Transkulturelle Imaginationen des Opfers in der Frühen...

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TRANSKULTURELLE IMAGINATIONEN DES OPFERS IN DER FRÜHEN NEUZEIT Margit Kern Übersetzungsprozesse zwischen Mexiko und Europa

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TRANSKULTURELLE IMAGINATIONEN

DES OPFERS IN DER FRÜHEN

NEUZEIT

Margit Kern

Übersetzungsprozesse zwischen Mexiko

und Europa

Margit Kern

Transkulturelle Imaginationen des Opfers in der Frühen Neuzeit

Margit Kern

Transkulturelle Imaginationen des Opfers in der Frühen Neuzeit

Übersetzungsprozesse zwischen Mexiko und Europa

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs-und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

Lektorat: Elvira WillemsGestaltung und Satz: Sieghard Hawemann, Berlin

Reproduktionen: Birgit Gric, DKVDruck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Berlin

Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e;

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D-10999 Berlin

www.deutscherkunstverlag.de ISBN 978-3-422-05014-3

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I.1. Azteken in Berlin (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I.2. Die Rolle der Indigenen im europäischen Zivilisationsdiskurs . . . . 13 I.3. Koloniale Gegendiskurse in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I.4. Menschenopfer in Europa – Marginalisiertes und Verdrängtes im europäischen Selbstbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 I.5. Der Zivilisationsdiskurs der Opfertheorien . . . . . . . . . . . . . 37 I.6. Die Opferkonzeptionen in der Religion der Mexica . . . . . . . . . 41

II. Transfer und Übersetzung in der Mission . . . . . . . . 45

II.1. Das Religionsgespräch von 1524 in Mexiko-Stadt . . . . . . . . . . 45 II.2. Übersetzung als Aushandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 II.3. »Idols behind Altars« und die Rebellion der Cristeros 1926–1929 – Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Kunst der Kolonialzeit . 65 II.4. Bildtheorien der frühen Mission – Die medialen Möglichkeiten der Hieroglyphe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 II.5. Die Kreuze von Yucatán als Hieroglyphen des Glaubens . . . . . . . 91 II.6. Doppelcodierung und typologisches Denken als »hieroglyphische Strategien« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 II.7. Neue Fragen: Der transkulturelle Iconic Turn und die Kunstgeschichte Neuspaniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Inhaltsverzeichnis

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II.8. Transkulturelle Imaginationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

II.8.1. Kazike und spanischer »encomendero« . . . . . . . . . . . 118 II.8.2. Die Visualisierung von Trankopfern: Pulque und Meßwein . . 135 II.8.3. Die Blutopfer des Alten Bundes – Synagoge geht Ecclesia beim Einzug in Amerika voran . . . . . . . . . . . . . . 153 II.8.4. Longinus im geistlichen Spiel in Neuspanien – Die Inszenierung von Blut als »kostbare Flüssigkeit« . . . . . 178 II.8.5. Die Blutopfer der Märtyrer und Missionare – »Roma ingrata y cruel [...] Mexico alegre y contenta«, die Inversion des Grausamkeitsdiskurses . . . . . . . . . . 231

III. Antike Menschenopfer in Europa – Gewalt im politischen Diskurs der Frühen Neuzeit . . 255

III.1. Das Bild des Gladiators in der spanischen Herrscherikonographie . . 255 III.2. Die Säkularisierung der Gladiatorenkämpfe in der Antike: Vom »sacrifi ce« zum »victime«, von legitimer zu illegitimer Gewalt . 261 III.3. Die Beschäft igung mit dem antiken Menschenopferkult der Gladiatorenspiele als Teil des Missionsdiskurses – Amerika als »moderne Antike« . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 III.4. Der Menschenopferdiskurs in den spanischen Stierkampf-Traktaten – Die paramilitärische Funktion der Gladiatorenkämpfe und die Verteidigung des Stierkampfs als Mittel zur Ertüchtigung des spanischen Adels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 III.5. Violentia und potestas – Das Verhältnis von Gewalt und Macht im Herrschaft sdiskurs der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . 309 III.6. Die Sakralisierung der Opfer militärischer Gewalt in Europa . . . . 320

IV. Bacchus, Mais und Eucharistie – Perspektiven der Religionskomparatistik in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

IV.1. Das Eucharistiestilleben mit Mais . . . . . . . . . . . . . . . . 341 IV.2. Mais in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

Inhaltsverzeichnis

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IV.3. »caelestia pabula« – Die Eucharistieverehrung der Habsburger . . . . 360 IV.4. Blutopferphantasien und Zivilisationsdiskurs – Strategien der Übertragung und Projektion . . . . . . . . . . . . 370 IV.5. »Imperium signant« – Bacchus als Herrscher und Eroberer . . . . . 374 IV.6. Pulque, Bacchus und der Ritenstreit . . . . . . . . . . . . . . . 383

V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . 461

Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467

Inhaltsverzeichnis

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Diese Studie wurde 2010 vom Fachbereich für Geschichts- und Kulturwissenschaft en der Freien Universität Berlin als Habilitationsschrift angenommen, danach erschiene-ne Literatur konnte in der vorliegenden Buchpublikation nur noch punktuell berück-sichtigt werden.

An erster Stelle danke ich Werner Busch, der mir methodisch wichtige Anregungen gab und mich immer ermutigte, eigene Wege zu gehen, sowie meine Entscheidung, im Bereich der nicht-europäischen Kunstgeschichte zu arbeiten, stets nachdrücklich un-terstützte. Ohne ihn wäre dieses Buch nie entstanden. Seine Herzlichkeit, sein Humor und seine Menschenfreundlichkeit, die auch in den größten Turbulenzen des akademi-schen Betriebs unerschütterlich blieben, sowie seine Begeisterung für unser Fach haben mich in den Jahren als seine wissenschaft liche Assistentin begleitet. Dafür danke ich ihm von ganzem Herzen.

Allen anderen am Habilitationsverfahren beteiligten Personen sei an dieser Stelle ebenfalls gedankt für ihre sehr hilfreichen Hinweise. Darüber hinaus gilt mein beson-derer Dank den Freunden und Kollegen in Mexiko: Ana Garduño und Peter Krieger sowie Jaime Cuadriello und Pablo Escalante Gonzalbo. Doris Bachmann-Medick hat mit ihren Seminaren an der Freien Universität Berlin ganz entscheidende Impulse zur Entwicklung der Fragestellung meiner Arbeit gegeben, wofür ich ihr sehr zu Dank ver-pfl ichtet bin. In einem gemeinsamen Seminar mit Karoline Noack konnte ich wesent-liche Einblicke in die Altamerikanistik und neue Ansätze in der Ethnologie gewinnen. Sie hat damit zum Entstehen dieses Buchprojekts beigetragen, wofür ich ihr herzlich danke. Darüber hinaus gaben Gespräche mit Barbara Lange, Bruno Schlegelberger, Gerhard Wolf, aber vor allem auch den Mitgliedern der DFG-Forschergruppe 1703 »Transkulturelle Verhandlungsräume von Kunst. Komparatistische Perspektiven auf historische Kontexte und aktuelle Konstellationen« wertvolle Anregungen – ihnen al-len gilt mein aufrichtiger Dank. Die Gerda Henkel Stift ung, Düsseldorf, hat es mir er-möglicht, auf Reisen durch Mexiko neues Material zu sammeln und im Rahmen eines

Dank

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einjährigen Stipendiums zu bearbeiten. Der Aufenthalt an der Yale University mit einem Feodor Lynen-Forschungsstipendium für erfahrene Wissenschaft ler von der Alexander von Humboldt-Stift ung war bei der Endredaktion des Manuskripts hilf-reich. Für ihre große Gastfreundschaft danke ich vor allem Christopher Wood sowie Mary Miller, Tim Barringer, Rob Nelson und Alexander Nemerov. Es war eine wunder-bare Erfahrung, an ihrem akademischen Leben teilhaben zu können.

Die großzügige Ausstattung des Buches, die es mir erlaubt, auf den Reisen zusam-mengetragenes und bisher unpubliziertes Material in großem Umfang auch bildlich zu präsentieren, wurde durch einen Druckkostenzuschuß des Förderungs- und Beihilfe-fonds Wissenschaft der VG Wort ermöglicht.

Für die Durchsicht meiner Übersetzungen danke ich Elisabeth Mänzel (Spanisch), Peter Habermehl (Latein) und Niki Lambrianidou (Französisch). Elvira Willems hat dankenswerterweise das Lektorat übernommen und den Abschluß dieses Projekts enorm erleichtert. Johanna Spanke fertigte unzählige Scans für eine erste Fassung des Buchmanuskripts, Lisa Th umm kümmerte sich um das Register. Ohne den Deutschen Kunstverlag, die liebenswürdige und tatkräft ige Unterstützung durch Jasmin Fröhlich und Jens Möbius, wäre dieses Buch nicht erschienen. Ihnen allen danke ich für ihre Hilfe bei den Vorbereitungen für die Drucklegung.

Die Freude über Entdeckungen und Fortschritte, aber auch die kleinen Krisen bei der Arbeit an diesem Buch haben Marianne Kern, Albert Lang, Sandra Zölch, Rebekka von Malinckrodt, Valeska von Rosen, Kirsten Scheffl er, Nikolaus G. Schneider, Wolfram von Heynitz und Roger Friedlein begleitet, ihnen sei das Buch gewidmet.

Hamburg im Sommer 2013

Dank

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I.1. Azteken in Berlin (2003)

»Auf dieser Terrasse vollzog sich das entscheidende ›kultische Drama‹ der Azteken – das Herzopfer. […] Mit Feuersteinmessern sägten die Azteken ihnen die Brust auf, rissen ihnen das noch zuckende Herz heraus und boten es den Götzen, die dort gegen-wärtig waren, dar. Dann stießen sie die Körper mit den Füßen die Stufen hinunter. Unten warteten weitere blutrünstige Priester, die ihnen Arme und Beine abschnitten und die Gesichter häuteten. Diese gerbten sie dann wie Handschuhleder. Samt ihren Bärten bewahrten sie sie auf, um mit ihnen Feste zu feiern, während sie ein Saufgelage veranstalteten und das Fleisch mit Chilmole verschlangen.«1

Der Spiegel-Artikel, aus dem dieses Zitat stammt, führte 2003 unter deutschen Alt-amerikanisten zu einer Auseinandersetzung. Der Text von Matthias Schulz bezog sich auf eine Ausstellung im Berliner Gropiusbau, die den schlichten Titel »Azteken« (Taf. I) trug und von der Londoner Royal Academy of Arts konzipiert worden war.2 Entgegen dem umfassenden Anspruch, den der Titel auf den ersten Blick erwarten ließ, konzen-trierte sich die Schau weitgehend auf die Religion und die Kulte in dem mittelamerika-nischen Reich. Genau dies wurde – unter Umständen auch ausgelöst durch die reiße-rischen Zuspitzungen des Spiegel-Artikels – kritisiert.3 Das Plakat mit einem blutrot

1 Matthias Schulz, Totenkult am Feuerberg, in: Der Spiegel 22, 2003, S. 160–175, hier S. 172. Der Artikel erschien in einer gekürzten Version in spanischer Übersetzung noch einmal am 13. Juli 2003 in El País semanal, S. 66ff .

2 Kat. Ausst. Azteken, London, Royal Academy of Arts, Berlin, Martin-Gropius-Bau, Bonn, Kunst- und Aus-stellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Köln 2003.

3 So wird in einem Artikel Hanns Prem zitiert, der die einseitigen Presseberichte kritisiert, die sich allein auf die Menschenopfer stürzen, und das Fehlen der Alltagsgeschichte in der Ausstellung beklagt. Astrid Viciano Goff erje, Califi can ›Aztecas‹ como la exposición más exitosa, http://www.reforma.com/cultura/articu-lo/318540/ (8.8.2003). Vgl. auch Ursula Th iemer-Sachse, »Blutige Partys«; »Blutrausch vor dem Untergang«? – Betrachtungen einer Altamerikanistin zur Presse der Ausstellung »Azteken« in Berlin, in: Das Altertum 49, 2004, S. 57–75.

I. Einleitung

Einleitung

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gerahmten Steinkopf, der aus leeren, toten Augenhöhlen auf den Betrachter starrte, schien dieselben Stereotypen zu affi rmieren, die der Artikel wachgerufen hatte. Weder die politischen beziehungsweise wirtschaft lichen Strukturen noch Einblicke in die az-tekische Alltagskultur riefen das Interesse der Besucher hervor, allein die blutigen Ri-tuale und die Opfer der Mexica, wie sie sich selbst nannten, sicherten dem untergegan-genen Staatswesen in Europa hinreichende Aufmerksamkeit – off enkundig auch noch zu Beginn des dritten Jahrtausends.

Der Konfl ikt, der hier erkennbar wird, wirft eine Frage auf: Weshalb konstruiert sich Europa bis zum heutigen Tag den Azteken synonym mit den ihm zugeschriebenen Opferpraktiken? Und warum ist dieses Bild des mitleidslos für die Götter mordenden Indigenen so fest im kollektiven Gedächtnis verankert? Geschichtsbilder existieren nicht an sich, sie sind Teil der sozialen Praxis einer Gruppe. Über gemeinsame Erinne-rungen werden Identitäten konstituiert und affi rmiert.4

Jan Assmann unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen dem kollektiven und dem kommunikativen Gedächtnis.5 Während das kommunikative Gedächtnis von Mündlichkeit geprägt, spontan und individuell verhandelbar ist, bildet das kulturelle Gedächtnis den institutionalisierten Gegenpol dazu. Betrachtet man Museen als Träger dieser normierenden Erinnerungskultur, mit der verbindliche Deutungsmuster bereit-gestellt und ein gesellschaft licher Konsens vorbereitet werden, so scheint das Bild des aztekischen Menschenopfers in der kollektiven Imagination bis heute eine bestimmte Rolle einzunehmen, die im folgenden in ihrer Genese genauer analysiert werden soll.

Wie Heinz Dieter Kittsteiner in einer Untersuchung von Imaginationen und deren Funktionen für die Geschichtswissenschaft festgestellt hat, zeichnet sich das kollektive Bildrepertoire häufi g durch eine starke aff ektive Aufl adung aus.6 Es handelt sich nicht nur um sehr bekannte Bilder, die zu Geschichtszeichen geronnen sind, sondern diese weisen auch eine spezifi sche emotionale Prägnanz auf. Gerade in bezug auf die Vorstel-lung von Menschenopfern liegt diese scheinbar klar auf der Hand. Allein die Einfüh-lung in das Schicksal des Mitmenschen gebietet es, dieser Vorstellung nicht indiff erent gegenüberzustehen. Zweifel melden sich aber spätestens dann, wenn man sich vor Au-gen führt, daß es im kulturellen Gedächtnis Europas zugleich eine große Zahl von Menschenopfern gibt, die nicht negativ, sondern positiv besetzt sind: vom prominente-

4 Einen Überblick über die Forschungsdiksussion um die Th esen von Maurice Halbwachs, Pierre Nora sowie Aleida und Jan Assmann gibt Birgit Neumann, Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinne-rungen und Identitäten, in: Literatur – Erinnerung – Identität. Th eoriekonzeptionen und Fallstudien (= Elk. Studien zur Englischen Literatur- und Kulturwissenschaft , hrsg. von Ansgar und Vera Nünning, Bd. 11), hrsg. von Astrid Erll, Marion Gymnich und Ansgar Nünning, Trier 2003, S. 49–77.

5 Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Kultur und Gedächtnis, hrsg. von Jan Ass-mann und Tonio Hölscher, Frankfurt a.M. 1988, S. 9–19; vgl. auch Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift , Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.

6 Heinz Dieter Kittsteiner, »Iconic turn« und »innere Bilder« in der Kulturgeschichte, in: Was sind Kulturwis-senschaft en? 13 Antworten, hsrg. von Heinz Dieter Kittsteiner, München 2004, S. 153–182.

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Die Rolle der Indigenen im europäischen Z ivilisationsdiskurs

sten Modell – Christus – ausgehend, über Isaak und Iphigenie bis hin zu den römi-schen Exempla, etwa Marcus Curtius.

I.2. Die Rolle der Indigenen im europäischen Zivilisationsdiskurs

Kannibalismus und Menschenopfer in der »Neuen Welt« hatten in der Konstruktion des europäischen Selbstbildes eine bestimmte strategische Funktion. Die Analyse von Identitätskonstruktionen in der Anthropologie hat ergeben, daß einzelne Gruppen häufi g aus strategischen Gründen dazu übergehen, ihr Selbstbild, das auf Zuschreibun-gen beruht, essentialistisch zu beschreiben.7 Indem man religiöse, soziale und/oder ethnische Kategorien als Diff erenzierungskriterien konstruiert, die den einzelnen Gruppenmitgliedern wesenhaft zukommen, verleiht man der Abgrenzung, und damit den Ansprüchen auf Macht und Vorherrschaft , ein größeres politisches Gewicht. Aus diesen naturalisierten Konzepten lassen sich machtpolitische Vorteile ziehen. In einer strategischen Identitätszuschreibung versuchte man dem »Europäischen« wesenhaft einen höheren zivilisatorischen Status zuzuweisen. Mit dem »wilden« Amerika schuf sich Europa einen essentialistisch konstruierten Vergleichsort, um sich auch selbst im Gegensinn essentialisieren zu können.8

In einer Zeit, die von gesellschaft lichen Veränderungen wie Sozialdisziplinierung9 und Zivilisationsprozeß10 geprägt war, konnten gegenläufi ge Entwicklungen und Phä-nomene im Selbstbild unterdrückt und die Selbstzuschreibung bestimmter zivilisatori-scher Standards in Europa anschaulich gesichert werden, wenn man sich ein Außen konstruierte, ein Anderes, in dem diese – auch in Europa nicht immer leicht durchsetz-baren – Normen off enkundig außer Kraft gesetzt waren. Diese Grenzziehung fand in Darstellungen der »Neuen Welt« in der populären Druckgraphik weite Verbreitung.

7 Allgemein zum Phänomen, daß Konstruktionen religiöser, sozialer und ethnischer Identität essentialistisch beschrieben werden, um machtpolitische Vorteile aus diesen naturalisierten Konzepten zu ziehen vgl. Clif-ford Geertz, Angestammte Loyalitäten, bestehende Einheiten. Anthropologische Refl exionen zur Identitäts-politik, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 48, 1994, S. 392–403; Stuart Hall, Das Spektakel des »Anderen«, in: ders., Ausgewählte Schrift en, Bd. 4, Ideologie, Identität, Repräsentation, hrsg. von Juha Koivisto und Andreas Merkens, Hamburg 2004, S. 108–166.

8 Zur strategischen Konstruktion einer Grenze zwischen Wildheit und Zivilisiertheit vgl. Eric R. Wolf, Gefähr-liche Ideen. Rasse, Kultur, Ethnizität, in: Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft . Alltag 1, 1993, S. 331–346 und Hayden White, Die Formen der Wildheit: Archäologie einer Vorstellung, in: ders., Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses (= Sprache und Geschichte, Bd. 10), Stuttgart 1986, S. 177–231.

9 Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff »Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit«, in: Zeitschrift für historische Forschung 14, 1987, S. 265–302.

10 Nobert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., 2. erweiterte Aufl age, Bern 1969.

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Einleitung

Mord und Totschlag stellten auch in Europa im alltäglichen sozialen Zusammenleben und im Kriegsgetümmel der Schlachtfelder grundsätzlich nichts Ungewöhnliches dar. Auch Kannibalismus läßt sich nachweisen, wie Frank Lestringant in bezug auf Frank-reich zur Zeit der Religionskriege hervorgehoben hat.11 Die Verstöße gegen ein grund-sätzliches Tabu entstanden sowohl aus Not heraus, etwa infolge von Hunger, als auch aus Rache.12 Daß dies dennoch im Selbstbild nicht zentral in Erscheinung trat, hängt damit zusammen, daß die Identitätskonstruktion nicht als Deskription der gesell-schaft lichen Realität entwickelt wurde, sondern präskriptiv an den in Geltung stehen-den Normen orientiert war. Nicht das unterschiedliche Verhalten von Europäern und Indigenen an sich bildete das entscheidende Kriterium für die europäische Grenzzie-hung, für die Konstruktion einer Diff erenz, sondern die angebliche Verschiedenheit der Normen und der Normenkontrolle. Der grundlegende Unterschied zwischen Selbst- und Fremdimagination ist nicht in der konkreten Handlung zu sehen, sondern im angeblichen Fehlen einer bestimmten Ethik. Das kommt in den Beispielen aus der populären Druckgraphik deutlich zum Ausdruck: Den »wilden« Protagonisten wird in der Bilderzählung nicht blinde Aggression, sondern vor allem mangelndes Unrechts-bewußtsein unterstellt – was in der Forschung bisher zu wenig Beachtung fand.13

Einer der frühesten Holzschnitte, der 1505 bei Johann Froschauer in Augsburg er-schienene Einblattdruck, der den Brief Amerigo Vespuccis von seiner dritten Reise il-lustriert (Abb. 1), gibt scheinbar einen Einblick in das Alltagsleben der Indigenen. Im Vordergrund widmet sich eine Mutter, die dem Bildtypus der Caritas folgt, ihren Kin-dern. Vor der Hütte, in der gegessen wird und man gesellig beisammensitzt, unterhal-ten sich zwei Männer. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, daß der am Tisch sitzen-de Indigene an einem Arm knabbert, wie an einem Hähnchenschenkel, während das, was scheinbar wie Speck am Balken hängt, in Wirklichkeit Menschenfl eisch ist. Auch die Geselligkeit überschreitet deutlich die Grenzen europäischer Konventionen. Die Frau hält das Geschlechtsteil des neben ihr sitzenden Mannes in der Hand. Eine detail-lierte Analyse der rhetorischen Strategien des Blattes zeigt, daß hier nicht ganz allge-mein »Sitten und Gebräuche« beschrieben werden, sondern daß die Folie, vor der die Betrachtung stattfi ndet, in mehrfacher Hinsicht Europa ist.14 Zunächst werden Motive

11 Frank Lestringant, Une sainte horreur ou le voyage en Eucharistie XVIe–XVIIIe siècle, Paris 1996, S. 61f. 12 Vorstellungen von Herzmagie lebten bis ins 18. Jahrhundert weiter. So hielten sich die Gerüchte hartnäckig,

1793 in Paris und 1796 in Neapel sollten politische Gegner durch den Verzehr ihrer Herzen vollständig ver-nichtet werden. Ernst Wilhelm Eschmann, Das Herz in Kult und Glauben, in: Das Herz, Bd. 1, Im Umkreis des Glaubens, Biberach an der Riß 1965, S. 9–50, hier S. 33.

13 Hugh Honour, Th e New Golden Land. European Images of America from the Discoveries to the Present Time, New York 1975, S. 8–12; Hildegard Frübis, Die Wirklichkeit des Fremden. Die Darstellung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert, Berlin 1995, S. 28 und S. 30f.

14 Frübis 1995, S. 30. Frübis erläutert in ihrer immer noch grundlegenden Studie, welche Bedeutung der Zivili-sationsprozeß für die Repräsentationen Amerikas hat, lediglich auf das Moment der Irritation in den Holz-schnitten geht sie nicht weiter ein.