Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

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Menschenrechte und ihre Begründung, Geltung und Entwicklung in Philosophie und Recht Transzendental-kontraktualistische Begründung der Men- schenrechte nach Otfried Höffe Seminararbeit von Moritz Pachmann Waldstrasse 3 6015 Luzern Matrikel-Nr. 06-728-018 [email protected] Verfasst und präsentiert im Rahmen der rechtsphilosophischen Seminarveranstaltung auf Masterstufe der juristischen Fakultät im Herbstsemester 2012 bei Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Kurt Seelmann und PD Dr. Daniela Demko, LL.M.Eur. an den Universitäten Luzern und Basel.

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Versuch einer universellen Begründung von Menschenrechten aus rechtsphilosophischer Perspektive nach Otfried Höffe.

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Menschenrechte und ihre Begründung,

Geltung und Entwicklung in Philosophie und Recht

Transzendental-kontraktualistische Begründung der Men-

schenrechte nach Otfried Höffe

Seminararbeit von

Moritz Pachmann Waldstrasse 3 6015 Luzern

Matrikel-Nr. 06-728-018

[email protected]

Verfasst und präsentiert im Rahmen der rechtsphilosophischen Seminarveranstaltung

auf Masterstufe der juristischen Fakultät im Herbstsemester 2012

bei Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Kurt Seelmann

und PD Dr. Daniela Demko, LL.M.Eur.

an den Universitäten Luzern und Basel.

Page 2: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

I

Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis ............................................................................................................ II 

Abkürzungsverzeichnis ...................................................................................................... IV 

I.  Einleitung ................................................................................................................... 1 

1.  Menschenrechte ................................................................................................... 1 

2.  Höffes Fundamentalphilosophie .......................................................................... 2 

II.  Der anthropologische und ethische Rahmen .......................................................... 3 

1.  Eine interkulturelle Argumentation ..................................................................... 3 

2.  Konzept der theoretischen Sparsamkeit .............................................................. 4 

3.  Moralprinzip ........................................................................................................ 5 

3.1 Legitimer Zwang ............................................................................................... 5 

3.2. Distributiver Vorteil .......................................................................................... 6 

3.3. Tauschgerechtigkeit .......................................................................................... 8 

III.  Transzendental-kontraktualistische Argumentation ........................................... 11 

1.  Pflicht zum Freiheitsverzicht? ........................................................................... 11 

2.  Transzendentale Interessen ................................................................................ 13 

3.  Wechselseitigkeit ............................................................................................... 15 

4.  Diachrone Phasenverschiebung ......................................................................... 16 

5.  Generationenvertrag .......................................................................................... 17 

IV.  Kritik ........................................................................................................................ 18 

V.  Zusammenfassung ................................................................................................... 20 

Erklärung ............................................................................................................................ 22 

Page 3: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

II

Literaturverzeichnis

Zitierweise:

Die nachstehenden Werke werden, wenn nichts anderes angegeben ist, mit Nachnamen des

Autors sowie mit Seitenzahl zitiert.

GENSLER, HARRY The Golden Rule, in: Gensler, Harry (Hrsg.), Formal Ethics,

London 1996.

HÖFFE, OTFRIED Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philo-

sophie des Staates, Frankfurt a. M. 1987. (zit. HÖFFE 1987)

HÖFFE, OTFRIED Gerechtigkeit als Tausch? Zum politischen Projekt der Mo-

derne, in: Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie,

Rechtstheorie und Rechtssoziologie, Heft 13, Baden-Baden

1991. (zit. HÖFFE 1991)

HÖFFE, OTFRIED Rechte und Pflichten des Menschen; ein elementarer Tausch,

in: Inciarte, F / Wald, B. (Hrsg.), Menschenrechte und Ent-

wicklung, im Dialog mit Lateinamerika, Frankfurt a. M. 1992,

S. 61-74. (zit. HÖFFE 1992)

HÖFFE, OTFRIED Transzendentaler Tausch. Eine Legitimationsfigur für Men-

schenrechte?, in: Lohmann, G. / Gosepath, S. (Hrsg.), Philo-

sophie der Menschenrechte, Frankfurt a. M. 1998, S. 29-47.

(zit. HÖFFE 1998)

HÖFFE, OTFRIED Gerechtigkeit als Tausch, Zur Begründung von Recht und

Staat, Festvortrag zur Eröffnung der Rechtswissenschaftlichen

Fakultät der Universität Luzern, Luzern 2001.1 (zit. HÖFFE

2001)

HÖFFE, OTFRIED Menschenrechte im interkulturellen Diskurs, in: Dossier Men-

schenrechte, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn

2009.2 (zit. HÖFFE 2009)

1 Verfügbar unter: http://www.unilu.ch/files/ansprache_hoeffe_7811.pdf (besucht am 1.10.2012). 2 Verfügbar unter: http://www.bpb.de/internationales/weltweit/menschenrechte/38723/interkultureller-diskurs (besucht am 1.10.2012)

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III

KERSTING, WOLFGANG Herrschaftslegitimation, politische Gerechtigkeit und trans-

zendentaler Tausch. Eine kritische Einführung in das politi-

sche Denken Otfried Höffes, in: Kersting, W. (Hrsg.), Gerech-

tigkeit als Tausch? Auseinandersetzungen mit der politischen

Philosophie Otfried Höffes, Frankfurt a. M. 1997, S. 11-60.

KETTNER, MATTHIAS Otfried Höffes transzendental-kontraktualistische Begründung

der Menschenrechte, in: W. Kersting (Hrsg.), Gerechtigkeit

als Tausch? Auseinandersetzung mit der politischen Philoso-

phie Otfried Höffes, Frankfurt a. M. 1997, S. 243-283.

KOLLER, PETER Otfried Höffes Begründung der Menschenrechte und des Staa-

tes, in: W. Kersting (Hrsg.), Gerechtigkeit als Tausch? Ausei-

nandersetzungen mit der politischen Philosophie Otfried Höf-

fes, Frankfurt a. M. 1997, S. 284-305.

LAMBERT, ALEXANDRE Menschenrechte und ihre philosophische Begründung, Ein

Vergleich zwischen Otfried Höffe und Jürgen Habermas,

Genf, 2005.

LAUKÖTTER, S. / PLENGE, D./ Globale Gerechtigkeit und negative Verantwortung, in:

BUNGE-WIECHERS, M. / Laukötter, S. / Vieth A. (Hrsg.), Otfried Höffe – Praktische

DRERUP, J. Philosophie im Diskurs, Frankfurt a. M. 2009, S. 119-132.

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IV

Abkürzungsverzeichnis

bspw. beispielsweise

bzw. beziehungsweise

d.h. das heisst

ders. derselbe

ff. und folgende (Seiten, Randziffern etc.)

etc. et cetera

Hrsg. Herausgeber

i.S.v. im Sinne von

insb. Insbesondere

Kap. Kapitel

min. mindestens

Rz. Randziffer

sog. sogenannt

u.a. unter anderem

v.a. vor allem

z.B. zum Beispiel

zit. zitiert als

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1

I. Einleitung

1. Menschenrechte

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde im Jahre 1948 durch die Gene-

ralversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und stellt die bisher folgen-

reichste Menschenrechtsdeklaration der Geschichte dar. Alle Staaten, die der UNO bei-

getreten sind, wurden dazu verpflichtet, die Menschenrechte in ihren nationalen Rechts-

systemen zur vollen Geltung zu bringen und damit ihre weltweite Allgemeingültigkeit

rechtspositivistisch festzumachen. Menschenrechte sind also universell und in unter-

schiedlichen sozialen, kulturellen und rechtlichen Traditionen gleichermassen anwend-

bar.3 Menschenrechtsverletzungen dürfen somit unter keinen Umständen durch Beru-

fung auf Relativität gerechtfertigt werden, da Menschenrechte sog. „transkulturell inva-

riante Geltungsstandards“ darstellen.4

1948 wurde zunächst von der begründungstheoretisch etwas naiven Überzeugung aus-

gegangen, dass es bestimmte (rechtliche) Minimalpositionen gebe, die aus der mensch-

lichen Würde abzuleiten seien und deshalb keiner kulturellen Relativierung unterlägen.

In der folgenden Zeit setzte eine, bis heute nicht verstummte, Kritik ein, welche der

Erklärung eine starke Ausrichtung an die westliche Wertegemeinschaft anlastet. Sie sei

kulturell mit Vorurteilen und Menschenbildern behaftet, sei Ausdruck mitteleuropäi-

scher Aufklärungsgeister und würde den Notwendigkeiten der übermächtigen euro-

amerikanischen Industriestaaten folgen.5 Solche Kritik hat ein breites Spektrum an Re-

aktionen und die Forderung nach überzeugenden Begründungsformen für die Universa-

lität der Menschenrechte hervorgerufen.

Bisher wurde eine Vielzahl verschiedener Begründungskonzepte für Menschenrechte

entworfen, von denen sich jedoch beinahe alle in Sachen Universalität bzw. kultureller

Unabhängigkeit auf schwachem Eis bewegen. Otfried Höffe versucht mit seiner Philo-

sophie der politischen Gerechtigkeit tiefer gehende, kritikfestere und nicht mehr relati-

vierbare Rechtfertigungsargumente zu finden, welche die vorstaatliche Natur der Men-

schenrechte berücksichtigt, sie also unabhängig von politischen oder ökonomischen

Systemen und auch unabhängig von einem bestimmten Menschenbild einordnet.

3 HÖFFE 1998, S. 29.

4 LAMBERT, S. 9.

5 KETTNER, S. 245.

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2

2. Höffes Fundamentalphilosophie

Beim Schutz von Leib und Leben, dem systematisch primären Menschenrecht, werden

Freiheitsverzichte getauscht: Jeder gibt sein Recht auf, im Konfliktfall seinesgleichen

zu töten.6 Dies ist die Essenz von Otfried Höffes menschenrechtlichem Begründungs-

versuch, welche zwar einfach scheint, aber in Kreisen der rechtsphilosophischen Men-

schenrechtsforschung beachtliche Wellen geschlagen und immer noch andauernde Dis-

kussionen entfacht hat. Kritische Stimmen fragen sich etwa, woher ein Mensch ein (na-

türliches) Recht habe zu töten? Verdanken wir die Menschenrechte, wie wir sie kennen,

der Umkehrung dieses Rechts auf Gewaltandrohung in das Recht, von ihr frei zu sein?

Indem Höffes Theorie zur Begründung von Menschenrechten in dieser Arbeit aufge-

zeigt wird, soll auch ein Einblick in die erwähnte Debatte gewährt und die umstrittenen

Punkte, die sich beim Hinterfragen von Höffes Thesen auftun, mitberücksichtigt werden.

Höffe betreibt eine Fundamentalphilosophie, die sich mit der Suche nach der Begrün-

dung einer politischen Gerechtigkeit befasst. Er nimmt hierbei den staatsphilosophi-

schen Kontraktualismus zum Vorbild und greift die grundlegende Aufgabenstellung der

Staatsrechtfertigung und Herrschaftslegitimation auf.7 Mit den Geltungsgründen von

Staat und Recht eng verbunden, sind die Legitimationsbedingungen von staatlichem

Zwang, welche für Höffe das staatsphilosophische Fundament darstellen.8

Höffes Menschenrechtsethik ist fest eingegliedert in seine Philosophie der politischen

Gerechtigkeit. Es sind vor allem drei Schnittstellen, über die seine menschenrechtliche

Begründung hergeleitet wird: einerseits durch seinen Begriff der politischen Gerechtig-

keit, andererseits durch seine Begründung der „Befugnis, zu zwingen“, schliesslich und

vor allem durch das transzendental-kontraktualistische Argument des wechselseitigen

Tauschs von Freiheitsverzichten. 9,10

Das transzendental-kontraktualistische Argument gilt als Kern dieser menschenrechtli-

chen Begründungsargumentation. Höffe versucht für die Gültigkeit dieses Kerns eine

Rechtfertigung zu geben, die hier dargelegt werden soll.

6 KETTNER, S. 243.

7 KERSTING, S. 16.

8 LAMBERT, S. 21FF.

9 Zu seinem Begriff der politischen Gerechtigkeit vgl. HÖFFE 1991, S. 7-34. 10

KETTNER, S. 247.

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3

II. Der anthropologische und ethische Rahmen

1. Eine interkulturelle Argumentation

Wenn man die Menschenrechte zu eng an die neuzeitliche Rechtsentwicklung bindet,

also an eine bestimmte Kultur und Epoche, dann setzt man aufs Spiel, was der Begriff

verlangt: eine universale Gültigkeit. 11 Problematisch ist hier nicht die kulturinterne

Universalität, welche innerhalb einer Rechtsgemeinschaft, vielleicht sogar nur innerhalb

eines Staates, jedem Mitglied dieselben Grundrechte zusichert. Die Herausforderung

besteht vielmehr im Anspruch an eine zweite Universalitätsstufe, nämlich die sowohl

interkulturelle als auch überepochale Gültigkeit.12 Dieser Anspruch kann nur erfüllt

werden, wo die Legitimationsgrundlage von den Entstehungsbedingungen methodisch

abgekoppelt wird. Es muss gezeigt werden, dass das Rechtsinstitut der Menschenrechte

in seiner Legitimität von den historischen Bedingungen unabhängig ist, auch wenn es

sich im Abendland ausgebildet hat.

Die Forderung nach einer kulturneutralen Argumentation hat eine höhere Abstraktions-

ebene der Begründung zu Folge und bedeutet eine Abkoppelung der Debatte von öko-

nomischen Voraussetzungen oder politischen Systemen. Menschenrechte dürfen, ge-

mäss Höffe, nicht dadurch begründet werden, dass die neuzeitliche Wirtschaftsform, der

Kapitalismus, eines universal gültigen Rechtsschutzes bedarf. Auch der Absolutismus,

als eine bestimmte Entwicklungsphase des modernen Staates, dürfe als Grundlage einer

Menschenrechtsbegründung, nicht herangezogen werden. 13

Höffe unterscheidet die Menschenrechte auch von den Grundrechten und will somit die

vorstaatliche Geltung begründen. Der Mensch erhebt Anspruch auf die Menschenrechte,

bloss, und nur schon, weil er Mensch ist, unabhängig von einem Staatswesen. Die Men-

schen schulden sich die elementaren Menschenrechte gegenseitig, ohne dass sie von

einem Dritten gewährt und noch bevor sie als Grundrechte von einem Verfassungsgeber

positiviert werden.14 Die Grundrechte hingegen seien die elementaren Rechte jedes

Bürgers eines Staates.15

11

HÖFFE, 2009, S. 1. 12

HÖFFE 1998, S. 29. 13

HÖFFE 1998, S. 30. 14

LAMBERT, S. 34. 15

HÖFFE, 1991, S. 8.

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4

2. Konzept der theoretischen Sparsamkeit

Otfried Höffe legt seinen Begründungsüberlegungen Thesen über anthropologische und

ethische Anfangsbedingungen zugrunde, von denen er die Legitimität der Menschen-

rechte ableitet. Er befolgt dabei ein Muster, das er selbst als „Ethik plus Anthropolo-

gie“ beschreibt.16

Mit der anthropologischen Prämisse wird ein Begriff des Menschen entworfen, der ohne

ein bestimmtes Menschenbild auszukommen versucht, welches einem Kulturrelativis-

mus Vorschub leisten könnte. Insbesondere soll er von den abendlandsspezifischen Vo-

raussetzungen abstrahiert werden.17 Es gelte, so Höffe, einen streng universalistischen

Begriff vom Menschen zu entwickeln, eine prämissenarme, sozusagen sparsame Defini-

tion.18

Es sind v.a. zwei verschiedene Begriffe von Anthropologie, die Höffe von seinem Men-

schenbild loslöst. Zum einen die teleologische Anthropologie, wonach der Mensch sich

über Aufgaben und Chancen definiert, die er wahrzunehmen hat. Zum Anderen die

normative Anthropologie, die sich mit dem „wahrhaft humanen Menschen“ befasst. Bei

den Menschenrechten gehe es aber nicht um das Humanum. Es gehe nicht erst darum,

das Humane zu erkennen, bzw. gute Vorstellungen über die Selbstverwirklichung des

Menschen zu gewinnen, sondern es gehe umgekehrt bereits um die veritablen Anfangs-

bedingungen des Menschseins. 19 Anstatt also den Menschen von dem her zu definieren,

was ihm Glück, Selbstverwirklichung oder eine sinnerfüllte Existenz erlaubt, verab-

schiedet Höffe an dieser Stelle das teleologische Modell.20 Diese Umkehrung im anth-

ropologischen Denken, also die inhaltliche Bescheidenheit und die Konzentration auf

die Anfangsbedingungen, auf Elemente nämlich, die den Menschen als Mensch möglich

machen, möchte Höffe gar als kopernikanische Revolution der Anthropologie verstan-

den wissen.21

Was bleibt übrig, wenn man den Menschenbegriff von allen kulturspezifischen Beson-

derheiten abstrahiert? Höffes abgespeckte, „bloss“ partiale Sozialanthropologie nennt

die menschlichen Anfangsbedingungen, also die elementaren und angeborenen Interes-

16

HÖFFE 1998, S. 38. 17

LAMBERT, S. 14. 18

HÖFFE 1998, S. 32. 19

LAMBERT, S. 17. 20

HÖFFE 1998, S. 34. 21

HÖFFE, 1998, S. 34.

Page 10: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

5

sen des Menschen, auch transzendentale Interessen. Somit wird deutlich, dass der

scheinbare Mangel einer solchen Partialanthropologie, die Unbestimmtheit, tatsächlich

ein Vorzug ist. Es ist weder eine Gleichgültigkeit gegen das Humanum noch eine Re-

duktion, sondern ein Ausblenden der hier störenden Faktoren, eine Konzentration auf

das Wesentliche.22 Mit seiner Strategie der theoretischen Sparsamkeit schafft Höffe

somit eine Möglichkeit kulturneutraler Menschenrechtsbegründung.

3. Moralprinzip

Das gesuchte Begründungsargument stützt sich neben anthropologischen auch auf ethi-

sche Prämissen. Die zweite Quelle der Überzeugungskraft von Höffes Argumentation

liegt somit in einem Moralprinzip, mit dem die Stelle der „Ethik“ im Legitimationsmus-

ter „Ethik plus Anthropologie“ ausgefüllt wird.

3.1 Legitimer Zwang

Höffe leitet seine Idee von Gerechtigkeit über die Legitimation von Zwang ab. Er setzt

hier nicht bei personaler Gerechtigkeit an, sondern bei der politischen Gerechtigkeit.

Indem er erläutert, wie eine Rechts- und Staatsordnung „gerecht“ sein kann, schafft er

damit freilich einen umfassenden Gerechtigkeitsbegriff, den er auch auf Menschenrech-

te anwendet und der, wie sich zeigen wird, auch unabhängig von einer Rechts- oder

Staatsordnung Geltung erlangt.

Die Gerechtigkeitsperspektive kommt nicht erst bei Einzelentscheidungen zum Tragen,

sondern systematisch gesehen, sogar vorrangig bei den staatlichen Institutionen und

damit beim Grundgesetz: bei der Staats- und Verfassungsform.23 Aristoteles nennt eine

politische Ordnung gerecht, die dem Gemeinwohl, oder pointierter, Bürgerwohl dient;

dagegen hält er sie für verfehlt, wenn es lediglich um das Wohl der Herrschenden

geht.24 Seine Lehre der gerechten und ungerechten Staatsformen macht dabei eine Vo-

raussetzung, die in der Moderne in Frage gestellt wird: nämlich, dass es überhaupt ge-

recht ist, die Gesellschaft staatsförmig zu organisieren. Der Staat habe, gleichgültig, in

welcher Gestalt er auftritt, den Charakter von Herrschaft, selbst dort, wo er nicht ledig-

22

HÖFFE 2009, S.1. 23

HÖFFE 1991, S. 13. 24

HÖFFE 1991, S. 14.

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6

lich dem Herrscherwohl dient.25 Herrschaft wurde von manchem Staatsdenker mit ei-

nem „Moment des Furchtbaren“ oder dem „Potenzial des absoluten Grauens“ in Ver-

bindung gebracht.26 Höffe bemüht sich hingegen um einen neutralen Begriff der politi-

schen Herrschaft und definiert sie als „Zwangsbefugnis öffentlicher Gewalt“, die einen

Moment der Freiheitseinschränkung innehat. 27 Und es ist diese Einschränkung der

Freiheit, die der Legitimation bedarf. Es bedarf also einer Gerechtigkeitsidee, die eine

Antwort auf die in der Neuzeit verschärfte Legitimationsfrage zu geben vermag, ob es

einen Zwang von Menschen gegen Menschen geben darf; ob eine Herrschaft überhaupt

gerecht sein kann, was die Antike stillschweigend voraussetzt.

Höffe wendet hier das Argumentationsmuster der Konsenstheorie an, indem er schreibt:

„Ein Zwang ist nur dort legitim, wo sich die Zwangsunterworfenen mit ihm einverstan-

den erklären können. Weil andernfalls der Zwang den Charakter blosser Gewalt behält,

kann die Legitimation nicht von ausserhalb erfolgen, sondern lediglich von den Be-

troffenen selbst. Deren Zustimmung muss freilich nicht aktuell erfolgen; die Zustim-

mungsfähigkeit genügt.“28

Vertritt man diese Konsenstheorie, bleibt die Frage offen, warum man denn die Zu-

stimmung geben sollte. Höffe beantwortet dies damit, dass der Zwang, der als solcher

zwar einen Nachteil darstellt, in der einen oder anderen Form aber einen grösseren Vor-

teil verspricht.

3.2. Distributiver Vorteil

Ein solcher Vorteil kann in einem kollektiven oder aber in einem distributiven Sinne

verstanden werden. Der kollektive Vorteil basiert auf der Nützlichkeitsidee, entspricht

also dem Utilitarismus.29 Dessen Grundformel lautet, dass diejenige Handlungsregel

oder Norm im moralischen Sinne gut bzw. richtig ist, deren Folgen das grösste Mass an

kollektivem Wohlergehen erzeugen. Dabei wird ein Prinzip vertreten, welches erlaubt

den Nachteil der einen gegen den Vorteil der anderen zu verrechnen. Daraus folgt, dass

die Zwangsbefugnis schon dann als legitim gelten würde, wenn zwar gewisse Teilgrup-

pen benachteiligt, vielleicht sogar extrem benachteiligt werden (wie z. B. Sklaven oder

25

HÖFFE 1991, S. 14. 26 Ausspruch von T. W. Adorno am 16. deutschen Soziologentag in Stuttgart, 1969. Sekundärquelle: HÖFFE 1991, S. 15. 27

HÖFFE 1991, S. 15. 28

HÖFFE 1991, S. 20. 29

HÖFFE 1991, S. 21.

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7

kulturell unterdrückte Gruppen), jedoch der Vorteil für die Gruppe als ganze per Saldo

überwiegt.30 Da hier die Zwangsbefugnis für die Benachteiligten aber den Charakter

blosser Gewalt behält, reicht die utilitaristische Legitimation nicht aus. Das Legitimati-

onskriterium ist daher zu verschärfen, um das im Utilitarismus enthaltene Begrün-

dungsdefizit zu überwinden. Zur kollektiven Interpretation muss daher der Vorteil eines

jeden Betroffenen, der distributive Vorteil, hinzutreten. Höffe folgert: „Eine Zwangsbe-

fugnis ist dann, aber auch nur dann rundum legitim, wenn das Bestehen der Zwangsbe-

fugnis vorteilhafter als das Nichtbestehen ist und wenn [so die verschärfende Bedingung]

der grössere Vorteil für jeden der Zwangsunterworfenen zutrifft.“31

Das Kriterium des distributiven Vorteils ist für Höffe somit nicht nur notwendige, son-

dern auch hinreichende Bedingung für die Legitimation sozialen Zwanges. Es verkörpe-

re damit das oberste Prinzip politischer Gerechtigkeit, welches erfüllt sein müsse, um

Legitimität für zwangsbewehrte soziale Verhältnisse – vor allem rechtliche und staatli-

che Verhältnisse - beanspruchen zu können.32 In dem Kriterium des distributiven Vor-

teils sieht Höffe ein Gerechtigkeitsprinzip, welches alternativen Prinzipien33 überlegen

ist, weil es fundamentaler und voraussetzungsärmer sei als diese.34 Damit bleibt er auch

in seinen ethischen Prämissen konsequent bei einem Konzept der Sparsamkeit.

Einen Anspruch auf Menschenrechte kann es generell nur geben, wo jemand anderer

diesen Anspruch zu erfüllen hat. Wer Rechte legitimieren will, muss daher die entspre-

chenden Plichten rechtfertigen. Daher sind Menschenrechte an korrelative Menschen-

pflichten gebunden.35 Diese Pflichten stellen eine Freiheitseinschränkung für Individuen

dar und somit einen sozialen Zwang. Die Einschränkung der Freiheit durch die Men-

schenrechte kann, so wie oben dargelegt, durch den distributiven Vorteil aller legiti-

miert werden. Es stellt sich demnach die Frage, ob mit einem gegenseitigen Tausch von

Freiheitsverzichten ein distributiver Vorteil erreicht werden kann bzw. ob ein solcher

Tausch gerecht ist.

30

HÖFFE 1991, S. 21. 31

HÖFFE 1991, S. 22. 32

KOLLER, S. 289. 33 Z.B. dem Prinzip der universellen Konsensfähigkeit in der Diskursethik. 34

KOLLER, S. 289. 35

HÖFFE 1998, S. 35.

Page 13: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

8

3.3. Tauschgerechtigkeit

Beim primären Zwang, über den hier diskutiert wird, wird der Vorteil nicht von oben,

vom Staat oder sonst einem Dritten verteilt, sondern unter den Rechtsgenossen selbst

ausgetauscht. Es geht Höffe demnach bei der Gerechtigkeit, welche den Menschenrech-

ten innewohnt, nicht um Verteilungsgerechtigkeit, sondern um Tauschgerechtigkeit.36

Er entwickelt hierzu folgenden Gedanken:

„Auf die Anerkennung einer Leistung besteht dort ein moralischer Anspruch, wo die

Leistung lediglich unter einem Vorbehalt erbracht wird: unter der Voraussetzung, dass

eine korrespondierende Gegenleistung erfolgt.“37

Der Anspruch, den die Menschenrechte meinen, stellt daher kein Geschenk dar, welches

man sich gegenseitig macht oder einseitig offeriert, etwa aus Sympathie, Mitleid oder

auf Bitten hin. Es geht vielmehr um eine Gabe, die nur unter der Bedingung der Gegen-

gabe erfolgt.38 Es bedarf also einer Wechselseitigkeit für die Legitimation; man kann

auch sagen: Menschenrechte entstehen aus einem Tausch heraus.

Dabei müsse der Einzelne nur auf seinen eigenen Vorteil achten, und nicht etwa die

Interessen anderer berücksichtigen. Ein aufgeklärter (oder konsequenter) Egoismus rei-

che aus für einen solchen Tausch, da in diesem Fall zwischen Gerechtigkeit und Selbst-

interesse eine Koinzidenz liegt.39 Worauf es ankommt, ist, dass Geben und Nehmen

wechselseitig stattfinden und dass darüber hinaus zwischen Gabe und Gegengabe ein

ungefähres Gleichgewicht besteht.40 Die Klugheit der Tauschenden wird dabei voraus-

gesetzt, und damit auch die Annahme, dass man sich nur auf einen Tauschhandel ein-

lässt, wenn die Tauschobjekte etwa gleichwertig sind.41

Etwas anschaulicher betrachtet lassen sich Tauschakte, welche normalerweise auf der

Grundlage von gewöhnlichen Interessen erfolgen, auch folgendermassen darstellen:

„Ich habe Interesse, einen Gegenstand von dir zu dem Meinigen zu machen, und biete

dir dafür an, dich etwas Gleichwertiges von mir zu dem Deinigen machen zu las-

sen.“ Quid pro quo. Das Tauschangebot wird erst unter der Bedingung der Tauschge-

rechtigkeit akzeptabel.42 „Denn wenn für mich das Deinige, welches du mir überträgst,

36

LAMBERT, S. 24. 37

HÖFFE 1998, S. 36. 38

HÖFFE 1998, S. 37. 39

HÖFFE 1992, S. 65. 40

HÖFFE 1998, S. 37. 41

LAMBERT, S. 25. 42

KETTNER, S. 251.

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9

gleichwertig ist mit dem Meinigen, welches ich dir übertrage, dann steht es mir zwar

immer noch frei, dein Tauschangebot aus vielen (verschiedenen) Gründen abzulehnen

oder zu kritisieren, jedoch nicht aus dem Grund, dass dein Angebot unfair sei.“ Unfair

in dem Sinne, wie Angebote unfair sind, welche mit der Absicht gemacht werden, einen

Nutzen auf Kosten eines anderen zu erlangen. 43

Höffe meint mit Tauschgerechtigkeit die Elementarform der Gerechtigkeit des „gleich

für gleich“, die freiwilligen Tauschakten innewohnt. Er greift auf das Prinzip des Äqui-

valententauschs zurück; auf das quid pro quo wechselseitigen Tauschs von Gleichwer-

tigem.44 Er will damit zeigen, dass die Freiheitsverzichte, die Individuen bei Menschen-

rechten eingehen, gleichwertig sind. Diese Gleichwertigkeit der Handlungsfreiheit jedes

Menschen lässt sich auf verschiedene Weise gut begründen, meist innerhalb philoso-

phisch anspruchsvoller Theoreme. Doch Höffe folgt auch hier einem Konzept theoreti-

scher Bescheidenheit, um sich den in der Ethik sonst üblichen Kontroversen zu entzie-

hen und die Kulturneutralität seiner Begründung aufrechtzuerhalten.45 Daher erwähnt er

keinen kategorischen Imperativ von Kant, kein Menschenwürdekonzept, kein Diskurs-

prinzip, sondern argumentiert schlicht mit Tauschgerechtigkeit.46

Höffe hält die Tauschgerechtigkeit ausserdem für eine Lesart der Goldenen Regel, wel-

che als kultur-invariantes moralisch-normatives Konzept gilt.47 Als alter und verbreite-

ter Grundsatz der praktischen Ethik findet sich diese Maxime moralischen Handelns in

nahezu allen Kulturen wieder und war schon Bestandteil vieler ethischer Konstrukte

bevor sie in Judentum und frühem Christentum formuliert wurde.48 Die bekannteste

Formulierung in westlichen Gesellschaften findet sich jedoch im Alten Testament der

Bibel: „Was dir selbst verhasst ist, das mute auch einem anderen nicht zu.“49 In seiner

positiven Form entstand daraus das bekannte gereimte Sprichwort: „Was du nicht willst,

dass man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu.“

Höffe legt in seinen Ausführungen Wert darauf, dass man seinen Begriff des Tauschs

nicht durch eine zu enge oder kleinliche Auffassung missversteht. Dies wäre beispiels-

weise der Fall, wenn man beim Tausch lediglich an Geld, an Waren oder an jene

43

KETTNER, S. 251. 44

KETTNER, S. 250. 45

HÖFFE 1998, S. 37. 46

KETTNER, S. 250. 47

GENSLER, S. 125. 48

GENSLER, S. 122. 49 Buch Tobit, Kapitel 4, Vers 15.

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10

Dienstleistungen denkt, die man sich in unseren Gesellschaften kaufen kann.50 Es geht

ihm nicht um die materiellen Vorteile, sondern vielmehr um die ideellen Vorteile, zu

denen bspw. Macht, Sicherheit oder auch gesellschaftliche Anerkennung gehören. Vor

allem geht es ihm aber um Freiheit, Handlungsfreiheit und damit um Chancen zur

Selbstverwirklichung.51 Höffe möchte den Tausch also nicht als positives Nehmen und

Geben verstanden wissen, sondern in seiner grundsätzlicheren Bedeutung als negativen

und „durch und durch nichtökonomischen“ Tausch: der wechselseitige Verzicht, Leib

und Leben, die Religionsausübung bzw. die Gewissens- und Meinungsfreiheit und das

Eigentum anderer mit Gewalt zu bedrohen.52

Da Höffe als Gerechtigkeitsprinzip den distributiven Vorteil anerkennt, müssen diese

Freiheitsbeschränkungen und die dafür nötigen Zwangsbefugnisse folglich in allgemein

vorteilhafter Weise ausgestaltet sein. Es bedarf einer sozialen Ordnung, welche, wie

Höffe sagt, eine „distributiv vorteilhafte Freiheitskoexistenz“ gewährleisten muss. 53

Eine solche Freiheitskoexistenz könne erreicht werden, wenn jede Person auf einen Teil

ihrer uneingeschränkten Freiheit verzichtet, um dafür einen Bereich gesicherter Freiheit

zu bekommen. „Die Freiheitseinschränkung wird also gegen eine Freiheitssicherung

eingetauscht, der Freiheitsverzicht mit einem Freiheitsanspruch belohnt“ 54

Auf diese Weise können sich die Menschen einen Anspruch auf jene Freiheiten sichern,

deren Wert überwiegt im Vergleich zum Preis der Freiheitsverzichte, die zu leisten

sind.55 Die Tauschgerechtigkeit erfülle das Kriterium des distributiven Vorteils; der

Tausch sei somit grundlegend gerecht.

Es ist durchaus nachvollziehbar, warum Höffe als normativ-moralische Grundlage sei-

ner Begründung die Tauschgerechtigkeit wählt. Um seinem Menschenrechtsargument

den Faktor der Universalität zusprechen zu können, verbindet er das quid pro quo der

Tauschgerechtigkeit mit der Goldenen Regel, welche sich in allen Kulturen als gültig

interpretieren lässt. Ausserdem scheint er das Prinzip des gerechten Äquivalenten-

tauschs für so gefestigt zu halten, dass es nicht weiter begründungsbedürftig sei und ein

ebenso solides wie elegantes Moralprinzip darstelle.

50

HÖFFE 1991, S. 28. 51

HÖFFE 2001, S. 4. 52

HÖFFE 1991, S. 23. 53

HÖFFE 1987, S. 382. 54

HÖFFE 1987, S. 384. 55

KOLLER, S. 295.

Page 16: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

11

III. Transzendental-kontraktualistische Argumentation

1. Pflicht zum Freiheitsverzicht?

Die Anerkennung des Tauschcharakters der Freiheitsrechte ist ein erster Schritt in der

Argumentation für die Begründung von Menschenrechten. Die Idee des Kontraktualis-

mus‘ ist in der Geschichte der Philosophie schon zu Beginn der Aufklärung entstanden

und hat seither Eingang in eine Vielzahl von philosophischen Theorien gefunden. Zu

den bekanntesten Vertragstheoretikern gehören Thomas Hobbes mit seinem „Levia-

than“, Jean-Jacques Rousseau mit dem Gesellschaftsvertrag und John Locke mit seinen

zwei Abhandlungen über die Regierung. Auch Immanuel Kant und John Rawls haben

entscheidende Beiträge an die Entwicklung der kontraktualistischen Idee geliefert und

dürfen in dieser Aufzählung von Staats- und Rechtsphilosophen nicht fehlen.

Der zweite Schritt der Legitimationsaufgabe – und damit auch wichtigste Problemstel-

lung für die Theorie des Kontraktualismus – ist durch die Frage gegeben, ob sich die

Bürger auf diesen Vertrag einlassen sollen oder gar müssen. Die Frage könnte auch ra-

dikaler gestellt werden: Gibt es überhaupt zwangsbefugte Pflichten? Also Pflichten,

deren Anerkennung mehr Vorteile erbringt als deren Ablehnung, welche mit Zwang

durchgesetzt werden können?

Höffe versucht aufgrund dieser Frage ein Gedankenexperiment und nimmt ‚e contra-

rio‘ einen vollständigen Verzicht solcher Pflichten an; dies nennt er den primären Na-

turzustand.56 Auf der einen Seite kann so ein jeder die völlige Uneingeschränktheit sei-

ner Willkür- oder Handlungsfreiheit geniessen. Andererseits ist in diesem Zustand jeder

der Willkürfreiheit des anderen ausgesetzt. Der primäre Naturzustand besteht also in

einem „Sowohl-Opfer-als-auch-Täter-Sein“57 und Höffe sieht darin sogar in einer dra-

matischen Zuspitzung eine Entsprechung mit Hobbes‘ „Krieg eines jeden mit jedem“.58

Wenn man dagegen wechselseitige Freiheitsverzichte annehmen würde, so bliebe die

Wechselbeziehung von Opfer und Täter zwar erhalten, aber aus dem Sowohl-als-Auch

würde sich ein Weder-Noch ergeben.59 Dies nennt Höffe den sekundären Naturzustand

oder auch die natürliche Rechtsgemeinschaft.60 Darin findet ein Zusammenwirken in

56

HÖFFE 1992, S. 66. 57

HÖFFE 1991, S. 24. 58

LAMBERT, S. 26. 59

HÖFFE 1991, S. 24. 60

LAMBERT, S. 26.

Page 17: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

12

Form eines Tausches satt, wobei das gegenseitige Geben und Nehmen in Verzichten

besteht, somit also ein negativer Tausch ist. Dieser negative Tausch ist jedoch durchaus

in seiner positiven Bedeutung zu verstehen: die gegenseitigen Freiheitseinschränkung

stellen als solche eine Freiheitssicherung dar.

„Der Freiheitsverzicht wird mit einem Freiheitsrecht belohnt. Wo also beispielsweise

wechselseitig auf die Tötungsfreiheit verzichtet wird, da wird automatisch die Integrität

von Leib und Leben gesichert.“61 Es kann also festgehalten werden, dass die Freiheits-

verzichte „die Bedingung der Möglichkeit der entsprechenden Freiheitsrechte“ darstel-

len.62

Es fragt sich nun, was die Menschen lieber wollen. Ziehen sie die Freiheit zu töten, aber

mit der Gefahr selbst getötet zu werden – also den primären Naturzustand – vor, oder

bevorzugen sie den sekundären Naturzustand, welcher die Integrität von Leib und Le-

ben gewährleistet, jedoch zum Preis, seinesgleichen nicht mehr töten zu dürfen? So ge-

sehen geht es um die Interessenlage der Einzelnen und eine verpflichtende Bindung bei

der Wahl ist bis hierhin noch nicht ersichtlich. Hobbes argumentiert in seiner Variante

des Kontraktualismus, dass jeder Mensch ein höchstes Begehren habe, nämlich den ge-

waltsamen Tod durch seinesgleichen zu vermeiden und darum müsse jeder an so einem

Tausch interessiert sein, was eine Verpflichtung dazu rechtfertige.63 Hobbes Argumen-

tation greift hier aber nicht, behauptet Höffe, da es so etwas wie ein dominantes Begeh-

ren nicht geben und schon gar nicht den Einzelnen unterstellt werden könne.64 Auch

wenn man von einem höchsten Begehren ausgeht, anstatt aber von einem dominanten,

ein inklusives Interesse annimmt, könne man daraus keine Pflicht zum Freiheitsverzicht

herleiten. Dieses inklusive Interesse wäre Glück, i.S.v. ‚eudaimonia‘, und schliesst alle

anderen Interessen in sich ein – darum auch „inklusiv“. Inhaltlich entspräche es nämlich

ebenfalls einem dominanten Begehren, was Höffe ja nicht gelten lassen will.65

Die aus der politischen Philosophie bekannte Denkfigur des Kontraktualismus ist dem-

nach trotz einer gut durchdachten und weitreichenden Argumentation nicht in der Lage,

den Verpflichtungssinn von moralischem Sollen zu begründen. Die kontraktualistische

Selbstbindung – ob man sich auf einen Tausch einlassen will oder nicht –hängt schliess-

61

HÖFFE 1992, S. 67. 62

HÖFFE 1992, S. 67. 63

LAMBERT, S. 26. 64

HÖFFE 1992, S. 68. 65

HÖFFE 1992, S. 69.

Page 18: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

13

lich von der gegebenen Interessenlage ab.66 Es steht jedem frei, sich nicht einlassen zu

wollen, auch dann, wenn ein bestimmter Tausch tatsächlich für alle Beteiligten, die als

Tauschende auf etwas vom Ihrigen verzichten, sehr vorteilhaft wäre; vorteilhafter jeden-

falls, als der Verzicht auf den Verzicht es sein würde. Und sogar dann bleibt einem die

Möglichkeit nicht zu tauschen noch offen, wenn diese Vorteilhaftigkeit (für den Einzel-

nen) zugleich auch für alle Betroffenen gerecht wäre. (Denn auch ein gerechter Tausch

bleibt ein Tausch, auf den man sich einlassen kann, wenn man will, aber nicht einlassen

muss, wenn man nicht will.)

Aber fundamentale Freiheitsrechte – und damit auch Menschenrechte – brauchen einen

Verpflichtungssinn von moralischem Sollen, damit sie Geltung erlangen können. Wür-

den sie rein auf Freiwilligkeit basieren, wäre ihre Existenz nur minder bedeutend und

ihr Sinn verfehlt. Höffe sucht einen Ausweg aus dieser Problemlage durch Transzen-

dentalisierung:

„Um Freiheitsrechte zu begründen, muss man eine so allgemeine Ebene [menschlicher

Interessen] finden, dass der entsprechende Freiheitstausch tatsächlich jeden Menschen

interessiert. Diese Bedingung wird dort erfüllt, wo man für die Freiheitsverzichte Vor-

teile findet, die für jeden Menschen dermassen elementar sind, dass keiner auf sie ernst-

haft verzichten kann.“67

Für gewöhnliche Interessen trifft das noch nicht zu, jedoch für ein Interesse zweiter Stu-

fe: Diese sind Bedingungen, die es dem Menschen überhaupt erst möglich machen, sei-

ne Interessen erster Stufe – so verschieden sie auch sind – zu verfolgen.68 Höffes Be-

gründungsargument der Menschenrechte stützt sich also wesentlich auf den Tausch von

Freiheitsverzichten, weil dieser Tausch im „transzendentalen“ Interesse von uns allen

liegt. Dieser Ansatz wird im Folgenden näher erklärt.

2. Transzendentale Interessen

Höffe hat diese Interessen zweiter Stufe mit dem Begriff transzendental beschrieben.

Dieser Sprachgebrauch stammt von Immanuel Kant, den er in seiner „Kritik der reinen

Vernunft“, in Abgrenzung zum Begriff der Transzendenz formulierte. Während das

Transzendente eine Bezeichnung für die Eigenschaft ist, jenseits des Bereichs der sinn-

66

KETTNER, S. 253. 67

HÖFFE 1992, S. 70. 68

KETTNER, S. 254.

Page 19: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

14

lichen Wahrnehmung und ihrer Gegenstände zu sein, stellt das Transzendentale nach

Kant eine erkenntnistheoretische Begründungsweise dar. Diese untersucht die allgemein

notwendigen Bedingungen, welche ein gegenständliches Erkennen ermöglichen.69 Es

geht also um die Erkenntnis aus Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, oder

noch knapper: um die Bedingungen der Möglichkeit.70 Höffe wandelt diesen kantischen

Sprachgebrauch ab und nennt „transzendental“ das Interesse von (handlungsfähigen)

Menschen an den Bedingungen, die ihnen ermöglichen, wirklich so zu handlen, wie sie

handeln wollen. Transzendental i.S.v. Höffe sind also:

„[…] alle Interessen an Bedingungen dafür, dass man gewöhnliche [= nichttranszenden-

tale] Interessen überhaupt haben und verfolgen kann. Transzendentale Interessen bein-

halten alles, was man immer schon will, wenn man irgendetwas will, ganz unabhängig

von dem, was man inhaltlich anstrebt oder meidet.71“

Mit dem, was einer, der irgendwas will, immer schon will, meint Höffe: „ein handlungs-

fähiges Wesen zu sein.“72

An den Bedingungen für die Handlungsfähigkeit hat ein Mensch, laut Höffe, demnach

logisch höherstufige Interessen, die dem Menschen angeboren, unveränderlich und un-

veräusserlich sind.73 Interessen, die der Mensch bloss deshalb, weil er Mensch ist, hat.

Es handelt sich um elementare Interessen, auf die keiner verzichten kann, weil jeder

gewisse Interessen verfolgen will. Ein Beispiel für logisch höherstufige, transzendentale

Interessen ist die Integration von Leib und Leben. Höffe betont hier die Abgrenzung

von Hobbes‘ alles überragenden Interessen; es läge kein dominierendes Interesse vor,

wohl aber ein transzendentales Interesse:

„Denn auch, wer nicht sonderlich am Leben hängt, hat deshalb ein Interesse daran, weil

er andernfalls weder etwas begehren noch sein Begehren zu erfüllen trachten kann.“74

Was immer man konkret begehrt und unternimmt zu Realisierung des Begehrten: Als

Lebewesen braucht der Mensch dafür Leib und Leben. Das Leben ist eine notwendige

Bedingung für Handlungsfähigkeit.

Interpretiert man das Handeln auch als sprachgebundenes Tun und Lassen, dann hat die

Meinungsfreiheit eine analoge Bedeutung und stellt ein weiteres Beispiel für ein trans-

zendentales Interesse dar. Höffe schlägt vor, dass man alle anderen Freiheitsrechte im 69

KETTNER, S. 254. 70

HÖFFE 1991, S. 27. 71

HÖFFE 1998, S. 34. 72

HÖFFE 1998, S. 34. 73

HÖFFE 1991, S. 24. 74

HÖFFE 1998, S. 38.

Page 20: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

15

Wesentlichen unter diese beiden Elementarrechte gliedern könne: Die Integrität von

Leib und Leben sei die physische Bedingung für Handlungsfähigkeit, während im Recht

auf den freien Gebrauch der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit die kognitive und

zugleich soziale Bedingung liege.75 Ausserdem seien wir als sozialisationsabhängige

Kooperationswesen transzendental interessiert an identitätsbildenden Sozialbeziehungen,

was darum als drittes Elementarinteresse gelten könnte.76

3. Wechselseitigkeit

Transzendentale Interessen alleine genügen noch nicht für eine Rechtfertigung von so-

zialen Zwangsbefugnissen. Dafür müssen sich Interessen zusätzlich zur Bedingung des

Transzendentalen noch durch eine innewohnende Sozialität auszeichnen. Höffe sieht

diese inhärente Sozialität in den Interessen von Lebensschutz und Meinungsfreiheit,

welche sich nur in und aus Wechselseitigkeit realisieren lassen.77 Er führt an dieser Stel-

le Rousseau an, welcher die Pflichten, die er im Contrat social ‚engagements‘ nennt und

die die Menschen an den Gesellschaftskörper binden, aus einem Grund als verpflichtend

ansieht: weil sie auf der Gegenseitigkeit beruhen. „Man kann bei ihrer Erfüllung nicht

für andere arbeiten, ohne auch für sich zu arbeiten.“78

Das heisst, dass sich gewisse Interessen nur durch Wechselseitigkeit, d.h. Kooperation

erreichen lassen.79 Bei einem Tausch, i.S.v. gegenseitigen Freiheitsverzichten, ist man

in seiner Wahl somit dort gebunden, „wo sich das transzendentale Moment mit einem

sozialen Moment verbindet und so eine inhärente Sozialität oder angeborene Wechsel-

seitigkeit darstellt.“80 Sind Interessen so beschaffen, dass man sie nicht aufgeben kann

und darüber hinaus auch an Wechselseitigkeit gebunden, dann überträgt sich diese „Un-

aufgebbarkeit“ auf die Wechselseitigkeit. In diesem Fall ist man in seinen Optionen

(bzw. seiner Wahl) nicht mehr frei und der entsprechende Tausch ist unverzichtbar.

75

HÖFFE 1991, S. 27. 76

KETTNER, S. 255. 77

HÖFFE 1998, S. 37. 78

HÖFFE 1992, S. 69. 79

LAMBERT, S. 27. 80

HÖFFE 1998, S. 37.

Page 21: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

16

4. Diachrone Phasenverschiebung

Die bis hierhin dargelegten Elemente stellen den Kern von Otfried Höffes Begründung

dar. Seine Argumentation lässt jedoch noch entscheidende Fragen offen, die eine Er-

gänzung in der Argumentation fordern, welche im Folgenden thematisiert werden soll.

Die meisten Menschenrechte lassen sich von drei Gruppen transzendentaler Interessen

her rekonstruieren. Die Anfangsbedingungen des Menschen als Lebewesen umfassen

Leib und Leben. Als Sprach- und Vernunftwesen hat er ein transzendentales Interesse

an Sprach- und Denkfähigkeit (Meinungsfreiheit). Und als Sozial- und Kooperations-

wesen bedarf er positiver Sozialbeziehungen. Ohne entsprechende Kooperationsverhält-

nisse kann der Mensch nicht zum Menschen werden.81 Doch die Einsicht, dass diese

Interessen unverzichtbar sind, reicht noch nicht aus, um daraus Ansprüche geltend ma-

chen zu können. Für die Legitimation als Menschenrechte bedarf es eines zusätzlichen

Nachweises für den transzendentalen Tausch. Dieser wechselseitige Tausch erweist sich

jedoch in der Praxis als schwieriger, als er in der Theorie erscheint.

Höffe denkt dabei vor allem die Problematik der menschlichen Generationenstruktur

und ergänzt hier seine Legitimation der Freiheitsrechte mit dem Argument der „Pha-

senverschiebung“ oder der „Diachronie“ des Tauschs.82 Es geht im dabei um den wich-

tigen Punkt der unterschiedlichen (tatsächlichen) Macht- und Drohpotenziale innerhalb

der Gesellschaft. Da ein Mensch so gut wie machtlos auf die Welt kommt und im höhe-

ren Alter wieder einen grossen Teil seiner Macht verliert, kann er in diesen beiden Le-

bensphasen zu wenig anbieten für den transzendenten Freiheitstausch. Es scheint so,

dass der Mensch in diesen Phasen seiner Biografie zum Tausch nicht fähig ist.83 Ein

Tausch ohne Gegenleistung kann so aber nicht stattfinden, es wäre dann nämlich eine

Leistung der Solidarität und nicht der Gerechtigkeit.84 Höffe will aber an seinem stren-

gen Begriff der Menschenrechte festhalten, denn zwangsbefugte Pflichten würden sich

nur aus einer Gerechtigkeitsperspektive legitimieren lassen.85 Er versucht, das Tausch-

problem zwischen den Generationen durch die Mitberücksichtigung der Zeitperspektive

zu lösen. Dazu konstruiert er, anstelle des bisher synchron betrachteten Freiheitstauschs,

einen phasenverschobenen, diachronen Tausch.

81

HÖFFE 1998, S. 39. 82

HÖFFE 1998, S. 40. 83

HÖFFE 1998, S. 40. 84

LAMBERT, S. 28. 85

HÖFFE 1992, S. 71.

Page 22: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

17

Um heranwachsen zu können, haben Kinder ein Interesse daran, dass man ihre Schwä-

che nicht ausnützt; ebenso die gebrechlich gewordenen Eltern, um in Ehren alt zu wer-

den. Für die mittlere Generation ist es deshalb vorteilhaft, ihre Machtüberlegenheit ge-

gen die junge Generation nicht auszuspielen, weil sie, wenn die Kinder heranwachsen,

sie selbst aber gebrechlich geworden sind, dann ihrerseits nicht den Machtpotenzialen

der nächsten Generation ausgesetzt sein wollen.86

Aus dieser generationenübergreifenden Perspektive zeigt sich, dass es nicht Solidarität

ist, sondern Gerechtigkeit, genauer: Tauschgerechtigkeit, welche die beiden „schwäche-

ren“ Gruppen in den allseits vorteilhaften Tausch mit einbeziehen.87

5. Generationenvertrag

Ausgehend von der Idee des phasenverschobenen Tauschs dehnt Höffe sein Gedanken-

konstrukt noch aus und erweitert den „Familienvertrag“ zu einem „Generationenver-

trag“. Wenn man zunächst davon ausgeht, dass der diachron verschobene Tausch von

Hilfsleistungen innerhalb der Familie, Grossfamilie oder Sippe stattfindet, kann man

von einer Art Eltern-Kind-Vertrag sprechen.88 Höffe will nun den Sozialstaat in diese

Beziehung einbringen, der notwendig sei, um einerseits die zunehmende Komplexität

der Sozialverhältnisse bewältigen zu können und andererseits um die Eltern nicht vom

(zukünftigen) Verhalten ihrer Kinder abhängig zu machen.89 Ein solcher Generationen-

vertrag soll also Primärinstitutionen wie z. B. die Familien entlasten und die tauschver-

traglichen Pflichten auf Sekundärinstitutionen wie z. B. das politische Gemeinwesen

übertragen.

Höffe geht sogar noch weiter und erkennt ein phasenverschobenes Tauschverhältnis von

Eskimos, Indianern, Indios und anderen Ureinwohnern mit den (meist) westlichen Völ-

kern, welche in der Vergangenheit den Besitz von Ersteren gewaltsam und ohne zu-

reichende Gegenleistungen an sich genommen haben. 90 Ebenfalls sieht er Entschädi-

gungsaufgaben gegenüber den Schwarzen Nord- und Südamerikas sowie gegen weitere

Gruppen, denen durch Sklaverei, durch Leibeigenschaft oder durch andere Vorgehens-

weise über Jahrhunderte der Zugang zu Eigentumstiteln, Bildung und sozialen Aufstieg

86

HÖFFE 1992, S. 71. 87

LAMBERT, S. 29. 88

HÖFFE 1998, S. 41. 89

HÖFFE 1998, S. 41. 90

HÖFFE 1998, S. 43.

Page 23: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

18

versperrt worden ist.91 Ähnliches gelte für Kolonien, denen die ehemalig kolonialherr-

schaftlichen Staaten nun einen Ausgleich schulden würden. Höffe wendet sein Argu-

mentationsmuster gar auf die kollektive Benachteiligung der Frauen in früheren Genera-

tionen an und sieht so eine mögliche Rechtfertigung für eine vorübergehende Bevorzu-

gung der Frauen in der Arbeitswelt von heute.92

Für Höffe lässt sich mit dem Tauschdenken auch die neue soziale Frage, die nach dem

Schutz der natürlichen Umwelt, behandeln. Ein gegenseitiger Tausch mit der Natur wird

aufgrund ihrer naturalen Beschaffenheit freilich nicht stattfinden können. Es bedarf als

Ergänzung der Idee von ursprünglichen Verfügungsrechten über die Natur. Die Art wie

die natürliche Umwelt der jeweils nächsten Generation hinterlassen wird, bestimmt de-

ren Lebenschancen und Lebensrisiken entscheidend mit. Zu einem gerechten Tausch

zwischen den Generationen gehören deshalb Vorgaben über die Qualität der Natur. Die

jeweils vorangehende Generation soll der Jüngeren keine Hypotheken vererben, für die

keine entsprechend hohen Entschädigungen mitvererbt werden. Deshalb wäre bspw. ein

Abbau von nicht erneuerbaren Energiequellen nur unter bestimmten Bedingungen ge-

recht, z. B., dass er nicht schneller erfolgt, als man neue Quellen erschliesst.93 Entschei-

dender Gedanke für den Umweltschutz ist für Höffe hierbei, das die naturale Natur als

Gemeineigentum der Menschheit zu betrachten ist, die jeder Generation gleichermassen

zustehe, wie auch jedem Individuum innerhalb der Generationen. Nur so könne man als

Verteilungsprinzip gegenüber dem naturalen Gemeineigentum ein Gleichheitsprinzip

vertreten, welches ja Voraussetzung für einen gerechten Tausch ist.94

IV. Kritik

Otfried Höffes Theorie einer Menschrechtsbegründung hat weitreichende Reaktionen

einer Vielzahl von Rechtstheoretikern und Philosophen ausgelöst. Neben Wertschät-

zung wurde auch ein breites Spektrum an Kritik gegenüber seinem Argumentationsmus-

ter laut. Ein wichtiger Punkt, der von den meisten Kritikern mehr oder weniger ein-

stimmig bemängelt wurde, soll hier zum Schluss noch dargelegt werden.

91

HÖFFE 1998, S. 43. 92

HÖFFE 1998, S. 43. 93

HÖFFE 2001, S. 9. 94

HÖFFE 1998, S. 45.

Page 24: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

19

Die Bedenken, die das Höffesche Tauschdenken auslöst, richten sich gegen die These,

dass die Tauschgerechtigkeit die grundlegende Gerechtigkeitsform sei und der distribu-

tive Vorteil eine genügend starke Gerechtigkeitsprämisse darstelle um das angepeilte

Begründungsziel erfüllen zu können. Das Problem liege dabei vor allem in den realitäts-

fernen Anfangsbedingungen, von denen Höffe ausgeht.95

Geht man vom Kriterium des distributiven Vorteils als oberstem Prinzip der Gerechtig-

keit aus, aus dem sich alle anderen Gebote der Gerechtigkeit ableiten lassen sollen, dann

scheint eine soziale Ordnung als legitim, wenn sie für alle Beteiligten mit einem Nut-

zenzuwachs gegenüber der für sie im Anfangszustand erreichbaren Nutzenposition ver-

bunden ist.96 Diese anfängliche Nutzenposition hängt aber von den anteilsmässigen Fä-

higkeiten der Individuen und den daraus resultierenden Machtverhältnissen ab. Sind

diese Machtverhältnisse ungleich – was wohl der Realität entspricht – dann scheint es

sehr ungewiss, ob überhaupt eine soziale Ordnung entstehen kann, die jeder Person zum

Vorteil dient und jeder Person gleiche Rechte und gleiche Chancen einräumt.97

Höffe selber geht von einer Ausgangssituation aus, die er den primären Naturzustand

nennt, welcher als ein Zustand zu denken ist, in dem die Menschen durch keinerlei sozi-

ale Normen eingeschränkt sind. Unter diesen Anfangsbedingungen steht es den Men-

schen daher offen, ihre Interessen mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, zu

verfolgen. Dabei hängen die Chancen der einzelnen Personen, sich gegen andere zu

behaupten, von ihren jeweiligen Machtressourcen ab. Dies sind ihre Körperkräfte und

intellektuelle Fähigkeiten, ihre Gewaltmittel, materiellen Güter und Machtvorteile, die

sie durch den Zusammenschluss zu Gemeinschaften und Koalitionen erhalten.98 Da in

der Realität nicht alle über die gleichen Machtressourcen verfügen, kommt es zu

Machtunterschieden, die es den Stärkeren ermöglichen, den Schwächeren ihren Willen

aufzuzwingen. In dieser Situation spricht nichts mehr dafür, dass es für alle Beteiligten

von Vorteil ist, sich auf einen wechselseitigen Freiheitsverzicht einzulassen.

Folgendes übernommene Beispiel soll das veranschaulichen:

„Nehmen wir z. B. an, eine Horde kriegerischer Desperados habe im Naturzustand eine

genügend grosse Überlegenheit über alle anderen gewonnen, um deren Fügsamkeit mit

Gewaltdrohungen zu erzwingen. In diesem Fall mag es zwar immer noch im Interesse

95

KERSTING, S. 55. 96

KOLLER, S. 289. 97

KOLLER, S. 289. 98

KOLLER, S. 296.

Page 25: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

20

aller liegen, ihre Beziehungen durch eine verbindliche Ordnung zu regeln, um dem Un-

frieden ein Ende zu setzen. Es ist aber kaum anzunehmen, dass die Desperados eine

gleiche Beschränkung der Freiheit aller als vorteilhaft betrachten. Da sie infolge ihrer

Überlegenheit weniger unter den Unsicherheiten der Naturzustandes leiden als die ande-

ren, haben sie wenig Veranlassung, sich mit diesen auf eine Stufe zu stellen und für sich

die gleichen Regeln gelten zu lassen. Sie werden es vielmehr für nutzbringender halten,

den Unterlegenen mit Gewalt eine soziale Ordnung aufzuzwingen, die den bestehenden

Machtverhältnissen besser entspricht. Und die Schwachen mögen schliesslich zur Ein-

sicht gelangen, dass es für sie das Beste ist, in eine solche Ordnung einzuwilligen, auch

wenn sie darin eine benachteiligte Stellung einnehmen.“99

Das Beispiel zeigt, dass die Grundlagen von Höffes transzendental-kontraktualistischer

Idee, also das Kriterium des distributiven Vorteils zusammen mit der Idee eines pri-

mären Naturzustandes, viel zu schwach sind, um zum angestrebten Begründungsergeb-

nis zu kommen: nämlich zur Rechtfertigung einer unverzichtbaren Pflicht zur Einge-

hung von wechselseitigen Freiheitsverzichten.

V. Zusammenfassung

Mit dem transzendental-kontraktualistischen Modell entwickelt Otfried Höffe sowohl

eine Theorie der Gerechtigkeit als auch eine grundlegende Theorie der Rechte, die sich

Menschen als Menschen gegenseitig einräumen müssen, also um eine Theorie der Men-

schenrechte. In einem ersten Argumentationsschritt versucht Höffe, das Vorliegen von

transzendentalen Interessen nachzuweisen, welche von ihm als höherstufige Interessen

beschrieben werden und als Möglichkeitsbedingungen für das Menschsein überhaupt

gelten. Der Nachweis solcher höherstufen Interessen, welche für alle Menschen gleich-

ermassen gelten, also kulturinvariant sind, bilden das tragfähige Fundament seiner uni-

versalgültigen Begründungsstrategie.100 Das transzendentale Interesse, welches für je-

dermann unverzichtbar ist, ist die Handlungsfähigkeit. Um Mensch sein zu können,

muss man fähig sein zu handeln, unabhängig von dem, was einer sonst im Leben will.

Mit dem Nachweis von transzendentalen Interessen allein ist das Beweisziel jedoch

noch nicht erreicht. Es gilt aufzuzeigen, dass sich die Menschen die Garantie des trans-

99

KOLLER, S. 297. 100

LAUKÖTTER, PLENGE, BUNGE-WIECHERS, DRERUP, S. 120.

Page 26: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

21

zendentalen Interesses der Handlungsfähigkeit gegenseitig schulden. Dies wird dadurch

nachgewiesen, dass man Handlungsfähigkeit nicht allein, sondern nur in Form von

Wechselseitigkeit realisieren kann. Dies geschieht so, dass jeder auf seine Freiheit Ge-

walt auszuüben verzichtet, und durch diesen negativen Tausch die Nicht-Verletzung der

Handlungsfähigkeit jedes anderen gewährleistet. Dieses Argumentationsmuster nennt

Höffe das Modell der Gerechtigkeit als Tausch.101

Durch eine Strategie der Sparsamkeit, einerseits in Bezug auf anthropologische Voraus-

setzungen, andererseits in der Herleitung von ethischen Prämissen, gelingt es Höffe auf

das Moralprinzip des Äquivalententauschs, also der Goldenen Regel, aufzubauen und so

eine schlüssige Legitimation einer allgemein verbindlichen Rechtsmoral zu begründen.

Auch wenn seine Fundamentalphilosophie in einigen Punkten Kritik ausgesetzt ist, er-

füllen die von Höffe skizzierten Anwendungsbereiche durchaus den Zweck einer um-

fassenden Theorie der Gerechtigkeit, deren Grundlage die universellen und unveräusser-

lichen Menschenrechte sind.102

101

LAUKÖTTER, PLENGE, BUNGE-WIECHERS, DRERUP, S. 121. 102

HÖFFE 2001, S. 10 ff.

Page 27: Transzendental-Kontraktualistische Begründung der Menschenrechte nach Otfried Höffe

22

Erklärung

Ich bestätige mit meiner Unterschrift, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig ohne Mithilfe Dritter verfasst, und in der Arbeit alle verwendeten Quellen angegeben habe. Ich nehme zur Kenntnis, dass im Falle von Plagiaten auf Note 1.0 erkannt werden kann.

Ort, Datum: Unterschrift: