Täterbild zwischen Gewalt und...

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„Michael“, das herausragende Regiedebüt des österreichischen Filmemachers Markus Schleinzer schaffte es heuer in den Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes. UrsUla Baatz E in Mann, Ende Dreißig, entführt einen kleinen Buben, hält ihn in einem Keller gefangen, missbraucht ihn, macht mit ihm Ausflüge und erzählt ihm, dass seine El- tern ihn nicht mehr zurückhaben wollen. Um es gleich einmal festzuhalten: das ist nicht Homosexualität, sondern Pädophilie – denn es handelt sich um eine erzwungene Beziehung zwi- schen einem Kind und einem Erwachsenen. Und um weiteren Spekulationen vorzubeugen: wer gleichgeschlechtlich liebt, liebt eben gleichgeschlechtlich. Aber wer Kinder für sexuelle Aktivitäten benützt, ist nicht nur seelisch krank, sondern kri- minell. Das muss gesagt werden – denn durch Jahrhunderte war es eher umgekehrt: Missbrauch an Kindern war alltäglich, Ho- mosexualität dagegen galt zuerst als sündhaft und dann als krankhaft. Überhaupt war Missbrauch – also sexuelle Annähe- rung und Aktivität ohne Zustimmung des Gegenübers – ein alltäglicher Fall. Sex war eine Insignie männlicher Macht – der Grundherr hatte das ius primae noctis, das „Recht der ersten Nacht“ mit jeder jungen Frau, mit der es ihm gefiel. Dienst- botinnen wurden von ihren Herren geschwängert, und dann entlassen, weil die Schande bei ihnen lag. Sex als Machtausü- bung braucht Gefühle zur Beziehungsanbahnung nicht, son- dern funktioniert durch Verfügungsmacht über das Sexualob- jekt – ob Frau, Mann oder Kind, da wurde lange Zeit kein Unterschied gemacht. Doch die Zeiten des pater familias, des Herrn und Herrscher über Familie (und früher auch übers Gesinde) sind vorbei – aber erst seit kurzem. Nicht zuletzt die UNO-Frauenkon- ferenzen der 1970er und 1980er Jahre haben hier einen Um- schwung gebracht. Die Novellierungen des Familienrechts in den 1970er Jahren brachten ein neues Eherecht und damit das Ende der patriarchalen Ehe. Frauen sind seit etwa Mitte der 1970er Jahre, seit rund 40 Jahren also, nicht mehr davon abhän- Inhalt Alltag, verquer Ein Auszug aus dem Drehbuch zu „Michael“. 3/4 Kind im Keller Der Regisseur Markus Schleinzer im Gespräch. 5 Körper & Burlesque Grandios: Mathieu Amalrics Film „Tournee“. 6 Zulassungsnummer GZ 02Z031555 Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b. Täterbild zwischen Gewalt und Normalität Fortsetzung auf Seite 2 » Das Kommunale Kino Wiens, schwarzenbergplatz 7-8, 1030 Wien august / september 11 | #493 Markus Schleinzer, „Michael“, ab 2. September im Stadtkino und im Filmhaus Kino Mathieu Amalric, „Tournée“, ab 19. August im Gartenbau Kino und im Apollo

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„Michael“, das herausragende Regiedebüt des österreichischen Filmemachers Markus Schleinzer schaffte es heuer in den Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes. UrsUla Baatz

Ein Mann, Ende Dreißig, entführt einen kleinen Buben, hält ihn in einem Keller gefangen, missbraucht ihn, macht mit ihm Ausflüge und erzählt ihm, dass seine El-

tern ihn nicht mehr zurückhaben wollen. Um es gleich einmal festzuhalten: das ist nicht Homosexualität, sondern Pädophilie – denn es handelt sich um eine erzwungene Beziehung zwi-schen einem Kind und einem Erwachsenen. Und um weiteren Spekulationen vorzubeugen: wer gleichgeschlechtlich liebt, liebt eben gleichgeschlechtlich. Aber wer Kinder für sexuelle Aktivitäten benützt, ist nicht nur seelisch krank, sondern kri-minell.

Das muss gesagt werden – denn durch Jahrhunderte war es eher umgekehrt: Missbrauch an Kindern war alltäglich, Ho-mosexualität dagegen galt zuerst als sündhaft und dann als krankhaft. Überhaupt war Missbrauch – also sexuelle Annähe-rung und Aktivität ohne Zustimmung des Gegenübers – ein alltäglicher Fall. Sex war eine Insignie männlicher Macht – der

Grundherr hatte das ius primae noctis, das „Recht der ersten Nacht“ mit jeder jungen Frau, mit der es ihm gefiel. Dienst-botinnen wurden von ihren Herren geschwängert, und dann entlassen, weil die Schande bei ihnen lag. Sex als Machtausü-bung braucht Gefühle zur Beziehungsanbahnung nicht, son-dern funktioniert durch Verfügungsmacht über das Sexualob-jekt – ob Frau, Mann oder Kind, da wurde lange Zeit kein Unterschied gemacht.

Doch die Zeiten des pater familias, des Herrn und Herrscher über Familie (und früher auch übers Gesinde) sind vorbei – aber erst seit kurzem. Nicht zuletzt die UNO-Frauenkon-ferenzen der 1970er und 1980er Jahre haben hier einen Um-schwung gebracht. Die Novellierungen des Familienrechts in den 1970er Jahren brachten ein neues Eherecht und damit das Ende der patriarchalen Ehe. Frauen sind seit etwa Mitte der 1970er Jahre, seit rund 40 Jahren also, nicht mehr davon abhän-

InhaltAlltag, verquerEin Auszug aus demDrehbuch zu „Michael“. 3/4

Kind im KellerDer RegisseurMarkus Schleinzer im Gespräch. 5

Körper & BurlesqueGrandios: Mathieu AmalricsFilm „Tournee“. 6

Zulassungsnummer GZ 02Z031555Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b.

Täterbild zwischenGewalt und Normalität

Fortsetzung auf Seite 2 »

Das Kommunale Kino Wiens, schwarzenbergplatz 7-8, 1030 Wien august / september 11 | #493

Markus Schleinzer, „Michael“, ab 2. September im Stadtkino und im Filmhaus KinoMathieu Amalric, „Tournée“, ab 19. August im Gartenbau Kino und im Apollo

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gig, dass der Ehegatte gestattet, dass sie arbeiten gehen und daher auch finanziell selbständig. Finanzielle Abhängigkeit zwingt Frauen nicht mehr, eine unhaltbar gewordenen Situation aufrecht zu erhalten. Männer – und Frauen-rollen haben sich in den letzten Jahrzehnten daher drastisch gewandelt, und das resultiert in sehr viel Unsicherheit zwischen den Ge-schlechtern und in Beziehungen.

Einfach Macht in Sex umzusetzen wird heute rechtlich geahndet. Vergewaltigung in der Ehe ist in Österreich seit etwa 10 Jahren ein Straf-delikt. Die sanktionierte Verfügungsgewalt gilt nicht mehr; es geht um „Beziehung“; „eine Beziehung“ eingehen oder haben bedeutet, dass es in irgendeiner Form um die Wahrneh-mung der anderen Person und ihrer Befind-lichkeit gehen sollte, um Kommunikation, um Austausch und vor allem auch um Intimität. Natürlich sind dies die Ideale der romantischen Liebe, die da plötzlich aus dem Himmel der Unerreichbarkeit in den Alltag geholt werden. Und natürlich scheitert das Programm regel-mäßig, auch deswegen, weil es so neu ist, dass sich noch kaum Muster zur gesellschaftlichen Umsetzung entwickelt haben. Doch es gibt den Anspruch, dass es um eine intime Bezie-hung zwischen zwei Personen geht, die einan-der in ihrer Würde anerkennen.

Und dasselbe gilt – im Prinzip – auch für den Umgang mit Kindern. Seitdem Ellen Key zu Anfang des 20. Jahrhunderts „das Jahrhundert des Kindes“ ausgerufen hat, seit sich Reformer unterschiedlichster Provenienz um eine Kin-dern angemessene Form des Lernen bemühen, werden Kinder nicht mehr als unvollkommene Erwachsene gesehen, sondern als eigenstän-dige Persönlichkeiten. Auch Kinder haben Personenrechte, das schreibt die UNO-Kin-derrechtskonvention von 1989 fest. Dass diese UNO-Konvention in Österreich nur sehr zö-gerlich und zudem sehr unvollständig gesetz-lich verankert wurde, spricht für die Schwie-rigkeiten der österreichischen Gesellschaft, den Übergang aus einer patriarchalen in eine post-patriarchale Situation zu schaffen.

In diesem Übergang ist Michael, der erwach-sene Hauptcharakter in Markus`Schleinzers Film angesiedelt. In der Rolle des Machtaus-übenden geht es ihm gut: er ist erfolgreich in seinem Job als Versicherungskaufmann, da hat er einen guten Stand auch bei den Kol-legen. Wenn zu Mittag überm Kantinenessen die Probleme mit Kunden beredet werden, ist er ein kompetenter und geschätzter Ge-sprächspartner. Dass er nur über Firmenfragen spricht, fällt nicht auf. In seiner Erscheinung passt er genau in die erforderliche Berufsscha-blone. Mit der Familie hat er seit Jahren den Kontakt aufs nötigste reduziert – nur das Not-wendigste an gesellschaftlich sanktionierten Beziehungsformen findet statt, nämlich der Geschenke-Austausch zu Weihnachten, und das auf neutralem Terrain.

Stadtkinozeitung02 Markus Schleinzer, „Michael“

» Fortsetzung von Seite 1

Die „väterliche“ Hand im Nacken: „Michael“ von Markus Schleinzer.

„Dafür, dass’d schwarz auf die Welt kommen bist,

brauchst nix mehr fressen in diesem Leben.

– Was soll denn das?“

BeimKauf

der DVDgeht €1,-direkt an das

Flüchtlingsprojekt

Ute Bock

Vertrieb: HOANZL, Arbeitergasse 7, A-1050 Wien, Tel. +43-1-58893-11, [email protected] www.hoanzl.at

Produktion: Houchang Allahyari FilmproduktionDrehbuch: Houchang Allahyari, Tom-Dariusch AllahyariKamera: Gabriel Krajanek, Peter RoehslerSchnitt: Petra Allahyari, Michaela Müllner

Ton: Gabriel KrajanekMusik: Edith Lettner

Produktionsleitung: Daniel-Kurosch Allahyari

Verleih: Stadtkino

DVD-Produktion: HOANZLMenüdesign, Authoring & Mastering: kdg MEDIASCOPE, www.kdg-mediascope.atTitel-Grafik: Petra Allahyari

DVD-Grafik: Gottfried MoritzFotos: Lukas Beck, Filmstills

Bock for President

Die ehemalige Erzieherin Ute Bock ist durch ihren Einsatz für Flüchtlinge zu einer bekannten

öffentlichen Figur geworden. Der Mensch dahinter bietet allerdings zahlreiche Überraschungen.

Zwei Jahre lang begleiteten die Filmemacher Houchang und Tom-Dariusch Allahyari die

Wiener Flüchtlingshelferin bei ihrer Arbeit und privat mit der Kamera. Das Ergebnis ist eine

sehr intime Annäherung an diese ungewöhnliche Frau mit all ihren Widersprüchen.

Der Film zeigt die Tragik der Flüchtlingsschicksale, aber auch den unschlagbaren Humor von

Ute Bock.

Spenden bitte an:

Flüchtlingsprojekt Ute Bock

Hypo Bank Tirol, Bankleitzahl 57 000

Konto Nr. 520 110 174 99

Die Filmemacher liefern kein Heiligenbild, sondern das

Porträt einer Frau, die das Problem der anderen zur eigenen Le-

benspraxis erklärte. Denn für Bock sind Asylwerber nicht

ein Problem. Es sind Menschen, die ein Problem haben. Diese

Haltung macht den ganzen Unterschied, ändert den Blick und

kommt – frei nach Hölderlin – in der Doku schön zur Ansicht:

„Menschen seh ich, keine Asylanten.“ KURIER

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SPIELLÄNGE . . . . . . . . . 90 Min / Extras: ?? MinBILD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1:1,85SPRACHE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DeutschUNTERTITEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . English DVD 5 / PAL / Ländercode 0 /Dolby Digital 2.0

Bock

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BOCK cover:LAY 08.10.2010 15:33 Uhr Seite 1

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„Ein Meilenstein des Kinos.“

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THE NETHERLANDS - BELGIUM IMA907

IMA907

Audio Subtitles

PALOriginal version English, Dutch, French, German

EPISODE III

ENJOY POVERTYa �lm by Renzo Martens

Episode III - ‘Enjoy Poverty’ investigates the value of Africa’s most

lucrative export: filmed poverty.

Episode III, also known as ‘Enjoy Poverty’, after the neon sculpture that plays a seminal

role in the film, is the registration of Renzo Martens’ activities in the Congo. In an

epic journey through Congo’s swamps, institutions and battlefieds, the Dutch artist

launches an emancipation program. This program should help the local population to

embrace their biggest capital: their poverty. As the endeavor fails, the film is no more

than an accurate representation of a status quo filled with such failures.

Episode III - ‘Enjoy Poverty’ examine la valeur de l’exportation la

plus lucrative d’Afrique: la pauvreté filmée.

Episode III, aussi connue comme ‘Enjoy Poverty’, d’après la sculpture de néon qui joue

une part essentielle dans le film, est l’enregistrement des activités de Renzo Martens

au Congo. Au cours d’un périple épique à travers les marais, les institutions et champs

de bataille du Congo, l’artiste hollandais entreprend de monter un tout nouveau

programme d’émancipation. Ce programme vise à conscientiser la population locale

de leur capital principal: leur propre pauvreté. Alors que l’entreprise échoue, le film

devient la représentation réaliste d’un status quo semé d’échecs similaires.

Episode III - ‘Enjoy Poverty’ peilt naar de waarde van Afrika’s

meest lucratieve exportartikel: gefilmde armoede.

Epiosde III, ook bekend als ‘Enjoy Poverty’, naar de neonsculptuur die een belangrijke

rol speelt in de film, is de registratie van Renzo Martens’ activiteiten in Congo. In een

epische reis doorheen Congo’s wouden, slagvelden en instituten start de kunstenaar

een emancipatieprogramma op. Dit programma helpt de lokale bevolking hun voor-

naamste kapitaal te omarmen: hun armoede. Het programma faalt jammerlijk, en de

film blijkt een realistisch verslag van een status quo gevuld met zulke mislukkingen.

Episode III - ‘Enjoy Poverty’ untersucht den Wert von Afrikas

lukrativstem Exportmittel : die gefilmte Armut.

Mitten im Kongo, Fragen über Fragen: Wie kommt es, dass das ins Land geflossene

Geld mit Gewinn wieder in die Taschen der Geldgeber zurückfließt? Weshalb sind

Hochzeitsfotos wertlos und Bilder des Elends und des Krieges begehrt? Und wem gehört

die Armut? Renzo Martens rät den Einheimischen als advocatus diaboli, sich den Markt der

aufgeregten Bilder zu erobern und den Status quo als Chance zu betrachten. Sarkastische

Rollenspiele rund um die Frage, wann die Lethargie begonnen hat und die Geduld endet.

VIEWING COPY FOR PRIVATE USE ONLY

a film by Renzo Martens produced by Renzo Martens Menselijke Activiteiten & Peter Krüger/Inti Films

The Netherlands / Belgium 2009 90 min Film format: 1:85 Video format: 16/9 BONUS: interviewEPISODE III - ‘ENJOY POVERTY’

IMA907

9789058498762

Written, directed and filmed by Renzo Martens - Producers Renzo Martens Menselijke Activiteiten (The Netherlands) - Peter Krüger,

Inti Films (Belgium) - Editor Jan De Coster - Editing consultant Eric Vander Borght - On-line facilities Condor - Sound editor Raf Enckels

Sound mixing Federik Van de Moortel - A co-production Renzo Martens Menselijke Activiteiten, Inti Films, VPRO, Lichtpunt - Produced

with the support of The Netherlands Film Fund, The Flanders Audiovisual Fund, Nationale Commissie voor Internationale Betrekkingen

en Duurzame Ontwikkeling, The Netherlands Foundation for Visual Arts, Design and Architecture, Prins Bernard Cultuur Fonds, VPRO,

Lichtpunt, YLE, TSR, ORF.

The piece was screened and exhibited, to wide critical

acclaim, at the Berlin Biennal, The Stedelijk Museum

in Amsterdam, Kunsthaus Graz in Graz, Tate Modern

in London, IDFA in Amsterdam, the Centre Pompidou

in Paris, and many other places. The film is the third in

a series of three films that try to deal with the role of

the camera in a filmed world. The first in that series,

Episode I, was the registration of Renzo Martens’

activities in Chechnya. It was first shown in 2003. For

Episode II, no date is known.

L’œuvre a été projeté et exposé avec grand succès à la

Biennale de Berlin, le Stedelijk Museum d’Amsterdam,

le Kunsthaus Graz, la Tate Modern à Londres, l’IDFA à

Amsterdam, le Centre Pompidou à Paris et nombreux

autres lieux. Le film est le troisième dans une série de

trois films qui tentent de questionner leur propre rôle

dans un monde filmé. Episode I représentait les activités

de Renzo Martens en Tchétchénie et a eu sa première

en 2003. Aucune date de sortie n’est annoncée pour

Episode II.

Het werk is vertoond en tentoongesteld, met veel

reactie als gevolg, op de Berlijn Biennale, het Stedelijk

museum in Amsterdam, Kunsthaus Graz, Tate Modern,

IDFA in Amsterdam, en het Centre Pompidou in Parijs.

Episode III is de derde in een serie van drie films

die de rol van de camera in een gefilmde wereld te

onderzoeken. Episode I, de registratie van Martens’

activiteiten in Tstetsjenie, kwam uit in 2003. Voor

Episode II is geen releasedatum bekend.

Das Werk wurde mit grossem Erfolg aufgeführt und

ausgestellt unter anderem auf der Biennale in Berlin,

dem Stedelijk Museum in Amsterdam, dem Kunsthaus

Graz, der Tate Modern in London, der IDFA in

Amsterdam, dem Centre Pompidou in Paris. Der Film ist

der dritte in einer Reihe von drei Filmen, die ihre eigene

Rolle in einer gefilmten Welt zu hinterfragen versuchen.

Episode I war die Aufzeichnung der Aktivitäten von

Renzo Martens in Tschetschenien und hatte 2003 seine

Premiere. Für Episode II ist noch kein Datum bekannt.

www.enjoypoverty.com

ENJO

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OV

ERT

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Wenn er heimkommt, lässt er den Buben aus dem Kellerverlies heraus. Und auch hier fallen nicht viele Worte, eher geschieht Handgreif-liches – etwa, wenn er den Kleinen am Genick packt wie eine Katze. Seine Unfähigkeit, das Kind als eigenständige Person wahrzunehmen, bezieht nicht nur auf sozusagen Seelisches:

wenn er ihm zum Beispiel durchs Fernrohr etwas zeigen möchte, dieses aber auf seine ei-gene Augenhöhe richtet, und nicht realisiert, dass der Kleine so einfach nichts sehen kann und ihn unwirsch wegzerrt. Das ist Gewalt – und nicht einmal absichtlich, sondern systemi-mmanent. Es ist die Gewalt des patriarchalen

Verfügens, die Michael geläufig ist. Was ihn von anderen unterscheidet, ist, dass dies für ihn die einzige funktionierende Form der Aufnah-me von Beziehungen ist.

Gefühle sind für Michael wie eine fremde Sprache. Wenn er weint, scheint es, dass er sich selbst nicht versteht – er weint, in eine große Leere hinein, und man sieht nur den Rücken, der fast unbeweglich bleibt.

Natürlich ließen sich hier psychologische Erklärungen finden. Doch Markus Schleinzer verweigert Hinweise auf das „Warum“. Was er mit Michael zeigt, ist die Ohnmacht von je-mandem, der nicht in Beziehung treten und deswegen nur Macht ausüben kann. Macht über ein Kind auszuüben, das nicht einmal das eigene ist, fällt diesem Ohnmächtigen leichter als sich einzulassen – worauf immer im Kon-kreten, jedenfalls sich einzulassen auf den An-spruch „des Antlitz“, „des Anderen“, wie Le-vinas das ausdrückt.

Vielleicht macht unter anderem dies das Be-klemmende des Films aus – dass hier Struk-turen der alltäglichen Normalität gezeigt werden, freilich bis in ihr Extrem getrieben. Michael lässt sich als Beispiel der strukturellen

Gefühle sind fürMichael wie eine fremde Sprache.Er weint, in eine große Leere hinein.

Markus SchleinzerMichael(Österreich 2011)

Regie Markus SchleinzerDarsteller Michael Fuith, Christine Kain, Ursula Strauss, Viktor Tremmel, Gisela SalcherKamera Gerald KerkletzSchnitt Wolfgang WiderhoferTon Klaus KellermannProduktion NGF - Nikolaus GeyrhalterFilmproduktion GmbHVerleih StadtkinoFilmverleihLänge 96 Min.Technik 35 mm / Farbe / 1:1,85Fassung OVAuszeichnung 2011: Festival de Cannes -Sélection officielle - Wettbewerb

Ab 2. September im Stadtkinound im Filmhaus Kino.

Gewalt jener patriarchalen Gegebenheiten verstehen, die heute noch immer die Gesell-schaft beherrschen. •

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Stadtkinozeitung 03Markus Schleinzer, „Michael“

Erzählst Du mir, wie’s ausgeht?

1. Raum Haus Michael - Innen/Tag

In einem Kellerraum ist gerade eben ein kleiner Elektroboiler über einem Waschbecken montiert wor-den. Michael, ein etwa 35 jähriger Mann und der 11 jährige Wolfgang stehen davor.

MICHAEL:Probier´s du.

Wolfgang drückt an dem Gerät auf einen schwarzen Knopf.

MICHAEL:Genau. Das ist alles.Der heizt jetzt das Wasser.

WOLFGANG:Und wenn ich zu wenig habe, drücke ich im-mer da drauf.

MICHAEL:Ja, genau.

Der Bub sucht den bestätigenden Blick des Erwachse-nen; er ist ein wenig stolz auf sich. Michael lässt das warme Wasser über seine Hände rinnen. Beide begin-nen ohne Seife den Schmutz der Montage abzuwa-schen. Michael bespritzt den Knaben etwas albern mit Wasser. Ein kleiner Scherz. Wolfgang springt zurück, erwidert das Spielangebot nicht. Man teilt sich ein Handtuch. Dann packen beide das benötigte Werk-zeug in einen silbernen Alukoffer zurück. Wolfgang darf den Koffer schließen. Michael nimmt eine kleine gelbe Plastikwanne auf, will einen Wasserkocher abste-cken. Wolfgang will das aufgeregt verhindern. Erklärt:

WOLFGANG:Nein! Für Tee.

Michael klopft sich selber auf die Stirn – wie konnte er vergessen – und lässt das Gerät stecken. Sagt noch:

MICHAEL:Na gut.

Nimmt dann die Wanne unter den Arm, den sil-bernen Werkzeugkoffer auf.

2. Keller Haus Michael - Innen/Tag

Michael vor dem Kellerraum spricht durch die offene Türe zu Wolfgang, der in der Mitte des Raumes stehen geblieben ist.

MICHAEL:Und freust dich?

Wolfgang wirklich erfreut:WOLFGANG:Ja. Danke.

Michael stellt den Koffer ab, legt die Wanne zu Boden und schließt die Tür des Raumes, die aus schwerem Metall ist. Schiebt dann noch zwei Riegel, die oben und unten angebracht sind, vor. Nimmt Plastikwanne und Koffer wieder auf. Steigt eine Kellertreppe hinauf.

3. Küche Haus Michael - Innen/Tag

Michael in der Küche. Unter dem Spülbecken ver-staut er die kleine gelbe Plastikwanne. Den Werk-zeugkoffer hat er auf der Arbeitsfläche abgestellt. Aus einer Lade nimmt er einen kleinen schwarz einge-bunden Handkalender und macht zum heutigen Tag die Notiz: Therme Weiter Notizen wie: Essen, Oben, Wasser und X sind bereits an anderen Tagen eingetragen. Michael legt den Kalender in die Lade zurück, schließt diese und verlässt die Küche.

4. Kellertreppe Haus Michael - Innen/Tag

Michael wieder auf halber Treppe, die zum Keller führt. Hier ist ein Sicherungskasten angebracht, dem

anders färbigen Verputz zu folgen, erst nachträglich.Michael öffnet den Sicherungskasten. Die einzel-nen Hebelchen und Tasten darin sind beschriftet. Er dreht an einer Zeitschaltuhr. Im Keller selbst passiert nichts. Es findet keine Veränderung statt. Michael schließt den Kasten, geht die Treppe hinauf.

Titel

MICHAEL

5. Büro Michael - Innen/Tag

In einem Büroraum sitzen vier Menschen an ihren Schreibtischen. Michael bei der Arbeit. Er ist Prüfer bei einer Versicherungsgesellschaft. Er teilt sich den Raum mit drei weiteren Kollegen; einer etwa 45jäh-rigen Frau, Mutter von zwei Kindern, mit Fotos auf dem Schreibtisch; einer weiteren Endvierzigerin, kleine

Pflanzen und eine Keramikkatze als Stiftdose; und einem etwa 50jährigen Mann, der an der Wand seit-lich seines Platzes Fotos einer Insel angebracht hat, ein Urlaub vor Jahren. Auf Michaels Schreibtisch findet man eine schwarze Schreibunterlage, einen Stehka-lender, Computer, eine Dose mit Coca-Cola Motiven für Stifte. Auf seiner Schreibtischlampe ist ein Sam-melklebebild eines Fußballers angebracht, WM 2008. Michael telefoniert mit einem Kunden und erklärt die Tücken des Bonus-Malus-Systems, während die End-vierzigerin ein Gespräch über Selbstbehalt führt:

MICHAEL:Ja, aber die Bonus Stufen können nur an di-rekte Verwandte weitergegeben werden.

ZIMMERKOLLEGIN 1:Mhm.

MICHAEL:Nein. Weil das nicht in aufsteigender und ab-steigender Linie ist.

ZIMMERKOLLEGIN 1:Aber was ham die g´sagt, bei der Begehung? Na eben, 112 und sie haben einen Selbstbehalt von 150.

MICHAEL:Vater, Mutter, Kinder, Tochter, Sohn.

ZIMMERKOLLEGIN 1:Nein, Sie!

MICHAEL:Nein, eigentlich nicht. Aber was wir machen könnten, ist, dass ihre Exfrau Ihnen bestätigt, dass sie Ihnen die Stufe übergibt.

ZIMMERKOLLEGIN 1:Aber ganz sicher. Wir zahlen erst ab dem Selbstbehalt.

MICHAEL:Na weil die Polizze vorher nicht greift. Das kann ganz formlos sein. Sie muss halt unter-schreiben, aber da reicht ein Satz.

ZIMMERKOLLEGIN 1:Unterhalb des Selbstbehaltes tragen Sie den vollen Schaden.

MICHAEL:Genau.

ZIMMERKOLLEGIN 1:Wieso?

MICHAEL:Ist Ihre Exfrau auch bei uns versichert?

ZIMMERKOLLEGIN 1:Und der is bei uns versichert?

MICHAEL:Wissen Sie eine Nummer, oder mit was?

ZIMMERKOLLEGIN 1:Glaub i aber net.

MICHAEL:Ja. Ich hab sie schon.

ZIMMERKOLLEGIN 1:Ham´s die Polizzen bei der Hand?

MICHAEL:Nein, das geht dann sicher in Ordnung.

ZIMMERKOLLEGIN 1:Nehmen´s die Polizzen einmal her. Absatz 2.

MICHAEL:Sie kann das auch mailen, wenn sie eine elek-tronische Unterschrift hat. Die Adresse haben Sie?

ZIMMERKOLLEGIN 1:Nanana! Die Differenz zwischen Schadensfall und Selbstbehalt!

5a Büro Michael - Innen/Tag

Etwas später ist Michael damit beschäftigt, Akten-ordner in ein Regal zu schlichten.

6. Raucherkammerl Büro Michael - Innen/Tag

Im Raucherkammerl des Bürogebäudes steht auch der Kaffeeautomat. Michael unterhält sich rauchend mit Bernd, einem weiteren Arbeitskollegen, während eine schicke junge Dame, die einen Kaffee bezahlt hat, mitansehen muss, wie dieser einfach in das Überlaufsystem des Automaten rinnt.

SCHICKE KOLLEGIN:Das gibt´s ja nicht bitte. Was ist das?

BERND:Sind die Becher schon wieder aus?

SCHICKE KOLLEGIN:Na offensichtlich.

MICHAEL:Da müssen´s den Beranek anrufen, auf 317.

SCHICKE KOLLEGIN:Und mein Geld?

7. Straße Auto Michael - Innen/Tag

Michael fährt Auto. Spätherbst.

Nein, sicher nicht: Die Anfangssequenz aus dem Markus Schleinzers Drehbuch zu „Michael“,in einer ursprünglichen, für den Dreh später noch abgeänderten Version.

Alltag eines Entführers: Michael Fuith als Kindsräuber, erschreckend glaubwürdig.

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Stadtkinozeitung04 Markus Schleinzer, „Michael“

8. Einkaufsmarkt - Innen/Tag

Michael in einem großen Einkaufsmarkt. In seinem Einkaufswagen: Klopapier, eine Kiste Mineralwas-ser, abgepacktes und vorgeschnittenes Brot, ein Kar-ton Mannerschnitten. Vieles, das man nicht kochen muss, kalt essen kann, aus Dose und Glas, in großer Anzahl.

9. Parkplatz Einkaufsmarkt Auto Michael - Außen/Tag

Auf dem Parkplatz werden die Einkäufe in den Kofferraum getan.

10. Straße Auto Michael - Innen/Tag

Michael fährt Auto.

11. Örtlicher Greißlerladen - Innen/Tag

Michael betritt einen örtlichen Greißlerladen und wird sofort vom Inhaber persönlich begrüßt. Auch eine alte Kundin erkennt ihn: Michael möge seiner Mutter schöne Grüße ausrichten. Das will er tun. Die Kundin zahlt, geht. Michael ist nun an der Reihe.

INHABER:So. Was darf´s sein?Michael braucht Brot und Aufschnitt und Aufstrich. Auch eine Single-Packung Klopapier legt er auf den Verkaufstisch, und Mannerschnitten.

MICHAEL:Auf die hab ich heut schon den ganzen Tag Lust.

12. Vor Haus Michael - Außen/Abend

Michaels Wagen fährt in die Garage. Die Garage ist seitlich am Haus angebracht, und man kann durch sie ins Haus gelangen.

12a Garage Haus Michael - Innen/Abend

Michael schließt den Kofferraum. Die Einkäufe hat er bereits an der Verbindungstüre Haus/Garage ab-gestellt. Nachdem er in der Garage das Licht löscht, nimmt er die Einkäufe auf und betritt sein Haus durch die Verbindungstüre.

13. Küche Haus Michael - Innen/Abend

Michael stellt die zuletzt gemachten Einkäufe in der Küche ab.

14. Kellertreppe Haus Michael -Innen/Abend

Die Tüten aus dem Einkaufsmarkt trägt Michael die Kellerstiege hinunter.

16. Wohnzimmer Haus Michael -Innen/Abend

Michael mit Kochschürze um die Hüften und Fernbedienung in der Hand schaut stehend ei-nen Bericht der Sendung „Niederösterreich Heu-te“ im Fernsehen an. Wirft einen Blick über die Schulter.

17. Küche Haus Michael - Innen/Abend

In der Küche wäre beinahe der Leberkäse ange-brannt. Michael schiebt die Pfanne auf eine andere Herdplatte und wendet das Fleisch.

18. Wohnzimmer Haus/Vor Haus Michael - Innen/Außen Abend

Im Wohnzimmer betätigt Michael einen Schalter an

der Wand. Automatische Rollläden gleiten außen an den Fenstern hinab und trennen so das Zimmer komplett von der Außenwelt.

18a Wohnzimmer Haus Michael -Innen/Abend

Zur PersonMarkus schlEINzEr

1971 in Wien geboren, war von 1994 bis 2010als Casting Director tätig.In dieser Zeit erarbeitete er über 60 Spielfilm-projekte, darunter Jessica Hausners Filme Lovely Rita, Hotel und Lourdes, Ulrich Seidls Hundstage, Benjamin Heisenbergs Schläfer und Der Räuber,

Shirin Neshats Women without men, oder Mi-chael Hanekes Die Klavierspielerin, Wolfszeit und zuletzt das Kindercasting für den Film Das weiße Band, wo er die Kinder auch als Trainer betreute, und mit ihnen die Szenen erarbeitete. Michael ist sein erster Spielfilm. •

Michael deckt den Tisch

19. Keller Haus Michael -Innen/Abend

Michael kommt die Kellertreppe herab. Er öffnet die

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ULRICH KÖHLER 12JIM HOBERMAN 68

FRITZ LANG 60ROB LOWE 73

Nummer 10 Juni bis August 2011«This is my neighborhood. I am on patrol tonight! There will be no monkey business on my watch!» (Martin Sheen zu Rob Lowe, anno 1979)

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Die Tür im Keller...

Stahltüre. Im Raum dahinter ist es komplett dun-kel. Aus der Dunkelheit kommt Wolfgang Michaels Aufforderung nach:MICHAEL:Na komm.

Wolfgang stellt sich neben die Türe und wartet bis Michael den Raum wieder verschlossen hat. Folgt ihm dann. Selbst das trübe Kellerlicht ist im Mo-ment noch zu stark für die Augen des Knaben, und er kann nur blinzelnd die Treppe hinaufstei-gen.

20. Wohnzimmer Haus Michael -Innen/Abend

Michael und Wolfgang essen zu Abend. Der Tisch ist nicht unbedingt feierlich aber sehr or-dentlich gedeckt: Tischsets und Korkuntersetzer. Wolfgang isst auch artig. Wenn er sich Senf nach-nimmt, verschließt er sofort wieder die Tube und stellt sie in die Mitte des Tisches zurück, wo sie auch Michael erreichen könnte.Alles wirkt sehr gut erzogen.

Dann:WOLFGANG:Darf ich heute fernschaun?

Michael isst weiter, den Blick auf seinen Teller gehef-tet, als ob er nichts gehört hätte. Wolfgang bleibt noch eine Weile mit seinem Blick auf Michael, senkt dann seinen Kopf wieder und isst schweigend weiter. Nach einiger Zeit sagt Michael:

MICHAEL:Bis neun.

21. Küche Haus Michael -Innen/Abend

In der Küche spült Michael Geschirr, eifrig trock-net Wolfgang es ab. Der Fernsehabend will verdient sein.

22. Wohnzimmer Haus Michael -Innen/Nacht

An jeweils einem Ende der Couch sitzend schauen Wolfgang und Michael fern. Deutsches Privatfern-sehen, eine Werbepause unterbricht das Programm. Michael erhebt sich:

MICHAEL:So, jetzt aber.

Wolfgang, der sitzen geblieben ist:WOLFGANG:Ein bissi noch!

MICHAEL:Nein. Sicher nicht.

Wolfgang erhebt sich, typisch für Kinder, den Kopf bis zum Schluss dem Bildschirm zugewandt, wäh-rend ihn Michael an den Schultern aus dem Zim-mer schiebt.

23.Kellertreppe Haus Michael -Innen/Nacht

Die beiden kommen die Kellertreppe hinunter.

WOLFGANG:Erzählst du mir dann, wie´s ausgeht?

Michael steuert auf die Metalltüre zu. Öffnet di-ese. Beide sprechen nun nicht mehr, schauen sich auch nicht an. Wolfgang verschwindet im dunklen Raum hinter der Stahltüre. Michael verschließt di-ese hinter ihm. Oben und unten. Mit den langen Riegeln. •

David Rauchenberger und Michael Fuith.

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„Er war doch immer so nett...“

Ursula Baatz Wie kamst Du auf die Idee, so einen Film zu machen?Markus Schleinzer Es hat mich in den letzten Jahren immer wieder beschäftigt, wie mit Tätern und dem Täterbegriff in der Öffentlichkeit umgegangen wird. Und in diesem Diskurs gibt es kaum ein Verbrechen, welches so stark verdammt wird, wie Kindes-missbrauch. Hier handelt es sich um eines der größten Verbrechen unserer Gesellschaft, so dass sogar rechtschaffene Menschen, die sich stark der Gesetzgebung verpflichtet fühlen, gerne zum mittelalterlichen Recht zurück-kehren würden, und beginnen, den Beschul-digten vieles an den Hals zu wünschen. Ich selbst bin nicht frei davon, wenn ich Derar-tiges höre, was mein Vorstellen und meine Vorstellung überschreitet. Und auch ich bin dem Boulevard, dem man ja fast ausschließ-lich die Rezeption dieses Themas überlassen hat, weite Strecken gefolgt. Das hat mich erschrocken und das wollte ich mir ansehen. Ich habe eine unverstellte Annäherung an dieses Thema gesucht, und die filmische Fikti-on bietet eben diese Möglichkeit. Bewusst habe ich mich dabei weder mit heimischen noch internationalen Fällen beschäftigt, und eine Personenkonstellation gewählt, die mir nicht aus Medien bekannt war. Es enthält nichts Autobiografisches, noch gab es in meinem Umfeld Fälle von Pädophilie. Nach dem Schreiben habe ich eine international anerkannte Gerichtspsychologin, Dr. Heidi Kastner, gebeten, die Figur und ihr Handeln wissenschaftlich zu prüfen. Bei einem solchen Thema ausschließlich die blühendste Phan-tasie walten zu lassen, wäre ja gefährlich und dumm. In der Arbeit an Michael ging es einer-seits um den erzählten Inhalt, die letzten fünf Monate des unfreiwilligen Zusammenlebens eines 35 jährigen Mannes und eines 10 jäh-rigen Knabens. Andererseits, und das war mir vorrangig, die Art und Weise, wie man eine solche Geschichte erzählen kann. Es ist ein Täterfilm. Und ich wollte aus der Welt und aus der Sicht des Täters berichten. Also war es mir wichtig, keine äußere richtende Instanz, oder Moral zu schaffen, die Geschichte nicht durch meine eigenen moralischen Ansichten färben. Es gibt also nur den Mann und den Knaben und ihre Interaktionen. Ich wollte etwas schaffen, dem man sich aussetzen muss. Wo jeder sehen muss, was ist das, was macht das mit mir? Und genau diese Gefühle anzu-schauen. Ich glaube das hilft einer Gesellschaft oder uns allen weiterzukommen, voranzu-kommen. Eine Gesellschaft kann nur so weit entwickelt sein, wie sie auch in der Lage ist, sich mit ihren Tätern auseinanderzusetzen.Baatz Täter werden in den Medien zu Mon-stern stilisiert …Schleinzer Die Boulevardpresse operiert gerne mit griffigen Formeln, wie „das Mon-ster von …“ etc. Doch Monster sind keine Menschen – ein Monster ist ein Fabelwesen, eine Märchengestalt. Dem Täter wird damit das Menschsein abgesprochen. Offensichtlich ist uns die Distanz, die wir zu Tätern ein-nehmen müssen, unheimlich wichtig. Und die Mittel, um diese Distanz zu schaffen, sind beliebig. Weil es nur darum geht, dass der Abstand zwischen uns und Personen, die so gehandelt haben, möglichst groß sein soll. So jemanden will man sich nicht ansehen müs-sen, oder vielleicht gar durch die Möglichkeit der Identifikation in seine Nähe gerückt wer-den. Wir sind meist auf der Suche nach Inner-lichkeiten und Äußerlichkeiten, an denen wir andere festmachen können. Aber nicht zwingend, um zu verstehen und zu erkennen, sondern um sie von uns weg zu schieben. Das ist ein immer gleiches formelhaftes Operie-ren, diese zwanghafte Suche nach „Erlösung“ durch psychologische Erklärungen, gestützt auf die Erfindung auswegloser Biographien. Diesen Mechanismus habe ich gezielt ver-

sucht, bei Michael außer Kraft zu setzen. Mein zentraler Punkt war: Ich schaffe nur dann einen Umgang mit jedweder Kriminalität, indem ich sie anerkenne, also auf Augenhöhe damit bin. Ich muss dessen Existenz anerken-nen. Das heißt nicht Vergeben, das steht ver-mutlich nur den Opfern zu. Die Verurteilung erledigt das Gericht.Baatz Es gibt auch im Leben dieses Täters Normalität …Schleinzer Wie ist das, wenn man unter solchen Bedingungen zusammenlebt? Für beide Seiten? Wie ist das, wenn nach einer gewissen Zeit die ersten Proteste vorbei und die ersten Schwierigkeiten der Gewöhnungs-Phasen beschritten sind? Das ist dann nach unserer Vorstellung eine Beziehung. Man ist schon ein paar Jahre zusammen, man hat sich aneinander gewöhnt – wie ist das? Darüber wollte ich erzählen. Und es kommt auch eine Art von Sexualität vor, weil sie eine Komponente dieses Zusammenlebens ist, das natürlich vom Täter gesteuert wird. Aber auch hier versucht der Täter nichts anderes zu tun, als ein klischiertes Abbild von Norma-lität zu leben. Er versucht, so zu sein wie andere. Er hält stark daran fest, die Riten der Normalität aufzusuchen, weil das Normale das Verbrechen verdeckt. Mich interessieren diese selbstgeschaffenen Idyllen, die sich als „Natur“ und „normal“ ausgeben – weil es für mich selbst die Normalität und den Alltag aufbricht, den ich lebe. Zu wissen, dass man in einer Extremsituation die Normalität

braucht und sucht, um diese Extremsituation für sich selber lebbar und aufrecht zu erhalten – das wirft ein besonderes Licht auf den All-tag und dessen Normalität. Was bedeutet das für meine Normalität – wie viel davon ist nur Selbstschutz und wie viel davon ist Festhalten an einer Sicherheit? Baatz Was für mich den Film interessant und auch erschreckend macht, ist dass ja nicht nur der Täter die Normalität sucht, sondern dass die Normalität ihn ja gar nicht abnor-mal findet. Er funktioniert prima an seinem Arbeitsplatz in einer Versicherung, er wird sogar befördert, man schätzt ihn, dass er zu einem Skiausflug eingeladen wird etc. etc. Die „normalen Leute“ reagieren auf ihn so, als ob er ein ganz normaler Mensch wäre. Das ge-hört für mich zu den befremdlichen und auch besorgniserregenden Momenten dieses Films.Schleinzer Sollte Abnormalität das Gegenteil von Normalität sein, glaube ich nicht, dass sie sich dann auch durch alle Lebensbereiche zieht. Das Abnormale ist nur eine Facette. In Michael hat die Abnormalität des Täters, die Pädophilie, ihn dazu getrieben, dieses Kind zu entführen.

Aber das ist nichts, was ihn erkennbar macht, dass man sofort von ihm abrücken könnte. Und wenn dann– wie bei solchen Fällen typisch – die Nachbarn zusammenströmen und sagen „Er war doch immer so nett …“, so versuchen sie, das Dysfunktionale mit dem Funktionalen irgendwie aufzuwiegen. Dieses Unverständ-nis – wie kann jemand, der mir einmal auf die Katzen aufgepasst hat, plötzlich abnormal sein? Das erscheint uns unwahrscheinlich, weil dies unsere eigene Normalität gefährdet.

Baatz Die Figuren in Michael reagieren einerseits „normal“, andererseits mit einer Art von emotionaler Kühle – es fließen selten die Tränen, keine großen Szenen etc. Schleinzer Das Schreckliche ist schrecklich genug. Ich konnte also keinen Sinn darin erkennen, durch die Wahl der erzählerischen Mittel den Film in diese Richtung noch stärker aus zu loten. Ich habe mich schon sehr früh beim Schreiben entschieden, dass ich zu diesem Thema keinen Film machen möchte, der das Opfer als Hauptfigur behandelt. Das

wäre geschmacklos gehandelt. Erstens weiß ich zu wenig darüber, und zweitens erlebe ich oft, dass Opferfilme Kapital aus den Opfern schlagen. Das wollte ich nicht. Ich konnte mich nicht in einer Gefühligkeit, einer Rühr-seligkeit und Sentimentalität oder in einer Überemotionalisierung der Sache widmen. Ich schütze die Darsteller, die das spielen und ich habe Täter- wie Opferfigur ihren Raum gelassen. Es gibt keine obszönen Großauf-nahmen, wo Tränen über Backen kullern. Das finde ich einfach despektierlich. Das würde nur wieder das Genre des emotionalisierten family-entertainment- Kinos stärken, dass man auf Knopfdruck gerührt sein muss, weil man sieht, da weint jemand. Aber ich wollte auch nicht den Fehler begehen zu glauben, es gibt nur eine Sicht, nur eine emotionale Zugangsweise – die gibt es nie.Baatz Du hast vorhin von Deinen Schau-spielern gesprochen – ein Kind für so einen Film einzusetzen ist eine ziemlich gewagte Sache, finde ich. Schleinzer Das wichtigste war absolute Ehrlichkeit. Bei einem der letzten Castings

ist eine Mutter aufgestanden und gegangen, weil ich ihr nicht versprechen konnte, dass ich ihr Kind in Zukunft schützen kann. Ich kann nicht verhindern, dass das Kind, das diese Rolle gespielt hat, dann für die Darstel-lung dieser Figur von seinen Schulkollegen gehänselt wird. Das kann ich nicht, das wäre eine Lüge, das zu behaupten. Wir haben aber versucht, dem Kind Rüstzeug mitzugeben, durch Sprechen, durch Diskutieren, durch Reden und auch Zuhören, sodass dieses Kind auch ein bisschen für sich selbst stehen kann, als Mensch in diesem Thema. Das wichtigste war also, Eltern zu finden, die nicht nur ihrem Sohn erlauben, eine solche Rolle zu spielen, sondern in denen man auch interessierte Gesprächspartner finden kann; ein Kind zu finden, das ausreichend Talent mitbringt, und gesund und mit beiden Beinen in seiner Persönlichkeit verankert ist. Ich kann keinen Film über Missbrauch machen und miss-brauche dann selber. Das betrifft natürlich in großem Maße das Kind, weil es das Opfer spielt, aber auch den Darsteller des Täters, Michael Fuith. Es war sehr wichtig, dass wir uns im Vorfeld sehr intensiv damit auseinan-dergesetzt haben, wer wir selber sind, bevor wir angefangen haben über die Figuren zu sprechen.Baatz Wie verarbeitet ein Zehnjähriger so eine Geschichte?Schleinzer Mein Vorteil war, dass ich schon sehr viel mit Kindern gearbeitet habe. Gerade das Weiße Band von Michael Haneke war da eine große Schule. Unbeleckt hätte ich mich an Michael nicht herangetraut. Ich habe gelernt, dass man Kinder da abholen und ihnen begegnen muss, wo sie stehen, nämlich in ihrem Kindsein. Das war ganz wichtig. Also es ging nicht darum, vor allem bei so einem Thema, dass man das Kind hinaufzieht in die Welt der Erwachsenen. Wir haben offen mit ihm darüber gesprochen, und er hat gewisse Strategien entwickelt. Ich habe ihm immer wieder die Möglichkeit gegeben, sich selber zu überlegen, was mit seiner Figur passiert. Wichtig war auch, dass er an der Gestaltung seines Kellerraumes mitarbeiten konnte. Alle Bilder, die da hängen, hat er selbst gemalt. Er hat Befreiungsphantasien entwickelt, z.B. dass er einen Tunnel gräbt, und wie er sich dann rächt. Wir haben ihn bei sich gelassen, und auch in seiner Stärke. Er hat das Drehbuch gekannt und auch gewusst, wie es ausgeht; und er hat für sich entschieden, wie er als Figur da herauskommt. Und obwohl immer klar war, worum es hier geht, haben wir gemeinsam mit den Eltern und dem Buben eine Sprachregelung gefunden, wie wir mit der Sache umgehen. Es war ganz wichtig, ihn nicht mit Information zu überfordern, son-dern die Situation sozusagen haptisch für ihn erfahrbar zu machen. Man darf Kinder nicht unterschätzen. Kinder haben viel mehr Ah-nung als uns vielleicht manchmal lieb ist oder als wir ihnen zutrauen wollen. Dennoch. Das Kind ist zu schützen, wie auch die Kinderfi-gur in diesem Film zu schützen ist – vor mir und vor dem Publikum – um jede Art von Voyeurismus und jede Form von Obszönität auszuschließen.Baatz Und wie war das für deinen Haupt-darsteller Michael Fuith?Schleinzer Eigentlich müsste er diese Frage beantworten. Von meiner Beobachtung kann ich nur sagen, dass er sich der Geschich-te extrem ausgesetzt hat, dass er sehr viel recherchiert hat und dass es sicherlich für ihn immer wieder schwierig war, sich so einer Person und der Darstellung einer solchen Figur auszusetzen, das man Handlungen logisch nachvollzieht, auch wenn man sie nie gutheißen kann. Dem hat er sich sehr ehrlich gestellt und eine exzellente Arbeit gemacht, aber ich wünsche ihm, dass die nächste Rolle eine andere ist. •

Die Welt durch die Augen eines Täters betrachten: Ein Gespräch mit Markus Schleinzer überdie Intentionen von „Michael“. UrsUla Baatz

Markus Schleinzer, Filmemacher.

Man darf Kindernicht unterschätzen. Sie haben oft mehrAhnung als unsvielleicht lieb ist.

Stadtkinozeitung Markus Schleinzer, „Michael“ 05

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Stadtkinozeitung06 Mathieu Amalric, „Tournée“

Impressum Telefonische Reservierungen Kino 712 62 76 (Während der Kas-saöffnungszeiten) Büro 522 48 14 (Mo. bis Do. 8.30–17.00 Uhr Fr. 8.30–14.00 Uhr) 1070 Wien, spittelberggasse 3 www.stadtkinowien.at / [email protected] Stadtkino 1030 Wien, schwarzenbergplatz 7–8, tel. 712 62 76 Herausgeber, Medieninhaber stadt-kino Filmverleih und Kinobetriebsgesellschaft m.b.H., 1070 Wien, spittelberggasse 3 Graphisches Konzept Markus raffetseder Redaktion Claus Philipp Druck Goldmann Druck, 3430 tulln, Königstetter straße 132 Offenlegung gemäß Mediengesetz 1. Jänner 1982 Nach § 25 (2) stadtkino Filmverleih und Kinobetriebs-gesellschaft m.b.H. Unternehmungsgegenstand Kino, Verleih, Videothek Nach § 25 (4) Ver-mittlung von Informationen auf dem sektor Film und Kino-Kultur. ankündigung von Veranstal-tungen des stadtkinos. Preis pro Nummer 7 Cent / Zulassungsnummer GZ 02Z031555 Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b.

chrom und champagner

Man könnte schreiben: ein Film über Körper, über Körper und Bewe-gungen, Körper in Bewegung, nur

ist damit noch nicht viel über Tournée gesagt, weil das mit den Körpern und mit der Bewe-gung im Prinzip ja für fast alle Filme zutrifft. Und wenn außerdem gilt, dass die Bewegung irgendwann zum Stillstand kommen muss, dann geschieht das in Tournée eben auch, so wie dieser Film keine Ausnahme macht von der einfachen Idee, die Bewegung der Körper wesentlich als eine Bewegung aufeinander zu oder voneinander weg zu begreifen.

Um es also ein wenig anders zu formulieren: Dies ist ein Film über Körper, zunächst: über die starken, üppigen, mit einiger Routine ge-warteten Körper der Burlesque-Tänzerinnen (Mimi le Meaux, Kitten on the Keys; kein zweiter Film, der so tolle Namen durch sei-nen Vorspann zu tragen hätte), aber auch: über den zarten, ausgezehrten, unaufhörlich getrie-benen Körper von Mathieu Amalric. Bei den einen wie dem anderen handelt es sich um erschöpfte Körper; das haben sie gemeinsam, daran erkennen sie sich, gewissermaßen un-terhalb all der Blicke und Gesten, die fortlau-fend zwischen ihnen ausgetauscht werden und immer nur bestätigen, was eigentlich schon zwischen den Körpern etabliert ist. Die Er-schöpfung ist in der ersten Szene von Tournée, das heißt: von Anfang an präsent. Und was an Bewegung passiert (das ist sehr viel und dau-ernd etwas anderes: ein Programm), stellt sich unter dem Eindruck dieser grundsätzlichen Erschöpfung anders dar als in anderen Filmen.

Die Theatergarderobe ist ein bevorzugter Ort für dergleichen Körper-Inszenierungen. (Nach dem Spiel, vor dem Spiel; nach dem Auftritt, vor dem Auftritt; schon angeschla-gen, aber noch nicht ausgezählt; schon fast verbraucht, aber noch nicht durch mit der Nummernfolge etc.) Sehr folgerichtig setzt Tournée also in der Garderobe ein und kehrt im Folgenden immer wieder dorthin zurück: an diesen Ort, an dem die Körper noch nicht ganz für die Bühne präpariert sind, aber schon im Prozess der Staffierung begriffen, was hier kaum etwas mit Einkleidung und sehr viel mehr mit verschiedenen Modifikationen von Nacktheit zu tun hat. In der Garderobe ist der Umgang mit den Körpern sachlich, ohne bru-tal zu sein, er ist weder schamhaft noch exhi-bitionistisch, außer in dem sehr schönen Mo-ment, in dem zwei sehr große Brustwarzen, die bis dahin gekonnt durch Drehungen und Armbewegungen verdeckt wurden, sich auf einmal unter dem Blick der Kamera entblößt finden. (Gleich darauf werden sie mit Klebstoff eingekreist, mit Pasties bestückt; die Präparati-on für den Bühnenauftritt hat begonnen und die kleine Sondervorstellung ist vorüber.)

Nach der Garderobe dann die Hotellobby. Nach der Hotellobby die Hotelbar, das Ho-telzimmer, der Frühstücksraum, das Taxi, das Zugabteil, wieder ein Taxi, wieder eine Gar-derobe, die nächste Hotellobby. Eine Tournee, diese, jede, ist eine tour de force, daran lässt der Film keinen Zweifel, aber auch nicht daran, dass die tour de force für sich genommen nicht

unbedingt ein Drama ist. Sie sind das gewohnt, und immerhin haben sie es sich ausgesucht. Sie sind mitgekommen, fünf Tänzerinnen mit ihren Schachteln, Koffern, Requisiten, von Amerika nach Frankreich, aus dem vertrauten Umfeld in ein unvertrautes, durch das sie jetzt von diesem komischen kleinen Kerl gelotst werden, der, wie gesagt, das Gesicht von Ma-thieu Amalric hat, zu dem Gesicht aber einen ziemlich auffallenden Schnurrbart trägt und zu dem Schnurrbart weinrote oder dunkelgrüne Samtanzüge, die ein wenig an die 70er Jahre erinnern.

Überhaupt die 70er. Und die frühen 80er. Während ein Film wie Boogie Nights (auch mit dem Sex-Business befasst, aber unter ganz anderen Vorzeichen) ein konkretes Bild dieser Zeit zu entwerfen sucht und den Übergang vom einen zum anderen Jahrzehnt als einen fall from grace und als ein ziemlich böses Er-wachen durcherzählt, unterhält Tournée zu diesen beiden Jahrzehnten eine Beziehung,

die vage bleibt und in alle möglichen Rich-tungen ausgreift: Nan Goldin, Debbie Harry, John Cassavetes, Opening night und Killing of a chinese bookie, Big Blondes, Heels, Lashes, John Waters, Divine, female trouble, schwarzer Ka-jal, kaputte Strümpfe, Latex, Ledersessel und Glitzervorhänge und etwas verbrauchte Auf-trittsräume; Hotels, Autos, Fassbinder, Warnung vor einer heiligen Nutte, und gegen Ende sogar Wenders, Der Stand der Dinge... – Von all dem ist etwas in diesem Film, und was genau und mit welchem Effekt, ist vielleicht nicht weiter wichtig, nur dass die Figuren eine ganz eigene Atmosphäre mit sich führen, ein Moment des Aus-der-Zeit und Nicht-ganz- von-dieser-Welt, in der sie etwas unbehaust unterwegs sind. Tournee eben, ein Zustand ohne erkenn-bares Davor oder Danach und außerdem, hier, diesmal, ein Zustand der anhaltenden Unver-bundenheit: mit den Orten, an denen die Tän-zerinnen mit ihrer Burlesque-Show auftreten, aber auch mit der Gegenwart, in der die Auf-tritte stattfinden.

Für die Tänzerinnen ist das meist kein Pro-blem. (Ohnehin könnte man die Burlesque, mit all ihren lackschwarzledernen- federspit-zenbesetzten Utensilien und Accessoires, auch als eine Form des gesuchten Anachronismus beschreiben, eine kleine Utopie von selbst-bestimmter Show und Sex-Business als Spiel, das es für die meisten Beschäftigten ja doch eher nicht ist.) Wenn die Unverbundenheit zum Problem wird, dann für den Manager und Impresario, für den die Tournee, anders als für die Tänzerinnen, eine Rückkehr ist, aus unbe-stimmter Ferne und nach unbestimmter Zeit, die nicht ganz kurz gewesen sein kann, aber doch zu kurz, um die Verwerfungen zu glätten, die er damals hinterlassen hat. Jetzt suchen sie ihn heim, oder besser: er sucht sie auf, denn tat-sächlich verhält es sich so, dass in diesem Film nicht eine Tournee abläuft, sondern zwei. Eine, mit dem Zug, durch die Hafenstädte Le Havre, Nantes, La Rochelle etc. und ihre Nachtclubs, und eine zweite, mit dem Auto, zu den Orten und Personen, die den Mann im Samtanzug mit seiner Vergangenheit verbinden.

Oder nicht verbinden. Es ist nicht so, dass die Suche nach Anschluss sehr erfolgreich verliefe, dafür sind alle viel zu wütend, im-

Endlich auch hierzulande im Kino: „Tournée“, Mathieu Amalrics charmantes Porträt einerexzentrischen Burlesque-Truppe. stEFaNIE DIEKMaNN

Körperkino: „Tournée“.

mer noch oder gleich wieder, wenn sie mit ihm zu tun bekommen. Man sieht das ein paar Mal: in einem Theater, in einem Krankenhaus, in einer Wohnung und einem Hotelzimmer, später auf einem Bahnhof, wenn er seine bei-den Söhne in den Zug setzt, die er eine Weile durch den Film mitgezerrt hat. Diese Tournee, seine, führt nirgendwo hin; sie bringt ihn nur zurück nach Paris, wo er damals gelebt hat, und wo, wie er entdecken muss, alles ohne ihn weiter gegangen ist, so wie auch die Tournee der Tänzerinnen eigentlich ganz gut ohne ihn läuft, da kann er noch so oft bei ihnen anru-fen oder Anweisungen durchgeben oder sich gebärden, als würden sie ohne ihn nicht klar-kommen.

Paris ist das Gravitationszentrum des Films Tournée. Hier werden, in einem erratischen Zickzack von den Quartiers in die Banli-eue und zurück, die Restbestände eines ver-gangenen Lebens angesteuert. Hier ist der Ort, an dem die Tournee ihren Abschluss finden sollte, aber nicht finden wird (er hat, wieder einmal, irgendjemanden zu wütend gemacht, deshalb wird das Theater an einen Konkur-renten vergeben). Und so stellt sich Paris für die Tänzerinnen als der Ort dar, um den sie in großem Bogen herumgeführt werden, und von dem ihr seltsamer Manager in seltsamer Verfassung zurückkommt. In der Konstellation der zwei Tourneen wechselt das Off andauernd: von den Rändern der Burlesque-Tour, wo die Verwerfungen von damals lauern, zu den Rän-dern der privaten Queste, wo die Tour weiter geht, und wie in jedem Backstage-Film gehört es zum Programm, dass die Trennung zwischen den beiden Sphären nicht aufrecht erhalten werden kann und immer wieder etwas aus der einen in die andere eindringt.

Der Mann im Samtanzug legt es sogar darauf an: Konvergenz der Tourneen, Apotheose der einen und der anderen im Theater von Paris, das dann Schauplatz eines professionellen und eines privaten Triumphes geworden wäre. Da er das Theater indessen nicht bekommt und man ihm auch kein anderes geben will, muss ein neuer Ort gefunden werden – und findet sich, doch liegt er eben nicht an der Schnittstel-le der zwei Tourneen und ganz gewiss nicht in Paris, sondern anderswo, irgendwo im Abseits, bei La Rochelle, wo sie auf einmal in einem schönen, menchenleeren Hotel am Meer sit-zen. Das ist das Ende: Tournee, Auszeit, Design aus den 70ern, Chrom und Champagner, fünf Tänzerinnen, ein Stripper und Mathieu Amal-ric, den man verdächtigen könnte, den ganzen Film nur für seine allerletzte Szene gemacht zu haben. •

Mathieu AmalricTournée(Frankreich 2010)

Regie Mathieu AmalricDrehbuch Mathieu Amalric, Philippe di Folco, Marcelo NovaisDarsteller Miranda Colclasure, Suzanne Ramsey, Linda Marraccini, Julie Ann Muz, Angela de Lorenzo, Alexander Craven, Mathieu Amalric, Damien Odoul, Ulysse Klotz, Simon Roth, Joseph Roth, Aurélia Petit, Antoine Gouy, André S. Labarthe, Pierre GrimblatKamera Christophe BeaucarneSchnitt Annette DutertreTon Olivier MauvezinProduktion Les Films du Poisson, LaetitiaGonzalez und Yaël Fogiel, Neue Mediopolis Film, WDR, ARTE, Le PacteVerleih StadtkinoFilmverleihLänge 111 Min.Technik 35 mm / Farbe / 1:1,85Fassung OmU, Dolby SRD/DTS

Ab 19. August 2011 im GartenbauKino (OmU) und Apollo (DF).

Aus der Zeit und nicht ganz von dieser Welt. Und immer vorbei am großen Triumph...

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Rosas / GraindelavoixAnne Teresa De Keersmaeker / Björn Schmelzer

Cesena

Weiters: What, How and for Whom / WHW, Gunilla Heilborn, Lotte van den Berg, Yael Bartana, Maruša Sagadin, Barbara Duden, Voina group, Carl Michael von Hausswolff, Michikazu Matsune, Markus Schinwald, Heine Røsdal Avdal, Werner Dafeldecker, Eszter Salamon, Theater im Bahnhof, Daniel Knorr, Miguel Gutierrez, Klangforum Wien, Artur Żmijewski, Rodrigo García, Danica Dakić, Peter Weibel, Ann Liv Young, Marino Formenti, Maha Maamoun, Orthographe, Ai Weiwei, Gerhild Steinbuch, Apichatpong Weerasethakul, Sin Fang, Christian Fennesz, Erzen Shkololli, Jan Ritsema, Antje Majewski, Johannes Schrettle, Katrin Plavcak, Jörg Albrecht, CREW, Hans Rosenström, Apparatjik, Public Movement, Cupola Bobber u. a.

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ab 30. september im stadtkino

ErzählErin: nina hagEn