ Ωvon z0 , eine nicht verschwindende holomorphe Funktion g auf U und ein eindeutig be-stimmtes n ∈ N mit

f(z) = (z − z0)ng(z) für alle z ∈ U .

Beweis. Da Ω zusammenhängend ist und f nicht identisch verschwindet, ist f nichtidentisch Null in einer Umgebung von z0 . In einer Kreisscheibe mit Mittelpunkt z0 lässtsich f in eine Reihe

f(z) =∞∑k=0

ak(z − z0)k

entwickeln. Da f in der Nähe von z0 nicht identisch verschwindet, gibt es einen kleinstenIndex n , sodass an 6= 0 . Dann ist

f(z) = (z − z0)n [an + an+1(z − z0) + . . .] = (z − z0)ng(z) ,

wobei g holomorph und ungleich Null in der Nähe von z0 ist, da an 6= 0. Um die Eindeu-tigkeit von n zu zeigen, nehmen wir an, dass

f(z) = (z − z0)ng(z) = (z − z0)mh(z) ,

wobei h(z0) 6= 0 . Ist m > n , so können wir durch (z − z0)n dividieren und erhalten

g(z) = (z − z0)m−nh(z) .

Daraus folgt, dass g(z0) = 0 . Dies ist jedoch ein Widerspruch. Analog führt die Annahmem < n auf einen Widerspruch und somit ist m = n und g = h .

Man sagt im Fall des obigen Satzes, dass f in z0 eine Nullstelle der Ordnung n odermit Multiplizität n hat.

Für z0 ∈ C und r > 0 bezeichnen wir die Menge

Br(z0) := z ∈ C : 0 < |z − z0| < r

als punktierte Umgebung von z0 .

Eine in einer punktierten Umgebung von z0 definierte Funktion f hat eine Polstelleoder einen Pol in z0 , wenn die Funktion 1/f , wobei diese als Null in z0 definiert wird,holomorph in einer Umgebung von z0 ist.

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7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus 105

Satz 7.2 (Polstelle einer holomorphen Funktion)Es sei Ω ⊂ C offen und z0 ∈ Ω . Hat die holomorphe Funktion f : Ω \ z0 → C einePolstelle in z0 , so gibt es eine nicht verschwindende holomorphe Funktion h in einerUmgebung von z0 und ein eindeutig bestimmtes n ∈ N mit

f(z) = (z − z0)−nh(z)

für alle z 6= z0 in dieser Umgebung.

Beweis. Nach Satz 7.1 ist 1/f(z) = (z − z0)ng(z) , wobei g in einer Umgebung vonz0 holomorph ist und nicht verschwindet. Daher erhält man die Aussage des Satzes fürh = 1/g .

Die natürliche Zahl n heißt Ordnung oder Multiplizität der Polstelle. Ein Pol derOrdnung 1 wird auch als einfach bezeichnet.

Satz 7.3 (Laurent1-Entwicklung um einen Pol)Es sei Ω ⊂ C offen und z0 ∈ Ω . Hat die holomorphe Funktion f : Ω \ z0 → C einePolstelle in z0 , so ist

f(z) =a−n

(z − z0)n+ . . .+

a−1

z − z0+G(z)

für alle z nahe bei z0 , wobei G in einer Umgebung von z0 holomorph ist.

Beweis. Für alle z in einer Umgebung von z0 ist nach Satz 7.2

f(z) = (z − z0)−nh(z) ,

wobei die Funktion h eine Reihendarstellung

h(z) = A0 +A1(z − z0) + . . .

besitzt. Daher ist

f(z) = (z − z0)−n (A0 +A1(z − z0) + . . .) =a−n

(z − z0)n+ . . .+

a−1

z − z0+G(z) .

Man nennt

P (z) :=a−n

(z − z0)n+ . . .+

a−1

z − z0

Hauptteil und G Nebenteil von f in z0 , den Koeffizienten a−1 das Residuum von fin z0 . Wir schreiben

Res(f, z0) := a−1 .

1Pierre Alphonse Laurent, 1813–1854, französischer Mathematiker

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106 7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus

Die Wichtigkeit des Residuums erklärt sich wie folgt: Es gilt

1

2πi

‰CP (z) dz = a−1

für jeden Kreis C mit Mittelpunkt z0 , da bis auf [z 7→ a−1/(z − z0)] alle Summanden desHauptteils eine Stammfunktion in einer punktierten Umgebung von z0 besitzen. DieseBeobachtung wird auf den Residuensatz führen.

Hat f in z0 einen einfachen Pol hat, so gilt

Res(f, z0) = limz→z0

(z − z0)f(z) .

Ein ähnliches Resultat erhalten wir im Fall eines Pols höherer Ordnung.

Satz 7.4 (Darstellung des Residuums)Es sei Ω ⊂ C offen und z0 ∈ Ω . Hat die holomorphe Funktion f : Ω \ z0 → C einePolstelle der Ordnung n ∈ N in z0 , so ist

Res(f, z0) = limz→z0

1

(n− 1)!

dn−1

dzn−1(z − z0)nf(z) .

Beweis. Die Aussage folgt unmittelbar aus Satz 7.3.

7.2 Residuensatz

Wie bereits für den Cauchyschen Integralsatz, betrachten wir den Residuensatzzuerst für den Fall eines Kreises und verallgemeinern diesen dann wiederum auf Spiel-zeugkurven.

Satz 7.5 (Residuensatz für einen Kreis)Es sei Ω ⊂ C offen, f in Ω \ z0 holomorph und z0 ∈ Ω eine Polstelle von f . Ist C ⊂ Ωein positiv orientierter Kreis, dessen Inneres ebenfalls in Ω liegt und der z0 enthält, sogilt

‰Cf(z) dz = 2πi Res(f, z0) .

Beweis. Wir verwenden das Schlüsselloch Γδ,ε aus dem Beweis von Satz 6.8, vgl. Ab-bildung 6.1. Lassen wir nun die Breite δ des Korridors gegen Null streben, so erhaltenwir ‰

Cf(z) dz =

‰∂Bε(z0)

f(z) dz .

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7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus 107

Aus den Cauchyschen Integralformeln folgt

1

2πi

‰∂Bε(z0)

a−1

z − z0dz = a−1

und

1

2πi

‰∂Bε(z0)

a−k(z − z0)k

dz = 0 für k ∈ N ,

wobei

f(z) =a−n

(z − z0)n+ . . .+

a−1

z − z0+G(z)

für alle z in einer Umgebung von z0 mit einer holomorphen Funktion G . Nach demCauchyschen Integralsatz ist

1

2πi

˛∂Bε(z0)

G(z) dz = 0

und somit die Aussage des Satzes gezeigt.

Korollar 7.6 (Residuensatz für einen Kreis und mehrere Polstellen)Es sei Ω ⊂ C offen, f in Ω \ z1, . . . , zN holomorph und z1, . . . , zN ∈ Ω Polstellen vonf . Ist C ⊂ Ω ein positiv orientierter Kreis, dessen Inneres ebenfalls in Ω liegt und derz1, . . . , zN enthält, so gilt

‰Cf(z) dz = 2πi

N∑k=1

Res(f, zk) .

Beweis. Durch Verwendung eines „mehrfachen Schlüssellochs“ verläuft der Beweis analogzu jenem von Satz 7.5.

Korollar 7.7 (Residuensatz)Es sei Ω ⊂ C offen, f in Ω \ z1, . . . , zN holomorph und z1, . . . , zN ∈ Ω Polstellen vonf . Ist C ⊂ Ω eine positiv orientierte Spielzeugkurve, deren Inneres ebenfalls in Ω liegtund welche z1, . . . , zN enthält, so gilt

‰Cf(z) dz = 2πi

N∑k=1

Res(f, zk) .

Beweis. Verwendet man ein entsprechendes Schlüsselloch, so verläuft der Beweis wieder-um analog zu jenem von Satz 7.5.

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108 7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus

Beispiel 7.8 (Berechnung eines ersten Integrals mit dem Residuensatz)Wir wollen mittels des Residuensatzes zeigen, dass

ˆ ∞−∞

dx1 + x2

= π .

Dazu betrachten wir die Funktion[z 7→ f(z) :=

1

1 + z2

],

welche in C \ −i , i holomorph ist und in −i und i einfache Pole hat. Des Weiterenbezeichne γR jene geschlossene Kurve, welche von −R nach R auf der reellen Achseverläuft und anschließend entlang des Halbkreises mit Radius R und Mittelpunkt imUrsprung von R nach −R . Da

f(z) =1

(z − i)(z + i),

ist

Res(f, i) =1

2i

und wählen wir R groß genug, erhalten wir daherˆγR

f(z) dz = π .

Bezeichne C+R den positiv orientierten Halbkreis mit Radius R . Für entsprechend großes

R ist ∣∣∣∣∣ˆC+R

f(z) dz

∣∣∣∣∣ ≤ M

Rfür ein M > 0 .

Für R→∞ erhalten wir daher wie gewünschtˆ ∞−∞

dx1 + x2

= π .

Beispiel 7.9 (Berechnung eines zweiten Integrals mit dem Residuensatz)Wir zeigen nun, dass

ˆ ∞−∞

eax

ex + 1dx =

π

sinπafür a ∈ (0, 1) .

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7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus 109

Dazu betrachten wir die Funktion[z 7→ f(z) :=

eaz

ez + 1

]und das positiv orientierte Rechteck γR mit den Eckpunkten −R,R,R+ 2πi ,−R+ 2πi .Da f bis auf einen Pol in z = iπ holomorph ist, folgt aus dem Residuensatz

‰γR

f(z) dz = 2πi Res(f, iπ) = −2πieaπi ,

vgl. Aufgabe (7.1) zur Berechnung des Residuums. Es sei

IR =

ˆ R

−Rf(z) dz .

Dann liefert das Integral über die Oberseite des Rechtecks

−e2πiaIR .

Bezeichnet AR die rechte Seite des Rechtecks, so erhält man∣∣∣∣ˆAR

f(z) dz∣∣∣∣ ≤ Ce (a−1)R → 0 für n→∞ .

Analog zeigt man, dass das Integral über die linke Seite des Rechtecks für R→∞ gegenNull ergibt, indem man es durch Ce−aR nach oben abschätzt. Es sei I := limR→∞ IR dasinteressierende Integral. Dann erhalten wir insgesamt

I − e2πiaI = −2πieaπi

und somit

I =2πi

eπia − e−πia =π

sinπa.

7.3 Singularitäten und meromorphe Funktionen

Es sei Ω ⊂ C offen, z0 ∈ Ω und f : Ω \ z0 → C holomorph. Kann f in z0 so definiertwerden, dass f in ganz Ω holomorph ist, so nennt man z0 eine hebbare Singularitätvon f .

Satz 7.10 (Riemannscher Hebbarkeitssatz)Es sei Ω ⊂ C offen, z0 ∈ Ω und f : Ω \ z0 → C holomorph. Ist f in einer punktiertenUmgebung von z0 beschränkt, so ist z0 eine hebbare Singularität.

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110 7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus

Beweis. Wir betrachten eine offene Kreisscheibe D mit Mittelpunkt z0 , deren Abschlussin Ω liegt. Es bezeichne C den positiv orientierten Rand von D . Wir werden zeigen, dassunter den Annahmen des Satzes

f(z) =1

2πi

‰C

f(ξ)

ξ − zdξ für alle z ∈ D \ z0 . (7.1)

Nach Satz 6.20 definiert die rechte Seite von (7.1) eine in ganz D holomorphe Funktion,welche mit f(z) für z 6= z0 übereinstimmt und sie ist somit die gesuchte Fortsetzung.Um (7.1) zu zeigen, fixieren wir z ∈ D \z0 und betrachten ein mehrfaches SchlüsselochΓδ,ε , welches die Punkte z und z0 ausnimmt. Lassen wir die Breite δ der Korridore gegenNull gehen, so erhalten wir

‰C

f(ξ)

ξ − zdξ =

‰γε

f(ξ)

ξ − zdξ +

‰γ′ε

f(ξ)

ξ − zdξ ,

wobei γε bzw. γ′ε den positiv orientierten Kreis mit Radius ε um z bzw. z0 bezeichnet.Durch Verwendung des entsprechenden Argumentes aus dem Beweis der CauchyschenIntegralformel folgt

‰γε

f(ξ)

ξ − zdξ = 2πif(z) .

Aufgrund der Beschränktheit von f gibt es ein C > 0 , sodass∣∣∣∣∣‰γ′ε

f(ξ)

ξ − zdξ

∣∣∣∣∣ ≤ Cεfür hinreichend kleines ε . Damit folgt die Aussage für ε→ 0 .

Korollar 7.11 (Charakterisierung von Polstellen)Es sei z0 eine isolierte Singularität von f . Dann ist z0 genau dann eine Polstelle von f ,wenn |f(z)| → ∞ für z → z0 .

Beweis. „⇒“: Wenn f einen Pol in z0 hat, dann besitzt 1/f eine Nullstelle in z0 unddaher gilt |f(z)| → ∞ für z → z0 .

„⇐“: Angenommen, es gilt |f(z)| → ∞ für z → z0 . Dann ist 1/f in der Nähe von z0

beschränkt, da 1/|f(z)| → 0 für z → z0 . Somit hat 1/f nach dem RiemannschenHebbarkeitssatz eine hebbare Singularität in z0 und folglich ist z0 eine Polstelle vonf .

Isolierte Singularitäten lassen sich in die folgenden drei Kategorien einteilen:

. Hebbare Singularitäten (f ist in der Nähe von z0 beschränkt)

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7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus 111

. Pole (|f(z)| → ∞ für z → z0)

. Wesentliche Singularitäten

Jede isolierte Singularität, welche weder hebbar ist noch eine Polstelle, nennt man we-sentliche Singularität. Beispielsweise hat die Funktion[

z 7→ e1/z]

eine wesentliche Singularität im Nullpunkt.

Satz 7.12 (Casorati2-Weierstraß)Es seien r > 0 und z0 ∈ C sowie f in Br(z0) holomorph und z0 eine wesentliche Singu-larität von f . Dann ist das Bild von Br(z0) unter f dicht in C .

Beweis. Wir beweisen die Aussage durch Widerspruch. Angenommen, das Bild vonBr(z0) unter f wäre nicht dicht in C . Dann existieren w ∈ C und δ > 0 , sodass

|f(z)− w| ≥ δ für alle z ∈ Br(z0) .

Wir definieren nun eine weitere Funktion

g : Br(z0)→ C : z 7→ 1

f(z)− w,

welche holomorph ist und durch 1/δ beschränkt. Nach dem Riemannschen Hebbar-keitssatz hat somit g eine hebbare Singularität in z0 . Wenn g(z0) 6= 0 , dann ist[z 7→ f(z)− w] holomorph, was im Widerspruch zur Annahme steht, dass z0 eine we-sentliche Singularität von f ist. Für g(z0) = 0 erhalten wir ebenfalls einen Widerspruch,da dann z0 ein Pol von [z 7→ f(z)− w] wäre.

Wir wenden uns nun Funktionen zu, deren einzige isolierte Singularitäten Polstellen sind.Es sei Ω ⊂ C offen. Man nennt die Funktion f meromorph in Ω , wenn eine Folgezn∞n=1 ∈ ΩN ohne Häufungspunkt in Ω existiert, sodass f in Ω\z1, z2, . . . holomorphist und z1, z2, . . . Polstellen von f sind.

Wir wollen nun das Verhalten meromorpher Funktionen im Unendlichen beschreiben. Esexistiere einR > 0 , sodass f für in C\BR(0) holomorph ist. Dann ist [z 7→ F (z) := f(1/z)]in einer punktierten Umgebung des Ursprungs holomorph. Die Funktion f hat einenPol im Unendlichen, wenn F einen Pol im Ursprung hat. Analog definiert man einehebbare Singularität im Unendlichen und eine wesentliche Singularität im Un-endlichen. Eine meromorphe Funktion, welche entweder holomorph im Unendlichen istoder einen Pol im Unendlichen besitzt, nennt man meromorph in der erweitertenkomplexen Ebene.

2Felice Casorati, 1835–1890, italienischer Mathematiker

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112 7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus

Satz 7.13 (Charakterisierung meromorpher Funktionen in C ∪ ∞)Die meromorphen Funktionen in der erweiterten komplexen Ebene sind die rationalenFunktionen.

Beweis. Es sei f meromorph in der erweiterten komplexen Ebene. Dann hat

[z 7→ F (z) := f(1/z)]

entweder einen Pol oder eine hebbare Singularität in Null und in beiden Fällen ist Fholomorph in einer punktierten Umgebung von 0 . Daher hat f nur endlich viele Polez1, . . . , zn . Die Idee besteht nun darin, von f die Hauptteile in all diesen Polen undjenem im Unendlichen zu subtrahieren. Für k = 1, . . . , n und z in der Nähe des Polszk ∈ C ist

f(z) = fk(z) + gk(z) ,

wobei fk den Hauptteil und gk den Nebenteil von f in zk bezeichnet. Insbesondere ist fkein Polynom in 1/(z − zk) . Außerdem gilt in einer Umgebung des Ursprungs

F (z) = f∞(z) + g∞(z) ,

wobei f∞ den Hauptteil und g∞ den Nebenteil von F in 0 bezeichnet. Man beachtewiederum, dass f∞ ein Polynom in 1/z ist. Des Weiteren sei f∞(z) := f∞(1/z) . Dannist die Funktion

H := f − f∞ −n∑k=1

fk

ganz und beschränkt. Nach dem Satz von Liouville ist H konstant und aus derDefinition von H erkennen wir, dass es sich bei f um eine rationale Funktion handelt.

Man beachte, dass folglich eine rationale Funktion durch Vorgabe ihrer Pole und Null-stellen mit Vielfachheiten bis auf eine multiplikative Konstante eindeutig gegeben ist.

7.3.1 Die Riemannsche Zahlenkugel

Wir kommen nun zur geometrischen Interpretation der erweiterten komplexen EbeneC∪∞ . Dazu betrachten wir den euklidischen Raum R3 mit den Koordinaten (X,Y, Z) ,wobei wir die XY -Ebene mit C identifizieren. Es sei

S :=

(X,Y, Z) ∈ R3 : ‖(X,Y, Z)− (0, 0, 1/2)‖2 = 1/2

und

N := (0, 0, 1)

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7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus 113

der Nordpol der Sphäre S .

Für einen Punkt W := (X,Y, Z) ∈ S \ N schneidet die Gerade durch N und W dieXY -Ebene in genau einem Punkt, den wir mit w = x + iy bezeichnen. Den Punkt wnennt man die stereographische Projektion vonW . Für w ∈ C schneidet andererseitsdie Gerade durch N und w die Sphäre in N und einem weiteren Punkt W . Durch diesegeometrische Konstruktion werden Punkte der punktierten Sphäre S \ N bijektiv aufPunkte in der komplexen Ebene C abgebildet. Genauer gilt

x =X

1− Zund y =

Y

1− Z(7.2)

einerseits,

X =x

x2 + y2 + 1Y =

y

x2 + y2 + 1und Z =

x2 + y2

x2 + y2 + 1(7.3)

andererseits, vgl. Aufgabe (7.9). Anschaulich gesprochen haben wir die komplexe Ebeneum S \ N gewickelt.

Für |w| → ∞ in C erhalten wir als entsprechenden Punkt auf der Sphäre S den NordpolN . Daher kann N als „Punkt im Unendlichen“ interpretiert werden. Somit lässt sich dieerweiterte komplexe Ebene C ∪ ∞ mittels der Sphäre S , welche auch die Riemann-sche Zahlenkugel genannt wird, veranschaulichen. Da mittels dieser Konstruktion dieunbeschränkte Menge C durch Hinzunahme eines einzelnen Punktes in die kompakteMenge S übergeht, nennt man die Riemannsche Zahlenkugel auch die Einpunktkom-paktifizierung von C . Dieses Konzept werden wir in Analysis 4 in einem deutlichbreiteren Kontext kennenlernen.

Man beachte, dass der Punkt ∞ in der erweiterten komplexen Ebene auf der Sphäreeinem Punkt wie jedem anderen entspricht.

7.4 Argumentprinzip

Die Funktion [z 7→ log f(z)] kann auf der durch f(z) 6= 0 definierten Menge nicht ineindeutiger Weise definiert werden. Man definiert diese durch

log f(z) = log |f(z)|+ i arg f(z) ,

wobei log |f(z)| den reellen Logarithmus von |f(z)| 6= 0 bezeichnet und arg f(z) nur bisauf ganzzahlige Vielfache von 2π eindeutig bestimmt ist. Ist f holomorph, so ist jedochin jedem Fall

ddz

log f(z) =f ′(z)

f(z)

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114 7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus

und man nennt die rechte Seite die logarithmische Ableitung von f .

Wie wir später sehen werden, gilt

log(f1f2) = log f1 + log f2

im Allgemeinen nicht. Jedoch gilt für die logarithmische Ableitung

(f1f2)′

f1f2=f ′1f2 + f1f

′2

f1f2=f ′1f1

+f ′2f2

und allgemeiner

(∏nk=1 fk)

′∏nk=1 fk

=

n∑k=1

f ′kfk.

Für eine holomorphe Funktion f mit einer n-fachen Nullstelle in z0 ist

f(z) = (z − z0)ng(z)

in einer Umgebung von z0 , wobei die Funktion g in dieser Umgebung holomorph ist undnicht verschwindet. Folglich ist

f ′(z)

f(z)=

n

z − z0+G(z)

mit G(z) := g′(z)/g(z) und daher hat die logarithmische Ableitung f ′/f einen einfachenPol in z0 mit Residuum n . Analog erhält man die Darstellung

f ′(z)

f(z)=−nz − z0

+H(z) ,

wobei H in einer Umgebung von z0 holomorph ist und nicht verschwindet, für den Fall,dass z0 eine Polstelle der Ordnung n von f ist.

Für eine meromorphe Funktion f hat die logarithmische Ableitung f ′/f also einfachePole in den Null- und Polstellen von f und die Residuen sind gerade die Multiplizitätender Nullstellen bzw. die negativen Multiplizitäten der Polstellen.

Satz 7.14 (Argumentprinzip)Es sei f meromorph in einer offenen Menge, welche den Kreis C und sein Inneres enthält.Mit N bezeichnen wir die Anzahl der Nullstellen von f und mit P die Anzahl der Pol-stellen von f im Inneren von C , wobei diese mit ihren Multiplizitäten gezählt werden .Hat f keine Null- und Polstellen auf C , so ist

1

2πi

‰C

f ′(z)

f(z)dz = N − P . (Null- und Polstellen zählendes Integral)

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7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus 115

Beweis. Die Aussage folgt aus den Überlegungen, welche bereits vor dem Satz formuliertwurden.

Korollar 7.15 (Argumentprinzip für Spielzeugkurven)Satz 7.14 lässt sich direkt auf Spielzeugkurven übertragen.

Satz 7.16 (Satz von Rouché3)Es seien f und g in einer offenen Menge holomorph, welche den Kreis C und sein Inneresenthält. Ist

|f(z)| > |g(z)| für alle z ∈ C ,

so haben f und f + g dieselbe Anzahl an Nullstellen im Inneren von C .

Beweis. Für t ∈ [0, 1] setzen wir

ft := f + tg .

Des Weiteren sei ηt die Anzahl der Nullstellen von ft im Inneren von C mit Vielfachheitengezählt. Also ist ηt eine natürlich Zahl. Die Bedingung |f(z)| > |g(z)| für z ∈ C stelltsicher, dass ft keine Nullstellen auf C hat. Daher folgt aus dem Argumentprinzip

ηt =1

2πi

‰C

f ′t(z)

ft(z)dz .

Um zu zeigen, dass ηt konstant ist, genügt es zu zeigen, dass ηt stetig ist. Die Stetigkeitvon ηt folgt aus der Stetigkeit der Abbildung

[0, 1]× C → C : (t, z) 7→ f ′t(z)

ft(z).

Somit ist insbesondere η0 = η1 .

Eine Abbildung heißt offen, wenn sie offene Mengen auf offene Mengen abbildet.

Satz 7.17 (Satz von der offenen Abbildung)Es sei Ω ⊂ C ein Gebiet und f : Ω→ C holomorph und nicht konstant. Dann ist f offen.

Beweis. Für z0 ∈ Ω setze w0 := f(z0) . Wir müssen zeigen, dass alle Punkte w inder Nähe von w0 ebenfalls im Bild von f liegen. Dazu definieren wir die Funktion[z 7→ g(z) := f(z)− w] und schreiben

g(z) = (f(z)− w0) + (w0 − w) = F (z) +G(z) ,

3Eugène Rouché , 1832–1910, französischer Mathematiker

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116 7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus

wobei F (z) := f(z)−w0 und G(z) := w0−w . Nun wählen wir δ > 0 so, dass Bδ(z0) ⊂ Ωund f(z) 6= w0 für alle z ∈ ∂Bδ(z0) . Weiters wählen wir ε > 0 mit |f(z)− w0| ≥ ε fürz ∈ ∂Bδ(z0) . Für |w − w0| < ε gilt somit |F (z)| > |G(z)| für z ∈ ∂Bδ(z0) und aus demSatz von Rouché folgt, dass g = F +G eine Nullstelle in Bδ(z0) hat, da dies auch fürF der Fall ist.

Spricht man vom Maximum einer holomorphen Funktion f in Ω , so ist damit dasMaximum des Betrags |f | in Ω gemeint.

Satz 7.18 (Starkes Maximumprinzip)Ist f im Gebiet Ω holomorph und nicht konstant, so wird das Maximum von f nicht inΩ angenommen.

Beweis. Angenommen, das Maximum von f würde in z0 ∈ Ω angenommen. Da f holo-morph ist und somit offen, wird eine offene Kreisscheibe D ⊂ Ω mit Mittelpunkt z0 aufeine offene Menge f(D) abgebildet, welche f(z0) enthält. Dies zeigt, dass Punkte z ∈ Dexistieren, sodass |f(z)| > |f(z0)| , was im Widerspruch zur Annahme steht.

Korollar 7.19 (Schwaches Maximumprinzip)Es sei Ω ein beschränktes Gebiet. Ist f holomorph in Ω und stetig auf Ω, dann gilt

supz∈Ω|f(z)| = max

z∈∂Ω|f(z)| .

Beweis. Da f stetig auf Ω ist, wird das Maximum von |f | in Ω angenommen. Die Aussagefolgt nun direkt aus dem starken Maximumprizip.

7.5 Homotopien und einfach zusammenhängende Ge-biete

Wir werden nun den Cauchyschen Integralsatz auf eine größere Klasse von Gebie-ten erweitern und den Grundstein für die Definition des Logarithmus legen.

Es seien C0 und C1 zwei Kurven in einer offenen Menge Ω , deren Endpunkte überein-stimmen. Für die Parametrisierungen γ0, γ1 : [a, b]→ C von C0 und C1 ist also

γ0(a) = γ1(a) = α und γ0(b) = γ1(b) = β .

Die beiden Kurven C0 und C1 heißen homotop in Ω , wenn für alle s ∈ [0, 1] ein Wegγs : [a, b]→ Ω existiert, sodass

γs(a) = α und γs(b) = β

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7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus 117

für alle s ∈ [0, 1] ,

γs(t)|s=0 = γ0(t) und γs(t)|s=1 = γ1(t)

für alle t ∈ [a, b] und

[(s, t) 7→ γs(t)]

stetig auf [0, 1]× [a, b] ist.

Anschaulich gesprochen sind zwei Kurven homotop in Ω , wenn sie sich stetig ineinanderüberführen lassen ohne dabei Ω zu verlassen.

Satz 7.20 (Invarianz des Kurvenintegrals unter Homotopie)Ist f holomorph in der offenen Menge Ω ⊂ C und sind C0 und C1 in Ω homotope Kurven,so gilt

ˆC0

f(z) dz =

ˆC1

f(z) dz .

Beweis. Per definitionem ist [(s, t) 7→ F (s, t) := γs(t)] stetig auf [0, 1]× [a, b] . Insbeson-dere ist K := F ([0, 1]× [a, b]) ⊂ Ω kompakt und daher existiert ein ε > 0 derart, dass

B3ε(z) ⊂ Ω für alle z ∈ K .

Durch Verwendung der gleichmäßigen Stetigkeit von F können wir ein δ > 0 finden,sodass

supt∈[a,b]

|γs1(t)− γs2(t)| < ε für |s1 − s2| < δ .

Nun fixieren wir s1, s2 ∈ [0, 1] mit |s1 − s2| < δ und wählen Kreisscheiben D0, . . . , Dn

mit Radius 2ε und aufeinanderfolgende Punkte z0, . . . , zn+1 auf γs1 und w0, . . . , wn+1 aufγs2 , sodass die Vereinigung dieser Kreisscheiben beide Kurven überdeckt und

zi, zi+1, wi, wi+1 ∈ Di für i = 0, . . . , n .

Weiters setzen wir z0 := w0 := α und zn+1 := wn+1 := β , wobei α den Anfangspunktund β den Endpunkt von C0 bzw. C1 bezeichnet. Es bezeichne Fi eine Stammfunktionvon f in Di . Auf dem Schnitt von Di und Di+1 sind Fi und Fi+1 Stammfunktionenderselben Funktion und sie unterscheiden sich somit nur um eine Konstante ci . Folglichist

Fi+1(zi+1)− Fi(zi+1) = Fi+1(wi+1)− Fi(wi+1)

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118 7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus

und somit

Fi+1(zi+1)− Fi+1(wi+1) = Fi(zi)− Fi(wi+1) .

Dies impliziertˆγs1

f(z) dz −ˆγs2

f(z) dz =n∑i=0

[Fi(zi+1)− Fi(zi)]−n∑i=0

[Fi(wi+1)− Fi(wi)] =

=Fn(zn+1)− Fn(wn+1)− (F0(z0)− F0(w0)) = 0

und daher ist ˆγs1

f(z) dz =

ˆγs2

f(z) dz .

Durch Unterteilung des Intervalls [0, 1] in Teilintervalle [si, si+1] , deren Länge kleiner alsδ ist, führt das obige Argument von γ0 nach γ1 und der Satz ist bewiesen.

Ein Gebiet Ω ⊂ C heißt einfach zusammenhängend, wenn je zwei Kurven in Ω mitdenselben Endpunkten homotop in Ω sind.

Beispiel 7.21 (Beispiele einfach zusammenhängender Gebiete)Wir wollen nun einige Beispiele von einfach zusammenhängenden Mengen und ein typi-sches Beispiel einer nicht zusammenhängenden Menge besprechen.

(1) Jede offene Kreisscheibe D ist einfach zusammenhängend, denn für zwei Wegeγ0, γ1 : [a, b]→ D können wir

γs := (1− s)γ0 + sγ1

wählen. Analog zeigt man man, dass jede konvexe offene Menge einfach zusammen-hängend ist, vgl. Aufgabe (7.15).

(2) Die geschlitzte Ebene C \ (−∞, 0] ist einfach zusammenhängend, vgl. Aufgabe(7.15).

(3) Investiert man etwas Arbeit, so kann man zeigen, dass das Innere einer Spielzeug-kurve einfach zusammenhängend ist.

(4) Die punktierte Ebene C\0 ist nicht einfach zusammenhängend. Dies wird direktaus Korollar 7.23 folgen.

Satz 7.22 (Existenz einer Stammfunktion in einfach zushg. Gebieten)Eine in einer einfach zusammenhängenden Menge holomorphe Funktion besitzt eineStammfunktion.

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7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus 119

Beweis. Wir fixieren einen Punkt z0 ∈ Ω und definieren

F (z) :=

ˆCf(w) dw ,

wobei C ⊂ Ω eine Kurve bezeichnet, welche z0 und z ∈ Ω verbindet. Die Definition vonF hängt nicht von der gewählten Kurve C ab, da Ω einfach zusammenhängend ist. Wirschreiben

F (z + h)− F (z) =

ˆηf(w) dw ,

wobei η die Strecke von z nach z + h bezeichnet für betragsmäßig kleines h bezeichnet.Argumentiert man nun wie im Beweis von Satz 6.3, so folgt

limh→0

F (z + h)− F (z)

h= f(z) .

Korollar 7.23 (Cauchyscher Integralsatz in einfach zushg. Gebieten)Ist f holomorph im einfach zusammenhängenden Gebiet Ω , so gilt

˛Cf(z) dz = 0

für alle geschlossenen Kurven C ⊂ Ω .

Beweis. Dies folgt direkt aus der Existenz einer Stammfunktion.

7.6 Der komplexe Logarithmus

Für eine komplexe Zahl z = re iϕ 6= 0 in Polardarstellung definiert man den komplexenLogarithmus in natürlicher Weise als Inverse der Exponentialfunktion und somit durch

log z = log r + iϕ ,

wobei log r den Logarithmus naturalis von r > 0 bezeichnet. Das Problem bei dieserDefinition ist, dass ϕ nur bis auf ganzzahlige Vielfache von 2π eindeutig bestimmt ist.Nichtsdestotrotz können wir zu gegebenem z eine eindeutige Wahl des Arguments ϕ tref-fen und wenn wir z nur etwas variieren, legt dies ϕ fest. Lokal können wir den Logarithmusalso in eindeutiger Weise definieren, jedoch ist dies global nicht möglich. Daher muss derDefinitionsbereich des Logarithmus eingeschränkt werden, die resultierende Einschrän-kung nennt man Zweig.

Satz 7.24 (Existenz des Logarithmus)Es sei Ω ⊂ C einfach zusammenhängend, 1 ∈ Ω und 0 /∈ Ω . Dann gibt es in Ω einenZweig F := logΩ : Ω→ C des Logarithmus, sodass

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120 7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus

(1) F holomorph in Ω ist,

(2) eF (z) = z für alle z ∈ Ω ,

(3) F (r) = log r für alle reellen Zahlen r in der Nähe von 1 .

Mit anderen Worten ist jeder Zweig logΩ eine Fortsetzung des „gewöhnlichen“ Logarith-mus.

Beweis. Wir werden F als Stammfunktion von [z 7→ f(z) := 1/z] konstruieren. Da 0 /∈ Ω ,ist f holomorph in Ω und daher definieren wir

logΩ(z) := F (z) :=

ˆCf(w) dw ,

wobei C eine Kurve in Ω bezeichnet, welche 1 und z verbindet. Da Ω einfach zusammen-hängend ist, hängt die Definition von F nicht von C ab. Wie im Beweis von Satz 7.22zeigt man, dass F holomorph ist und F ′(z) = 1/z für alle z ∈ Ω . Dies liefert (1) .

Um (2) zu beweisen, genügt es ze−F (z) = 1 für alle z ∈ Ω zu zeigen. Da Ω zusammen-hängend ist und

ddz

(ze−F (z)

)=(1− zF ′(z)

)e−F (z) = 0 ,

ist ze−F (z) konstant. Werten wir diese Funktion in z = 1 aus, erhalten wir die gewünschteAussage.

Für r ∈ R nahe bei 1 können wir als Kurve die auf der reellen Achse gelegene Streckevon 1 nach r verwenden. Dies führt auf

F (r) =

ˆ r

1

dxx

= log r

und somit ist der Beweis vollendet.

Für die geschlitzte Ebene Ω = C\(−∞, 0] erhält man denHauptzweig des Logarithmus

log z = log r + iϕ ,

wobei z = re iϕ mit r > 0 und |ϕ| < π . Wir integrieren über die Kurve, welche ausder Strecke von 1 nach r und dem Kreisbogen η , welcher von r nach z = re iϕ verläuft,besteht und erhalten

log z =

ˆ r

1

dxx

+

ˆη

dww

=

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7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus 121

= log r +

ˆ ϕ

0

ire i t

re i t dt =

= log r + iϕ .

Eine wichtige Beobachtung ist, dass im Allgemeinen

log(z1z2) 6= log z1 + log z2 .

Beispielsweise erhalten wir für z1 = e2πi/3 = z2 und den Hauptzweig des Logarithmus

log z1 + log z2 = 2 log e2πi/3 =4πi36= log(z1z2) = log e−2πi/3 =

−2πi3

.

Der Hauptzweig des Logarithmus besitzt außerdem die Reihenentwicklung

log(1 + z) = −∞∑n=1

(−1)nzn

nfür |z| < 1 .

Dass die Ableitung beider Seiten 1/(1 + z) ist und sie den Wert 0 in z = 0 haben, zeigtdie obige Darstellung.

Weiters sind wir nun in der Lage beliebige Potenzen einzuführen. Für den Hauptzweigdes Logarithmus und α ∈ C definieren wir

zα := eα log z .

Beachte, dass 1α = 1 und

(z1/n

)n=

n∏k=1

e1n

log z = e∑nk=1

1n

log z = e log z = z .

Wie wir bereits wissen, kann jede komplexe Zahl w ∈ C \ 0 als w = ez geschriebenwerden. Eine Verallgemeinerung dieser Tatsache liefert der folgende Satz.

Satz 7.25 (Polardarstellung holomorpher Funktionen)Ist f eine nicht verschwindende holomorphe Funktion im einfach zusammenhängendenGebiet Ω , dann existiert eine holomorphe Funktion g in Ω , sodass

f(z) = eg(z) für alle z ∈ Ω .

Die Funktion g kann mit log f bezeichnet werden und sie legt einen „Zweig“ des Loga-rithmus fest.

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122 7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus

Beweis. Es sei z0 ∈ Ω fest und

g(z) :=

ˆC

f ′(w)

f(w)dw + c0 ,

wobei C eine Kurve in Ω bezeichnet, welche z0 und z ∈ Ω verbindet, und c0 eine kom-plexe Zahl mit ec0 = f(z0) . Die Definition von g ist unabhängig von C , da Ω einfachzusammenhängend ist. Argumentieren wir wie im Beweis von Satz 6.3, so folgt, dass gholomorph ist und

g′ =f ′

f∈ in Ω .

Eine einfache Rechnung ergibt

ddz

(f(z)e−g(z)

)= 0

und somit ist fe−g konstant. Da

f(z)e−g(z)∣∣∣z=z0

= f(z0)e−c0 = 1 ,

ist f(z) = eg(z) für alle z ∈ Ω .

7.7 Laurent-Entwicklung

Für 0 < r < R und z0 ∈ C betrachten wir den Kreisring

Br,R(z0) := z ∈ C : r < |z − z0| < R .

Satz 7.26 (Laurent-Entwicklung in Kreisringen)Es sei Ω ⊂ C offen mit Br,R(z0) ⊂ Ω und f : Ω→ C holomorph. Dann gilt

f(z) =

∞∑n=−∞

an(z − z0)n für alle z ∈ Br,R(z0) , (Laurent-Reihe)

wobei die Reihe absolut konvergiert und

an =1

2πi

˛C

f(ξ)

(ξ − z0)n+1dξ für n ∈ Z

und einen positiv orientierten Kreis C mit Mittelpunkt z0 und Radius in [r,R] .

Beweis. Man schreibt

f(z) =1

2πi

ˆ∂BR(z0)

f(ξ)

ξ − zdξ − 1

2πi

ˆ∂Br(z0)

f(ξ)

ξ − zdξ

für r < |z − z0| < R und argumentiert wie im Beweis von Satz 6.12.

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7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus 123

Aufgaben

(7.1) Es seien f und g in einer Umgebung von z0 holomorph. Des Weiteren habe g in z0

eine einfache Nullstelle. Zeigen Sie, dass

Res(f/g, z0) =f(z0)

g′(z0).

(7.2) Verwenden Sie die Eulersche Formel

sinπz =e iπz − e−iπz

2i, z ∈ C ,

um zu zeigen, dass Z die Nullstellenmenge von [z 7→ sinπz] ist und alle diese Null-stellen Ordnung 1 haben. Berechnen Sie weiters das Residuum von [z 7→ 1/ sinπz]in z = n ∈ Z .

(7.3) Berechnen Sie das Integral ˆ ∞−∞

dx1 + x4

.

(7.4) Zeigen Sie für a > 0 , dass ˆ ∞−∞

cosx

x2 + a2dx =

π

ae−a .

(7.5) Zeigen Sie für a > 0 , dass ˆ ∞−∞

x sinx

x2 + a2dx = πe−a .

(7.6) Zeigen Sie für n ∈ N , dassˆ ∞−∞

dx(1 + x2)n+1

=1 · 3 · . . . · (2n− 1)

2 · 4 · . . . · 2n· π =

(2n− 1)!!

(2n)!!π .

(7.7) Es sei u ∈ C \Z . Zeigen Sie, dass∞∑

n=−∞

1

(u+ n)2=

π2

(sinπu)2

durch Integration von [z 7→ f(z) :=

π cotπz

(u+ z)2

]entlang des Kreises mit Mittelpunkt im Ursprung und Radius RN := N + 1/2 ,wobei N ∈ N mit N ≥ |u| .

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124 7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus

(7.8) Zeigen Sie für alle ganzen und injektiven Funktionen f , dass f(z) = az+ b für allez ∈ C , wobei a, b ∈ C mit a 6= 0 .Hinweis: Wenden Sie den Satz von Casorati-Weierstraß auf [z 7→ f(1/z)]an.

(7.9) Zeigen Sie die Formeln (7.2) und (7.3).

(7.10) Zeigen Sie das Maximumprinzip für harmonische Funktionen.

(a) Ist u eine nicht konstante reellwertige harmonische Funktion in einem GebietΩ, so wird das Maximum (und Minimum) von u nicht in Ω angenommen.

(b) Es sei Ω ein beschränktes Gebiet. Ist u harmonisch in Ω und stetig auf Ω ,dann gilt

supz∈Ω|u(z)| = max

z∈∂Ω|u(z)| .

Hinweis: Um den ersten Teil zu zeigen, nehmen Sie an, dass u ein lokales Maximumin z0 ∈ Ω hat. Wählen Sie dann eine holomorphe Funktion f in einer Umgebungvon z0 mit u = Re f und zeigen Sie, dass f nicht offen ist.

(7.11) Es seien r > 0 und z0 ∈ C sowie f in Br(z0) holomorph und

|f(z)| ≤ A|z − z0|−1+ε

für ein A > 0, ein ε > 0 und alle z nahe bei z0 . Zeigen Sie, dass die Singularitätvon f in z0 hebbar ist.

(7.12) Es seien f und g in einem Gebiet holomorph, welches die KreisscheibeB1(0) enthält.Angenommen, f hat eine einfache Nullstelle in z = 0 und verschwindet in keinemweiteren Punkt in B1(0) . Setzen Sie

fε := f + εg

und zeigen Sie für hinreichend kleines ε > 0 , dass

(a) fε eine einzige Nullstelle in B1(0) hat,

(b) die Abbildung [ε 7→ zε] stetig ist, wobei zε die Nullstelle von fε in B1(0) be-zeichnet.

(7.13) Stetigkeit der Inversen: Es sei Ω ⊂ C ein Gebiet und die holomorphe Funktionf : Ω→ C injektiv. Zeigen Sie, dass die Inverse f−1 : f(Ω)→ Ω stetig ist.

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7 Meromorphe Funktionen und der Logarithmus 125

(7.14) Beweisen Sie die Cauchysche Integralformel

f(z) =1

2πi

‰C

f(ξ)

ξ − zdξ

mittels der Homotopie von Kurven, wobei C einen positiv orientierten Kreis be-zeichnet.

Hinweis: Verformen Sie den Kreis C zu einem kleinen Kreis um z und beachtenSie, dass (f(ξ)− f(z)) /(ξ − z) beschränkt ist.

(7.15) Gewisse Mengen besitzen geometrische Eigenschaften, welche sicherstellen, dassdiese einfach zusammenhängend sind.

(a) Eine Menge Ω ⊂ C heißt konvex, wenn zu je zwei Punkten in Ω auch dieVerbindungsstrecke in Ω liegt. Zeigen Sie, dass konvexe offene Mengen einfachzusammenhängend sind.

(b) Eine Menge Ω ⊂ C nennt man sternförmig, wenn es einen Punkt z0 ∈ Ωgibt, sodass für jeden weiteren Punkt z ∈ Ω die Verbindungsstrecke zwischenz0 und z in Ω liegt. Zeigen Sie, dass sternförmige offene Mengen einfach zusam-menhängend sind. Schließen Sie daraus, dass die geschlitzte Ebene C\(−∞, 0]einfach zusammenhängend ist.

(7.16) Zeigen Sie, dassˆ 1

0log(sinπx) dx = − log 2 .

Hinweis: Verwenden Sie jene Kurve, welche zuerst auf der imaginären Achse vonoben nach 0 verläuft, anschließend geradlinig von 0 nach 1 auf der reellen Achseund schließlich von 1 vertikal nach oben.

(7.17) Zeigen Sie für a > 0 , dassˆ ∞

0

log x

x2 + a2dx =

π

2alog a .

Hinweis: Verwenden Sie die Spielzeugkurve aus Beispiel 6.7.

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Kapitel 8

Konforme Abbildungen

8.1 Das Dirichlet-Problem

Auf einer offenen Menge Ω ⊂ C betrachten wir für eine vorgegebene reellwertige Funktionf ∈ C(∂Ω;R) das Dirichlet-Problem der Laplace-Gleichung[

∆u = 0 in Ω ,

u|∂Ω = f .(DP)

Als Lösung bezeichnen wir eine Funktion u ∈ C2(Ω)∩C(Ω), welche (DP) erfüllt. Im Fall

der Einheitskreisscheibe Ω = B1(0) ist eine Lösung durch die Poissonsche Integral-formel

u(z) =1

ˆ 2π

0Pr(ϑ− ϕ)f

(e iϕ) dϕ

gegeben, wobei z = re iϑ und Pr den Poisson-Kern für den Einheitskreis bezeichnet,vgl. Aufgabe (6.9). Die Lösung ist außerdem eindeutig, denn wäre v eine weitere Lösung,so wäre nach dem Maximumprinzip für harmonische Funktionen, vgl. Aufgabe (7.10),

supz∈B1(0)

|u(z)− v(z)| = maxz∈∂B1(0)

|u(z)− v(z)| = maxz∈∂B1(0)

|f(z)− f(z)| = 0

und somit u = v .

Wir stellen uns nun die Frage, in welchen Fällen sich das Dirichlet-Problem auf eineroffenen Menge Ω ⊂ C auf jenes der Einheitskreisscheibe zurückführen lässt. Ein ersterSchritt zur Beantwortung dieser Fragestellung ist der nachfolgende Satz.

Satz 8.1 (Komposition harmonischer mit holomorphen Funktionen)Es seien V,U ⊂ C offen und F : V → U holomorph. Ist u : U → C harmonisch, so auchu F .

Beweis. O.B. d.A. sei U eine offene Kreisscheibe. Weiters seiG : U → C eine holomorpheFunktion mit ReG = u , vgl. Aufgabe (6.9), und H := G F . Dann ist u F der Realteilder holomorphen Funktion H und somit harmonisch.

127

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128 8 Konforme Abbildungen

Es sei nun eine Funktion f ∈ C(∂Ω;R) gegeben, D := B1(0) und F : Ω → D bijektivund holomorph . Weiters nehmen wir an, dass F sich zu einem Homöomorphismus von∂Ω nach ∂D fortsetzen lässt. Die Lösung des Dirichlet-Problems[

∆u = 0 in D ,u|∂D = f := f F−1 ,

ist dann wiederum durch die Poissonsche Integralformel gegeben. Wie wir inSatz 8.3 zeigen werden, ist F−1 ebenfalls holomorph. Setzen wir daher u := u F ,so ist nach Satz 8.1

∆u = 0 in Ω

und für z ∈ ∂Ω ist F (z) ∈ ∂D und somit

u(z) = (u F ) (z) =(f F

)(z) =

(f F−1 F

)(z) = f(z) .

Folglich ist u eine Lösung des Dirichlet-Problems auf Ω .

Diese Beobachtungen werfen die folgenden zwei Fragen auf:

. Wann existiert eine holomorphe und bijektive Abbildung F : Ω→ D ?

. Existiert eine solche Abbildung, kann diese zu einem Homöomorphismus zwischenden Rändern fortgesetzt werden?

Die Antwort auf die erste Frage liefert der Riemannsche Abbildungssatz, welchenwir in Abschnitt 8.5 beweisen werden.

Eine holomorphe und bijektive Abbildung nennt man konform oder biholomorph.

Satz 8.2 (Riemannscher Abbildungssatz)Es sei Ω eine echte Teilmenge von C , nichtleer und einfach zusammenhängend. Zu z0 ∈ Ωexistiert eine eindeutige konforme Abbildung F : Ω→ D mit

F (z0) = 0 und F ′(z0) > 0 .

Bemerkung. Den Definitionsbereich Ω als einfach zusammenhängend vorauszusetzenist notwendig, denn D ist einfach zusammenhängend, vgl. Aufgabe (8.1). Auch die Be-dingung Ω 6= C ist notwendig. Denn wäre Ω = C , so müsste eine konforme AbbildungF : C → D nach dem Satz von Liouville konstant sein, was klarerweise der Bijekti-vität der Abbildung widerspricht. Die Voraussetzungen an Ω sind also hinreichend undnotwendig für die Existenz einer konformen Abbildung.

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8 Konforme Abbildungen 129

8.2 Grundlegendes zu konformen Abbildungen

Wir zeigen nun, dass die Inverse einer konformen Abbildung ebenfalls holomorph ist.

Satz 8.3 (Holomorphie der Inversen)Für eine holomorphe und injektive Funktion f : U → V gilt

f ′(z) 6= 0 für alle z ∈ U .

Insbesondere ist die Inverse f−1 : f(U)→ U holomorph.

Beweis. Wir beweisen die erste Aussage durch Widerspruch. Angenommen, es gibt einz0 ∈ U mit f ′(z0) = 0 . Dann ist

f(z)− f(z0) = a(z − z0)k +G(z)

für alle z in einer Umgebung von z0 und k ∈ N mit k ≥ 2 . Für hinreichend kleine wschreiben wir

f(z)− f(z0)− w = F (z) +G(z) ,

wobei F (z) := a(z − z0)k − w . Auf einem kleinen Kreis um z0 ist |G| < |F | und F hatmindestens zwei Nullstellen im Inneren dieses Kreises. Nach dem Satz von Rouché hatsomit auch [z 7→ f(z)− f(z0)− w] mindestens zwei Nullstellen im Inneren dieses Kreises.Da für alle z 6= z0 hinreichend nahe bei z0 gilt, dass f ′(z) 6= 0, sind mindestens zwei derNullstellen von [z 7→ f(z)− f(z0)− w] verschieden. Dies ist jedoch ein Widerspruch zurInjektivität von f .

Wir können annehmen, dass f(U) = V . Zu v0 ∈ V wähle v 6= v0 nahe bei v0 und setzez0 := f−1(v0) und z := f−1(v) . Dann ist

f−1(v)− f−1(v0)

v − v0=

1f(f−1(v))−f(f−1(v0))

f−1(v)−f−1(v0)

=1

f(z)−f(z0)z−z0

.

Da f ′(z0) 6= 0 , folgt durch Bildung des Grenzwertes v → v0 , dass f−1 in v0 holomorphist und wir erhalten (

f−1)′

(v0) = f ′(f−1(v0)

)−1

für die Ableitung der Inversen.

Zwei offene Teilmengen U und V von C nennt man konform äquivalent oder biholo-morph, falls eine konforme Abbildung F : U → V existiert. Nach dem RiemannschenAbbildungssatz sind U und V konform äquivalent, wenn diese nichtleer, nicht ganz C

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130 8 Konforme Abbildungen

und einfach zusammenhängend sind.

Als ein erstes Beispiel wollen wir nun die konforme Äquivalenz von D und der oberenHalbebene H := z ∈ C : Im z > 0 näher untersuchen .

Satz 8.4 (Konforme Abbildung zwischen D und H)Für z0 ∈ H ist die Abbildung

F : H→ D : z 7→ z − z0

z − z0

konform und ihre Umkehrabbildung ist

G : D→ H : w 7→ z0w − z0

w − 1.

Beweis. Offensichtlich sind F und G holomorph. Da weiters |F (z)| < 1 für alle z ∈ H ,bildet F die obere Halbebene H auf D ab. Nun untersuchen wir ImG(w) für w ∈ D underhalten

ImG(w) = Imz0w − z0

w − 1= Im

(w − 1)(z0w − z0)

|w − 1|2=

Im(|w|2z0 + z0 − z0w − z0w

)|w − 1|2

>

>Im(z0 + z0 −

(z0w + z0w

))|w − 1|2

=2 Im Re (z0 − z0w)

|w − 1|2= 0 ,

da |w|2 Im z0 > Im z0 . Also wird D von G auf H abgebildet. Schließlich ist

G (F (z)) =z0z−z0z−z0 − z0

z−z0z−z0 − 1

=z(z0 − z0)

z0 − z0= z

und dass F (G(w)) = w , kann ähnlich nachgerechnet werden.

Denken wir zurück an das Dirichlet-Problem der Laplace-Gleichung, so ist die Frage nachder Fortsetzbarkeit der Abbildung F zu einem Homöomorphismus zwischen den Rändern∂H und ∂D von Interesse.

Offensichtlich ist F in C \ z0 holomorph und somit insbesondere stetig auf ∂H . Fürx ∈ R ist außerdem |F (x)| = 1 und daher wird ∂H stetig von F auf ∂D abgebildet.Um für z0 = i das Abbildungsverhalten zwischen den Rändern genauer zu verstehen,schreiben wir

F (x) =x− ix+ i

= −1− x2

1 + x2− i

2x

1 + x2

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8 Konforme Abbildungen 131

und parametrisieren die reelle Achse mittels x = tan(t/2) , t ∈ (−π, π) . Da

sin t =2 tan t

2

1 + tan2 t2

und cos t =1− tan2 t

2

1 + tan2 t2

,

ist F (x) = −e i t . Läuft also x von −∞ nach ∞ , so läuft F (x) von 1 entlang des positivorientierten Einheitskreises zurück nach 1 . Der Punkt 1 entspricht außerdem ∞ .

Bemerkung. Für a, b, c, d ∈ C mit ad− bc 6= 0 nennt man eine Abbildung der Form[z 7→ az + b

cz + d

]Möbiustransformation oder gebrochen-lineare Funktion. Wir werden diese imnächsten Abschnitt noch genauer untersuchen.

Wir leiten nun die Poissonsche Integralformel für den Halbraum H aus jener für Dher. Es sei dazu eine reellwertige Funktion f ∈ C(∂H;R) mit existierenden Grenzwerten

limx→−∞

f(x) = limx→∞

f(x)

gegeben. Zu festem z0 ∈ H betrachten wir wiederum die Möbiustranformation[z 7→ F (z) =

z − z0

z − z0

],

welche, wie wir bereits gezeigt haben, H konform auf D abbildet. Für w ∈ ∂D setzen wirnun

f(w) :=(f F−1

)(w) ,

dann ist f ∈ C(∂D) . Somit ist die Lösung des Dirichlet-Problems auf H zum Randwertf durch

u(w) :=1

ˆ 2π

0Re

e iϕ + w

e iϕ − wf(e iϕ) dϕ , w ∈ D ,

gegeben. Einsetzen von w = F (z) , z ∈ H , liefert nun eine Lösung u des Dirichlet-Problems in der Halbebene, denn

u (F (z)) = u(z) =1

ˆ 2π

0Re

e iϕ + F (z)

e iϕ − F (z)f(e iϕ) dϕ =

[e iϕ = F (t), dϕ =

2 Im z0

|t− z0|2dt]

=

=1

π

ˆ ∞−∞

ReF (t) + F (z)

F (t)− F (z)f (F (t))︸ ︷︷ ︸

=f(t)

Im z0

|t− z0|2dt .

Für z = z0 = x+ iy erhält man schließlich

u(x, y) =y

π

ˆ ∞−∞

f(t)

(x− t)2 + y2dt .

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132 8 Konforme Abbildungen

Bemerkung. Die Lösung des Dirichlet-Problems auf H ist nicht eindeutig, denn bei-spielsweise erfüllt u gegeben durch u(x, y) := y für (x, y) ∈ H offensichtlich[

∆u = 0 in H ,u|∂H = 0 .

Eindeutigkeit erhält man, wenn man zusätzlich die Beschränktheit der Lösung fordert.

Beispiel 8.5 (Dirichlet-Problem in der Halbebene)Gegeben sei die Funktion

f : R→ R : x 7→ (1− |x|)H(1− |x|) ,

wobei H die Heaviside-Funktion bezeichnet, also

H(t) =

0 , t < 0 ,

1 , t ≥ 0 .

Eine Lösung u des Dirichlet-Problems[∆u = 0 in H ,u|∂H = f ,

ist dann durch

u(x, y) :=y

π

ˆ 1

−1

1− |t|(x− t)2 + y2

dt =1− xπ

arctan1− xy

+1 + x

yarctan

1 + x

y−

− 2x

πarctanxy − y

πlog

√((1− x)2 + y2) ((1 + x)2 + y2)

x2 + y2

gegeben.

8.3 Das Schwarzsche Lemma und die Automorphismender Einheitskreisscheibe

Ist c ∈ C mit |c| = 1 , also c = e iϕ , wobei ϕ ∈ R , so nennt man eine Abbildung der Form

[z 7→ cz]

eine Rotation und ϕ den Drehwinkel.

Lemma 8.6 (Schwarzsches Lemma)Für eine holomorphe Funktion f : D→ D mit f(0) = 0 gelten folgende Aussagen.

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8 Konforme Abbildungen 133

Abbildung 8.1 Die beschränkte Lösung u des Dirichlet-Problems auf H zum Randwert faus Beispiel 8.5.

(1) |f(z)| ≤ |z| für alle z ∈ D

(2) Existiert ein z0 ∈ D \ 0 mit |f(z0)| = |z0| , so ist f eine Rotation.

(3) Es gilt |f ′(0)| ≤ 1 und falls |f ′(0)| = 1 , ist f eine Rotation.

Beweis. Um Aussage (1) zu erhalten, entwickeln wir f in eine in ganz D konvergentePotenzreihe um 0 , also

f(z) = a0 + a1z + a2z2 + . . . für z ∈ D .

Aus f(0) = 0 folgt a0 = 0 und somit ist [z 7→ f(z)/z] holomorph in D , da die Singularitätin 0 hebbar ist. Für alle z mit |z| = r < 1 gilt∣∣∣∣f(z)

z

∣∣∣∣ ≤ 1

r, (∗)

denn |f(z)| ≤ 1 . Nach dem Maximumprinzip gilt (∗) für alle |z| ≤ r . Die gewünschteAussage erhält man nun durch Bildung des Grenzwertes r → 1 .

Da in (2) ∣∣∣∣f(z0)

z0

∣∣∣∣ = 1 ,

vorausgesetzt wird, nimmt die Funktion [z 7→ f(z)/z] ihr Maximum in D an und ist so-mit nach dem Maximumprinzip eine Konstante. Daher gilt f(z) = cz für ein c ∈ C .Durch Auswerten in z = z0 erhält man |c| = 1 . Folglich ist f eine Rotation und damit(2) gezeigt.

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134 8 Konforme Abbildungen

Setzen wir g(z) := f(z)/z , so gilt |g(z)| ≤ 1 für alle z ∈ D und außerdem ist

g(0) = limz→0

f(z)− f(0)

z= f ′(0) .

Nun folgt aus |f ′(0)| = 1 , dass |g(0)| = 1 . Schließlich ist nach dem Maximumprinzipf(z) = cz mit |c| = 1 und damit auch (3) gezeigt.

Mittels des Schwarzschen Lemmas bestimmen wir nun die Automorphismen der Ein-heitskreisscheibe.

Eine konforme Abbildung auf einer offenen Menge Ω ⊂ C nennt man Automorphism-sus auf Ω . Die Menge aller Automorphismen auf Ω bezeichnen wir mit Aut(Ω) , bei(Aut(Ω), ) handelt es sich um eine Gruppe. Die Identität [z 7→ z] ist das neutrale Ele-ment, die inversen Elemente der Gruppe sind gerade die jeweiligen Umkehrabbildungenund offensichtlich ist die Hintereinanderausführung zweier Automorphismen auf Ω wiederein Automorphismen auf Ω .

Beispielsweise ist eine Rotation

rϕ : z 7→ e iϕz

mit Drehwinkel ϕ ∈ R ein Automorphismus von D . Weitere Automorphismen von D mitsehr interessanten Eigenschaften sind die Möbiustransformationen der Form[

z 7→ ψα(z) :=z − ααz − 1

],

wobei α ∈ D . Die Funktion ψα ist holomorph in D , da α ∈ D . Für z ∈ ∂D mit z = e iϕ

ist

ψα(z) =e iϕ − α

e iϕ (α− e−iϕ)

und somit |ψα(z)| = 1 . Aus dem Maximumprinzip folgt somit |ψα(z)| < 1 für allez ∈ D . Durch eine einfache Rechnung erhält man weiters

(ψα ψα) (z) = z für alle z ∈ D

und daher ist ψα selbstinvers. Außerdem vertauscht ψα den Ursprung mit α , es gilt also

ψα(0) = α und ψα(α) = 0 .

Nach folgendem Satz erhält man sämtliche Automorphismen der Einheitskreisscheibedurch Hintereinandersausführung einer Rotation mit einer Abbildung ψα .

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8 Konforme Abbildungen 135

Satz 8.7 (Darstellung von Automorphismen auf D)Es sei f ein Automorphismus von D . Dann existiert ein ϕ ∈ R und ein α ∈ D , sodass

f(z) = (rϕ ψα) (z) = e iϕ z − ααz − 1

für alle z ∈ D .

Beweis. Da f ein Automorphismus von D ist, existiert ein α ∈ D mit f(α)=0 . Nunbetrachten wir den Automorphismus g := f ψα . Dann ist g(0) = 0 und somit liefertdas Schwarzsche Lemma

|g(z)| ≤ |z| für alle z ∈ D .

Außerdem ist g−1(0) = 0 und daher∣∣g−1(w)∣∣ ≤ |w| für alle w ∈ D .

Für z ∈ D setzen wir w := g(z) und erhalten

|z| ≤ |g(z)| für alle z ∈ D .

Folglich ist |g(z)| = |z| für alle z ∈ D und wir schließen wiederum aus dem Schwarz-schen Lemma, dass g(z) = e iϕz für ein ϕ ∈ R . Das Ersetzen von z durch ψα(z) unddie Identität (ψα ψα) (z) = z führen schließlich auf f(z) = e iϕψα .

Korollar 8.8 (Charakterisierung von Rotationen)Die einzigen Automorphismen der Einheitskreisscheibe, welche den Ursprung fest lassen,sind die Rotationen.

8.4 Die Automorphismen der oberen Halbebene

Mittels der konformen Abbildung

F : H→ D : z 7→ z − iz + i

wollen wir nun die Gruppe Aut(H) bestimmen. Dazu betrachten wir die Funktion

Γ: Aut(D)→ Aut(H) : F−1 ϕ F .

Diese ist wohldefiniert, denn offensichtlich ist Γ(ϕ) ∈ Aut(H) für ϕ ∈ Aut(D) . Weitersist Γ bijektiv, denn die Umkehrabbildung ist durch Γ−1(ψ) = F ψ F−1 , ψ ∈ Aut(H) ,gegeben. Für ϕ1, ϕ2 ∈ Aut(D) gilt außerdem

Γ (ϕ1 ϕ2) = F−1 ϕ1 ϕ2 F = F−1 ϕ1 F F−1 ϕ2 F = Γ(ϕ1) Γ(ϕ2)

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136 8 Konforme Abbildungen

und somit ist Γ ein Gruppenhomomorphismus. Insgesamt handelt es sich bei Γ also umeinen Gruppenisomorphismus, folglich sind Aut(D) und Aut(H) isomorph.

Wie wir nun zeigen werden, besteht Aut(H) aus Möbiustransformationen[z 7→ az + b

cz + d

],

wobei a, b, c, d ∈ R mit ad− bc = 1 . Zu

M =

[a bc d

]∈ SL2(R) =

A ∈ R2×2 : detA = 1

definieren betrachten wir nun die Abbildung[

z 7→ fM (z) :=az + b

cz + d

].

Satz 8.9 (Möbiustransformationen und Aut(H))Zu jedem f ∈ Aut(H) gibt es ein M ∈ SL2(R) mit f = fM und andererseits giltfM ∈ Aut(H) für jedes M ∈ SL2(R) .

Beweis. Der Beweis erfolgt in mehreren Schritten.

Schritt 1. Es sei M ∈ SL2(R) . Dann ist fM (H) = H , denn für z ∈ H erhalten wir

Im fM (z) =(ad− bc) Im z

|cz + d|2=

Im z

|cz + d|2> 0 .

Schritt 2. Sind M,M ′ ∈ SL2(R) , so gilt fM fM ′ = fMM ′ . Dies impliziert die zweiteAussage des Satzes, denn f−1

M = fM−1 .

Schritt 3. Wir zeigen, dass zu z, w ∈ H ein M ∈ SL2(R) mit fM (z) = w existiert. Dazugenügt es zu zeigen, dass z ∈ H auf i abgebildet werden kann. Für d = 0 ist

Im fM (z) =Im z

|cz|2

und wir können daher ein c ∈ R \ 0 mit Im fM (z) = 1 wählen. Setzen wir

M1 :=

[0 −c−1

c 0

],

so ist Im fM1(z) = 1 . Schießlich wählen wir

M2 :=

[1 b0 1

]mit b ∈ R

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8 Konforme Abbildungen 137

und mit fM2 (fM1(z)) = i . Für die Abbildung fM mit M = M2M1 gilt dann fM (z) = i .

Schritt 4. Die Drehmatrix

Mϕ =

[cosϕ − sinϕsinϕ cosϕ

]mit ϕ ∈ R ,

liegt in SL2(R) . Dann entspricht die Abbildung F fMϕ F−1 einer Drehung um −2ϕin D , denn F fMϕ = e−2iϕF .

Schritt 5. Es sei f ∈ Aut(H) mit f(β) = i , wobei β ∈ H . Wähle N ∈ SL2(R) mitfN (i) = β . Für g := f fN gilt dann g(i) = i und F g F−1 ∈ Aut(D) lässt denUrsprung fest. Somit handelt es sich nach Korollar 8.8 bei F g F−1 um eineRotation und nach Schritt 4 existiert ein ϕ ∈ R mit

F g F−1 = F fMϕ F−1 .

Folglich ist g = fMϕ und f = fMϕN−1 .

Bemerkung. Die Gruppe Aut(H) ist nicht isomorph zu SL2(R) , denn die beiden Ma-trizen M und −M aus SL2(R) definieren dieselbe Abbildung fM = f−M . Daher identifi-zieren wir M und −M miteinander und erhalten die Gruppe PSL2(R) , die projektivespezielle lineare Gruppe . Diese ist isomorph zu Aut(H) .

8.5 Beweis des Riemannschen Abbildungssatzes

Es sei Ω ⊂ C offen und F eine Familie holomorpher Funktionen auf Ω .

Man nennt F normal, wenn zu jeder Folge in F eine Teilfolge existiert, welche gleichmä-ßig auf jeder kompakten Teilmenge K ⊂ Ω konvergiert, wobei die Grenzfunktion nichtin F liegen muss.

Die Familie F wird lokal gleichmäßig beschränkt auf Ω genannt, wenn zu jedemKompaktum K ⊂ Ω ein CK > 0 existiert, sodass

∀ f ∈ F ∀ z ∈ K : |f(z)| ≤ CK .

Des Weiteren wird die Familie F als gleichgradig stetig auf D ⊂ Ω bezeichnet, falls

∀ ε > 0 ∃ δ > 0 ∀ z, w ∈ D : |z − w| < δ ⇒ |f(z)− f(w)| < ε .

Satz 8.10 (lokal glm. beschränkt ⇒ gleichgradig stetig auf Kompakta)Es sei F eine lokal gleichmäßig beschränkte Folge holomorpher Funktionen auf der offenenMenge Ω ⊂ C . Dann ist F gleichgradig stetig auf jeder kompakten Teilmenge K ⊂ Ω .

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138 8 Konforme Abbildungen

Beweis. Es sei K ⊂ Ω kompakt und r > 0 mit

∀ z ∈ K : B3r(z) ⊂ Ω .

Es seien z, w ∈ K mit |z − w| < r und C bezeichne den positiv orientierten Rand derKreisscheibe B2r(w) . Nach der Cauchyschen Integralformel ist

f(z)− f(w) =1

2πi

‰Cf(ξ)

(1

ξ − z− 1

ξ − w

)dξ

und da ∣∣∣∣ 1

ξ − z− 1

ξ − w

∣∣∣∣ =|z − w|

|ξ − z||ξ − w|≤ |z − w|

r2

für ξ ∈ C , gilt

|f(z)− f(w)| ≤ 1

2πr

r2C|z − w|

wobei K := v ∈ Ω: dist(v,K) ≤ 2r und C > 0 mit

∀ f ∈ F ∀ v ∈ K : |f(v)| ≤ C .

Folglich gilt für ein C > 0 , dass |f(z)− f(w)| < C|z−w| für alle z, w ∈ K mit |z−w| < rund alle f ∈ F , also ist F gleichgradig stetig auf K .

Satz 8.11 (Satz von Montel1)Es sei F eine lokal gleichmäßig beschränkte Familie holomorpher Funktionen F auf deroffenen Menge Ω ⊂ C . Dann ist F normal.

Beweis. Es sei K ⊂ Ω kompakt. Dann ist F auf K gleichmäßig beschränkt und nachSatz 8.10 gleichgradig stetig. Nach dem Satz von Arzelà-Ascoli, welchen wir inAnalysis 4 beweisen werden, existiert dann zu jeder Folge in F eine Teilfolge, welchegleichmäßig auf K konvergiert. Also ist F normal.

Satz 8.12 (Injektive oder konstante Grenzfunktion)Es sei Ω ⊂ C offen und zusammenhängend. Konvergiert die lokal gleichmäßig beschränkteFolge fnn∈N injektiver holomorpher Funktionen auf Ω gleichmäßig gegen f auf jederkompakten Teilmenge K ⊂ Ω , so ist f injektiv oder konstant.

Beweis. Wir nehmen an, dass f nicht injektiv ist. Dann gibt es z1, z2 ∈ Ω mit z1 6=z2 und f(z1) = f(z2) . Wir definieren die Folge gnn∈N durch gn := fn − fn(z1) fürn ∈ N , welche auf jeder kompakten Teilmenge von Ω gleichmäßig gegen g := f − f(z1)

1Paul Montel, 1876–1975, französischer Mathematiker

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8 Konforme Abbildungen 139

konvergiert. Sofern g nicht identisch Null ist, handelt es sich bei z2 um eine isolierteNullestelle von g , da Ω zusammenhängend ist. Somit gilt

1 =1

2πi

‰C

g′(ξ)

g(ξ)dξ ,

wobei C einen positiv orientierten Kreis mit Mittelpunkt z2 und hinreichend kleinemRadius bezeichnet. Dann gilt

1/gnglm.−→ 1/g und g′n

glm.−→ g′

auf imC und somit

1

2πi

‰C

g′n(ξ)

gn(ξ)dξ −→ 1

2πi

‰C

g′(ξ)

g(ξ)dξ für n→∞

im Widerspruch zu

∀n ∈ N :1

2πi

‰C

g′n(ξ)

gn(ξ)dξ = 0 .

Obiger Satz schließt nun die Vorarbeiten für den Beweis des Riemannschen Abbil-dungssatzes ab.

Beweis von Satz 8.2. Der Beweis erfolgt in vier Schritten.

Schritt 1.Wir zeigen die Eindeutigkeit der gesuchten konformen Abbildung. Es seien dazuF,G : Ω → D zwei konforme Abbildungen mit den beiden geforderten Eigenschaften,dann ist H := F G−1 ein Automorphismus von D mit H(0) = 0 und folglich gibt es einϕ ∈ R , sodass

H(z) = e iϕz für alle z ∈ D .

Aus H ′(0) > 0 folgt e iϕ = 1 und somit F = G .

Schritt 2. Es sei Ω C einfach zusammenhänged und nichtleer. Wir zeigen, dass Ω zueiner offenen Teilmenge von D konform äquivalent ist, welche den Ursprung enthält. Dazuwählen wir α ∈ C\Ω . Da [z 7→ g(z) := z − α] auf Ω nicht verschwindet, erhalten wir denZweig f := log g des Logarithmus. Dann gilt

∀ z ∈ Ω: ef(z) = z − α

und folglich ist f injektiv. Für festes w ∈ Ω gilt außerdem

∀ z ∈ Ω: z 6= w ⇒ f(z) 6= f(w) + 2πi ,

denn ansonsten erhalten wir unmittelbar einen Widerspruch zur Injektivität von f . Esgibt ein r > 0 mit Br (f(w) + 2πi) ∩ f(Ω) = ∅ , denn ansonsten würde eine Folge

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140 8 Konforme Abbildungen

znn∈N ∈ ΩN mit limn→∞ f(zn) = f(w) + 2πi existieren und es würde limn→∞ zn = wfolgen, also aufgrund der Stetigkeit von f der Widerspruch limn→∞ f(zn) = f(w) .

Nun betrachten wir die Abbildung

F : Ω→ C : z 7→ 1

f(z)− (f(w) + 2πi).

Aus der Injektivität von f folgt jene von F und somit ist F : Ω → F (Ω) eine konformeAbbildung. Des Weiteren ist F (Ω) beschränkt und durch Translation und Skalierung er-halten wir in Folge eine konforme Abbildung von Ω auf eine offene Teilmenge von D ,welche den Ursprung enthält.

Schritt 3. Nach dem zweiten Schritt können wir annehmen, dass Ω ⊂ D mit 0 ∈ Ω . Wirbetrachten die Familie

F := f : Ω→ D holomorph, injektiv und f(0) = 0 .

Offenbar ist F 6= ∅ , denn id ∈ F , und F ist gleichmäßig beschränkt. Wir suchen nuneine Funktion f ∈ F , welche |f ′(0)| maximiert. Durch Anwenden der CauchyschenUngleichung für die Ableitung folgt, dass

f ′(0) : f ∈ F

beschränkt ist und daher können wir

s := supf∈F|f ′(0)|

setzen. Wir wählen nun eine Folge fnn∈N ∈ FN mit

limn→∞

|f ′n(0)| = s .

Nach dem Satz von Montel besitzt diese Folge eine Teilfolge, welche auf jeder kompak-ten Teilmenge von Ω gegen eine holomorphe Funktion f : Ω→ C konvergiert. Da F 6= ∅ ,ist s ≥ 1 und daher f nicht konstant, also ist f nach Satz 8.12 injektiv. Mit dem Maxi-mumprinzip schließen wir f(Ω) ⊂ D und da f(0) = 0 , folgern wir f ∈ F mit |f ′(0)| = s .

Schritt 4. Es bleibt zu zeigen, dass f : Ω→ D eine konforme Abbildung ist. Da f injektivist, genügt es die Surjektivität zu zeigen. Angenommen, f wäre nicht surjektiv. Dann gibtes ein α ∈ D \ f(Ω) . Wir betrachten den Automorphismus ψα der Einheitskreisscheibe,welcher 0 und α vertauscht. Da Ω einfach zusammenhängend ist, gilt dies auch für U :=(ψα f) (Ω) und außerdem ist 0 /∈ U . Daher können wir eine Wurzelfunktion auf U durch

g(w) := e12

logU w für w ∈ U

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8 Konforme Abbildungen 141

definieren. Es istF := ψg(α) g ψα f ∈ F ,

denn offenbar ist F holomorph und injektiv und es gilt F (0) = 0 sowie |F | ≤ 1 . Bezeich-net h die Quadratfunktion, so gilt

f = ψ−1α h ψ−1

g(α) F =: Φ F .

Es ist Φ(D) ⊂ D und Φ(0) = 0 . Außerdem ist Φ nicht injektiv, da F injektiv ist,aber h nicht. Mit dem Schwarzschen Lemma schließen wir |Φ′(0)| < 1 . Aus f ′(0) =Φ′(0)F ′(0) schließen wir nun |f ′(0)| < |F ′(0)| im Widerspruch zur Maximimalität von|f ′(0)| .

Schließlich können wir durch Multiplikation mit einer komplexen Zahl mit Betrag 1f ′(0) > 0 erreichen und dies vollendet den Beweis.

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142 8 Konforme Abbildungen

Aufgaben

(8.1) Die beiden offenen Mengen U und V seien konform äquivalent. Zeigen Sie: Ist Ueinfach zusammenhängend, so auch V .

(8.2) Zeigen Sie, dass die Joukowski2-Transformation

z ∈ C : |z| > 1 → C \ [−1, 1] : z 7→ 1

2

(z +

1

z

)eine konforme Abbildung mit Umkehrabbildung

C \ [−1, 1]→ z ∈ C : |z| > 1 : z 7→ z +√z2 − 1

ist. Was ist das Bild des verschobenen Kreises mit der Parametrisierung

[0, 2π)→ C : ϑ 7→ −λ+ (λ+ 1)eiϑ (∗)

für λ ∈ R unter dieser Transformation?

Diese konforme Abbildung wird in der Aerodynamik für die Berechnung des Strö-mungspotentials um einen Flügel verwendet. Das Strömungspotential um eine Kreis-scheibe erfüllt das Randwertproblem[

∆u = 0 in R2 \BR(0) ,

∂nu|∂BR(0) = 0 , lim|(x,y)|→∞∇u(x, y) = [U, 0]T ,

mit U ∈ R . Prüfen Sie nach, dass

u(r, ϕ) = U

(r +

R2

r

)cosϕ

eine Lösung in Polarkoordinaten dieses Problems ist, finden Sie eine holomorpheFunktion, deren Realteil u ist und bestimmen Sie damit eine holomorphe Funktion,deren Realteil das Strömungspotential um den Kreis (∗) (für λ ∈ R klein genug) ist.Bestimmen Sie damit die stationären Punkte der Strömung um den Flügel, dessenKontur das Bild des Kreises (∗) unter der Joukowski-Transformation ist.

2Nikolai Jegorowitsch Joukowski, 1847–1921, russischer Mathematiker

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Index

abgeschlossene Kreisscheibe, 59abgeschlossene Menge, 60Ableitung, 63Abschluss, 60Abstand, 20äquivalente Wege, 73allgmeine Lösung, 19analytisch, 72Anfangsbedingung, 4Anfangswertproblem, 4Anfangszeit, 4Argument, 58Argumentprinzip, 113asymptotisch stabile Ruhelage, 49attraktive Ruhelage, 49Automorphismsus, 134autonomes System, 24

Bernoullische Differentialgleichung, 10Betrag, 58biholomorph Abbildung, 128biholomorphe Menge, 129

Cauchy-Produkt, 40Cauchy-Riemann-Operator, 65Cauchy-Riemannschen Differentialgleichun-

gen, 65Cauchyfolge, 59Cauchysche Integralformel, 87Cauchysche Integralformel für Ableitun-

gen, 89Cauchysche Ungleichung, 90Cauchyscher Integralsatz in einer Kreis-

scheibe, 84charakteristisches Polynom, 39

Differentialform, 67

Differentialgleichung in expliziter Form,3

Differentialgleichung in impliziter Form,3

Differentialgleichung mit trennbaren Va-riablen, 5

Dirichlet-Problem der Laplace-Gleichung,127

Durchmesser, 60

einfach zusammenhängendes Gebiet, 118einfacher Pol, 105Einparameter-Gruppe, 25Einpunktkompaktifizierung, 113Endpunkte, 73Euler-Verfahren, 12Eulersche Formlen, 69Eulerscher Multiplikator, 8Exakte Differentialgleichungen, 7exakte Pfaffsche Gleichung, 8

Fresnel-Integrale, 98Fundamentalsystem, 32

Gammafunktion, 97ganze Funktion, 63gebrochen-lineare Funktion, 131geometrische Darstellung, 5glatte Kurve, 73gleichgradig stetig, 137Globaler Existenz- und Eindeutigkeits-

satz, 18

Häufungspunkt, 60Hadamardsche Formel, 69harmonisch, 79Hauptsatz der Algebra, 92

143

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144 Index

Hauptteil, 105hebbare Singularität, 109hebbare Singularität im Unendlichen, 111holomorph, 62homogenes lineares System, 31homotop, 116

imaginäre Einheit, 57Imaginärteil, 57inhomogenes lineares System, 31innerer Punkt, 60Inneres, 60Integral längs einer Kurve, 73Integralkurve, 5integrierender Faktor, 8Isoklinen, 5isolierten Singularität, 103

Jordan-Kästchen, 38Jordansche Normalform, 38

kompakt, 60komplex differenzierbar, 62komplexe Exponentialfunktion, 67komplexe Zahl, 57komplexes Kurvenintegral, 73konform äquivalent, 129konforme Abbildung, 128konjugiert komplexe Zahl, 58Konvergenz in C, 59Konvergenzkreis, 69Konvergenzradius, 69konvexe Menge, 125Kozyklus-Eigenschaft, 20, 28Kreis, 59Kreisring, 122

Länge einer Kurve, 74Laplace-Operator, 79Laurent-Entwicklung, 105, 122Laurent-Reihe, 122Lemma von Goursat, 81

linear beschränkt, 21lineare Differentialgleichungen erster Ord-

nung, 7lineares System, 31logarithmische Ableitung, 114lokal gleichmäßig beschränkt, 137Lokale Existenz einer Stammfunktion, 83Losungskurve, 5Losungsportrait, 5

Möbiustransformation, 131Mathematisches Pendel, 29Matrixexponentialfunktion, 35maximale Lösung, 19maximales Lösungsintervall, 19Maximum, 62Maximum einer komplexen Funktion, 116meromorph, 111meromorph in der erweiterten komple-

xen Ebene, 111Mimimum, 62Min-Max-Eigenschaft, 62Multiplizität einer Nullstelle, 104Multiplizität eines Pols, 105

Nebenteil, 105nilpotente Matrix, 35normal, 137Null- und Polstellen zählendes Integral,

114Nullstelle, 103

offene Überdeckung, 61offene Abbildung, 115offene Kreisscheibe, 59offene Menge, 60Ordnung, 3Ordnung einer Nullstelle, 104Ordnung eines Pols, 105

parameterabhängige Resolvente, 43parametrisierte Kurve, 72

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Index 145

partikulare Losung, 32Pfaffsche Form, 67Pfaffschen Gleichung, 7Phasenportrat, 25Picard-Iterierte, 11Poissonsche Integralformel, 100Pol im Unendlichen, 111Polardarstellung, 58Polstelle, 104Potenzreihe, 68Potenzreihenansatz, 42projektive spezielle lineare Gruppe, 137punktierte Umgebung, 104

Rand, 60Randverhalten der maximalen Lösung, 20Realteil, 57Reduktion auf ein System erster Ordnung,

4rein imaginär, 57Residuum, 105Resolvente, 32Richtungsfeld, 5Riemannsche Zahlenkugel, 113Riemannscher Abbildungssatz, 128Riemannscher Hebbarkeitssatz, 109Rotation, 132Ruhelage, 49

Satz von der offenen Abbildung, 115Satz von Liouville, 91Satz von Morera, 90Satz von Rouché, 115Schachtelung kompakter Mengen, 61Schursche Normalform, 52Schwaches Maximumprinzip, 116Schwarzsches Lemma, 132Singularität, 103Spielzeugkurve, 84stückweise glatte Kurve, 73stückweise glatter Weg, 73

stabile Ruhelage, 49Stabilität, 49Stammfunktion, 74Standardabschätzung, 74Starkes Maximumprinzip, 116stationärer Punkt, 49stereographische Projektion, 113sternförmige Menge, 125Stetige Abhängigkeit von den Daten, 22Stetigkeit, 62Superpositionsprinzip, 31System gewöhnlicher Differentialgleichun-

gen, 3

Trajektorie, 25trennbare Variablen, 5trigonometrischen Funktionen, 69

Überdeckungssatz von Heine-Borel, 61

Variation der Konstanten, 7, 33Variationsgleichung, 43vollständiges Vektorfeld, 25

Weg, 72wegzusammenhängend, 77Weierstraßscher Konvergenzsatz, 94wesentliche Singularität im Unendlichen,

111wesentliche Singularitat, 111Wirtinger-Ableitungen, 65Wohlgestelltheit, 22Wronski-Determinante, 34

Zentrum einer Potenzreihe, 72Zeta-Funktion, 94zusammenhängend, 61Zweig des Logarithmus, 119Zwischenwerteigenschaft, 9

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