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Trauma Berufskrankh 2007 · 9 [Suppl 2]:S231–S236 DOI 10.1007/s10039-006-1166-3 Online publiziert: 28. Oktober 2006 © Springer Medizin Verlag 2006 J. Madert · C. Eggers Chirurgisch-Traumatologisches Zentrum, AK St. Georg, Hamburg Versorgungsstrategie bei BWS-Verletzungen (BWK1–11) Wirbelsäule Historie Hippokrates (460–377 v. Chr.) riet, Defor- mationen der Wirbelsäule durch Zug an Schulter und Beinen mit gleichzeitigem Druck z. B. durch das Gewicht des Chir- urgen zu behandeln. Seine Anweisungen wurden mehrere Jahrhunderte lang be- folgt. Vidus Vidius (1509–1569) trat in sei- nem bekannten Lehrbuch für genau die- selbe Vorgehensweise ein, ersetzte jedoch das Gewicht des Chirurgen durch kräftige Hebel (also Streckbank). Streift man durch die Geschichte, wird an allen Orten und zu allen Zeiten die Wirbelsäule gequält und gequengelt. Den- noch – das Grundprinzip Reposition durch Streckung, also Ligamentotaxis, hat seine Gültigkeit nicht verloren [25]. Anatomie Die Wirbelsäule besteht aus der Hals- , der Brust- und der Lendenwirbelsäu- le sowie dem Os sacrum. Aufgrund der Verletzungshäufigkeiten heben die Un- fallchirurgen gerne den zervikothora- kalen und den thorakolumbalen Über- gang besonders hervor. Die Brustwir- belsäule liegt zwischen beiden. Die Tat- sache, dass von diesen Wirbeln die Rip- pen abgehen und den Brustkorb bilden, bedingt, dass die Steifigkeit im Brustwir- belbereich 2,5- bis 4-fach höher ist als die der übrigen Anteile der Wirbelsäu- le [3, 29]. Die Verschwingung ist hier ky- photisch, und so ist es nicht verwunder- lich, dass bei Einleitung einer Kraft in die Wirbelsäule, z. B. aufgrund eines Unfalls, am Übergang von der Kyphose zur Lor- dose bzw. vom mobileren zum steiferen Segment deutlich mehr Verletzungen auftreten. Die Segmente HWK6/7 und BWK12/LWK1 sind daher am häufigsten betroffen. Weitere Besonderheiten der BWS sind: F Die Gelenke stehen in sagittaler Rich- tung. F Das hintere Längsband weist im Be- reich der BWS den stärksten Durch- messer auf. F Im Bereich BWK4–8 sind die schmalsten Pedikel zu finden. F Im Bereich der BWS füllt das Rücken- mark den Spinalkanal nahezu voll- ständig aus [4]. F Beidseits seitlich sowie ventral der BWS befinden sich stark luftgefüllte Weichteile. Aufgrund der zuletzt aufgeführten Beson- derheit ist eine nativradiologische, scharfe und kontrastreiche Abbildung häufig nicht anzufertigen. Daher sollte bei BWS- Verletzungen die Indikation für ein Com- putertomogramm großzügig gestellt wer- den. Verletzungsmuster Ätiologie und Typ. Spezifische Ursachen für Verletzungen im Bereich der BWS gibt es nicht. In Anbetracht der größeren Steifigkeit aufgrund des Brustkorbs ist ei- ne größere Gewalt nötig, sodass man bei polytraumatisierten Patienten häufiger BWS-Verletzungen finden dürfte. Hauptursache jeder Wirbelsäulenver- letzung ist die Einleitung einer groß- en Kraft oder Gewalt in die Wirbelsäu- le. Je nach deren Richtung und Größe re- sultieren verschiedene Verletzungsmus- ter: Verläuft die Kraftachse direkt entlang der Wirbelsäule, kommt es in der Regel zu Kompressionsfrakturen, einer Zerstö- rung des ventralen Anteils der Wirbel- säule (so genannte unidirektionale Insta- bilität, Typ-A-Verletzung), ist die Kraft- einleitung größer und erfolgt nicht direkt entlang der Wirbelsäule, wie beim Auf- fahrunfall oder einem Beschleunigungs- trauma, sind eine Hyperflexion oder Hy- perextension die Folge. Hier sind die dor- salen und ventralen Strukturen betrof- fen, es kommt zu einer bidirektionalen Instabilität einer so genannten B-Ver- letzung. Ursächlich für C-Verletzungen sind Hochenergietraumen. Das Wirbel- säulensegment wird völlig zerstört. Es ist in alle Richtungen nahezu frei beweglich (. Abb. 1). Neurologische Schäden. Zwischen der eingeleiteten Kraft, dem Frakturtyp und den neurologischen Ausfällen besteht ei- ne positive Korrelation. So findet man nach Auswertungen von Knop et al. [15] in der Gruppe der A-Verletzungen 12%, in der Gruppe der B-Verletzungen 28% und in der Gruppe der C-Verletzungen 51% Patienten mit neurologischen Aus- fällen. Auch der Schweregrad der neuro- logischen Verletzung steigt mit zuneh- mender Krafteinwirkung. In der Gruppe der reinen Kompressionsfrakturen (Typ A) weisen 1%, in der Gruppe der höchst- gradigen Instabilität (Typ C) 17% der Pa- tienten eine komplette Para- oder Tetra- parese auf. S231 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2007 |

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Trauma Berufskrankh 2007 · 9 [Suppl 2]:S231–S236

DOI 10.1007/s10039-006-1166-3

Online publiziert: 28. Oktober 2006

© Springer Medizin Verlag 2006

J. Madert · C. Eggers

Chirurgisch-Traumatologisches Zentrum, AK St. Georg, Hamburg

Versorgungsstrategie bei BWS-Verletzungen (BWK1–11)

Wirbelsäule

Historie

Hippokrates (460–377 v. Chr.) riet, Defor-

mationen der Wirbelsäule durch Zug an

Schulter und Beinen mit gleichzeitigem

Druck z. B. durch das Gewicht des Chir-

urgen zu behandeln. Seine Anweisungen

wurden mehrere Jahrhunderte lang be-

folgt. Vidus Vidius (1509–1569) trat in sei-

nem bekannten Lehrbuch für genau die-

selbe Vorgehensweise ein, ersetzte jedoch

das Gewicht des Chirurgen durch kräftige

Hebel (also Streckbank).

Streift man durch die Geschichte, wird

an allen Orten und zu allen Zeiten die

Wirbelsäule gequält und gequengelt. Den-

noch – das Grundprinzip Reposition durch

Streckung, also Ligamentotaxis, hat seine

Gültigkeit nicht verloren [25].

Anatomie

Die Wirbelsäule besteht aus der Hals- ,

der Brust- und der Lendenwirbelsäu-

le sowie dem Os sacrum. Aufgrund der

Verletzungshäufigkeiten heben die Un-

fallchirurgen gerne den zervikothora-

kalen und den thorakolumbalen Über-

gang besonders hervor. Die Brustwir-

belsäule liegt zwischen beiden. Die Tat-

sache, dass von diesen Wirbeln die Rip-

pen abgehen und den Brustkorb bilden,

bedingt, dass die Steifigkeit im Brustwir-

belbereich 2,5- bis 4-fach höher ist als

die der übrigen Anteile der Wirbelsäu-

le [3, 29]. Die Verschwingung ist hier ky-

photisch, und so ist es nicht verwunder-

lich, dass bei Einleitung einer Kraft in die

Wirbelsäule, z. B. aufgrund eines Unfalls,

am Übergang von der Kyphose zur Lor-

dose bzw. vom mobileren zum steiferen

Segment deutlich mehr Verletzungen

auftreten. Die Segmente HWK6/7 und

BWK12/LWK1 sind daher am häufigsten

betroffen.

Weitere Besonderheiten der BWS

sind:

F Die Gelenke stehen in sagittaler Rich-

tung.

F Das hintere Längsband weist im Be-

reich der BWS den stärksten Durch-

messer auf.

F Im Bereich BWK4–8 sind die

schmalsten Pedikel zu finden.

F Im Bereich der BWS füllt das Rücken-

mark den Spinalkanal nahezu voll-

ständig aus [4].

F Beidseits seitlich sowie ventral der

BWS befinden sich stark luftgefüllte

Weichteile.

Aufgrund der zuletzt aufgeführten Beson-

derheit ist eine nativradiologische, scharfe

und kontrastreiche Abbildung häufig

nicht anzufertigen. Daher sollte bei BWS-

Verletzungen die Indikation für ein Com-

putertomogramm großzügig gestellt wer-

den.

Verletzungsmuster

Ätiologie und Typ. Spezifische Ursachen

für Verletzungen im Bereich der BWS

gibt es nicht. In Anbetracht der größeren

Steifigkeit aufgrund des Brustkorbs ist ei-

ne größere Gewalt nötig, sodass man bei

polytraumatisierten Patienten häufiger

BWS-Verletzungen finden dürfte.

Hauptursache jeder Wirbelsäulenver-

letzung ist die Einleitung einer groß-

en Kraft oder Gewalt in die Wirbelsäu-

le. Je nach deren Richtung und Größe re-

sultieren verschiedene Verletzungsmus-

ter: Verläuft die Kraftachse direkt entlang

der Wirbelsäule, kommt es in der Regel

zu Kompressionsfrakturen, einer Zerstö-

rung des ventralen Anteils der Wirbel-

säule (so genannte unidirektionale Insta-

bilität, Typ-A-Verletzung), ist die Kraft-

einleitung größer und erfolgt nicht direkt

entlang der Wirbelsäule, wie beim Auf-

fahrunfall oder einem Beschleunigungs-

trauma, sind eine Hyperflexion oder Hy-

perextension die Folge. Hier sind die dor-

salen und ventralen Strukturen betrof-

fen, es kommt zu einer bidirektionalen

Instabilität einer so genannten B-Ver-

letzung. Ursächlich für C-Verletzungen

sind Hochenergietraumen. Das Wirbel-

säulensegment wird völlig zerstört. Es ist

in alle Richtungen nahezu frei beweglich

(. Abb. 1).

Neurologische Schäden. Zwischen der

eingeleiteten Kraft, dem Frakturtyp und

den neurologischen Ausfällen besteht ei-

ne positive Korrelation. So findet man

nach Auswertungen von Knop et al. [15]

in der Gruppe der A-Verletzungen 12%,

in der Gruppe der B-Verletzungen 28%

und in der Gruppe der C-Verletzungen

51% Patienten mit neurologischen Aus-

fällen. Auch der Schweregrad der neuro-

logischen Verletzung steigt mit zuneh-

mender Krafteinwirkung. In der Gruppe

der reinen Kompressionsfrakturen (Typ

A) weisen 1%, in der Gruppe der höchst-

gradigen Instabilität (Typ C) 17% der Pa-

tienten eine komplette Para- oder Tetra-

parese auf.

S231Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2007 |

Ein oben bereits angeführtes beson-

deres anatomisches Merkmal ist, dass das

Rückenmark im Bereich der BWS den

Spinalkanal nahezu komplett ausfüllt, so-

dass nach thorakalen Verletzungen mehr

neurologische Defizite auftreten.

Häufigkeit. In der Literatur werden

die Raten der Brustwirbelsäulenverlet-

zungen zwischen 11 und 40% angegeben

[6, 7, 11, 19, 21].

Unter den im Chirurgisch-Trauma-

tologischen Zentrum des AK St. Georg

von 2000–2005 operierten, an der Wir-

belsäule verletzten 586 Patienten war die

Verletzung bei 90 Patienten (17%) zwi-

schen BWK2 und BWK11 (BWK12 wur-

de nicht miteinbezogen, er gehört zum

thorakolumbalen Übergang) gelegen.

Bei der Analyse nach dem BWS-Ver-

letzungstyp fand sich bei 47 Patienten ei-

ne Typ-A- und bei 43 Patienten eine Typ-

B- oder -C-Verletzung, d. h. die Hälf-

te der Patienten mit Frakturen zwischen

BWK1 und 11 erlitten – im Gegensatz zu

Patienten mit Verletzungen im thorako-

lumbalen Übergang – eine höhergradige

Verletzung (. Tab. 1).

Begleitverletzungen

In Analogie zum Verletzungsmuster be-

dingt die erhöhte Steifigkeit einen hohen

Anteil an Begleitverletzungen. So fanden

sich nach Blauth et al. [6] bei etwa 40%

der Patienten zusätzliche Thoraxverlet-

zungen, Rippenserienfrakturen traten

sehr häufig auf, die 1. und 2. Rippe wa-

ren in 10% betroffen, in 36% der Fälle

fand sich ein Hämatopneumothorax, in

fast 69% eine Mediastinalverbreiterung,

zusätzliche Klavikula- und Skapulafrak-

turen zeigten sich in 2–5%, und 42% der

Patienten hatten eine zusätzliche Kopf-

verletzung. Frakturen der 1. und 2. Rip-

pe sind immer ein Zeichen einer deutlich

höheren Gewalteinwirkung und stets als

Hinweis auf eine eventuelle zusätzliche

Wirbelsäulenverletzung zu sehen. Das

bedeuted im Umkehrschluss, bei Frak-

turen der 1. und 2. Rippe ist eine zusätz-

liche Wirbelsäulenfraktur auf jeden Fall

auszuschließen.

Der Brustkorb besteht aus einem ge-

schlossenen, stabilen Ring ähnlich wie

das Becken und wird durch die Wirbel-

säule, Rippenfortsätze, Rippen und das

Sternum gebildet. Die Stabilität wird

durch Verletzung der einzelnen Glieder

zunehmend geschwächt (Kettenverlet-

zung). Eine höhergradige Verletzung ist

nativradiologisch schwer auszumachen,

desweiteren sind eventuelle Begleitver-

letzungen abzuklären; somit sollte die In-

dikation für ein CT weit gestellt werden.

Spätfolgen

Bei Patienten mit einer Kontusion des

Rückenmarks oder traumatischer Ste-

nosierung des Rückenmarkkanals kann

mit einer sehr variablen Latenzzeit (et-

wa 8–9 Jahre) in 3–4% der Fälle eine Sy-

ringomyelie auftreten [6]. Ob dies eher

für BWS-Verletzungen zutrifft, ist nicht

bekannt.

Bezüglich des Beschwerdebilds wird

der BWS eine größere Kyphosetoleranz

zugebilligt. Es wird angenommen, dass

Gibbusbildungen im Bereich BWK1–9

bis 30° und ab BWK10 mit 15° tolerabel

sind [6]. Auf der anderen Seite ergab eine

Arbeit von Katscher et al. [13], dass BWS-

Frakturen zu einer erheblichen Kyphose-

bildung neigen, sie empfahlen daher eher

die operative Versorgung.

Versorgungsstrategie

Operationsindikation

Die absolute Indikation für die Versor-

gung einer BWS-Verletzung unterschei-

det sich nicht von der anderer Wirbelsäu-

lenregionen. Sie ist gegeben bei

F neurologischem Defizit nach freiem

Intervall,

F Progredienz der neurologischen Aus-

fälle,

F Distraktions- und Rotationstraumen

sowie

F offenen Verletzungen.

Eine relative Indikation besteht bei

F Wurzelläsion,

F Kompressionsfrakturen mit einem

Kyphosewinkel >20–30°,

F inkomplettem Transversalsyndrom

einschließlich motorischer kompletter

Lähmung mit sensibler Restfunktion.

Zudem ist die patientenbezogene oder

statische Indikation – zur besseren Reha-

bilitation und Pflegeerleichterung – zu be-

rücksichtigen.

Ebenso wie Extremitätenverletzungen

bei querschnittgelähmten Patienten sorg-

fältig versorgt sein sollten, da sie für den

Transfer wichtig sind, gehört die exakte

Rekonstruktion der Wirbelsäule zum

Standard, da der Patient ansonsten u. U.

nicht rollstuhlfähig ist.

Operation

Sie beinhaltet die Reposition – nicht mehr

so martialisch wie zu Zeiten von Hippo-

krates – die Dekompression des Spinal-

kanals und die Stabilisierung sowie evtl.

die Fusion der Wirbelsäule. Grundsätzlich

bietet sich im Bereich BWK1–2 die vent-

rale Spondylodese mit einer Spanimplan-

tation an, im Bereich BWK2–11 die dorsa-

le Spondylodese evtl. mit Span oder einem

Wirbelkörperersatz.

Die Reposition erfolgt im Prinzip ini-

tial durch lordosierende Lagerung. Sie ist

bei Verletzungen im BWS-Bereich auf-

grund der Enge des Spinalkanals vor-

sichtiger durchzuführen, da Verschie-

bungen von Knochenfragmenten, Band-

scheibenanteilen oder von Wirbelkör-

pern gegeneinander von nur einigen

Tab. 1 Anzahl der BWS-Verletzungen

Verletzungstyp Anzahl Summe

A A1 7 47

A2 3

A3 37

B B1 3 31

B2 27

B3 1

C C1 4 12

C2 4

C3 4

S232 | Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2007

Wirbelsäule

Millimetern eine erhebliche neurolo-

gische Verschlechterung nach sich zie-

hen können. Mit den heutigen moder-

nen Implantaten kann eine Reposition

über den Fixateur selbst durchgeführt

werden (. Abb. 2).

Zusammenfassung · Abstract

Trauma Berufskrankh 2007 · 9 [Suppl 2]:S231–S236 DOI 10.1007/s10039-006-1166-3

© Springer Medizin Verlag 2006

J. Madert · C. Eggers

Versorgungsstrategie bei BWS-Verletzungen (BWK1–11)

Zusammenfassung

Die Brustwirbelsäule (BWK1–11) unterschei-

det sich von den übrigen Wirbelsäulenregi-

onen durch eine deutlich erhöhte Steifigkeit,

einen mit Rückenmark vollständig ausge-

füllten Spinalkanal, schmale Pedikel und ei-

ne starke Weichteilüberlagerung. Um sie zu

verletzen, ist daher eine deutlich höhere Ge-

walteinleitung nötig. Daraus ergeben sich fol-

genden Konsequenzen: Bei der Diagnostik

sollte großzügig vom CT Gebrauch gemacht

werden. Wegen häufiger Begleitverletzungen

im Thorax im Sinne von Kettenverletzung

sollte eine möglichst frühe Versorgung erfol-

gen. Bei traumatisch bedingter Spinalkanals-

tenose ist auch bei fehlenden neurologischen

Ausfällen eine Spinalkanal-Clearance ange-

zeigt. Wegen geringer Folgen eventueller ra-

dikulärer neurologischer Ausfälle können al-

le Eingriffe von dorsal durchgeführt wer-

den. Aufgrund der Überlagerung im Röntgen

und der schmalen Pedikeldurchmesser ist die

operative Versorgung anspruchsvoll.

Schlüsselwörter

Brustwirbelsäulenregion · BWS-Steifigkeit ·

Begleitverletzung · Versorgungsstrategie ·

Spinalkanal-Clearance

Strategy for managing injuries of the thoracic spine (T1–11)

Abstract

The thoracic region of the spine (T1–11) is

different from the other parts of the vertebral

column due to the higher stiffness, the spinal

canal, which is completely filled with the spi-

nal cord, small pedicles, and strong interfer-

ence of soft tissue. Therefore, a much great-

er input force is necessary to induce an inju-

ry of the vertebral column, resulting in the

following consequences: computed tomog-

raphy should be used generously for diag-

nosis. Treatment should be initiated as ear-

ly as possible because of the often accompa-

nying injuries of the chest in the sense of a

chain injury. Even if neurological deficits are

absent, spinal canal clearance is indicated in

cases of traumatic spinal stenosis. All surgery

can be carried out from a posterior approach

since the effects that may result from possi-

ble neurological deficits of the spinal roots

are slight. Because of poor visualization by X-

ray and the narrow pedicle, the operation is

demanding.

Keywords

Thoracic region of the spine · Stiffness of tho-

racic column · Accompanying injury of the

thoracic spine · Treatment strategy · Spinal ca-

nal clearance

Abb. 1 8 Typ-C-Verletzung

Abb. 2 8 Wirbelsäulenfixateur (Reco Fa. Depuy Spine)

Abb. 3 8 Vollständige Reposition nach dorsaler Spondylodese

S233Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2007 |

Während für den thorakolumbalen

und lumbalen Bereich bei Patienten mit ei-

ner traumatischen Spinalkanalenge nach

wie vor gilt: „keine neurologischen Aus-

fälle, keine Spinalkanal-Clearance“, sollte

eine Dekompression im Bereich der BWS

aufgrund der Spinalkanalenge großzügiger

durchgeführt werden. Bei Patienten mit

Fragmenten im Spinalkanal oder Aufhe-

bung des Reserveraums sollte dekompri-

miert werden, sei es durch Ligamentota-

xis, eine Fensterotomie, Hemi- oder Lami-

nektomie oder aber auch Korporektomie

mit Wirbelkörperersatz. Da intraoperativ

die Kontrolle des Spinalkanals schwierig

ist, man aber auf der anderen Seite wegen

fehlender neurologische Ausfälle nicht un-

ter Zeitdruck steht, empfiehlt sich posto-

perativ die Durchführung eines MRT.

Outcome und eigene Strategie

Während die Indikation für die opera-

tive Behandlung bei zunehmenden neu-

rologischen Ausfällen usw. nicht kontro-

vers diskutiert wird, lassen sich trotz zahl-

reicher Studien keine evidenzbasierten Da-

ten bezüglich der Versorgung von Kom-

pressionsfrakturen ableiten, die ein festes

Therapieregime vorgeben. So zeigte nicht

nur die AO-Studie [15, 16, 17], dass der

Korrekturverlust bei ventral implantierten

Knochenspänen mit ventraler oder dorso-

ventraler Stabilisierung gering, jedoch mit

einem hohen Komplikationsgrad versehen

ist. Dem gegenüber steht die deutliche Re-

Abb. 6 8 Clinical Pathway bei Mehrfachverletzungen

Abb. 7 8 Clinical Pathway bei BWS-Verletzungen

Abb. 4 8 Dorsoventrale Spondylodese mit Span

Abb. 5 8 Dorsoventrale Spondylodese mit Spacer

S234 | Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2007

Wirbelsäule

kyphosierung bei kleinen Komplikations-

raten der mit einer alleinigen dorsalen

Spondylodese versorgten Patienten.

Des Weiteren ist kritisch zu sehen, wel-

che Outcome-Kriterien überhaupt ange-

legt werden sollen, v. a. welche Wertung sie

haben. So sind soziale Parameter wie Län-

ge der Krankschreibung, Arbeitplatzum-

setzung, Höhe und Dauer der Rente, Kün-

digung, Sportmöglichkeiten usw. mindes-

tens gleich- wenn nicht höherwertiger als

die korrigierte Kyphose.

Folgende Daten lassen sich einigerma-

ßen sicher aus der Literatur ableiten: Es be-

steht keine Korrelation zwischen Schmer-

zen und Gibbus [1, 10, 17, 27], wenn die-

ser <20° ist. Die transpedikuläre Spongio-

saplastik bietet keine Vorteile [2, 14, 17, 18,

27]. Sowohl bei dorsalen als auch bei vent-

ralen als auch bei kombinierten Verfah-

ren kommt es zu einem Korrekturverlust,

der sicherlich beim rein dorsalen Vorge-

hen am größten ausfällt [5, 8, 9, 12, 20, 22,

23, 24, 26, 28].

Bezüglich des Hannoveraner Wirbel-

säulenscore, der eine Wertung bezüglich

der persönlichen Belastbarkeit der Wir-

belsäule darstellt, schneidet die dorsa-

le Gruppe in Relation zur ventralen und

dorsoventralen Gruppe am besten ab (al-

lerdings nicht signifikant). Bezüglich Be-

ruf, Freizeit, subjektivem Zufriedenheits-

grad und Gesamturteil der Patienten ergab

sich kein Unterschied bezüglich der 3 ver-

schiedenen Operationsverfahren [17].

Daraus leitet sich für uns derzeit fol-

gende Versorgungsstrategie auch für den

thorakalen Bereich ab: Kommt es bei

der Versorgung von Kompressionsfrak-

turen mit Hilfe des Fixateurs zu einer voll-

ständigen Reposition des Wirbelkörpers

(. Abb. 3), vertrauen wir auf die knö-

cherne Ausheilung und nehmen die se-

kundäre Gibbusbildung im Bandschei-

benraum in Kauf. Gelingt dies nicht, wer-

den eine Diskektomie durchgeführt und

ein kortikospongiöser Span implantiert

(. Abb. 4). Bestehen zudem ein Defekt

und Instabilität, ist ein Wirbelkörperer-

satz (. Abb. 5), umlagert mit Spongiosa,

zu implantieren.

Versorgungszeitpunkt

Handelt es sich um eine Monoverletzung,

ergibt er sich aus der Indikation.

Im Rahmen einer Mehrfachverletzung

erfolgt die Versorgung aufgrund standar-

disierter Abläufe. Nach dem Check der

1. Minute, Legen von Zugängen, evtl. le-

bensrettenden Sofortoperationen (1. Ope-

rationsphase), Oxygenierung und Perfu-

sion werden die dringlichen Maßnahmen

wie klinische Untersuchung, Labor, Spiral-

CT usw. angeschlossen. Im Rahmen der 2.

Operationsphase folgt die dringliche The-

rapie. Dazu gehören – in der angegebenen

Reihenfolge – die Versorgung von

1. thorakalen und abdominalen Blu-

tungen,

2. Verletzungen großer Gefäße,

3. Schädel-Hirn-Traumen und

4. Wirbelsäulenverletzungen mit Rü-

ckenmarkläsion (. Abb. 6).

Letztere sollten vor offenen Frakturen und

großen Skelettinstabilitäten versorgt wer-

den.

Folgender Clinical Pathway (. Abb. 7)

bietet sich bei Patienten mit einer BWS-

Verletzung an: Zuerst ist zu klären, ob

neurologische Ausfälle, eine höhergradi-

ge Instabilität oder eine Einengung des

Spinalkanals vorliegen. Ist dies nicht der

Fall, können der Patient gelagert bzw. an-

dere Verletzungen versorgt werden. Lie-

gen jedoch die eben angeführten Krite-

rien vor und ist der Patient operabel, soll-

te wegen der eventuellen Kettenverletzung

im Bereich der BWS eine möglichst frü-

he dorsale Versorgung erfolgen, d. h. Re-

position, Dekompression und Spondylo-

dese. Später können – in der Sekundär-

phase – die Komplementierung bzw. end-

gültige Versorgung, z. B. die ventrale Fu-

sion mit einem Cage, erfolgen.

Zugänge

Im Bereich des 1. und 2. BWK bietet sich

sicherlich der rein ventrale Zugang an. Ei-

ne Platte am 3. BWK zu positionieren, ist

schwierig, und ein kurzer Hals kann eine

echte Herausforderung darstellen.

Für den Bereich BWK2–11 ist der dor-

sale Zugang für die Spondylodese Stan-

dard. Will oder muss man ventral agie-

ren, ist der kostotransversale Zugang bis

BWK3–4 geeignet. Ab BWK4–5 kann

auch transthorakal vorgegangen werden.

Die im Bereich BWK2 bis etwa 9–10 abge-

henden Nervenwurzeln sollten geschont

werden. Eine Durchtrennung derselben

hat jedoch keine großen Konsequenzen,

da das Innervationsgebiet klein ist und

muskuläre Ausfälle gering sind. Der Vor-

teil des kostotransversalen oder dorsolate-

ralen Zugangs ist, dass man die Dura mit

ihrem in diesem Bereich sehr empfind-

lichen Inhalt immer im Blick hat.

Fazit

Bei der Versorgung von Patienten mit

Verletzungen im Bereich der BWS soll-

te man in Anbetracht der schlechten

Sichtverhältnisse und der häufigen Be-

gleitverletzungen die Indikation für ein

Computertomogramm großzügig stel-

len. Wegen eventueller Kettenverlet-

zungen sollte eine möglichst frühe Ver-

sorgung angestrebt werden. Der en-

ge Spinalkanal in diesem Bereich sollte

Anlass sein, bei traumatischer Stenose

oder Fragmenten im Spinalkanal auch

bei Patienten ohne neurologische Aus-

fälle eine Spinalkanal-Clearance durch-

zuführen. Wegen der geringen Folgen

der radikulären neurologischen Ausfäl-

le der abgehenden Wurzeln in diesem

Bereich können alle Eingriffe einfach

und unter Sicht von dorsal durchgeführt

werden.

Wegen Überlagerung im Röntgenbild

und kleiner Pedikeldurchmesser ist die

Spondylodese anspruchsvoll und sicher-

lich das klassische Zielgebiet für die Na-

vigation.

Korrespondierender AutorDr. J. MadertChirurgisch-Traumatologisches Zentrum, AK St. GeorgLohmühlenstraße 5, 20099 [email protected]

Interessenkonflikt. Es besteht kein Interessenkon-

flikt. Der korrespondierende Autor versichert, dass kei-

ne Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in

dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Kon-

kurrenzprodukt vertreibt, bestehen. Die Präsentation

des Themas ist unabhängig und die Darstellung der In-

halte produktneutral.

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S236 | Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2007

Wirbelsäule