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DOGENS GENJOKOAN KOMMENTAR VON KOSHO UCHIYAMA ROSHI Übersetzt von Shohaku Okumura

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DOGENS GENJOKOAN

KOMMENTAR VON KOSHO UCHIYAMA

ROSHI

Übersetzt von Shohaku Okumura

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Inhalt

INHALT

Kommentar von Kosho Uchiyama Roshi ................................................1

Einleitung: Uchiyamas Teisho zum Genjokoan...........................................4

Die Suche nach der Wahrheit ............................................................4

Üben unter Sawaki Roshi ...................................................................5

Kurze Einführung in die GEschichte Antaijis .......................................7

Uchiyama Roshi wird Abt von Antaiji .................................................8

Üben in Antaiji unter Uchiyama Roshis Leitung..................................9

Die letzten Tage von Uchiyama Roshi ..............................................12

Eine Übersetzung des Shobo Genzo Genjo-Koan .....................................17

1......................................................................................................17

2......................................................................................................17

3......................................................................................................17

4......................................................................................................17

5......................................................................................................17

6......................................................................................................18

7......................................................................................................18

8......................................................................................................18

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11....................................................................................................20

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12....................................................................................................21

13....................................................................................................22

Dogen Zenjis Shobogenzo Genjokoan......................................................23

Uchiyama Roshis Teisho zum Genjokoan ................................................24

1-3...................................................................................................31

Momentanes Ende ..............................................................................67

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EINLEITUNG: UCHIYAMAS TEISHO1 ZUM GENJOKOAN

DIE SUCHE NACH DER WAHRHEIT

Kosho Uchiyama Roshi wurde im Jahr 1912 in Tokio, Japan geboren. Dies

war das letzte Jahr der Meiji Periode (1867 – 1912) und das erste der Taisho

Periode (1912 – 1926). Als Jugendlicher dachte er, sein Leben wäre wie eine

unbenutzte Leinwand und er wünschte sich, darauf ein Bild mit dem Titel

„Wahrheit“ zu malen. Doch wusste er nicht, was diese Wahrheit ist. Das war

der Ausgangspunkt seiner Suche nach der Wahrheit. Er dachte, der Ort und

die Zeit in der er lebt ist eine Begegnung der östlichen mit der westlichen Kul-

tur, die seit der Meiji Periode eingeläutet wurde. Dadurch konnte er Beides

lernen: die östliche, spirituelle Tradition, die den Frieden des Geistes sucht

und den rationalen, westlichen Weg des Denkens, der den Zweck des materi-

ellen Fortschritts der Gesellschaft verfolgt. Er fühlt sich dazu inspiriert, etwas

Neues und Sinnvolles zu schaffen, dadurch, dass er beide studierte.

Auf seiner Suche nach der Wahrheit des Lebens studierte er sowohl im

Vordiplom, wie auch im Diplom an der Waeda Universität in Tokio zuerst die

westliche Philosophie (hauptsächlich die Deutsche). Nach seinem Abschluss

1937 wurde er Lehrer in einem katholischen Seminar in der Oita Präfektur,

wo er Philosophie und Mathematik unterrichtete. Gleichzeitig studierte er ka-

tholische Theologie, weil er dachte, um die westliche Philosophie wirklich

verstehen zu können, muss er das Christentum verstehen. Nach sechs Mona-

ten gab er die Idee ein Katholik zu werden auf, weil er nicht in dessen Institu-

tion passte.

Während seiner zwanziger Jahre heiratete er zweimal. Das erste Mal wäh-

rend seiner Zeit als Student an der Universität. Seine Frau starb an Tuberku-

lose und auch er zog sich die Krankheit zu. Nachdem er vom katholischen

Seminar nach Tokio zurückkam, heiratete er ein zweites Mal. Während seine

1 Ein Teisho ist mehr als ein Dharmavortrag. Es ist die spontane Manifestation desDharmas durch die Person des Meisters.

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Frau schwanger war wurde sie krank und starb nach wenigen Tagen. Diese

tragische Erfahrung führte dazu, dass er einen entschiedenen Schritt in Rich-

tung ein buddhistischer Mönch zu werden unternahm und unter der Führung

von Kodo Sawaki Roshi Zazen übte. Am 8. Dezember 1941 wurde er von Sa-

waki Roshi zum Priester ordiniert. Dies ist der Tag von Buddhas Erwachen

und ebenso Pearl Habor Tag in Japan, als der Zweite Weltkrieg begann.

ÜBEN UNTER SAWAKI ROSHI

Zu jener Zeit war Sawaki Roshi Mönchs-Ältester, dem Aufsicht über die

Meditationshalle in Eiheiji unterstand. Eiheiji ist eines der beiden Hauptklös-

ter der Soto-Zen-Schule. Sawaki Roshi lieh sich einen Tempel mit dem Namen

Daichuji in der Tochigi Präfektur und lies seine Schüler und Nachfolger dort

zusammen üben, er nannte den Tempel Tengyo Zen’en (himmlische Sonnen-

aufgang des Zen-Gartens). Sie hatten zwei Zen-Sesshins jeden Monat. Zu ei-

nem kam jeweils Sawaki Roshi. So hörten sie seine Teishos, teilten die

Liturgien, Arbeitsperioden usw. Im anderen übten sie alleine, ohne den Roshi.

Sie saßen den ganzen Tag, von zwei Uhr nachts bis Mitternacht wiederholten

fünfzigminütige Zazen-Perioden, unterbrochen von zehnminütiger Gehmedi-

tation. Während allen Perioden trugen sie im Wechsel den Kyosaku (Weck-

stock), da sie auf den Kissen schliefen. Uchiyama Roshi erzählte, dass seine

Schultern nach jedem Sesshin übel anschwollen. Diese Sesshin nannten sich

Sannai-Sesshin (Sesshin nur für Bewohner des Tempels) und sind in der modi-

fizierten Form der Ursprung der Sannai-Sesshins die Uchiyama in Antaiji star-

tete, als er dort Abt wurde.

Sein Leben änderte sich vollständig, als er Mönch wurde. Vorher war er

ein intellektueller Mensch der im philosophischen Denken und Bücherlesen

aufging. Da er aus einer ziemlich reichen Familie stammte, hat er nie etwas

selber gewaschen, nicht mal sein Taschentuch. Er begann mit großer Ent-

schlossenheit und ganzem Körper und Geist zu üben. Er fühlte sich dadurch

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sehr erfrischt und freudig, obwohl es für einen hochintellektuellen und kör-

perlich schwachen Menschen wie ihn eine extrem harte Übung war. Er

schrieb das folgende Gedicht über seine Übung:

GEDICHT ZUM VERLASSEN DES HEIMS2

Wie ein Sonnenstrahl

An einem wunderschönen

Herbst-

Morgen,

Ich, sowohl Körper und Geist, würden gerne

vollständig eins werden

mit der durchscheinenden,

ganzheitlichen

Übung.

Nach drei Jahren mussten die Schüler von Sawaki Roshi Daichuji verlassen,

da Schulkinder aus Tokio auf das Tempelgelände evakuiert wurden. 1944 ging

Uchiyama Roshi tief in die Berge der Shimane Präfektur um im Winter Kohle

abzubauen und später an die Küste der Shizuoka Präfektur, um Salz herzu-

stellen. Während dieser Zeit litt er an Unterernährung. Quasi alle Japaner

hungerten während dem Krieg.

Nachdem Japan 1945 den Krieg verloren hatte, zog er in einen Tempel in

der Hyogo Präfektur, 1948 in einen Tempel in der Nagano Präfektur und 1949

zog er nach Antaiji in Kyoto. Da Sawaki Roshi keinen eigenen Tempel hatte

und immer herumreiste, gab man ihm den Spitzname Yadonashi (obdachlo-

ser) Kodo. Die Schüler von Sawaki mussten auch „obdachlos“ sein und von ei-

nem Ort zum anderen ziehen. Doch nachdem Uchiyama nach Kyoto gezogen

war, lies er sich in Antaiji nieder und lebte dort 26 Jahr, bis 1975.

Als Sawaki Roshi 1963, 83 Jahre alt wurde, hörte er aufgrund körperlicher

Bedingungen auf, herumzureisen und zu lehren. Bis zu diesem Zeitpunkt

2 Tokudo= im Amerikanischen als Leaving Home übersetzt, der Name der Pries-terordination; wörtlich: Erlangen des Überschreitens

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reiste Sawaki Roshi immer alleine durch ganz Japan. Am Ende seines Lebens

blieb er für zwei Jahre, bis 1965, in Antaiji. Uchiyama Roshi und seine

Dharma-Schwester, die Ehrwürdige Joshin Kasai kümmerten sich zusammen

mit ein paar jungen Mönchen um Sawaki Roshi bis er starb. In den 70er Jah-

ren besuchte Joshin-San das San Franzisco Zen Center mehrere Male um das

Nähen des O’keas und des Rakusu zu lehren.

Dem Willen Sawaki Roshis entsprechend, vollzog Uchiyama Roshi keine

Beerdigung, nachdem Sawaki Roshi gestorben war. Stattdessen hielt er ein

49-Tage Beerdigungs- und Gedenk- Sesshin für einen ehemaligen Lehrer.

Während 49 Tage, saßen sie acht Perioden am Tag. Wer auch immer nach An-

taiji kam um seine Kondolenz auszudrücken, wurde darum gebeten, Zazen in

der Buddha-Halle/dem Zendo vor Sawaki Roshis Reliquien zu sitzen.

KURZE EINFÜHRUNG IN DIE GESCHICHTE ANTAIJIS

Antaiji wurde 1921 basierend auf dem Gelübde eines Laien gegründet, be-

deutende Gelehrte/Übende zu fördern, damit sich die Soto-Zen Belehrungen

in der modernen Gesellschaft ausbreiten. Sotan Oka Roshi wurde als Grün-

dungsabt eingeladen. Oka Roshi war der Präsident der der Sotoshu Universi-

tät (gegenwärtig die Komazawa Universität) und der Abt von Shizenji und

Daijiji. Ian Kishizawa, Eko Hashimoto, Kodo Sawaki und viele andere bekannte

Lehrer übten mit ihm als Lehrer. Leider erkrankte Oka Roshi kurz nach der Er-

öffnungszeremonie von Antaiji und verstarb wenige Monate später. Priester

Zuirin Odagaki, der Bruder des Gründers diente als zweiter Abt unter der Lei-

tung des Priesters Kyugaku Oka, dem Dharmaerben von Sotan Oka.

Antaiji war ein Studien-Kloster. Einer geringe Anzahl auserwählter Üben-

der (ungefähr zehn), die an der Kamazawa Universität abgeschlossen hatten,

wurde erlaubt in Antaiji zu verweilen, um ihr Studium von Dogen Zenjis Be-

lehrungen zu vertiefen. Ian Kishizawa Roshi wurde der dritte Abt von Antaiji.

Priester Sokuo Eto, der bekannte Soto-Gelehrte und Präsident der Komazawa

Universität war der vierte Abt Antaijis. Viele bedeutende Übende, die später

bekannte Soto-Gelehrte und Meister wurden, übten vor dem Krieg in Antaiji,

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darunter Professor Kodo Krebayashi (Präsident der Komauawa Universität)

und Renpo Niwa (Abt von Eiheiji).

Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Antaiji seine finanzielle Grundlage und

es lebten keine Ordinierten mehr vor Ort. Sawaki Roshi fragte 1949 Sokuo Eto

-den damaligen Präsidenten der Komazawa Universität, der nicht in Antaiji

lebte- ob er den Tempel ausleihen könne, um seinen Schülern zu erlauben,

dort zu wohnen und zu üben. Sawaki Roshi übernahm von ihm Antaiji dem

Namen nach als fünfter Abt. Er unterrichtete weiterhin als Professor an der

Kamazawa Universität und reiste durch ganz Japan, um zu lehren. Jeden Mo-

nat kam er nach Antaiji um ein Sesshin zu leiten.

UCHIYAMA ROSHI WIRD ABT VON ANTAIJI

Uchiyama Roshi und sein älterer Dharma-Bruder Sodo Yokoyama Roshi

lebten nach 1949 circa zehn Jahre zusammen in Antaiji. Sodo-San verlies An-

taiji, um sich in der Naganao Präfektur nieder zu lassen. Er saß bis zum Ende

seines Lebens täglich alleine in einem Park namens Kaikoen und wurde für

seine Gedichte und Kalligraphie berühmt, aber vor allem für seine Musik, die

er auf einem Grashalm blies.

Da Antaiji keine Mitgliedsfamilien3 und dadurch kein Einkommen hatte,

waren die Übenden darauf angewiesen zu betteln (Takuhatsu). Nachdem Sa-

wakai Roshi 1965 starb, hatte Uchiyama eigentlich vor Antaiji zu verlassen

und sich irgendwo anders nieder zu lassen. Aber die Priester die in der Nähe

von Antaiji lebten baten ihn Abt zu werden und sich um den Tempel zu küm-

mern. Ansonsten wäre Antaiji wieder verlassen gewesen und ohne jeman-

den, der sich darum kümmert. Uchiyama Roshi akzeptierte die Bitte, Aber

stellte Klar, dass er lediglich für zehn Jahre das Amt übernehmen würde, von

1065 bis 1975. Als Sawaki Roshi starb, sagten die Leute, dass er der letzte

3 Anm. des Übers.: In Japan ist jede Familie Mitglied eines Tempel, der die rituel-len Gedenktage für die Familienangehörigen vollzieht. Darüber finanzieren sich dieTempel.

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wahre Zen- Mönch im traditionellen Sinn war. Doch Uchiyama Roshi sagte

von sich selbst, dass er der erste Zen Mönch der kommenden Zeiten sein

würde.

ÜBEN IN ANTAIJI UNTER UCHIYAMA ROSHIS LEITUNG

Als Uchiyama Roshi Abt wurde, war er ein ziemlich unbekannte Lehrer,

doch nachdem ein paar Bücher von ihm erschienen waren, kamen mehr

Leute um mit ihm zu üben. Als ich 1969 das erste Mal nach Antaiji ging, leb-

ten dort lediglich fünf Ordinierte, obwohl viele Leute am den Fünf-Tages-

Sesshins teilnahmen. Als ich im Jahr darauf ordiniert wurde, waren es zehn

Ordinierte, die dort wohnten. Seitdem stieg die Zahl der ansässigen Übenden

und der Teilnehmenden an Sesshins. Als Uchiyama Roshi 1975 in Rente ging,

waren wir ungefähr dreißig Bewohner, sowohl Ordinierte, wie auch Laien, ei-

nige davon ausländische Übende.

Während dem monatlichen Fünf-Tages-Sesshin hatten wir normalerweise

zwischen fünfzig und sechzig Teilnehmer, davon waren ein Drittel Bewohner,

ein Drittel Japaner von Außerhalb und ein anderes Drittel Ausländer aus

Amerika, Deutschland, England, Frankreich, Australien usw. Viele von ihnen

lebten in verschiedenen Teilen Kyotos und kamen regelmäßig, um Sesshin mit

uns zu sitzen. Manche lebten in der Nachbarschaft und kamen täglich nach

Antaiji um morgens und abends zu meditieren. Ein Wohnhaus nahe Antaiji

war quasi immer mit Ausländern belegt. Uchiyama Roshi sponserte einige

dieser Leute.

Obwohl viele Westler regelmäßig nach Antaiji kamen um zu meditieren,

sprach Uchiyama Roshi keine fremde Sprache. Er hatte eine sehr weite Per-

spektive in Bezug auf die Geschichte der menschlichen Spiritualität und

glaubte daran, dass das einundzwanzigste Jahrhundert das Zeitalter der Spiri-

tualität sein muss. Er sagte oft, dass die Welt Menschen brauche, die eine

tiefgründige Erfahrung in der Zazen-Übung haben, um die Bedeutung von Za-

zen in einer fremden Sprache ausdrücken zu können. Ich war sehr von dieser

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Langzeitsicht und weiten Vision beeinflusst. Er ermutigte Seine Schüler Pio-

niere zu sein, anstatt einfach fixen Traditionen zu folgen. Trotzdem versi-

cherte er mir immer, dass ich jederzeit aufhören könne Englisch zu lernen,

wenn es zu schwierig für mich ist. Er nötigte die Menschen niemals etwas zu

tun, sondern ermutigte uns und lies uns mit unserer spontanen Entschluss-

kraft die Dinge angehen.

Nachdem ich begonnen hatte Englisch zu lernen, wurde ich ein „englisch-

redender“ Mönch. Viele Westler bekamen meine Freunde und mit Menschen

aus dem Westen Zazen zu üben wurde zu etwas ganz Natürlichem für mich.

Meine gegenwärtige Tätigkeit in den USA ist eine kleine Frucht von Uchiyama

Roshis grenzenloser Vision der Bedeutung der Zazen-Übung innerhalb der

menschlichen Spiritualität. Hätte ich ihn nicht getroffen, wäre mein Leben

komplett anders verlaufen.

Antaiji hatte immer noch keine Mitgliedsfamilien oder bestimmte Gönner.

Die Ordinierten mussten den Lebensunterhalt durch Takahatsu bestreiten. U-

chiyama Roshis Übung des Takahastu wurde von seinen Schülern weiterge-

führt. Zwei- oder dreimal im Monat gingen die Ordinierten raus um zu

betteln, das Üben zu ermöglichen und Essen für Sesshin zu kaufen. Niemals

bat er Sesshinteilnehmer etwas dafür zu bezahlen. Er bat sie lediglich eine

Tasse Reis oder eine Mahlzeit mitzubringen, die sie während dem Sesshin es-

sen wollten.

Als er Abt von Antaiji wurde, begann er mit den Fünf-Tages-Sesshins, wie

er sie in „Opening the Hand of Thought“ beschreibt. Diese sind eine abge-

wandelte Form der Sesshins, die die Schüler von Sawaki Roshi während seiner

Abwesenheit von Dachuji abhielten. Nach seiner eigenen Erfahrung mit ext-

rem langen Meditationen während dieser Sesshins, fand Uchiyama Roshi,

dass vierundzwanzig Stunden zu meditieren ohne sich hinzulegen, keinen

Sinn macht. Die Menschen brauchen eine bestimmte Zeit zum Schlafen, an-

derenfalls schlafen sie ein, egal welche Haltung sie einnehmen. Er entschied,

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dass sieben Stunden Schlaf genug sein sollte, dann hat niemand eine Ent-

schuldigung dafür, auf dem Kissen zu schlafen. Er hielt während Sesshin keine

Vorträge; sie waren vollständig in Stille.

Uchiyama Roshi gab zwei neunzigminütige Vorträge währen den sonntäg-

lichen Zazen-Kais, die zweimal im Monat stattfanden. Er lehrte über diverse

Schriften des shobogenzo, des Chiji-Shingi (Reine Lehre der Tempel-Administ-

ration), des Shodoka (Der Gesang des Erwachens) und so weiter.

Sawaki Roshi hatte keinen eigenen Tempel, wodurch seine Schüler nicht

viele Möglichkeiten hatten, mit ihm zu leben. Doch Uchiyama Roshi ver-

suchte mit Ausnahme weniger Wochen in Antaiji zu leben. Manchmal wurde

eingeladen, um an anderen Tempeln zu lehren. Wir konnten den Alltag mit

ihm teilen. Nach jedem Mahl kam er, um mit uns eine Tasse Tee zu trinken

und sich mit den Übenden zu unterhalten. Wir konnten ihn alles fragen und

er erkundigte sich oft, wie es uns allen geht. Wenn wir eine bestimmte Frage

hatten, die wir mit ihm persönlich klären wollten, konnten wir ihn in seinem

Zimmer aufsuchen, wenn er verfügbar war.

Antaiji unterscheid sich von den meisten Klöstern Japans. Wir hatten je-

den Monat ein Fünf-Tages-Sesshin, zweimal im Monat Zazen-Kai. Den Rest

des Monats meditierten wir von fünf bis acht Uhr drei Perioden am Morgen

und von Sechs bis acht Uhr zwei Perioden am Abend. Wenn wir nach dem

Frühstück Gemeinschaftsarbeit hatten, arbeiteten wir alle zusammen. An-

dernfalls erledigte jede Person die Arbeit, für die sie verantwortlich war.

Da wir mit Brennholz kochten und Badewasser heizten, war Brennholz

machen das ganze Jahr über ein grosses Projekt. Vor allem für einem Stadt-

tempel wie Antaiji ist Holz zu finden manchmal schwierig. Wir hatten einen

kleinen Gemüsegarten, den Tempel sauber zu halten und auf dem Grund-

stück Unkraut zu jäten waren ebenfalls wichtige Aufgaben.

Am eindrücklichsten an Antaiji war, dass wir quasi keine Liturgien hatten.

Wir hatten keine Morgen-, Mittag- oder Abendandachten ausser während

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zwei Wochen in der speziellen Sommer Perioden, hauptsächlich für Studen-

ten. Die einzige Zeit die wir während dem Jahr rezitierten waren das Herz-

sutra und das Shosaimyo-Kitchijo-Darani vor und nach Takahatsu. Wir hatten

Oryoki Mahlzeiten im Speisesaal, sangen aber den Essensegen nicht. Antaiji-

Ordinierte hatten einen schlechten Ruf, wen sie in andere Klöster gingen, da

sie nicht mal das Herzsutra ohne Gesangbuch rezitieren konnten.

Die Ordinierten wechselten sich alle drei Tage mit Kochen ab. Das Essen

war sehr einfach. Morgens gab es gewöhnlich Reisbrei vom übrig geblieben

Reis vom Vortag, dazu eingelegten Rettich oder anderes Gemüse. Zum Mit-

tagessen gab es braunen Reis mit Misosuppe und eingelegtem Gemüse.

DA Antaiji ein kleiner Tempel war, konnten wir uns trotz strikter Zazen-

Übung nicht als Lehrer in der Soto-Schule qualifizieren. Wir mussten in ein of-

fizielles Kloster gehen, um die Qualifikation als Tempel-Priester zu erhalten.

Uchiyama Roshi sagte, die Übung in Antaiji besitz keinen Köder. Alles was wir

tun mussten, war zum Wohle der Übung zu üben, ohne Erwartungen oder

wünschenswertes Resultat. In Uchiyamas Belehrungen war die Übung ohne

irgendwelche Erwartungen sehr wichtig.

DIE LETZTEN TAGE VON UCHIYAMA ROSHI

Uchiyama Roshi zog sich im Februar 1975 im Alter von 63 Jahren aus An-

taiji zurück und begann ein Leben mit seiner Frau Keiko-San in Ogaki, in der

Präfektur Gifu. Ein paar Jahre später zog er in den Noke-in Tempel in Kohata,

Uji, nahe der Stadt Kyoto. Es wird erzählt, dass Dogen Zenji in Kohata gebo-

ren wurde. Er sagte, dass er nach der Pensionierung üben möchte, sein Leben

und seinen Tod zu betrachten und für junge Menschen Berichte zu erstatten.

Während den ersten zehn Jahren in Noke-In gab er Teishos im Sosenji

Tempel in Kyoto. Einmal im Monat sprach er über verschiedene Kapitel des

Shobogenzo, wenn es seine Gesundheit erlaubte. Die Belehrungen wurden

von seinen Schülern übertragen, editiert und in vielen Bänden veröffentlicht.

Mehr als zwanzig Bücher, die er entweder geschrieben hat oder über Beleh-

rungen von ihm, sind veröffentlicht. Da es in Uji im Sommer zu heiss und

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schwül war, ging er jedes Jahr vom Mai bis im September in die Präfaktur

Nagano, wo er im Haus eines Laienschülers wohnte.

Als er Anfang Siebzig war, schrieb er eine Gedichtsammlung über Leben

und Tod. Es folgen einige dieser Gedichte, die ich zusammen mit DAitsu Tom

Wright übersetzt habe.

MEIN GEBET

FÜR EIN HÖHERES, NOCH BEQUEMERES LEBEN

VERSUCHT JEDER NUR NOCH EINZUATMEN

UND GIBT SICH DADURCH SELBST DER KRISE DES ERSTICKENS PREIS

IN DIESEM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT DER MASSE

BETE ICH FÜR DEN TAG

WENN DIE LETZTE WIRKLICHKEIT IM MENSCHEN ZU WIRKEN BEGINNT

UND WIR UNS KLAR DARÜBER WERDEN

DASS EINATMUNG UND AUSATMUNG EIN ATEM IST

LEBEN-UND-TOD ZUSAMMEN EIN LEBEN

DASS EIN VOLLSTÄNDIG NEUER PROTOTYP DES MENSCHEN

MUNTER DIE KRAFT DES LEBENS WIE ES IST AUSLEBT

LEBEN UND TOD BEINHALTEND

EIN STRAHLEN AUS DER TIEFE DES LEBENS

MÖGE LEUCHTEND FÜR DIE MENSCHEN DES EINUNDZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTS

HOCHGEHALTEN WERDEN.

Daran erkennen wir, dass er auch dann, wenn er sein eigenes Leben und

Sterben betrachtete, fühlte er sich immer vereint mit allen Wesen.

LEBEN-UND-TOD

DAS WASSER ERHÄLT NICHT DADURCH FORM, DASS ES IN EINEN EIMER GESCHÖPFT

WIRD

ES IST EINFACH SO, DASS DAS WASSER DES GANZEN UNIVERSUMS IN EINEN EIMER

GESCHÖPFT WURDE

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DAS WASSER VERSCHWINDET NICHT, WEIL ES AUF DEM BODEN VERSCHÜTTET

WURDE

ES IST EINFACH SO, DASS DAS WASSER DES GANZEN UNIVERSUMS IN DAS GANZE

UNIVERSUM AUSGELEERT WURDE

DAS LEBEN WIRD NICHT DADURCH GEBOREN, DASS EIN MENSCH GEBOREN WIRD

DAS LEBEN DES GANZEN UNIVERSUMS WURDE IN DIE VERHÄRTETE „IDEE“ GENANNT

„ICH“ GESCHÖPFT

DAS LEBEN VERSCHWINDET NICHT, WEIL EINE MENSCH STIRBT

ES IST EINFACH SO, DASS DAS LEBEN DES GANZEN UNIVERSUMS SICH AUS DIESER

VERHÄRTETEN „IDEE“ EINES „ICH“ ZURÜCK INS UNIVERSUM ENTLEERT

SAMADHI DES SCHATZES DES STRAHLENDEN LICHTS

OBWOHL ARM, NIEMALS ARM

OBWOHL KRANK, NIEMALS KRANK

OBWOHL ALTERND, NIEMALS ALTERND

OBWOHL STERBEND, NIEMALS STERBEND

WIRKLICHKEIT VOR DER TRENNUNG-

DARIN LIEGT GRENZENLOSE TIEFE

Kosho Uchiyama starb im Alter von 85 Jahren am 13 Mai 1998 in Noke-In ,

Uji. Im Mondkalender ist dies der fünfzehnte Tag des zweiten Monats. Das ist

Shakiamuni Buddhas Paranirvana Tag.

Uchiyama Roshis Ehefrau, Keiko Uchiyama, schrieb Folgendes über den

letzten Nachmittag seines Lebens im Buch Inochi Tanoshimu (Sich des Lebens

erfreuen, eine Sammlung von Roshis unveröffentlichten Essays und Gedich-

ten, zusammengestellt von Shusoku Kushiya, veröffentlicht bei Daiho-

rinkaku):

„An diesem Tag aß er spät zu Morgen und rauchte dann eine Zigarette bei

guter Laune. Er sprach ungefähr vierzig Minuten mit mir über das Buddhad-

harma und fragte dann: ‚Hast du verstanden?‘ Als er dabei war, dieses Ge-

spräch zu beenden, sagte er mit einem Lächeln: ‚Darum bin ich entzückt. Ich

freue mich.‘

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Am Abend stürzte er im Badezimmer, aber als ich ihm meine Hand reichte,

stand er auf, setzte sich auf einen Stuhl und begann seine Zähne zu putzen. Er

schaute mich mit einem freundlichen Lächeln an und sagte: ‚Ich bin OK.‘

Durch sein Lächeln fühlte ich mich erleichtert und erwiderte: ‚Ich gehe einen

Schluck Tee trinken. Bitte warte hier.‘

Als ich zurück im Wohnzimmer war und etwas Tee getrunken hatte, hörte

ich den Klang einer fallenden Tasse. Da er manchmal eine Tasse oder die

Zahnbürste fallen ließ, dachte ich, dass es wieder passiert ist. Ohne beson-

ders besorgt zu sein ging ich zurück ins Badezimmer. Überraschenderweise

gegen das Waschbecken lehnend, war er auf das Gesicht gefallen.

Ich legte ihn dort auf den Teppich und rief den Arzt zuhause an, da es

mittlerweile Nacht war. Ich bat ihn sofort zu kommen. Ich holte auch einen

Nachbarn zu Hilfe und so warteten wir auf den Arzt. Während dieser Zeit

konnte er mit einer sehr sanften Stimme ein paar Worte sagen. Doch als der

Arzt kam, konnte er nichts mehr sagen. Er verstand, dass der Arzt wegen ihm

gekommen war und schaute ihn in Dankbarkeit an. Kurz darauf kamen sein

Schüler Shusoku Kushiya und Mr. Tadayuki Maeda. Vier von uns brachten ihn

in das Schlafzimmer. Ungefähr eine Stunde später wurde sein Atem ruhiger

und er starb so friedlich, dass es schwierig für uns war zu sagen, wann genau

er starb.“

Keiko-San berichtet, dass er normalerweise vor dem zu Bett gehen in sein

Tagebuch schrieb, aber an diesem Tag schrieb er schon vor dem Abend. Er

schrieb: „Letzte Nacht bewegten sich meine Beine ohne Unterlass krampf-

haft. Als sich die Beine wie wild bewegten, wachte ich auf. Die Beine hörten

nicht auf, sich zu bewegen. Ich schlief nur wenige Stunden. Ich besuchte den

Ojizo.Sama und spazierte bis zum Hendensho (Stromumwandler). Doch

heute, endlich, habe das Gedicht Ogamu (Verbeugen) in seiner feinsten Form

vollendet.“

Sein letztes Gedicht folgt.

VERBEUGEN

DIE RECHTE UND DIE LINKE HAND VEREINEND, VERBEUGE ICH MICH EINFACH

VERBEUGE MICH EINFACH, UM EINS ZU WERDEN MIT GOTT/BUDDHA

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VERBEUGE MICH EINFACH, UM EINS ZU WERDEN MIT ALLEM, WAS MIR BEGEGNETE

VERBEUGE MICH EINFACH EINS ZU WERDEN MIT DEN ZAHLLOSEN ERSCHEINUNGEN

VERBEUGE MICH EINFACH AUF DEM WEG, SO WIRD LEBEN ZU LEBEN

Priester Doyu Takamine eilte nach Noke-In, als er die Nachricht von Roshis

Tod erhielt. Er schrieb, als er den Tempel erreichte, war er beleuchtet mit rei-

nem, strahlendem Mondlicht und von tiefer Stille umhüllt. Uchiyama Roshi

schlief friedlich, mit einem sehr feinen Lächeln.

Ich möchte gerne meine tiefste Dankbarkeit für seine Belehrungen und für

seine Leben zum Ausdruck bringen. Immer stand in seinem Fokus die Wirk-

lichkeit des Lebens, das alle Wesen des ganzen Universums beinhaltete. Ohne

seine Belehrungen und sein Vorbild wusste ich nicht, wie ich mein eigenes Le-

ben leben sollte.

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17

EINE ÜBERSETZUNG DES SHOBO GENZO GENJO-KOAN

DAS ERSTE KAPITEL DES SHOBO GENZO (DIE SCHATZKAMMER DES WAHREN DHARMA

AUGES): GENJO KOAN (VERWIRKLICHUNG DER WIRKLICHKEIT)

1

Wenn alle Dharmas das Buddha-Dharma sind, gibt es Täuschung und Ver-

wirklichung, Übung, Leben und Tod, Buddhas und Lebende Wesen.

2

Wenn die Zehntausend Erscheinungen ohne [festes] Selbst sind, gibt es

keine Täuschung und keine Verwirklichung, keine Buddhas und keine leben-

den Wesen, keine Geburt und keinen Tod.

3

Da die Natur des Buddha-Weges über [die Dualität] von Überschuss und

Mangel hinausgeht, gibt es Erscheinen und Dahinscheiden, Täuschung und

Verwirklichung, Lebende Wesen und Buddhas.

4

Doch fallen die Blumen, obwohl wir sie lieben und Unkraut gedeiht, ob-

wohl wir es nicht mögen. Sich den Erscheinungen zuzuwenden um Übung-Er-

leuchtung zu realisieren, ist Täuschung. Dass die Erscheinungen kommen und

durch Übung-Erleuchtung das Selbst realisieren, ist Verwirklichung. Jene, die

die Täuschung in der Verwirklichung täuschen, sind lebende Wesen. Darüber

hinaus gibt es solche, die Verwirklichung über die Verwirklichung hinaus er-

langen und solche, die sich innerhalb der Täuschung täuschen.

5

Wenn Buddhas wahrhaft Buddhas sind, ist es nicht nötig, dass sie sich

selbst als Buddhas wahrnehmen; trotzdem sind sie erleuchtete Buddhas und

fahren fort Buddha zu verwirklichen. Obwohl wir sie aufs Innigste wahrneh-

men und mit dem ganzen Körper und Geist Farben sehen und Töne hören, ist

dies nicht wie die Reflektion in einem Spiegel oder der Mond im Wasser.

Wenn eine Seite erhellt ist, ist die andere dunkel.

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6

Den Buddha-Weg ergründen, heißt sich selbst ergründen. Sich selbst er-

gründen, heißt sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen, heißt von allen Er-

scheinungen bestätigt zu werden. Von allen Erscheinungen bestätigt zu

werden, heißt den Körper und Geist von sich und den Körper und Geist von

anderen fallenzulassen. Es gibt eine Spur des Verwirklichung, die nicht gefasst

werden kann. Endlos drücken wir diese unfassbare Spur der Verwirklichung

aus.

7

Wenn ein Mensch beginnt das Dharma zu suchen, verirrt er sich jenseits

der Grenzen des Dharmas. Wenn das Dharma dem Selbst korrekt übermittelt

wurde, ist der Mensch sofort ein ursprünglicher Mensch. Wenn ein Mensch

in einem Boot fährt und das Ufer betrachtet, nimmt er fälschlicher Weise

wahr, dass sich das Ufer bewegt. Wenn er das Boot betrachtet, merkt er, dass

es das Boot ist, welches sich bewegt. Wenn man das Boot betrachtet, merkt

man, dass es das Boot ist, welches sich bewegt. Ebenso denken wir fälschli-

cher Weise, dass die Eigennatur des Geistes ewig ist, wenn wir den Körper

und Geist in einer verwirrten Weise wahrnehmen und alles mit einem unter-

scheidenden Geist erfassen. Wenn wir aufs Innigste üben und immer wieder

an diesen Ort zurückkehren, ist es klar, dass die Erscheinungen kein [festes]

Selbst besitzen.

8

Brennholz wird zu Asche. Asche kann nicht wieder Brennholz werden.

Trotzdem sollten wir die Asche nicht als Nachher und das Brennholz nicht als

Vorher betrachten. Wir sollten wissen, dass Brennholz im Dharma-Zustand

des Brennholzes verweilt, mit seinem eigenen Vorher und Nachher. Obwohl

es Vorher und Nachher gibt, sind Vergangenheit und Zukunft abgetrennt.

Asche bleibt im Zustand der Asche, mit ihrem eigenen Vorher und Nachher.

So wie Brennholz nie wieder Brennholz wird, nachdem es zu Asche verbrannt

ist, so gibt es keine Rückkehr zum Leben, nachdem ein Mensch stirbt. Wie

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dem auch sei, es ist eine ungebrochene Tradition im Buddha-Dharma nicht zu

sagen, dass das Leben zum Tod wird. Daher wird es Nicht-Erscheinen ge-

nannt. In Buddhas Drehen des Dharma-Rades ist es begründet, nicht zu sa-

gen, dass der Tod zum Leben wird. Daher nennen wir ihn Nicht-

Dahinscheiden. Leben ist ein Zustand in der Zeit und Tod ist ein Zustand in

der Zeit. Es ist wie mit Winter und Frühling. Wir denken nicht, dass der Win-

ter zum Frühling, und wir sagen nicht, dass der Frühling zum Sommer wird.

9

Wenn ein Mensch Verwirklichung erlangt, ist es wie die Spiegelung des

Mondes im Wasser. Der Mond wird niemals nass, das Wasser nie beunruhigt.

Obwohl der Mond ein großes und weites Licht ist, spiegelt er sich in einem

Wassertropfen. Der gesamte Mond, sogar der gesamte Himmel, spiegeln sich

in einem Tautropfen am Grashalm. Verwirklichung zerstört den Mensch

nicht, so wie der Mond kein Loch ins Wasser bohrt. Der Mensch behindert die

Verwirklichung nicht, so wie der Tautropfen nicht den Mond am Himmel be-

hindert. Die Tiefe ist dasselbe wie die Höhe. Die Tiefe ist dasselbe wie die

Höhe. Um die Wichtigkeit der Länge und Kürze der Zeit zu erforschen, sollten

wir abwägen, ob das Wasser groß oder klein ist und die Größe des Mondes

am Himmel verstehen.

10

Wenn das Dharma den Körper und Geist noch nicht vollständig durch-

drungen hat, denkt man, man wäre schon vollständig davon erfüllt. Wenn das

Dharma den Körper und Geist vollständig durchdrungen hat, denkt man, dass

immer noch etwas fehlt. Wenn wir zum Beispiel mit einem Boot auf den

Ozean hinaussegelt, bis kein Land mehr in Sicht ist und wir den Horizont in

alle Richtungen betrachten, sieht er schlicht wie ein Kreis aus. Keine andere

Form erscheint. Trotzdem ist dieser große Ozean weder rund noch eckig. Er

besitzt unerschöpfliche Merkmale. Für einen Fisch sieht er aus wie ein Palast,

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für ein himmlisches Wesen wie eine Edelsteinkette. Für uns, soweit das Auge

reicht, sieht er aus wie ein Kreis. Alle Zahllosen Erscheinungen sind so. Inner-

halb dieser staubigen Welt und darüber hinaus, gibt es unzählbare Ansichten

und Eigenschaften. Wir sehen und begreifen nur so viel, wie das Auge unse-

res Lernens und Übens zu sehen vermag. Wenn wir der Wirklichkeit der Zahl-

losen Erscheinungen hinterherlauschen, müssen wir wissen, dass

unerschöpfliche Eigenschaften im Ozean und den Bergen existieren, und dass

es viele andere Welten in den vier Himmelsrichtungen gibt. Dies gilt nicht nur

für die äußere Welt, sondern ebenso ist es wahr gerade hier unter unseren

Füssen und in jedem einzelnen Tropfen Wasser.

11

Ein Fisch, der schwimmt, egal wie weit, wird das Ende des Wassers nicht

erreichen. Ein Vogel, der fliegt, egal wie hoch, kann das Ende des Himmels

nicht erreichen. Wenn das Bedürfnis des Vogels oder des Fisches gross ist, ist

ihr Bereich gross. Wenn ihr Bedürfnis klein ist, ist ihr Bereich klein. Dadurch

benutzt jeder Fisch und jeder Vogel den gesamten Raum und handelt lebhaft

an jedem Ort. Trotzdem stirbt ein Vogel sofort, wenn er den Himmel verlässt

und ein Fisch, wenn er das Wasser verlässt. Wir sollten wissen, dass für einen

Fisch das Wasser und für einen Vogel der Himmel Leben ist. Ein Vogel ist Le-

ben, ein Fisch ist Leben. Leben ist ein Vogel, Leben ist ein Fisch. Wir sollten

aber auch darüber hinausgehen. Es gibt Übung-Erleuchtung4 – das ist der

Weg der Lebenden Wesen.

4 Dieser Satz bezieht sich auf die Geschichte eines traditionellen Koan zwischen demSechsten Patriarchen Dajian Huineng (Jap. Daikan Eno) und seinem Schüler NanyueHuairang. Der Bericht über ihr erstes Zusammentreffen liest sich wie folgt:Huineng sagt zu Nanyue: „Woher kommst du?“Nanyue: „Ich komme vom Berg Song.“HUineng: „Was ist es, das von dort kommt?“Nanyue konnte nicht antworten.

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12

Wenn nun ein Fisch erst schwimmen oder ein Vogel erst fliegen würde,

wenn sie den gesamten Ozean oder Himmel erforscht hätten, würden sie we-

der ihren Weg noch ihren Ort finden. Wenn wir uns genau diesen Ort hier zu

Eigen machen, wird unsere Übung zu einer Manifestation der Verwirklichung

(Genjokoan). Wenn wir uns genau diesen Weg zu Eigen machen, wird unsere

Handlung auf natürliche Art zur verwirklichten Tat (Genjokoan). Dieser Weg,

dieser Ort sind weder gross noch klein, weder Selbst noch Andere. Sie haben

weder vor diesem Augenblick existiert, noch treten sie jetzt in Erscheinung.

Daher ist die Wirklichkeit aller Dinge Soheit. Genauso ist es, wenn sich ein

Mensch der Übung-Erleuchtung des Buddhaweges hingibt. Wenn er ein

Dharma verwirklicht, durchdringt er alle Dharmas. Wenn er einer Übung be-

gegnet, übt er diese Übung vollständig aus. Dafür gibt es einen Ort und einen

Weg. Die Grenze des Wissens ist nicht klar, weil das Wissen [welches be-

grenzt erscheint,] gleichzeitig geboren und geübt wird, wie die vollständige

Durchdringung des Buddha-Dharma. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass

das, was wir erreicht haben, von uns selbst wahrgenommen und von unse-

rem unterscheidenden Geist gewusst wird. Obwohl vollständige Erleuchtung

sofort verwirklicht ist, ist ihre Verinnerlichung so, dass sie nicht unbedingt

eine Ansicht erzeugt. Ansichten sind sowieso nie fixiert.

Acht Jahre später erlangte Nanyue Erleuchtung. Er sagte zum Sechsten Patriarch: „Ichhabe verstanden.“Der sechste Patriarch: „Was ist es?“Nanyue: „Zu sagen, es existiert, trifft nicht den Kern.“Huineng: „Existiert es nun oder nicht?“Nanyue: „Ich sage nicht, dass es nicht existiert, aber es kann nicht beschmutzt wer-den.“Huineng: „Das was nicht beschmutz werden kann, ist was von allen Buddhas bestä-tigt und aufrechterhalten wurde. Du bist so und ich bin so.“Dogens Satz: „Es gibt Übung-Erleuchtung“ bezieht sich auf die Frage des SechstenPatriarchen: „Existiert es nun oder nicht?“

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13

Zen-Meister Hotetsu vom Berg Mayoku fächelte sich selbst Luft zu. Ein

Mönch näherte sich ihm und fragte: „Die Natur des Windes ist allgegenwärtig

und durchdringt alles. Warum schwingst du den Fächer?“

Der Meister sagte: „Du weißt nur, dass die Natur des Windes allgegenwär-

tig ist, aber du weißt nicht, dass er alles durchdringt.“

Der Mönch fragte weiter: „Wie durchdringt er alles?“

Der Meister fuhr einfach fort sich zu fächeln.

Der Mönch verbeugte sich tief.

Die aufrichtige Erfahrung des Buddha-Dharma und der lebendige Weg,

der korrekt übermittelt wurde, sind so geartet. Zu sagen, wir sollten den Fä-

cher nicht schwingen, weil die Natur des Windes allgegenwärtig ist und wir

daher den Wind auch spüren sollten, wenn wir den Fächer nicht schwingen,

bedeutet weder die Allgegenwärtigkeit, noch die Natur des Windes zu ken-

nen. Da die Natur des Windes allgegenwärtig ist, erlaubt uns der Wind der

Buddha-Familie das Gold der großen Erde zu verwirklichen und das Wasser

des Langen Flusses in Sahne zu verwandeln.

Übersetzt von Shohaku Okumura ins Englische,

davon ins Deutsche durch Evi Ketterer

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DOGEN ZENJIS SHOBOGENZO GENJOKOAN

Mit einem Kommentar von Kosho Uchiyama Roshi

Übersetzt durch Shohaku Okumura ins Englische,

davon von Evi Ketterer ins Deutsche

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UCHIYAMA ROSHIS TEISHO ZUM GENJOKOAN

Im Shobogenzo sollten alle Worte jenseits der Bedeutung der Dualität ver-

standen werden.

Schon in frühen Jahren wurden viele Kommentare zum Shobogenzo ge-

schrieben. Davon ist Gosho von Senne Zenji für uns Übende auf dem Buddha-

Weg von besonderem Wert. Da Senne Zenji persönlich mit Dogen Zenji stu-

dierte, gibt uns sein Kommentar eine hilfreiche Anleitung über die grundle-

gende Haltung, die wir im Hinterkopf behalten sollten, wenn wir den

Shobogenzo lesen. Damit ist gemeint, dass wir jedes Wort, das im Shobo-

genzo gebraucht wird, als ein Wort des Buddha-Dharma verstehen sollten.

Jedes Word des Shobogenzo als ein Wort des Buddha-Dharma zu lesen,

bedeutet kurz gesagt, sie über jegliche Dualität hinaus zu verstehen. Wir ha-

ben sie frei von Vergleichen oder Relativieren zu akzeptieren. Normalerweise

hat jedes Wort, das wir gebrauchen, nur dadurch eine Bedeutung, dass es als

Gegenpol zu einem anderen steht. Armut hat zum Beispiel nur eine Bedeu-

tung in Beziehung zu Reichtum und Unglück nur in Beziehung zu Glück. Ver-

blendung hat nur im Vergleich zur Erleuchtung Bedeutung. So gesehen sind

Lebende Wesen das Gegenteil von Buddhas und Leben und Tod sind ein Paar.

Ein einfaches Beispiel ist die Dualität von groß und klein. Groß bedingt sich

aus klein und klein steht im Verhältnis zu groß. Es ist einfach eine Sache des

Vergleichs. Eigentlich sind große Dinge endlos größer und auch kleine Dinge

sind endlos kleiner. Ohne Vergleich können wir nicht sagen, dass ein Ding

groß oder klein ist.

Wie auch immer, normalerweise denken Menschen, dass es große und

kleine Dinge gibt, ohne dies jemals in Frage zu stellen. Aber groß und klein

haben in ihrer gewöhnlichen Bedeutung nur einen Sinn durch Vergleichen,

und das ist wirklich eine unvollständige Sache.

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Wenn das Wort groß im Buddha-Dharma benutz wird, geht es über ein

solches Vergleichen und Relativieren hinaus. Worte auf solche Art zu verste-

hen bedeutet, die Worte als Buddha-Dharma zu lesen.

In Sennes Gosho spricht er zuerst über den Titel Genjokoan und lehrt uns

jedes einzelne Wort darin, gen, jo, ko, und an als Buddha-Dharma zu verste-

hen.

Es tut mir leid, daß ich am Anfang meiner Vorträge über die folgenden Zi-

tate Sennes reden muss, denn sie sind schwierig zu lesen und zu verstehen.

Doch da es wichtig ist, werde ich die ursprünglichen Sätze von Gosho wieder-

holen und die Bedeutung von Genjokoan erläutern.

Zuerst spricht Gosho über Genjo:

„Genjo (erscheinen, werden) bedeutet nicht, daß etwas, was verborgen

war, in diesem Augenblick erscheint. Wir sollten Genjo nicht als Gegenspieler

von ‚versteckt‘ begreifen. Gen (Erscheinen) hat mit der Dualität von verbor-

gen und erscheinen nichts zu tun. Jo (werden) hat nichts mit Tatkraft oder

Übung zu tun.“

Basierend auf diesem Kommentar schreibt Nishiari Zenji im Shobogenzo

Keiteki, seinem eigenen Kommentar zum Genjokoan: „Gen ist jenseits von

versteckt und offenbar und Jo ist jenseits von werden und vergehen.“

Die gewöhnliche Bedeutung von Gen ist Escheinen. Woher können wir sa-

gen, daß etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt erscheint? Es ist eine Frage

des Maßes. Wenn wir Vergangenheit und Gegenwart vergleichen, oder wenn

etwas klarer als vorher ist, sagen wir es erscheint. Mit Jo ist es dasselbe. Wie

auch immer, eine Diskussion basierend auf einem solchen Vergleich, ist un-

vollständig. Wir sollten über den Vergleich und die Dualität hinausgehen und

sagen, daß das wahre Gen jenseits von Erscheinen und Verschwinden, Exis-

tenz und Nicht-Existenz ist und Jo jenseits von Erschaffen und Vernichten.

Als nächstes wird in Gosho über Koan gesagt:

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„Das Wort Koan kommt aus der weltlichen Gesellschaft und wir können

dieses Wort im weltlichen und im überweltlichen Sinn verstehen. Die Defini-

tion von Ko (öffentlich) in seinem weltlichen Sinn, bedeutet das Ungleiche an-

zugleichen. Eine Welt anzugleichen, die ungleich und ungerecht ist, ist die

Essenz von Öffentlichkeit und davon, über das Eigenwohl hinauszugehen.

Rechtschaffen zu regieren, bedeutet die Ungleichheiten anzugleichen. An be-

deutet, den eigenen Raum im Leben einzunehmen. In welcher Situation auch

immer, seinen Platz zu behaupten, ist die Bedeutung von An.“

Ursprünglich war der Ausdruck Koan kein buddhistischer Begriff. Die ur-

sprüngliche Bedeutung von Ko (öffentlich) in der säkularen Welt, bedeutete

die Welt ins Gleichgewicht zu bringen, wenn sie durcheinander und ungleich

ist und An bedeutete, den eigenen Standpunkt zu wahren, ohne andere zu

stören. Gosho sagt ebenfalls:

„Den Ausdruck Koan so zu verstehen, daß er das Ungleiche ausgleicht und

den eigenen Standpunkt vertritt, ist kein korrektes buddhistisches Verständ-

nis. Es ist schwierig, Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu definieren. Mit wel-

che Kriterien können wir entscheiden, was Gleich und Ungleich ist? Wenn wir

verstehen, daß Ungleich und Gleich nicht voneinander getrennt sind, ist es

nicht mehr möglich zu sagen, daß ich eine ungleiche und ungerechte Situa-

tion angleichen kann. Den eigenen Standpunkt einzunehmen, ist auch nicht

das Buddha-Dharma, wenn es eine Grenz zwischen einer Person und einer

anderen gibt. Das Buddha-Dharma bedeutet, die Ungleichheit und den eige-

nen Standpunkt als eine vollständig dynamische Funktion (Zenki) beizubehal-

ten.“

Im weltlichen Sinn definiert Gosho ‚Koan‘ als „das Ungleiche angleichen“

und „den eigenen Standpunkt wahren“. Wenn wir vom Buddha-Dharma als

über Vergleichen und Dualität hinausgehen reden, wo ist dann die Grenze

zwischen Gleichheit und Ungleichheit? Eigentlich gibt es eine solche Unter-

scheidung nicht. Daher ist die wahre Bedeutung von „öffentlich“ „Nicht-Zwei-

heit“ von Gleichheit und Ungleichheit. Was ist der „Standpunkt“, wenn wir

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sagen, den eigenen Standpunkt zu wahren? Ursprünglich gibt es keinen fixen

Standpunkt. An geht über solche Grenzen hinaus.

Wenn wir zum Beispiel unseren kleinen Finger ein wenig verletzen, wird er

zu einer großen Existenz. Wir tun etwas, um ihn zu schützen. Wenn wir aber

keine Probleme haben, sind Augen Augen, Ohren Ohren, die Hände sind

Hände und die Füsse Füsse – sie unterscheiden sich und funktionieren unter-

schiedlich (ungleich). Sie funktionieren dadurch, daß sie ihren Standpunkt

wahren und trotzdem sind sie nichts Besonderes, einfach gewöhnlich und

gleich. Dies ist die Einheit von Gleichheit und Ungleichheit und die Bedeutung

davon, öffentlich zu sein (Koan).

Ich habe das buddhistische Verständnis von Genjokoan erklärt, so wie es

Senne Zenji beschreibt. In der traditionellen Interpretation bedeutet jede ein-

zelne Silbe einfach „das ist es“, jenseits jeglichem Vergleich und jeglicher Du-

alität. Doch jedes Wort in diesem Ausdruck gen-jo-ko-an, hier und jetzt, muss

eine einzigartige Bedeutung haben. Um einen Geschmack des Sinns jedes

Wortes zu bekommen, habe ich eine freie Übersetzung in modernes Japa-

nisch gewagt: „Die gewöhnliche Tiefgründigkeit, des gegenwärtigen Augen-

blicks, der zum gegenwärtigen Augenblick wird5.“

Warum übersetzte ich Genjokoan auf diese Art? Wie ich schon erklärt

habe, hat Gen nichts mit Erscheinen und Verschwinden zu tun. Was ist Gen?

Solange wir an etwas als außerhalb von uns denken, gibt es nichts was weder

erscheint noch verschwindet. Wir sollten Gen, das was weder erscheint noch

5 Weil der gegenwärtige Augenblick immer der gegenwärtige Augenblick ist, gibtes keine Möglichkeit, daß er etwas anderes wird. Doch da unser Geist oft in die Zu-kunft und die Vergangenheit wandert, verlieren wir den Blick auf den gegenwärtigenAugenblick. Daher üben wir, Gedanken gehen zu lassen und zum Jetzt/Hier zurückzu-kehren. Diese Rückkehr zum Jetzt/Hier ist nichts Ungewöhnliches, es ist eine wirklichganz gewöhnliche Sache, da durch die Übung der gegenwärtige Augenblich einfachder gegenwärtige Augenblick wird. Aber genau in dieser einfachen Übung, durch diewir einfach gewöhnlich werden, steck grenzenlose Tiefgründigkeit.

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verschwindet, in uns finden. Wenn wir nach Gen in unserer tatsächlichen Le-

benserfahrung suchen, ist es nur dieser gegenwärtigen Augenblick. Dieser ge-

genwärtige Augenblick ist das Einzige, das nicht vor uns verborgen werden

kann. Selbst wenn wir sagen: „Dieser gegenwärtige Augenblick ist verborgen

und existiert nicht“, haben wir den gegenwärtigen Augenblick, der verborgen

ist und nicht existiert. Da dieser gegenwärtige Augenblick nicht verborgen

werden kann, kann er auch nicht erscheinen oder sich offenbaren. Das ist das

Gen, das nichts mit Erscheinen oder Verschwinden zu tun hat. Darüber hinaus

ist dieses Gen mehr verinnerlicht, wenn wir es als das Gen von Gen-Zai ver-

stehen, was gegenwärtiger Augenblick bedeutet.

Trotzdem können wir den Blick auf dieses Gen verlieren, auch wenn es

weder verborgen noch offenbar ist, und nichts mit Erscheinen und Ver-

schwinden zu tun hat. Doch auch wenn wir den Blick auf diesen gegenwärti-

gen Augenblick verlieren, ist dies die Qualität des gegenwärtigen Augenblicks.

Der gegenwärtige Augenblick ist dadurch nicht wirklich verloren. Wir verlie-

ren lediglich den Blick darauf. Deshalb haben wir den gegenwärtigen Augen-

blick, der der eigentliche gegenwärtige Augenblick ist und wir haben den

gegenwärtigen Augenblick, in dem wir den Blick auf den gegenwärtigen Au-

genblick verloren haben.

Wie können wir feststellen, ob wir im gegenwärtigen Augenblick sind? Da-

für gibt es kein festes Kriterium, da er weder versteckt noch offenbar ist. Der

gegenwärtige Augenblick ist immer und ausnahmslos der gegenwärtige Au-

genblick. Daher ist in unserem Leben der gegenwärtige Augenblick immer

und überall der gegenwärtige Augenblick. Wenn wir aber sagen, daß der ge-

genwärtige Augenblick zum gegenwärtigen Augenblick wurde, ist das zu viel,

da er dann schon wieder Vergangenheit ist. Zu diesem Zeitpunkt ist er schon

nicht mehr der gegenwärtige Augenblick. Wenn wir sagen, der gegenwärtige

Augenblick wird der gegenwärtige Augenblick werden, genügt das nicht,

denn dann ist er immer noch in der Zukunft. Zu diesem Zeitpunkt ist der ge-

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genwärtige Augenblick noch nicht der gegenwärtige Augenblick. In jedem Au-

genblick ist der gegenwärtige Augenblick der gegenwärtige Augenblick, und

doch ist es möglich, den Blick darauf zu verlieren. Dann ist der gegenwärtige

Augenblick nicht mehr der gegenwärtige Augenblick.

Es ist uns völlig klar, daß Luft für das menschliche Leben wichtiger ist als

Geld und Diamanten. Trotzdem gibt es viele Menschen, die Geld und Diaman-

ten mehr Wert zuschreiben als der Luft. Obwohl wir ohne Luft keinen Mo-

ment leben können, verlieren wir oft den Blick auf die Luft. Selbst wenn wir

den Blick darauf verlieren, werden wir nicht sofort ersticken. Doch wenn wir

damit fortfahren, die Luft zu verschmutzen, um unseren Wohlstand zu erhal-

ten, so wie wir es heutzutage tun, wird die Zeit kommen, wo wir vielleicht da-

ran ersticken. Deshalb ist es ein Problem, wenn wir den Blick auf die

Wichtigkeit der Luft verlieren.

Wir leben somit immer im gegenwärtigen Augenblick, der nichts mit Er-

scheinen und Verschwinden zu tun hat. Der gegenwärtige Augenblick ist im-

mer der gegenwärtige Augenblick. Doch wenn wir den gegenwärtigen

Augenblick nicht als solchen wertschätzen und ihn stattdessen mit unseren

illusorischen Gedanken anfüllen, werden wir sicherlich ersticken. Es ist wahr-

lich wichtig zu leben, ohne den Blick auf den gegenwärtigen Augenblick als

den gegenwärtigen Augenblick zu verlieren. Daher müssen wir dieses Genjo

endlos vertiefen.

Daß der gegenwärtige Augenblick zum gegenwärtigen Augenblick wird, ist

lebenswichtiger als Luft und gleichzeitig eine gewöhnliche Sache. Darin liegt

die grenzenlose Tiefgründigkeit. Wir sollten mit all unserer Energie daran ar-

beiten, diese Tiefgründigkeit zu verkörpern. Oder, wie Senne es ausdrückt:

„Dies ist Ungleichheit und den eigenen Standpunkt als eine vollständig dyna-

mische Funktion (Zenki) beizubehalten.“ Ich übersetze daher Genjokoan als:

„Die gewöhnliche Tiefgründigkeit des gegenwärtigen Augenblicks, der zum

gegenwärtige Augenblick wird.“ Ich übersetze Genjo mit „der gegenwärtige

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Augenblick, der zum gegenwärtige Augenblick wird“, Ko mit gewöhnlich und

An mit Tiefgründigkeit.

Wie ich schon sagte, ist es wirklich etwas Gewöhnliches, daß wir immer im

gegenwärtigen Augenblick leben. Wie auch immer, in dieser Gewöhnlichkeit,

wo der gegenwärtige Augenblick zum gegenwärtigen Augenblick wird, liegt

grenzenlose Tiefgründigkeit, wenn die Gewöhnlichkeit, gewöhnlich wird.

Diese Gewöhnlichkeit ist nicht nur eine Tatsache, es ist ein Erforschen. Um

die Natur von Genjokoan als Frage auszudrücken, übersetze ich An als Tief-

gründigkeit [in der wir uns selbst vertiefen müssen].

Obwohl ich es grenzenlose Tiefgründigkeit nenne, ist es nichts Mysteriö-

ses, das in einem dichten Nebel eingehüllt ist und nicht erkannt werden kann.

Es ist vollständig daneben zu denken, daß diese grenzenlose Tiefgründigkeit

ein seltener oder spezieller Geisteszustand wäre, der jenseits dessen ist, was

wir erreichen können. Es ist vielmehr eine Frage dessen, wie wir die Dinge ge-

genwärtig tun, unsere Hände und Füße in unserem Alltag benutzen.

Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte, die Dogen am Ende des Genjo-

koan zitiert, wo wir einen Fächer benutzen müssen, um die universelle Wind-

Natur hier und jetzt als Wind verwirklichen zu können. Obwohl der Wind all-

gegenwärtig im gesamten Himmel und der Erde ist, können wir nur dann

Wind haben, wenn wir den Fächer benutzen. Wenn wir den Fächer nicht

schwingen, haben wir keinen Wind. Wie sehr sollen wir nun Fächeln? Wann

können wir ein Examen im Fächeln erhalten? Es wird nie einen Abschluss da-

rin geben, die universelle Wind-Natur zu fächeln. Genauso wie wir jeden Au-

genblick einatmen müssen, müssen wir fortfahren zu fächeln, um in diesem

Augenblick Wind zu erzeugen. So ist die Verwirklichung von Leben. Im Genjo-

koan redet Dogen Zenji über eine solche Tiefgründigkeit als die Wirklichkeit

unseres Lebens.

In vielen Kommentaren wird Genjokoan als: „Die wahre Form aller We-

sen“ oder: „Nichts in der ganzen Welt ist verborgen“ interpretiert. Beides ist

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korrekt. Doch wenn wir Genjokoan lediglich auf diese Art erfassen, wird Do-

gens Belehrung zu schlicht und einfach. Ich glaube, daß dieses Kapitel mit

Genjokoan betitelt wurde und nicht mit: „Die wahre Form aller Wesen“ oder:

„Nichts in der ganzen Welt ist verborgen“, weil Dogen Zenji die Tiefgründig-

keit unserer Übung zum Ausdruck bringen wollte. Ich übersetze Genjokoan

daher als: „Die gewöhnliche Tiefgründigkeit des gegenwärtigen Augenblicks,

der zum gegenwärtige Augenblick wird.“ Bitte lest das gesamte Kapitel und

bekommt einen eigenen Eindruck davon. Danach könnt ihr entscheiden, ob

meine Übersetzung angemessen ist oder nicht.

Durch Genjokoan drückt Dogen Zenji auch die Ahnung von „Übung basie-

rend auf Erleuchtung“ oder „Übung und Erleuchtung sind Eins“ aus.

Die grundlegende Frage ist: „Was ist Buddha-Dharma?“

1-3

(1) Wenn alle Dharmas das Buddha-Dharma sind, gibt es Täu-

schung und Verwirklichung, Übung, Leben und Tod, Buddhas

und Lebende Wesen.

(2) Wenn die Zehntausend Erscheinungen ohne [festes] Selbst

sind, gibt es keine Täuschung und keine Verwirklichung,

keine Buddhas und keine lebenden Wesen, keine Geburt und

keinen Tod.

(3) Da die Natur des Buddha-Weges über [die Dualität] von Über-

schuss und Mangel hinausgeht, gibt es Erscheinen und Dahin-

scheiden, Täuschung und Verwirklichung, Lebende Wesen und

Buddhas.

Wir können nun beginnen, den Text des Genjokoan zu untersuchen. Von

vielen Menschen habe ich gehört, daß diese ersten drei Zeilen das tiefste Ge-

heimnis des Buddha-Dharma zum Ausdruck bringen. Sie sagen, daß wir die

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Essenz des Buddhadharma begreifen können, wenn wir diese Sätze verste-

hen. Japaner hören gerne Anpreisungen wie: „Diese Medizin hilft für jede

Krankheit. Wenn du sie nimmst, wirst du von allen Leiden befreit.“

Solche Sätze sind weitverbreitet, ohne daß die Leute ihre wahre Bedeu-

tung verstehen. Nicht nur in der normalen Bevölkerung werden solche Aussa-

gen gerne geglaubt, sondern auch bei Gelehrten, die den Shobogenzo

erforschen.

Natürlich ist es wahr, daß diese drei Sätze wichtig sind. Trotzdem können

wir nicht sagen, daß wir das gesamte Buddha-Dharma begriffen haben, wenn

wir sie verstehen. Wir sagen sowas wie: „Sie drücken das gesamte Buddha-

Dharma aus“, aber das tun auch die Farben der Berge und die Geräusche der

Bergbäche. Es sind nicht nur diese Sätze, die das gesamte Buddha-Dharma

ausdrücken.

Obwohl manche Menschen denken, daß diese Sätze den gesamten Genjo-

koan zum Ausdruck bringen, stimmt das so nicht. Genjokoan wird über das

gesamte Schriftstück erklärt. Wir können nicht behaupten, daß wir Dogen

Zenjis Belehrungen zum Genjokoan vollständig begriffen haben, wenn wir

diese drei Sätze verstehen. Deshalb würde ich nun gerne in aller Klarheit das

letzte Wort darüber sprechen (indo) und dieses allgemeine Missverständnis

aufklären.

Ich glaube, daß sich diese falsche Ansicht dadurch so weit verbreitet hat,

weil die ersten drei Sätze dem Aufbau: „ari, ari, ari (es gibt a, b und c)“,

„nashi, nashi, nashi (es gibt kein a, b und c) und dann wieder „ari, ari, ari (es

gibt a, b und c)“ folgen. Dazuhin sind sie in einem sehr poetischen Rhythmus

formuliert und sind angefüllt mit Vorschlägen. Mit anderen Worten sind

diese drei Sätze in einer Reihe mit gleichem Muster angeordnet, so daß wir

denken, daß das, was wir nicht begreifen, auf mysteriöse Weise durch diese

Sätze ausgedrückt wird. Daraus folgern wir, wenn wir diese drei Sätze verste-

hen, begreifen wir das Mysterium. Das ist vermutlich der Ursprung dieses be-

liebten Missverständnisses.

Bitte lest diese drei Sätze sehr sorgfältig. Der erste Satz sagt: „Wenn alle

Dharmas (Shobo) das Buddha-Dharma sind...“. Hier geht es klar um das Bud-

dha-Dharma. Der zweite Satz sagt: „Wenn die Zehntausend Erscheinungen

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ohne [festes] Selbst sind...“ In diesem Satz geht es um die Zehntausend Er-

scheinungen (Banpo, alle Erscheinungen). Im Shobogenzo Butsukojoji (Die An-

gelegenheit über Buddha hinauszugehen) wird gesagt: „Das Buddha-Dharma

nennt sich auch Zehntausend Erscheinungen (Banpo).“ Ebenso heißt es im Di-

amant-Sutra: „alle Dharmas sind nichts anderes als Buddha-Dharma.“ Daher

beziehen sich „die Zehntausend Erscheinungen“ im zweiten Satz des Genjo-

koan ebenfalls auf das Buddha-Dharma.

Dann kommt der dritte Satz: „Da der Buddha-Weg auf natürliche Art über

[die Dualität] von Überschuss und Mangel hinausgeht...“. Dieser Satz spricht

über den Buddha-Weg. Obwohl alle drei Sätze auf eine wunderbare Weise in

einer Reihe arrangiert sind, müssen wir vorsichtig sein, weil sich der dritte

Satz von den ersten beiden unterscheidet.

Wie auch immer, Japaner, die heutzutage Buddhismus studieren, sagen zu

oft, daß das Buddha-Dharma oder der Buddha-Weg nicht mit Worten erklärt

werden könne. Eine solche Ausrede wird zu einfach akzeptiert. Es ist, als ob

alles Hinterfragen, Denken und Erforschen zum Erliegen kommt, sobald die

Worte Buddha-Dharma oder Buddha-Weg ausgesprochen werden. Das ist

wie mit Japanern, die vor dem Zweiten Weltkrieg einen Brief des Kaisers mit

Unterschrift und Siegel erhielten. Wenn Menschen mal gesagt haben, daß

diese Worte nicht erklärt werden können, müssen sie sie nicht mehr unter-

scheiden, und so werden die Begriffe Buddha-Dharma und Buddha-Weg wild

miteinander vermischt. Wenn diese drei Sätze dann in eine Reihe mit gleicher

Struktur gestellt werden, ist es ganz natürlich, daß sie so interpretiert wer-

den, als ob sie der gleichen Dimension angehören.

Das wäre in Ordnung, wenn Dogen Zenji selbst die Worte in einer solch ir-

ritierenden Weise benutzt hätte. Er aber benutzte diese Ausdrücke nicht so

sorglos. Er unterscheidet die Begriffe Buddha-Dharma und Buddha-Weg und

benutzt die richtigen Worte am richtigen Ort. Das tritt klar hervor, wenn wir

den Rest des Genjokoan lesen.

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Wie dem auch sein, wenn wir diese Sätze undifferenziert lesen, ist es na-

türlich, daß wir denken, Dogen Zenji schreibt über etwas Wunderbares und

Mysteriöses, obwohl wir es nicht verstehen. Wir haben auch die Angewohn-

heit zu denken, daß etwas tiefgründige Bedeutung hat, eben weil es außer-

halb unseres Verständnisses liegt. Natürlich stimmt es, daß diese drei Sätze

eine tiefe Bedeutung haben. Trotzdem ist es nicht richtig, aufgrund unserer

chaotischen Gefühle, die nicht mal eine Unterscheidung zwischen Buddha-

Dharma und Buddha-Weg machen, es als garantiert zu betrachten, daß darin

tiefgründige und verehrungswürdige Bedeutung liegt. Das wäre wie der

Glaube an ein sehr tiefes Mysterium, wenn die Dinge durch einen dicken Ne-

belschleier verhüllt sind. Die Leute aus Tokyo zum Beispiel, wo den ganze

Winter über trockener Wind bläst, empfinden die Landschaft von Kyoto, mit

ihrer hohen Luftfeuchtigkeit, als sehr mysteriös. Wenn wir einen Tempel wie

Sanzen-In in Ohara [nördlicher Teil von Kyoto] besuchen, finden wir, daß der

schöne, moosbedeckte Garten sehr subtil und mystisch ist.

Viele Zen-Vorträge empfinden wir genauso. Man mag zum Beispiel einen

Ausdruck wie „östliche Spiritualität“ lediglich mit seinen chaotischen Gefüh-

len verstehen, ohne wirklich zu begreifen, was sie bedeuten. Wenn sich dann

aber der Nebel verzogen hat, kann es sein, man findet nichts als Müll.

Wahre Tiefgründigkeit ist niemals so geartet. Sie ist eher wie die unendli-

che Tiefe des blauen Himmels, die nur dann erscheint, wenn der Nebel der Ig-

noranz vollständig weggeblasen wurde. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß

wir forschen und den Unterschied zwischen Buddha-Dharma und Buddha-

Weg klären sollten.

Wenn ihr hinschaut, seht ihr aber, daß nur sehr wenige Bücher über Bud-

dhismus oder Zen mit frischen Augen hinterfragen und erforschen, was das

Buddha-Dharma und der Buddha-Weg ist. Das ist wirklich überraschend. Die

meisten Bücher beginnen mit einer Erklärung darüber, daß das Buddha-

Dharma und der Buddha-Weg nicht durch Worte ausgedrückt werden kön-

nen.

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Wir sollten uns keinen chaotischen Eindrücken überlassen, die auf einem

Aberglauben basieren, wie wir unsere Übung angehen sollten. Der Ort, wo

chaotische Eindrücke unsere Übung beherrschen, ist befallen von Abzockern.

Falsche Priester spielen lediglich die Rolle eines verehrungswürdigen Lehrers

und machen Werbung für sich selbst. Wenn wir solche religiösen Geschäfts-

leute als unsere Lehrer verehren, tragen wir früher oder später den Schatz

des Buddhismus zu Grabe, obwohl er tiefgründige Belehrungen und Übungen

offeriert und er heute und in der Zukunft eine wahrhafte Führung für die

Menschen sein kann. Das befürchte ich.

Wir müssen wieder von vorne anfangen und fragen, was Dogen Zenji mit

dem Gebrauch des Wortes Buddha-Dharma meint. Wenn wir Buddha-

Dharma hinterfragen, finden wir die kompetenteste Interpretation davon in

einem Satz in Dogen Zenjis Bendowa: „Ihr solltet wissen, Buddha-Dharma zu

üben, bedeutet wahrhaftig die Ansicht einer Unterscheidung zwischen Selbst

und Anderen aufzugeben.“ Durch das Aufgeben der unterscheidenden An-

sicht von Selbst und Anderen wird das Buddha-Dharma zum Buddha-Dharma.

Ich glaube, dies ist ein grundlegender Satz für alle, die das Buddha-

Dharma üben. Warum wurde dies bisher nie diskutiert? Das finde ich wirklich

seltsam. Wahrscheinlich deshalb, weil es schwierig ist, die Ansicht von Selbst

und Anderen aufzugeben und wir damit hadern zu verstehen, „wie“ wir sie

aufgeben könnten. Menschen denken, bis wir die Ansicht von Selbst und An-

deren aufgeben können, macht die Aussage: „Buddha-Dharma zu üben, be-

deutet wahrhaftig die Ansicht einer Unterscheidung zwischen Selbst und

Anderen aufzugeben“ keinen Sinn.

Wenn wir so denken, sehen wir die Aussage außerhalb von uns selbst. Wir

wollen einen Geist erreichen, der frei von der Ansicht von Selbst und Anderen

ist. Wir haben das Gefühl, wir können das Buddha-Dharma nicht verinnerli-

chen, bis wir diesen Geisteszustand erlangt haben. Dadurch trennen sich das

Selbst, welches den Geisteszustand erreichen möchte und der Geisteszustand

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nach dem wir suchen. Aber genau darin liegt die Ansicht oder der Geisteszu-

stand, der das Selbst von Anderen trennt. Der entscheidende Punkt liegt da-

rin, daß wir die Aussage: „die Ansicht von Selbst und Anderen aufgeben“

nicht als einen wünschenswerten Geisteszustand nach außen projizieren.

Vielmehr sollten wir geradewegs „die Ansicht von Selbst und Anderen aufge-

ben“ für uns selbst anwenden. Das nennt sich akzeptieren und sich genau

hier niederlassen (jikige joto).

Wenn wir diese Aussage auf uns selbst beziehen, merken wir, daß solange

wir leben und unser Gehirn funktioniert, es ganz natürlich ist, eine Unter-

scheidung zwischen Selbst und anderen zu machen,. Wir denken immer: „Ich

bin ich und Andere sind Andere.“ Wir denken auch, daß die Welt, in der wir

leben, außerhalb von uns existiert. Es ist offensichtlich unmöglich für uns, die

Ansicht, die das Selbst von Anderen trennt, aufzugeben. Was, bei aller Liebe,

meint Dogen Zenji dann, wenn er sagt, das Buddha-Dharma sollte dadurch

geübt werden, daß man die Ansicht aufgibt, die Selbst und Andere unter-

scheidet?

Es bedeutet, daß wir das Buddha-Dharma auf einer Basis üben sollten, die

über die Ansicht von Selbst und Anderen hinausgeht. Obwohl es uns nicht

möglich ist, die Ansicht von Selbst und Anderen zu vermeiden, ist es sicher,

daß es eine Basis gibt, die über diese Ansicht hinausgeht. Wenn wir zum Bei-

spiel tief schlafen, ruht unser Gehirn und die Ansicht von Selbst und Anderen

verschwindet. Wenn wir so tief wie ein Stein schlafen und nicht einmal träu-

men, denken wir nicht darüber nach, wer wir sind und was es mit dieser Welt

auf sich hat. Alle Gedanken und Ansichten verschwinden. Trotzdem atmen

wir. Dadurch, daß wir auch im Schlaf eine bestimmte Anzahl Atemzüge pro

Minute atmen, sind wir am nächsten Morgen nicht tot.

Da dies so ist, ist es zweifellos so, daß wir auf der Basis einer Ansicht le-

ben, die über Selbst und Andere hinausgeht. Wenn wir das verstehen, mer-

ken wir, daß wir nicht nur während unseres Nachtschlafes auf dieser Basis

leben. Unser Magen funktioniert zum Beispiel auch, ohne daß wir denken:

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„Wie bringe ich meinen Magen dazu, daß er verdaut?“ Unsere Leber arbeitet

leise als eine Leber.

Chirurgen wissen, wie eine Leber aussieht, weil sie den menschlichen und

tierischen Körper erforschen. Aber ein Mensch wie ich, kennt eine Leber nur

als Name, weil wir manchmal das Wort hören. Ich habe noch nie eine Leber

gesehen und trotzdem lebe ich. Solange wir leben, leben wir daher im

Grunde genommen auf der Basis, wo sich die Ansicht über Selbst und Andere

aufgelöst hat. Das ist für jeden klar.

Ob unser Hirn arbeitet oder nicht, ob wir die Ansicht über Selbst und An-

dere aufgeben oder nicht, ob wir so darüber denken oder nicht und ob wir es

glauben oder nicht, Fakt ist, daß wir grundsätzlich die Wirklichkeit des Lebens

vor der Trennung in Selbst und Andere, Subjekt und Objekt leben. Die Basis

des Buddha-Dharma ist nichts anderes, als die Basis der Wirklichkeit des Le-

bens, die über die Ansicht von Selbst und Andere, Subjekt und Objekt hinaus-

geht.

Darüber hinaus findet selbst die Funktion unseres Gehirns auf der Basis

der Wirklichkeit des Lebens statt, die vor der Trennung von Selbst und Ande-

ren, Subjekt und Objekt liegt. Wenn unser Hirn arbeitet, denken wir. Die An-

sicht von Selbst und Anderen erscheint und damit die Trennung von Subjekt,

dem Denken, und dem Objekt, den Gedanken. So wie wir während dem

Schlaf atmen, so kommen in der Realität unseres Lebens Gedanken hoch. Die

Wirklichkeit unserer Existenz als menschliches Wesen beinhaltet, daß wir ein

Gehirn besitzen und dieses Gehirn produziert verschiedenen Gedanken als

Sekretion.

Wenn ich das sage, gibt es bestimmt einige Leute, die denken, daß die

Aussage: „Gedanken haben ihren Ursprung auf der Wirklichkeit des Lebens,

welche über die Gedanken hinausgeht“ ist nichts anderes als ein Gedanke,

der von unserem Gehirn produziert wird. Für sie wäre dann bewiesen, daß

unsere Gedanken wesentlicher sind, als die Wirklichkeit des Lebens. Das ist

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wahr. Wir können sagen, daß die Wirklichkeit des Lebens durch einen Gedan-

ken erfasst werden kann. Doch gleichzeitig können wir diese Leute fragen:

„Woher kommen deine Gedanken? Entspringen sie nicht von der Wirklichkeit

des Lebens, die über das Denken hinausgeht?“

Als Gegenargument kommt dann vielleicht: „ Was du sagst, ist auch nur

ein Gedanke.“ Dann kann ich sagen: „Nein, das ist nicht wahr. Selbst diese

Diskussion entspringt dieser Wirklichkeit des Lebens.“ Als eine Debatte oder

Theorie können wir uns endlos auf solch eine paradoxe Logik einlassen. Das

ist der Punkt, wo Dogen Zenjis Aussage: „Ihr solltet wissen, Buddha-Dharma

zu üben, bedeutet wahrhaftig die Ansicht einer Unterscheidung zwischen

Selbst und Anderen aufzugeben“, besonders ausschlaggebend und essentiell

bedeutungsvoll wird.

Als Schlussfolgerung ergibt sich daraus, Buddha-Dharma ist das Ende der

Betrachtung der Dinge auf der Basis der Trennung von Selbst und Anderen

und das Erforschen von allem auf der Basis der Wirklichkeit des Lebens. Dies

ist die wesentliche Bedeutung von Dogen Zenjis Aussage: „Ihr solltet wissen,

Buddha-Dharma zu üben, bedeutet wahrhaftig die Ansicht einer Unterschei-

dung zwischen Selbst und Anderen aufzugeben.“

Eben weil wir sogar im Tiefschlaf auf der Basis der Wirklichkeit des Lebens

atmen, wo sich die Ansicht von Selbst und Anderen aufgelöst hat, sind wir am

Leben. Wenn wir am nächsten Morgen aufwachen, sind wir nicht tot. Und

wenn wir wieder aufwachen, müssen wir uns den Problemen stellen, die wir

vorher auch hatten. Wir müssen heute Arbeiten um frühere Schulden zu be-

gleichen. Selbst wenn alle Erscheinungen das Buddha-Dharma der Wirklich-

keit des Lebens sind, gibt es Zahllose Erscheinungen. Deshalb sagt Dogen:

„Wenn alle Dharmas das Buddha-Dharma sind, gibt es Täuschung und Ver-

wirklichung, Übung, Leben und Tod, Buddhas und Lebende Wesen.“

Was Dogen Zenji in diesem ersten Satz sagt, kommt von einem buddhisti-

schen Ausdruck: Die letztliche Wirklichkeit aller Erscheinungen (soho-jisso).“

Dieser Ausdruck: „Die letztliche Wirklichkeit aller Erscheinungen“ stammt aus

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dem Lotus Sutra und wird seit jeher verwendet. Er ist kein origineller Einfall

von Dogen Zenji. Doch wenn er sagt: „Es gibt...“ meint er damit nicht, daß es

diese Erscheinungen als materielle Existenz oder ein erzeugtes Konzept gibt.

Er meint damit, daß diese Erscheinungen die Wirklichkeit des Lebens „sind“,

welche vor der Trennung in die Dualität von Selbst/Anderen, Subjekt/Objekt,

Sein/Nicht-Sein und Leben/Tod existieren.

Materielle Existenz, sowohl als auch erzeugte Konzepte, sind die Defini-

tion einer abstrakten Idee. Daraus folgt, daß wenn wir „Sein (u)“ sagen, be-

sitzt dies einen Gegenpol, „Nicht-Sein (mu). Doch „Sein“ als die Wirklichkeit

des Lebens hat keine Form, die über Konzepte definiert werden kann. Dieses

„Sein“ ist die Wirklichkeit des Lebens vor der Trennung in „Sein“ und „Nicht-

Sein“. Wenn wir daher sage: „Es gibt“, sind alle Erscheinungen, und wenn wir

sagen: „Es gibt keine...“, sind die Erscheinungen nicht. Darüber redet Dogen

im zweiten Absatz.

Buddha-Dharma kann nicht vollständig durch menschliche Vernunft aus-

gedrückt werden, doch verneint es die menschliche Vernunft nicht.

(2) Wenn die Zehntausend Erscheinungen ohne [festes] Selbst sind, gibt

es keine Täuschung und keine Verwirklichung, keine Buddhas und keine le-

benden Wesen, keine Geburt und keinen Tod.

Manch einer mag sich wundern, warum Dogen Zenji genau das Gegenteil

behauptet, wenn er von shoho (alle Dharmas) im ersten Absatz und von

banpo (Zehntausend Erscheinungen) im zweiten Absatz redet, da sie diese

Sätze ohne ein klares Verständnis der Worte Buddha-Dharma und Zehntau-

send Erscheinungen lesen. Worin liegt der Unterschied von sho (verschie-

dene, viele) und ban (Zehntausend)? Früher, als ich den Genjokoan auch

noch nicht verstand, dachte ich auch so. Doch was Dogen Zenji hier sagt, hat

nichts mit dem oberflächlichen Gebrauch von Adjektiven zu tun. Wie ich

schon sagte, Buddha-Dharma ist „Zehntausend Erscheinungen“ (Beppon

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Butsukojoji, „Eine andere Version der Angelegenheit, über Buddha hinauszu-

gehen“). Wenn Dogen Zenji daher banpo (Zehntausend Erscheinungen) be-

nutzt, redet er wieder über Buddha-Dharma.

Und das „Selbst“ in: „Wenn die Zehntausend Erscheinungen ohne [festes]

Selbst sind“, bedeutet: „Das Buddha-Dharma, das die Wirklichkeit des Lebens

ist, ist keine materielle Existenz, so wie wir uns das in unseren Köpfen ausma-

len.“ Dies ist eine sinnvolle Interpretation, wenn wir den Satz mit jenem im

siebten Abschnitt vergleichen: „Wenn wir aufs Innigste üben und immer wie-

der an diesen Ort zurückkehren, ist es klar, dass die Erscheinungen kein [fes-

tes] Selbst besitzen.“

Wie ich schon sagte, wenn wir über Buddha-Dharma reden, sollten wir

dies auf der Basis der Wirklichkeit des Lebens tun, in der die Ansicht von

Selbst/Anderen und Subjekt/Objekt aufgegeben wurde. Es ist nicht möglich,

Buddha-Dharma mit konzeptionellen Worten wie „Sein (u)“ und „Nicht-Sein

(mu)“ auszudrücken, da diese schon durch unseren unterscheidenden Geist

in zwei Einheiten getrennt wurden. Wenn wir nun Buddha-Dharma immer

noch durch: „es gibt...“ ausdrücken, so „gibt“ es alle Erscheinungen als Wirk-

lichkeit des Lebens. Und wenn wir sagen: „es gibt keine...“, gibt es keine, weil

alle Erscheinungen kein festes Selbst besitzen. Das ist der einzig stichhaltige

Weg, um das Dharma auszudrücken.

Im Diamant-Sutra steht: „Der Tathagata lehrte, daß alle Formen nichts

anderes sind als Nicht-Formen“ und: „Die wahre Form ist keine Form, daher

nennt sie der Tathagata wahre Form.“ Die wahre Form aller Erscheinungen

(shoho-jisso) und „alle formlosen Erscheinungen ohne festes Selbst“ sind

keine unterschiedlichen Dinge. Sie drücken beide die lebhafte Wirklichkeit

des Lebens aus. Da Dogen eine intellektuelle Persönlichkeit ist, benutzt er

shoho (verschiedene Erscheinungen), welches eine undefinierte Mehrzahl ei-

nes Hauptwortes ist. Wenn er hingegen über Nicht-Formen redet, ist ein

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Hauptwort in der Vielzahl nicht passend. Daher benutzt er dann banpo (Zehn-

tausend Erscheinungen oder alles), welches ein kollektives Hauptwort in der

Einzahl ist.

Obwohl Dogen hier sagt: „Wenn alle Dharmas das Buddha-Dharma sind,

gibt es...“ und: „Wenn die Zehntausend Erscheinungen ohne festes Selbst

sind, gibt es keine...“, meint er „es gibt...“ und „es gibt keine...“ als Worte vor

ihrer Spaltung in die Dualität von „Sein“ und „Nicht-Sein“.

„Wenn alle Dharmas das Buddha-Dharma sind“ (die letztliche Wirklichkeit

aller Erscheinungen) und „wenn die Zehntausend Erscheinungen ohne [fes-

tes] Selbst sind“ (die Selbstlosigkeit aller Erscheinungen), ist daher wider-

sprüchlich. Diese beiden Sätze äußern zur selben Zeit die gleiche Wirklichkeit

des Lebens. Im Kapitel Bussho (Buddha-Natur) des Shobogenzo, sagt Dogen,

daß u-bussho (Buddha-Natur-Sein) und mu-bussho (Buddha-Natur-Nicht-Sein)

zwei Seiten der gleichen Wirklichkeit sind. Dasselbe gilt für die ersten beiden

Abschnitte des Genjokoan.

Dogen redet hier nicht über eine flache Welt, in der wir auf einer zweidi-

mensionalen Ebene eine Wahl zwischen „Sein“ und „Nicht-Sein“ treffen müs-

sen. Dogens Beschreibung der Wirklichkeit ist nichts, was wir mit einem

Computer messen können. Doch obwohl die lebendige Wirklichkeit des Le-

bens nicht mit einem Computer gemessen werden kann, ist es die Realität al-

ler Dinge.

Wenn wir daher über diese Sätze in einer Art nachdenken, daß sie sich auf

Geisteszustände beziehen, die außerhalb von uns zu finden sind, liegt unser

Verständnis völlig daneben. Diesen Punkt muss ich immer wieder wiederho-

len. Dogen versucht uns die Wirklichkeit genau hier und jetzt aufzuzeigen, da-

mit wir mit der Lebenskraft vor der Trennung von „Sein“ und „Nicht-Sein“

leben.

Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, ob wir so darüber denken o-

der nicht, ob wir es glauben oder nicht – ob wir unterscheiden oder nicht –

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wir leben und werden sterben innerhalb dieser Kraft der Wirklichkeit des Le-

bens, die vor der Trennung in irgendeine Dualität liegt.

Nehmen wir ein Beispiel: Hier rede ich vor euch mit meiner ganzen Ener-

gie. Wenn ihr meine Worte hört, findet ihr sie vielleicht fragwürdig. Wo exis-

tiert diese Lebenskraft, die es mir erlaubt, auf diese Art zu reden, und von

euch, meine Worte zu hinterfragen? Wir müssen feststellen, daß diese Le-

benskraft vor der Trennung in „Sein“ und „Nicht-Sein“ da ist. Diese Lebens-

kraft „ist“ da, wenn wir vom Standpunkt des „Sein“ reden. Vom Standpunkt

des „Nicht-Seins“ ist sie ohne fixierte Existenz. Deshalb sagt Giun Zenji (der

fünfte Abt von Eiheiji, 1253-1333) in seinem Vers zum Genjokoan: „Was ist

das (kore-nan-zo)?“ Wirklich, um den Genjokoan in einem Satz auszudrücken,

gibt es keine andere Möglichkeit als zu sagen: „Das ist was (ze-shumo).“

Das Buddha-Dharma kann deshalb durch menschliche Vernunft oder Spra-

che nicht vollständig ausgedrückt werden. Buddha-Dharma ist nichts anderes

als die Wirklichkeit des Lebens, die über menschliche Sprache oder Vernunft

hinausgeht. Als menschliche Wesen haben wir einen Geist. Daraus ergibt sich

konsequenter Weise, daß menschliche Vernunft waltet und wir Sprache be-

nutzen. Darum sollte die Wirklichkeit des Lebens menschliche Vernunft und

Sprache lebhaft beinhalten.

Aus der Perspektive des menschlichen Geistes, die Vernunft und Sprache

beinhaltet, gibt es Täuschung und Erwachen, Leben und Tod, Buddhas und

Lebende Wesen. All diese Dinge „sind“. Alle Wesen sind die wahrhafte Form

der Wirklichkeit. Gleichzeitig können wir vom Standpunkt der Wirklichkeit

des Lebens, in dem menschliche Vernunft waltet, nicht sagen, daß Täu-

schung/Erwachen, Leben/Tod, Buddhas/Lebende Wesen „sind“. Sie alle „sind

nicht“. Alle Erscheinungen sind ohne Substanz. Da die Wirklichkeit des Lebens

menschliche Vernunft und Sprache beinhaltet, können wir nicht einseitig sa-

gen, ob diese Dinge „sind“ oder „nicht sind“. Das Leben hat viele Dimensio-

nen.

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Im dritten Absatz redet Dogen Zenji darüber, wie das Selbst (die Wirklich-

keit des Lebens) lebhaft und flexibel auf beiderlei Art funktionieren kann. Er

deutet auf die Tiefgründigkeit, die über den menschlichen Geist hinausgeht.

(3) Da die Natur des Buddha-Weges über [die Dualität] von Überschuss

und Mangel hinausgeht, gibt es Erscheinen und Dahinscheiden, Täuschung

und Verwirklichung, Lebende Wesen und Buddhas.

Die ersten drei Sätze stehen in ihrer Form nebeneinander, doch sollten wir

auf die Tatsache achten, daß der behandelte Gegenstand der ersten beiden

Sätze das Buddha-Dharma ist, aber der des dritten Satzes der Buddha-Weg.

Was ist der Unterschied zwischen dem Buddha-Dharma und dem Buddha-

Weg? Um die Worte Buddha-Dharma zu verstehen, zitierte ich bereits aus

dem Bendowa: „Wir sollten wissen, Buddha-Dharma zu üben, bedeutet

wahrhaftig die Ansicht einer Unterscheidung zwischen Selbst und Anderen

aufzugeben.“ Um den Buddha-Weg zu definieren, möchte ich das Folgende

aus Dogen Zenjis Gakudo-yojinshu (Zu beachtende Punkte in der Übung des

Weges) zitieren: „Das Buddha-Dharma nur um des Buddha-Dharma willen zu

üben, ist der Weg.“

Meine eigene Art es in modernem Japanisch auszudrücken, lautet: „Daran

zu arbeiten, die Wirklichkeit des Lebens um der Wirklichkeit des Lebens wil-

len zu verwirklichen, ist der Buddha-Weg.“ Die Welt des Buddha-Dharma

handelt nicht von der zweidimensionalen Dualität von diesem und jenem

(sein und Nicht-Sein). Im Falle des Buddha-Weges, arbeitet das Buddha-

Dharma um des Buddha-Dharma willens. Das ist keine oberflächliche oder

einfache Angelegenheit. Es ist wirklich kompliziert, wenn wir versuchen, dar-

über nachzudenken und es mit menschlicher Sprache zu erklären. Es ist in

Wirklichkeit so, wie wenn wir ein Auto fahren.

Wenn wir ein Auto fahren, sind wir schon im Auto drin. Das ist eine Selbst-

verständlichkeit. Ebenso: Wenn wir unser Leben leben, leben wir schon die

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Wirklichkeit unseres Lebens um des Lebens willen, eben weil wir die Wirklich-

keit des Lebens ausleben. Das ist der Buddha-Weg für uns.

Wenn wir normalerweise über einen Pfad reden, denken wir dabei an ei-

nen schon vorgefertigten Pfad außerhalb von uns. Der Buddha-Weg liegt aber

stattdessen in unserer Haltung gegenüber unserem Leben.

In meinem früheren Buch über den Genjokoan, dem Genjokoan-ige [Kom-

mentar zum Genjokoan, herausgegeben durch Hakujusha, Tokio], habe ich

daher Buddha-Weg folgendermaßen in modernes Japanisch übersetzt: „Der

Buddha-Weg treibt die Wirklichkeit des Lebens durch das Erwachen zur Wirk-

lichkeit des Lebens jenseits der Dualität von Selbst/Anderen oder Subjekt/Ob-

jekt voran.“

Neulich besuchte mich jemand und es ergab sich, daß wir genau über die-

ses Buch Genjokoan-ige zu sprechen begannen. Diese Person sagte: „In die-

sem Buch sagst du, daß der Genjokoan nicht nur einfach eine Schrift ist. Es

habe eine multidimensionale Struktur. Es drückt eine Welt wie eine Sympho-

nie aus, in der verschiedene Musikinstrumente verschiedene Töne von sich

geben und doch spielen alle eine Musik. Eine solche Welt ist unfassbar für

uns, oder nicht?“

Eigentlich schrieb ich genau dieses Zitat in jenem Buch und ich möchte es

hier noch einmal wiederholen. Und doch, wenn wir den Weg nach außen pro-

jizieren, dadurch daß wir sagen, daß er eine unfassbare, tiefgründige Welt für

uns ist, liegen wir vollständig daneben. Der Buddha-Weg sollte nie außerhalb

von uns sein. Er liegt mitten auf dem Weg, den jeder von uns lebt.

Ich glaube, ein Auto zu fahren ist dasselbe wie die Welt einer Symphonie.

Für unsere Hände und Füße gibt es ein Lenkrad, eine Bremse, ein Gaspedal,

eine Kupplung, ein Schaltknüppel, verschiedene Gänge uns so weiter. Vor un-

seren Augen bewegt sich alles. Die Szene verändert sich ständig, von Augen-

blick zu Augenblick. Der Anblick ist nicht einfach. Ein Auto ist hinter dem

anderen und sie kommen aus entgegengesetzten Richtungen. Eines möchte

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vielleicht an unserem vorbei. Es gibt Ampeln und Verkehrsschilder, die wir le-

sen und worauf wir reagieren müssen. Plötzlich kann sogar ein Kind aus einer

Seitenstraße vor unser Auto laufen. Wir fahren unser Auto, behalten die nö-

tige Kontrolle und reagieren auf die konstant sich ändernde Szene vor unse-

ren Augen. Das ist wirklich so, wie eine Symphonie zu spielen.

Im Fall unseres Lebens ist es wirklich viel komplizierter und ernster. Vor

unseren Augen liegt Geld, das andere Geschlecht, Ausbildung, eine ge-

wünschte Kariere, Rivalen, gegen die wir antreten, einen sozialen Status, den

wir erlangen und schwere Zeiten, die wir vermeiden möchten, Alkohol und

Spiele versuchen uns zu verführen und so weiter. Innerhalb von uns finden

wir sich ändernde körperliche Bedingungen, Empfindungen und Gefühle –

unsere eigenen Wünsche, das Verlangen nach Anerkennung, Berühmtheit,

Gerechtigkeitssinn und so weiter. Unsere innere Landschaft ist so kompliziert

und subtil wie die äußere Welt.

Innerhalb unseres Lebens müssen wir unser Leben lenken, zur Wirklichkeit

in der Mitte des Labyrinths vor uns erwachen.

In dieser Extremsituation, wo wir versuchen unserem Leben eine Richtung

zu geben, können wir den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit nicht

erkennen.

Der eigentliche Grund, warum unser Leben so kompliziert erscheint, liegt

darin, daß wir einen Geist haben. Wahrscheinlich hadern selbst Gräser und

Bäume, wie und wo sie ihre Blätter und Wurzeln wachsen lassen sollen. Da

sie aber kein Gehirn haben, gehe ich davon aus, daß sie nicht denken, daß ihr

Leben besonders kompliziert ist. Da wir als Menschen einen denkenden Geist

besitzen, erscheint unser Leben sehr kompliziert und voll von Widersprüchen.

Das ist es, was ich im ersten Abschnitt auszudrücken versuchte.

Ursprünglich ist unser Geist wie alles andere ein Teil der universellen

Wirklichkeit des Lebens, welche Himmel und Hölle beinhaltet. Doch von un-

serem Geist steigen Gedanken auf, in denen das Selbst im Zentrum steht.

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Nicht nur das, wir träumen auch noch innerhalb dieser egozentrierten Gedan-

ken und trennen uns damit von der Wirklichkeit des Lebens. Das ist ein Prob-

lem.

Wenn wir ein Auto fahren und manchmal eindösen, kann das einen gro-

ßen Unfall verursachen. Was ist die Bedingung hinter dem Eindösen? Das ver-

stehen wir glasklar, wenn wir Zazen sitzen. Wenn wir nur für zwanzig oder

dreißig Minuten sitzen, werden wir damit kein Problem haben, außer den

Schmerzen in unseren Knien. In einem Sesshin aber, wenn wir viele Stunden

am Tag kontinuierlich sitzen, werden wir müde und Gedanken werden in un-

serem Geist hochkommen. Wir folgen dem Traum innerhalb des Traumes

während wir meditieren.

Vielleicht denke ich zum Beispiel während dem Zazen: „Die Person, die

hinter mir den Kyosaku (Stock) trägt, beobachtet mich; wenn ich in einer un-

beweglichen Haltung ohne einzuschlafen sitze, wird sie mich nicht schlagen.“

Wenn solche Gedanken hochkommen, schlafe ich eigentlich und träume, daß

ich vollständig in einer korrekten Haltung meditiere. Dann spüre ich den Kyo-

saku auf meiner Schulter. Es ist angemessen, mich zu verwarnen, denn für

den Stockträger ist es offensichtlich, dass ich eigentlich penne. Ich kann mich

nicht darüber beschweren, da ich dabei erwischt wurde, daß ich eingenickt

bin und meine Haltung nicht aufrecht war. Ich schlief und folgte dem Traum,

daß ich aufrecht meditiere ohne zu schlafen. So lege ich meine Hände in

Gassho und bereite mich darauf vor, geschlagen zu werden. Auf eine solche

Art verstehen Zazen-Übende körperlich den Unterschied zwischen dem Träu-

men, daß sie wach sind und dem, daß sie wirklich wach sind.

Dies ist nicht nur während Zazen ein Problem, sondern auch in unserem

Alltag. In manchen Extremsituationen kann der Unterschied zwischen Träu-

men und Wirklichkeit von der Person selbst nicht wahrgenommen werden.

Das ist wirklich gefährlich, sowohl wenn wir ein Auto fahren, wie auch wie wir

durchs Leben chauffieren (nicht nur wie wir unsere alltäglichen Angelegen-

heiten regeln, sondern welche Richtung wir unserem Leben geben).

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Hier hat: „Einfach Buddha-Dharma um des Buddha-Dharma willen üben“

eine entscheidende Bedeutung. Das drücke ich entsprechend folgenderma-

ßen aus: „da wir die Wirklichkeit des Lebens leben, sollten wir die Wirklich-

keit des Lebens so lenken, daß wir das Leben verwirklichen.“

Wir leben die universelle Wirklichkeit des Lebens, inklusive Himmel und

Erde. Die Gedanken, die in unserem Geist hochkommen, sind ebenso Teil die-

ser allesdurchdringenden Wirklichkeit des Lebens. Doch sind diese Gedanken

oftmals mehr egozentriert als universell. Anstatt uns selbst in diese Gedan-

ken hineinzuwerfen, sollten wir deshalb die Faust um unsere Gedanken öff-

nen und unser Leben lenken, um zu der Wirklichkeit der Einheit allen Seins zu

erwachen. Der ständige Prozess unser Leben in solch einer Art zu lenken, ist

der Buddha-Weg.

In unserem Leben sehnen wir uns nach einer Partnerin oder einem Part-

ner, nach Geld , Ruhm und so weiter und wir verlieren die Stabilität unseres

Lebens. Manch komplizierte, verblendete Wesen wollen um alles in der Welt

Satori erreichen und daher verlieren sie den Blick auf die Wirklichkeit genau

hier und jetzt.

Wie auch immer, der wirkliche Buddha-Weg (für die Wirklichkeit des Le-

bens um der Wirklichkeit des Lebens willen zu üben) ist jetzt, in diesem Au-

genblick zu atmen. Gerade jetzt, gerade hier, immer zur Wirklichkeit des

Lebens in diesem Augenblick erwachen und üben. Deshalb müssen wir sehr

tief erwachen und nicht abheben und unfähig werden, die Dinge zu unter-

scheiden. „Es gibt Verblendung und Verwirklichung, Übung usw.“

Im ersten Satz bezieht sich Dogen Zenji auf die wirkliche Form aller Er-

scheinungen und sagt: „es gibt...“. Im zweiten Satz bezieht er sich auf die

Selbstlosigkeit aller Erscheinungen uns sagt: „es gibt keine...“. Im dritten Satz

müssen wir grundsätzlich und präzise den Buddha-Weg jenseits der Dualität

von Überschuss und Mangel üben; dies ist: „es gibt...“ und „es gibt keine...“.

In dieser konkreten Lebensweise gibt es wieder Erscheinen und Dahinschei-

den, Verblendung und Erleuchtung, Lebende Wesen und Buddhas.

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Wie ich nun erklärt habe, sind diese ersten drei Sätze nebeneinander ge-

stellt geschrieben, obwohl Dogen nicht dasselbe sagt. Eben weil der dritte

Satz anders ist, fährt Dogen wie folgt mit dem nächsten Abschnitt fort:

4

Doch fallen die Blumen, obwohl wir sie lieben und Unkraut gedeiht, ob-

wohl wir es nicht mögen. Sich den Erscheinungen zuzuwenden um Übung-Er-

leuchtung zu realisieren, ist Täuschung. Dass die Erscheinungen kommen und

durch Übung-Erleuchtung das Selbst realisieren, ist Verwirklichung. Jene, die

die Täuschung in hohen Maße verwirklichen, sind Buddhas. Jene, die sich in

hohem Masse über die Verwirklichung täuschen, sind lebende Wesen. Dar-

über hinaus gibt es solche, die Verwirklichung jenseits von Verwirklichung er-

langen und solche, die sich innerhalb der Täuschung täuschen.

Der erste Satz dieses Abschnitts wird gewöhnlich als Teil des vorherigen

betrachtet. Oberflächlich betrachtet, scheint das so, aber wenn wir ihn sorg-

fältig lesen, stimmt das nicht. Im Kontext macht es mehr Sinn, diesen Satz als

Einleitung für die folgenden zu verstehen. Dogen Zenji erklärt hier, wodurch

die Unterscheidung zwischen Täuschung und Verwirklichung und ebenso zwi-

schen Buddhas und lebenden Wesen erscheint.

Ich möchte nochmals wiederholen, wir sollten das Buddha-Dharma nicht

wie ein Museumsstück objektivieren. Wir sollten es auf uns selbst beziehen

und es als unsere Angelegenheit betrachten.

Wenn wir das Buddha-Dharma derart betrachten, erkennen wir, daß wir

die Wirklichkeit des Lebens vor der Trennung in Selbst und Andere, Subjekt

und Objekt leben. Wir leben im Buddha-Dharma. Alle Dinge existieren im

Buddhaland der Zehn Richtungen. Trotzdem können wir nicht sagen, daß alle

Dinge wie auf einem zweidimensionalen Raster dasselbe und gleich sind. Es

existieren verschiedene Erscheinungen wie Täuschung und Verwirklichung,

Leben und Tod, Buddhas und lebende Wesen.

Dennoch stimmt es nicht zu sagen, daß Täuschung und Verwirklichung o-

der Buddhas und lebende Wesen als fixe und materielle Dinge existieren.

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Wir sind nicht immer verblendete, lebende Wesen. Solche Unterscheidungen

existieren nur im menschlichen Geist. Wenn wir die Wirklichkeit ohne ein fes-

tes Selbst wahrnehmen, gibt es solche Unterscheidungen nicht. Doch wenn

wir unser Leben als die Übung des Buddha-Weges betrachten und die Wirk-

lichkeit unseres Lebens mit unserem menschlichen Geist ausleben, erschei-

nen viele verschiedene, unterscheidbare Formen.

In diesem vierten Abschnitt erklärt uns Dogen Zenji, daß im Ablauf der

Wirklichkeit des Lebens, diese verschiedenen Formen in Beziehung zu uns er-

scheinen.

Doch fallen die Blumen, obwohl wir sie lieben und Unkraut gedeiht, ob-

wohl wir es nicht mögen.

Stellt euch zum Beispiel vor, ihr fahrt Auto, weil ihr ein dringendes Ge-

schäft erledigen und zu einer bestimmten Zeit irgendwo sein müsst, aber lei-

der bleibt ihr im Stau stecken. Weil es euch eilt, werdet ihr frustriert und

irritiert. In solch einer Situation fühlt sich eine Minute sehr lange an. Wenn

ihr auf der anderen Seite mit eurer Liebsten oder eurem Liebsten im Auto

fahrt, und ihr keine Eile habt, interessiert euch der Stau überhaupt nicht. Viel-

leicht wollt ihr sogar, daß der Stau ewig dauert.

Wenn ihr mit euren Freunden Spass habt und Reiswein trinkt, dann habt

ihr eine gute Zeit miteinander. Wenn ihr aber den gleichen Reiswein trinkt,

während ihr mit einem Gast eine wichtige geschäftliche Angelegenheit regeln

müsst, könnt ihr ihn vielleicht gar nicht geniessen.

Während unserer Fahrt durch dieses Leben, begegnen wir vielen verschie-

denen Erlebnissen. [Wir denken vielleicht:] „Es gibt gute Zeiten und schlechte

Zeiten, Freude und Leid, Glück und Traurigkeit und so weiter.“ Solch verschie-

dene Erlebnisse existieren nicht objektiv ausserhalb von uns, aber sie erschei-

nen zu uns in Beziehung.

Ich las mal ein Gedicht eines Kindes:

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„Wie klein er ist!“

Auf dem Schulhof spielen.

„Wie groß er ist!“

Das Unkraut auf dem Schulhof jäten.

Dieses Gedicht zeigt uns auch, daß die verschiedenen Erlebnisse nur in Be-

ziehung zu unserer Bedingtheit erscheinen.

Sich den Erscheinungen zuzuwenden um Übung-Erleuchtung zu realisie-

ren, ist Täuschung. Dass die Erscheinungen kommen und durch Übung-Er-

leuchtung das Selbst realisieren, ist Verwirklichung.

Dieser Satz ist die Einleitung zu den folgenden. Alle Menschen leben die

Wirklichkeit des Lebens, welche vollständig Himmel und Erde durchdringt.

Daher sind wir, ob wir darüber nachdenken oder nicht und ob wir es glauben

oder nicht, ein allesdurchdringendes Selbst (jinissai-jiko). Doch obwohl wir

ein allesdurchdringendes Selbst sind, kommen in unserem Gehirn dauernd

nicht-allumfassende Gedanken hoch: „Ich will mehr Geld!“, „Ich will Sex!“,

„Ich will mich amüsieren!“ und so weiter. Als ein lebendes Wesen, das mit

dem gesamten Universum verbunden ist, funktioniert selbst unser Gehirn als

Teil des allesdurchdringenden Lebens. Doch die Gedanken, die unser Gehirn

produziert, sind alles andere als allumfassend, sondern sehr ego-zentriert.

Wenn wir an solchen ego-zentrierten Gedanken anhaften und auf ihnen ba-

siert handeln, ist solch eine Haltung definitiv verblendet.

Zu viele Menschen glauben, daß die Welt dazu da ist, die auf ihren ego-

zentrierten Gedanken basierenden Bedürfnisse zu befriedigen. In Wahrheit

existiert diese Welt aber nicht, um unsere Wünsche zu erfüllen. Tatsache ist,

daß die Dinge nicht im Einvernehmen mit unseren Erwartungen geschehen.

Doch können wir das irgendwie nicht akzeptieren. Als Konsequenz beschwe-

ren wir uns dann oft, daß es nicht gut läuft und wir hadern und machen viel

Aufhebens darum.

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Wenn wir darüber nachdenken, verstehen wir, daß diese Art im Samsara

zu leben durch unsere eigene Unvollständigkeit bedingt ist. Deshalb wollen

wir dann üben, über uns hinauszugehen und zu erwachen. Ich glaube, daß

viele Leute, die Zazen üben, ursprünglich diesen Gedanken hatten.

Doch es gibt damit ein Problem. Mit dem Wunsch, über uns selbst hinaus-

zugehen und zu erwachen, machen wir uns zu dem Mensch, den wir sein wol-

len. Was passiert aber mit solch einem Wunsch, wenn wir ernsthaft den

Buddha-Weg üben? Das ist nicht [nur] das Problem anderer Leute, auch ich

begann den Buddha-Weg mit dieser Haltung zu üben.

Ich wollte mich selbst in den Buddha-Weg werfen und Zazen üben. 1941

wurde ich von Sawaki Roshi ordiniert. Sawaki Roshis Anweisungen folgend,

begann ich wirkliches Zazen im Daichuji Tempel in der Tochigi Präfektur zu

üben. Zu jener Zeit hatten wir jeden Monat zwei Fünf-Tages-Sesshins. Eines

davon wurde von Sawaki geleitet und wir hatten Liturgie, Belehrungen usw.

Aber im anderen wechselten sich von zwei Uhr morgens bis Mitternacht le-

diglich fünfzig Minuten Zazen mit zehn Minuten Kinhin (Gehmeditation) ab.

Wir hatten täglich drei Mahlzeiten und nach jeder eine halbe Stunde Kinhin.

Jeden Tag meditierten wir zweiundzwanzig Stunden lang. Selbst in den zwei

Stunden zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens schliefen wir in sitzen-

der Position, unser Kinn auf eine Stütze gelegt, die sich Zenpan nennt. Wir

waren also quasi vierundzwanzig Stunden am Tag in sitzender Haltung. Aus-

ser während den zwei Stunden Schlaf, lief immer jemand mit den Kyosaku

(Aufweck-Stock) herum.

Diese Art Sesshin hatten wir einmal im Monat. Im Dezember hatten wir

dann ein Sieben-Tage-Sesshin auf diese Art. Während diesem Sesshin, speziell

gegen Ende, konnte ich mich nicht mehr wach halten. Egal wie stark wir ge-

schlagen wurden, wenn wir einschliefen, wir wachten nicht auf. Manchmal

war meine Schulter geschwollen.

Obwohl ich Zazen während solch extrem schwierigen Sesshins übte,

wurde ich während dieser Zeit im Buddha-Weg sesshaft und übte von ganzen

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Herzen. Dabei erwartete ich, daß ich besser und eines Tages in der Zukunft

ein gutes Resultat erlangen werde. Diese Übung dauerte genau drei Jahre,

vom Herbst 1942 bis zum Herbst 1944, nahe dem Ende des Zweiten Weltkrie-

ges. Zu dieser Zeit kamen viele Schulkinder in den Daijuji Tempel, die zu ihrer

Sicherheit aus Tokio evakuiert wurden. Konsequenter Weise mussten wir den

Tempel verlassen und zogen nach Shiseiryo in Shinjuku, Tokio. Shiseiryo war

ein Schlafsaal für Studenten der Komazawa Universität, wo Sawaki Roshi mit

seinen Studenten lebte.

Wenn wir nur dort gelebt hätten, ohne zu arbeiten, wären wir früher oder

später abkommandiert worden, um in den Krieg zu ziehen. Ich überlegte mir,

daß ich Arbeit finden sollte, und so ging ich tief in die Berge der Shimane

Prefäktur um Kohle abzutragen. Während ich Kohle machte, kamen mir Zwei-

fel. Als ich in Daijuji übte, glaubte ich, wenn ich weiter auf diese Art Zazen

übe, werde ich irgendwann ein besserer Mensch. Das Einzige, was ich nach

Jahren dieser Art Übung fand, war die Klarheit, daß egal wie viele Jahre ich

Zazen übe, ich werde das erwünschte Resultat nicht erzielen.

Die Konsequenz davon war, daß ich mich fragte, warum ich mein Leben

mit solch einem Ding verbringen wollte. Da wir im Krieg waren, dachte ich

auch über die Richtung nach, die unsere Gesellschaft eingeschlagen hatte

und ich widmete mich sehr ernsthaft dieser Frage. Einmal schrieb ich eine de-

taillierten Brief mit meinen Zweifeln an Sawakli Roshi. Als Antwort schrieb Sa-

waki Roshi ein Gedicht von Dogen Zenji aus dem Eiheikoroku (Extensive

Record of Eihei Dogen, Manzan-bon vol.10, #65):

Alle Dualität vergessend

Wird mein Geist friedlich,

Innerhalb des Buddha-Dharma,

erscheinen alle Dinge gleichzeitig vor mir.

Von nun an ist mein Geist ruhig,

ich überlasse alles der Ursache und Bedingung.

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Obwohl Sawaki Roshi dieses Gedicht schickte, half das gar nichts, weil

mein Geist ja genau damit haderte, daß ich diesen Geisteszustand erreichen

wollte.

Am Ende übersiedelte ich zum Arbeiten in die Shizuoka Präfektur und för-

derte Wasser aus dem Meer, um Salz zu gewinnen. Danach zog ich in den Jip-

poji Tempel in Tanba (Hyogo Präfektur) und übte wieder Zazen. Ich sass

gelegentlich Sesshins, obwohl ich knapp am Verhungern war. Ungefähr fünf

Jahre lebte ich in einer sehr tiefen und ernsten Verzweiflung.

Während ich von 1948 bis 1949 im Teishoji Tempel in Saku, Sihnshu

(Nagano Präfektur) war, war ich wirklich im absoluten Ungewissen über

meine Zazen Übung. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich musste alles wegwer-

fen, auch meine Zweifel und mein Denken. Eines Abends sass ich alleine im

Zendo und fühlte eine Art Erleichterung. Nach dieser Erfahrung schrieb ich

sowas wie ein Waka- Gedicht:

Unter der glühenden Sonne

Höre ich den Befehl: „Feuer einstellen!“

Ich stellte das Feuer ein.

Kühle, erfrischende Brise.

Da junge Menschen heutzutage wenig Erfahrung im militärischen Drill ha-

ben, verstehen sie wahrscheinlich dieses Gedicht nicht. Wenn wir Kriegsma-

növer hatten, mussten wir während des Tages mitten im Sommer schwere

Ausstattung und Gewehre tragen und über weite Felder rennen. Wir waren

völlig verschwitzt. Wenn in solch einer Situation der Ausbilder das Kom-

mando gab das Feuer einzustellen, fühlte ich mich erleichtert und plötzlich

eine kühle Brise. Ich erfuhr dies während meiner Ausbildungsjahre. Während

ich alleine im Zendo sass, hatte ich genau dieses Gefühl wieder. Zu jener Zeit

verstand ich nicht, warum ich so eine Erleichterung spürte. Ich dachte aber,

Zazen ist wahrscheinlich so.

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Im Herbst 1949, nachdem ich nach Antaiji in Kyoto gezogen war, sagte Sa-

waki Roshi in einem Teisho: „Das Buddha-Dharma ist unfassbar und grenzen-

los; es kann nichts sein, das unseren Wunsch nach Befriedigung erfüllt.“ Als

ich das hörte, hatte ich das Gefühl, als ob Himmel und Erde sich kehrten. Bis

zu diesem Zeitpunkt haderte ich mit meinem Wunsch, mich selbst zu verbes-

sern und Erleuchtung zu erlangen. Was ich fand war, daß selbst mein kleines

„Ich“ von dieser grossen, Himmel und Erde durchdringenden Natur hervorge-

bracht wird und es nicht in den kleinen Rahmen meines Denkens passt.

Wir alle leben diese Wirklichkeit des Lebens, wo Himmel und Erde vonei-

nander durchdrungen sind. Dennoch wollen wir das Selbst festhalten und es

in einen Käfig oder einen gedanklichen Rahmen stecken. Wir denken: „Das

bin ich. Ich kann es in Besitz nehmen.“ Aber auch mein „Selbst“ ist ein Teil

dieser Durchdrungenheit des Lebens. Wir können es nicht in Besitz nehmen

und in einen gedanklichen Rahmen sperren. Das ist halt so. Ich brauchte acht

oder neun Jahre, um so eine einfache Wahrheit zu verstehen.

Ich verstand, daß alles, was ich mit meinen Gedanken erreichen kann,

„kleine Fische“ sind. Wenn ich den Wunsch hatte, Erleuchtung zu erlangen

und ich machte eine Art Erleuchtungserfahrung aufgrund dieses Wunsches,

war dies immer noch eine Erleuchtungserfahrung auf der Basis meines per-

sönlichen Wunsches. Dogen Zenji sagt: „Wenn die Erleuchtung von dem Ge-

danken vor der Erleuchtung abhängig ist, ist es keine Erleuchtung, auf die

man sich verlassen kann.“ [Shobogenzo Yuibutsu-Yobutsu, Nur Buddha zu-

sammen mit Buddha]. Wahre Erleuchtung durchdringt Himmel und Erde und

sollte wahrhaftig Himmel und Erde durchdringen. Man sollte sie nicht an sich

reissen und in einen Rahmen pressen, der unsere persönlichen Wünsche be-

friedigt.

Vor einigen Jahren, als ich nach Kohata umzog, schrieb ich ein Gedicht für

eine Neujahrskarte, welches ich mit „Ein Brief“ betitelte. Ich fand, ich war ein

wenig beständiger geworden.

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EIN BRIEF

In meiner Jugend

haderte ich auf vielerlei Art,

hin und her getrieben,

wie ein Blatt vom Wind verweht.

Letztlich landete ich auf einem sonnigen Fleck

bei Jizo Bodhisattva in Kohata.

Zufrieden mit der Unzufriedenheit

gerade hier, gerade jetzt

Lebe ich einfach.

[Anmerkung des Übersetzers: Im Nokein Tempel in Kohata, Uji-shi, Ky-

opto, wo Uchiyama seine letzten Tage verbrachte, steht ein Schrein

eines Jizo Bodhisattva aus der Heian Periode (zehntes bis zwölftes

Jahrhundert).]

Ich hatte begonnen, friedlicher zu werden. Das hat vermutlich mit dem Al-

ter zu tun.

Wie dem auch sein, das Selbst ist ein alles-durchdringendes Selbst und die

Wirklichkeit des Lebens ist eine des gesamten Himmels und der Erde. Und

doch entstehen in unserem Gehirn verschiedene Gedanken, die nicht eins

sind mit dem gesamten Himmel und der Erde. Wenn wir den „Lebensantrieb“

auf der Basis unserer Gedanken leben und uns „allen Dingen zuwenden“, ist

dies sicherlich Täuschung.

Das Selbst als wahres Leben zu leben, ist Erleuchtung. Sowohl Erleuchtung

wie Täuschung, Buddhas und lebende Wesen, existieren nicht substanziell in

einer fixierten Art. Sie erscheinen von Augenblick zu Augenblick, bedingt

durch unsere Haltung gegenüber dem Leben.

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Jene, die die Täuschung in hohen Maße verwirklichen, sind Buddhas.

Jene, die sich in hohem Masse in der Verwirklichung täuschen, sind le-

bende Wesen.

Obwohl auch Täuschung und Erleuchtung einfach als Szene in unseren Ge-

danken auftauchen, ist die Wirklichkeit des Lebens jenseits der Trennung von

Täuschung und Erleuchtung. In Wirklichkeit leben wir unser Leben vor der

Unterscheidung von Erleuchtung und Täuschung. Wir sind weder fixiert als

Wesen, die sich täuschen, noch als erleuchtete Buddhas. Eigentlich ist Bud-

dha das Erwachen zur Wirklichkeit des Lebens vor der Trennung von Erleuch-

tung und Täuschung.

Tatsache ist, solange wir Menschen sind, wird es keine Zeit geben, in der

die Täuschung komplett eliminiert ist, da wir um zu leben ständig Entschei-

dungen für dieses oder jenes treffen müssen. Wir leben daher immer mitten

in der Täuschung, die Dieses von Jenem unterscheiden muss. Die Essenz des

Buddha-Weges ist es, mitten in der Täuschung zu erkennen, daß unterschei-

dende Gedanken nichts anderes sind als Ausscheidungen unseres Gehirns.

Dann können wir die Faust um unsere Gedanken öffnen und den „Lebensan-

trieb“ im Einklang mit unserer Kulisse gestalten, die sich von Augenblick zu

Augenblick verändert. Davon redet Dogen im Shobogenzo Hokke-ten Hokke

(Die Blüte des Dharmas dreht die Blüte des Dharmas) – wenn sich unser Geist

täuscht, werden wir von der Dharma-Blüte gedreht, anstatt daß wir die

Dharma-Blüte drehen.

In hohem Mass die Täuschung zu verwirklichen, die Täuschung einfach als

Täuschung zu erkennen und zur Wirklichkeit jenseits der Dualität von Er-

leuchtung und Täuschung zu erwachen - das ist ‚alle Buddhas‘. Wir liegen völ-

lig daneben, wenn wir denken, daß Shakyamuni Buddha, Amitaba Buddha,

der Medizin-Buddha und so weiter, Wesen der Vergangenheit ausserhalb un-

serer Selbst sind. In jedem Augenblick zur Wirklichkeit des Lebens zu erwa-

chen ist Buddha. Gerade hier und jetzt Zazen zu sitzen und zur Wirklichkeit

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des Lebens zu erwachen, ist daher ‚alle Buddhas‘. In diesem Sinne ist es abso-

lut wahr, wenn Dogen Zenji im Bendowa (Belehrung den Weg von ganzem

Herzen zu üben) sagt: „Zazen ist das wahre Tor des Buddha-Dharma.“

Die Wirklichkeit des Lebens auszuleben, hin- und hergerissen zu sein von

den Gedanken, die unser Gehirn ausscheidet und die Sicht auf die Wirklich-

keit des Lebens zu verlieren, bedeutet alle lebende Wesen innerhalb der Ver-

wirklichung. Täuschungen sind sicherlich auch die Wirklichkeit des Lebens.

Konsequenterweise sollten wir die Täuschung als Bestandteil der Wirklichkeit

erkennen. Doch da wir den Blick auf die Wirklichkeit verlieren, täuschen wir

uns in hohen Masse in der Verwirklichung.

Darüber hinaus gibt es solche, die Verwirklichung über die Verwirkli-

chung hinaus erlangen und solche, die sich innerhalb der Täuschung täu-

schen.

Da wir alle öfters in die Täuschung eintreten, muss ich glaub nicht weiter

erklären, was es mit jenen auf sich hat, die sich innerhalb der Täuschung täu-

schen. Wir sollten über jene nachdenken, die Verwirklichung über die Ver-

wirklichung hinaus erlangen. Kurz gesagt geht es hier um butsu-kojo (über

Buddha hinausgehen), immer wieder und endlos über Buddha hinaus zu ge-

hen. Es macht keinen Sinn, wenn wir denken, daß es sich dabei um jemanden

anderen handelt, der sich „Buddha“ nennt. Vielmehr sollten wir über Buddha

hinauszugehen als unsere persönliche Angelegenheit betrachten und uns

selbst innerhalb dieser alten Belehrung wiederfinden.

Ich wiederhole beständig, daß Buddhas keine anderen Menschen sind,

sondern das Erwachen zur Wirklichkeit des Lebens vor der Trennung in Ge-

gensätze. Konkreter spricht Dogen im Shobogenzo Hachidainingaku (Acht Er-

leuchtungen der Grossen Wesen) darüber, daß alle Buddhas Grosse Wesen

sind (dainin auf Japanisch, Mahasattvas auf Sanskrit). Grosse Wesen sind

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wirklich reife Menschen, keine Erwachsene im biologischen Sinn, sondern

vielmehr Menschen, die spirituell gereift sind.

In unserem eigentlichen Lebensantrieb können wir uns um nichts küm-

mern, wenn wir Entscheidungen zwischen diesem oder jenem treffen.

Wir können nicht beurteilen, wer ein wirklich reifer Mensch ist und wer

nicht. Wir können nicht sagen: „Du bist immer noch kindisch und nicht zum

reifen Mensch geeignet“, oder: „Du bist reif genug und hast die Prüfung be-

standen.“ Buddha zu sein bedeutet, zur Wirklichkeit des Lebens vor der Tren-

nung in geeignet und nicht geeignet zu erwachen und basierend darauf

„Lebensantrieb“ hervorzubringen. Wir sollten die Wirklichkeit vor der Tren-

nung in Erfolg und Misserfolg erkennen. Es liegt grenzenlose Tiefgründigkeit

in der Verwirklichung jenseits der Verwirklichung. Wir verwirklichen alle Bud-

dhas über alle Buddhas hinaus. Wir reifen über die Reife hinaus. Darin liegt

unendliche Tiefe.

Das Leben ist eigentlich eine tiefgründige Sache. Es kann keine wähleri-

sche Angelegenheit zwischen diesem und jenem, gut und schlecht, Erfolg und

Misserfolg sein. Doch leben wir im Computerzeitalter und die Menschen

glauben, daß sie ihr eigenes Leben mit Ideen über dieses und jenes, gut und

schlecht, Erfolg und Misserfolg handhaben können. Wenn sie der Tiefgründig-

keit begegnen, merken sie, dass ihr dualistischer Weg wie ein Computer zu

denken, nicht funktioniert.

Was ist zum Beispiel in unserem Leben wichtiger, freundlich zu sein oder

mit anderen zu kämpfen? Wie sehen aber unsere internationalen Beziehun-

gen aus: Friede oder Kampf und andere Länder bezwingen? Diese Fragen sind

eine Angelegenheit des grundsätzlichen Wertesystems einer menschlichen

Gesellschaft. Welche Antworten erhalten wir auf diese Fragen, wenn wir sie

aus der dualistischen Sicht des Denkens eines Computers stellen? Computer

entscheiden sich einfach zwischen diesem und jenem, richtig und falsch.

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In modernen Gesellschaften denken Menschen über die Frage von Grund-

werten dualistisch wie Computer und entscheiden daraufhin über das Schick-

sal der menschlichen Gesellschaft. Dies lässt uns zwei Möglichkeiten:

entweder idealistisch freundlich und friedfertig oder realistisch, um zu gewin-

nen und als Sieger hervorzugehen. In beiden Fällen entscheiden wir uns für

das eine oder andere, ohne Klarheit in der Frage erlangt zu haben. Das ist

eine Art Trick.

Diese trickreiche Technik wird von Möchtegern-Erwachsenen angewandt,

die nicht wirklich gereift sind, aber es funktioniert nicht in der Ausbildung un-

serer Kinder. Kinder zeigen uns diese verzerrte Art der modernen Möchte-

gern-Erwachsenen in einer offensichtlichen und klaren Weise. Daher sollten

wir sorgsam beobachten, was Kinder tun.

Einerseits sagen Eltern und Lehrer zu ihren Kindern oder Schülern, daß sie

nicht kämpfen sollen, sondern freundlich sein. Doch wenn dann ihre Kinder

von anderen Kindern geschlagen werden, raten Eltern und Lehrer den Kin-

dern, daß sie sich nicht schlagen lassen, sondern ebenfalls kämpfen und ge-

winnen sollen.

Kurz gesagt ist es für Eltern und Lehrer gut, daß ihre Kinder und Schüler

gewinnen und andere schlagen und es ist gleichzeitig gut, freundlich zu ande-

ren Kindern zu sein. So muss es Kinder geben, die geschlagen werden und sol-

che, die dazu genötigt werden, freundlich zu sein. Das ist das natürliche

Ergebnis eines solchen Widerspruchs. Dem Problem des Mobbens in japani-

schen Grundschulklassen, liegt meiner Meinung nach ein philosophischer Wi-

derspruch an der Wurzel der Erziehung zugrunde. Die Menschen verdecken

solche Widersprüche ohne tiefgründig über sie nachzudenken.

Schwache und mutlose Kinder, die alleine niemanden im Kampf schlagen

können, tun sich mit anderen zusammen, diskriminieren ein schwaches Kind

und tyrannisieren es, weil es vielleicht irgendwie anders ist. Wenn sie sich so

benehmen, finden diese Kinder, daß sie den Belehrungen ihrer Lehrer und El-

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tern gefolgt sind, stark zu sein. Sie sagen dann dem Opfer, daß es die grau-

same Tat nicht den Eltern oder den Lehrern erzählen soll, tun so, als ob es

keine Probleme gäbe und sie freundlich und gut miteinander auskommen. Sie

schlussfolgern, daß sie der Belehrung folgen, freundlich zu sein. Ich vermute,

daß das die Wahrheit über das heutige Problem des Mobbens in den japani-

schen Grundschulen ist. Als ich ein Kind war, hatten wir das Problem nicht.

Aus Sicht der Schüler demonstrieren sie ihren Eltern und Lehrern das Re-

sultat ihrer widersprüchlichen Belehrung ‚freundlich zu sein‘ und ‚zu gewin-

nen‘. Ein Kind ist ein wahrer Spiegel, der klar die Verzerrung im Geist der

Lehrer und Eltern aufzeigt. Wenn wir ein Kind beobachten, können wir sofort

unsere Haltung dem Leben gegenüber verstehen und uns selbst beurteilen.

In der Oberstufe mögen Sozialkundelehrer ihren Schülern erzählen, daß

im Zeitalter der Globalisierung der Friede unter den Menschen zentral ist.

Gleichzeitig lehren sie vielleicht, daß wir in einer Welt leben, in der jeder um

die eigene Existenz kämpft, und wir daher im international harten Konkur-

renzkampf gewinnen müssen.

Bedingt durch die konkurrierende Natur des japanischen Schulsystems,

passiert es im Alltag unserer Schüler, daß die Eltern und Lehrer sie dazu an-

treiben, ihre Freunde als ihre Konkurrenten zu betrachten, gegen die sie ge-

winnen sollten. Schüler der weiterführenden Schulen, die noch nicht reif

genug sind, können nicht klar und rational den Widerspruch in dem erken-

nen, was ihre Eltern und Lehrer sagen und können es daher nicht genau deu-

ten. Doch wenn Schüler nicht überzeugt werden können, werden sie irritiert

oder frustriert und [in Folge] ungehorsam und rebellisch gegenüber den Leh-

rern.

Was ist am wichtigsten, in einer Gemeinschaft freundlich zu sein oder das

Rennen zu gewinnen? Was ist am wichtigsten, Friede oder der Sieg im inter-

nationalen Territorium des Kampfes ums Überleben? Die Menschen heutzu-

tage kümmern sich wie ein Computer mit dualistischen Ansätzen um die

Grundprobleme menschlicher Werte: dieses oder jenes, gut oder schlecht.

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Sie verdecken die eigentlichen Probleme. Da Menschen auf der Basis von Le-

benstrieben und Sozialtrieben leben, ist es meiner Ansicht nach natürlich,

daß solche Phänomene wie Mobbing an Schulen entstehen. Die Gesellschaft

ist weit davon entfernt, den Zwiespalt von diesem und jenem oder Über-

schuss und Mangel beurteilen zu können.

In Bezug auf unsere gegenwärtige Gesellschaftsideologie, können wir Vor-

schläge aus dem Buddha-Weg ableiten. Der wahre Weg des Lebensantriebes,

wie ihn Dogen Zenji beschreibt, lautet: „Darüber hinaus gibt es solche, die

Verwirklichung über die Verwirklichung hinaus erlangen.“ Ich glaube, das ist

es was wir vom Buddhismus oder den Belehrungen von Dogen Zenji lernen

müssen. Die Probleme unseres Lebens können nicht mit so einer kindischen

Art wie dem Wählen zwischen diesem und jenem, gut und schlecht gelöst

werden. Vielmehr sollten wir den Lebensantrieb mit erwachter Sicht ausle-

ben. Wir sollten Verwirklichung jenseits von Verwirklichung erlangen und je-

den Augenblick zur Wirklichkeit des Lebens vor der Trennung in Gegensätze

erwachen.

Darüber hinaus ist es in der Gemeinschaft, in der wir leben, weder einfach

gut, miteinander zu kämpfen und sich zu prügeln, noch daß wir Schwachen

Opfer von geldgierigen Leuten werden, die uns wegstossen, damit sie ihren

Weg gehen können.

Wie sollen wir dann leben? Wir sollten mit einer wirklich reifen Sicht leben

und handeln, anstatt basierend auf unserer kindischen Ansicht von ‚diesem

oder jenem‘. Während wir fortlaufend mit einer lebhaften, reifen Sichtweise

wach sind, sollten wir den Lebensantrieb frei ausüben.

Im „Auto“ der menschlichen Lebenskraft haben wir das Gaspedal des Ver-

langens, die Bremse der Zurückhaltung und das Steuerrad um zu entschei-

den, ob wir flüchten, uns verteidigen oder angreifen sollen. Es ist wichtig eine

reife Sicht zu haben, mit welcher wir den Lebensantrieb steuern, so daß die

Lebenskraft frei fließen kann. Endlos sollten wir den Blick eines wirklich reifen

Menschen vertiefen. Wenn wir unsere Probleme betrachten, sollten wir die

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Förderung einer Gesellschaft verfechten, die wahrlich reife Menschen hervor-

bringt. Bildung sollte Schülern ermöglichen, wirklich reife Menschen zu wer-

den.

Das ist keine Sache, wo es einfach drum geht zwischen diesem und jenem

zu wählen. Wir sind eigentlich frei und können in jegliche Richtung gehen. Le-

diglich die Tiefgründigkeit unserer Handlung ist wichtig. Wie weit sind wir

wirklich gerieft als Mensch?

Die grundlegende Tiefgründigkeit eines reifen Menschen wird von

Shakyamuni Buddha folgendermaßen gelehrt:

„Er beleidigte mich, er verletzte mich, er besiegte mich, er raubte mich

aus.“ Jene, die solche Gedanken hegen, werden nicht frei werden von

Hass.

„Er beleidigte mich, er verletzte mich, er besiegte mich, er raubte mich

aus.“ Jene, die keine solchen Gedanken hegen, werden frei sein vom Hass.

Denn Hass wird nicht durch Hass besiegt. Hass wird durch Liebe be-

siegt. Dies ist ein ewiges Gesetz.

[Dhammapada, Original der englischen Übersetzung durch

Juan Mascaro, Penguin Books, 1973, Bungoy, Suffolk, England]

Shakyamuni Buddha sagte dies, als sein Klan durch König Virudhaka vom

Nachbarland vernichtet wurde. Nachdem die fähigen Leute von zu Hause aus-

zogen, um Nachfolger des Buddhas zu werden, gab es keinen starken Führer

mehr, um gegen die einwandernde Armee zu kämpfen. König Virudhaka atta-

ckierte die Hauptstadt des Shakya-Klans, ermordete viele Menschen und

brannte die Stadt nieder. Bevor Virudhaka den Shakya-Klan angriff, schickten

die Leute aus Shakyamuni Buddhas Heimat Botschafter zu ihm, um ihn zu bit-

ten, die Stadt vor der Vernichtung zu bewahren.

Auf dem Weg zur Hauptstadt des Shakya-Klans sass der Buddha unter ei-

nem toten Baum. Als König Virudhaka den Buddha neben der Strasse unter

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63

einem toten Baum sitzen sah, fragte ihn der König: „Warum sitzt du unter ei-

nem toten Baum?“

Der Buddha antwortete: „Der Schatten eines Familienbaumes ist schön

und kühl.“ Daraufhin kehrte der König zurück in sein Land, ohne den Shakya-

Klan anzugreifen.

Der Buddha tat dasselbe drei Mal für seinen Klan. Beim vierten Mal ging

der Buddha nicht zum toten Baum. Als König Virudhaka sein Volk attackierte,

schaute der Buddha zu, wie die Hauptstadt Kapilavastu brannte. Aus der Ent-

fernung sagte er lediglich: „Ich habe Kopfweh“ und fuhr fort, Zazen zu sitzen.

Sawaki Roshi kommentierte diese Geschichte folgendermassen: „Wäre

der Buddha damals mit einem Schwert in der Hand zurück nach Kapilavastu

geeilt, um gegen König Virudhaka zu kämpfen und hätte zu ihm gesagt: „Vi-

rudhaka, du bist mein Feind und ich werde dich umbringen“, dann würde es

heute keinen Buddhismus geben. Doch Shakyamuni war nicht so impulsiv. Er

sagte lediglich: „Hass wird nicht durch Hass besiegt. Hass wird durch Liebe

besiegt. Dies ist ein ewiges Gesetz“ und saß still im Schweigen. Deshalb gibt

es den Buddhismus auch heute noch und bietet uns, den leidenden Wesen in

der Hitze der Irritation, den kühlen Schatten eines großen Baumes.

„Hass wird nicht durch Hass besiegt. Hass wird durch Liebe besiegt. Dies

ist ein ewiges Gesetz.“ Dies ist sicherlich eine endgültige und entschiedene

Tat, die nicht für jeden einfach ist. In menschlichen Beziehungen sagen wir,

es ist eine ich-oder-du Angelegenheit. Menschen leiden unter einer inneren

Zerrissenheit und fangen dann oft zu kämpfen an, selbst wenn sie sich für

den Frieden einsetzen. Das ist keine einfache Sache.

Nehmen wir als Beispiel, daß ein Moskito sich auf meinen Körper setzt

und anfängt, mein Blut zu saugen. Schau ich dem still zu und sage mir: „Hass

wird nicht durch Hass besiegt. Hass wird durch Liebe besiegt. Dies ist ein ewi-

ges Gesetz“? So blöd bin ich nicht. Ich werde ihn sofort zerquetschen.

Das ist die Wirklichkeit meines Lebens. Doch ist es sicher, daß ich mich im-

mer so benehmen werde, weil ich dieser Mensch bin? Das glaube ich nicht.

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Wenn ich mich zum Beispiel dazu entschlossen habe, etwas zum Wohle aller

lebenden Wesen zu tun, opfere ich vielleicht sogar meinen Körper. Wir kön-

nen nicht sagen, daß es nicht möglich ist. Es kommt in diesem Augenblick auf

die tiefe meines Herzenswunsches für [das Wohl] aller lebenden Wesen an.

Wir können nicht so einfach entscheiden, was wichtiger ist, dieses oder jenes,

Friede oder Sieg. Dies ist die eigentliche Art und Weise, wie unser Leben ist.

Da wir die Wirklichkeit des Lebens vor der Trennung in Selbst und Andere

ausleben, gibt es sowohl in der Erleuchtung, wie auch der Täuschung unendli-

che Tiefe. Wir sollten bedenken, wie tief wir die Wirklichkeit unseres Lebens

ausleben. Gewöhnlich denken die Leute, daß Erleuchtung ausserhalb von uns

als eine fixe Einheit existiert und wir sie wie eine Art mystische Intuition reali-

sieren und sagen: „wow, ich habe sie erreicht!“ Das ist wirklich allzu simpel

und kindisch. So ist das nicht mit der Erleuchtung.

Am Ende muss das Selbst sich selbst leben. Niemand kann für das Selbst

leben. Wie sehr entwickeln wir uns? Machen wir Rückschritte? Das kommt

nur auf uns selber an. Verwirklichung jenseits von Verwirklichung hängt nur

von uns selber ab. Das ist nichts, was wir von außen beobachten und messen

können. Solch eine Tiefe hat unser Leben. Dies ist die Tiefe, in welcher der

gegenwärtige Augenblick zum gegenwärtigen Augenblick wird. Wir tun von

Augenblick zu Augenblick so viel, wie die Tiefe unseres Seins erlaubt. Daher

sagt Dogen Zenji im nächsten Satz: „Wenn Buddhas wahrhaft Buddhas sind,

ist es nicht nötig, dass sie sich selbst als Buddhas wahrnehmen.“

5

Wenn Buddhas wahrhaft Buddhas sind, ist es nicht nötig, dass sie sich

selbst als Buddhas wahrnehmen; trotzdem sind sie erleuchtete Buddhas und

fahren fort Buddha zu verwirklichen.

Menschen denken gewöhnlich, daß Erleuchtung/Täuschung oder Bud-

dhas/lebende Wesen zwei separate und relative Dinge sind. Sie trennen sie in

zwei Kategorien und sagen: „Bis zu diesem Zeitpunkt sind sie verblendete

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menschliche Wesen und nach diesem Zeitpunkt werden sie erwachte Bud-

dhas.“ Doch das Leben hat keine solchen Grenzen. Ich wiederhole nochmals,

Erleuchtung und Täuschung, Buddhas und lebende Wesen sind aus sich her-

aus die Wirklichkeit des Lebens vor der Spaltung in Dualität.

Relative Ausdrücke des Seins wie Erleuchtung/Täuschung, Buddhas/le-

bende Wesen sind in der Wirklichkeit des Lebens beinhaltet. Präzise gesagt

ist das Erwachen zu dieser Wirklichkeit des Lebens Erleuchtung, und auf diese

Art zu leben bedeutet Buddha zu sein. Umgekehrt bedeutet verblendet zu

sein, wenn man für die Realität des Lebens blind ist, und Menschen, die so le-

ben, werden lebende Wesen genannt. Daher ist dies kein Zwiespalt, beide

beinhalten die ganze Wirklichkeit. Zum Zeitpunkt der Erleuchtung wird die

gesamte Wirklichkeit, sowohl das Selbst wie auch alle Wesen, erleuchtet.

Zum Zeitpunkt der Täuschung wird die gesamte Wirklichkeit außerhalb und

innerhalb des Selbst getäuscht.

Es gibt kein Ort außerhalb des Selbst, der das Selbst beobachtet und sagt:

„Ich bin eine Buddha.“ Nur die ungeteilte Wirklichkeit des Lebens auszuleben

bedeutet Buddha zu sein. Alle Buddhas leben lediglich die Wirklichkeit des Le-

bens. Umgekehrt ist es wirklich lächerlich (kokkei) und unsinnig zu denken:

„Ich habe Erleuchtung erlangt und bin Buddha.“ Ich sage das auch über Za-

zen. Wir treffen nie ins Schwarze. Wenn wir sitzen und denken: „Wow! Mein

Zazen ist wirklich gut“, denken wir eigentlich nur. Wir sind damit schon aus

Zazen rausgerutscht. Deshalb sage ich kokkei, da das Wort sowohl rausrut-

schen, wie auch lächerlich bedeutet.

„Erleuchtete Buddha“ lebt die Wirklichkeit des Lebens innerhalb der Wirk-

lichkeit des Lebens. „Fortzufahren Buddha zu verwirklichen“ bedeutet die

Verwirklichung der Wirklichkeit des Lebens wahrhaftig zu leben.

Obwohl wir sie aufs Innigste wahrnehmen und mit dem ganzen Körper

und Geist Farben sehen und Töne hören, ist dies nicht wie die Reflektion in

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einem Spiegel oder der Mond im Wasser. Wenn eine Seite erhellt ist, ist die

andere dunkel.

Die Wirklichkeit des Lebens, in welcher wir mit unserem Körper und Geist

Farben sehen und Töne hören, geschieht vor der Trennung in ein aktives Sub-

jekt und ein passives Objekt. Obwohl ich oft das Wort Wirklichkeit benutze,

ist es nicht „wirklich sein“ im gewöhnlichen Sinn. Normalerweise bedeutet

Wirklichkeit oder wirkliche Dinge für uns etwas ausserhalb von uns selbst

nach der Trennung in Subjekt und Objekt; etwas was wahr ist, nicht falsch,

nicht geschwindelt oder vorgetäuscht. Die Wirklichkeit über die ich rede ist

die Wirklichkeit des Lebens vor jeglicher Trennung in jemanden der sieht und

etwas, was gesehen wird. Daher ist eine solche Wirklichkeit des Lebens: „Ob-

wohl wir sie aufs Innigste wahrnehmen...nicht wie die Reflektion in einem

Spiegel oder der Mond im Wasser.“ In der ursprünglichen Wirklichkeit des Le-

bens, bevor etwas verarbeitet wird, kann das Auge nicht das Auge selber se-

hen und die Hand sich nicht selber fassen. Die Wirklichkeit des Lebens

bedeutet einfach die Wirklichkeit des Lebens zu tun. Wir können kein Be-

obachter oder Zuschauer sein. Wenn Buddhas wirklich Buddha sind, handeln

Buddhas schlich als Buddha. Um diesen Paragraph abzuschließen, sagt Dogen

Zenji: „Wenn eine Seite erleuchtet ist, ist die andere dunkel.“

Allem, was wir begegnen ist unser „Selbst“.

6

Den Buddha-Weg ergründen, heißt sich selbst ergründen. Sich selbst er-

gründen, heißt sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen, heißt von allen Er-

scheinungen bestätigt zu werden. Von allen Erscheinungen bestätigt zu

werden, heißt den Körper und Geist von sich und den Körper und Geist von an-

deren fallenzulassen. Es gibt eine Spur der Verwirklichung, die nicht gefasst

werden kann. Endlos drücken wir diese unfassbare Spur der Verwirklichung

aus.

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Hier spricht Dogen Zenji über den Buddha-Weg. Im Genjokoan dienen die

ersten sechs Paragraphen der Übersicht und ab dem siebten wechselt er vom

Generellen zum Spezifischen. Der sechste Abschnitt ist eine Zusammenfas-

sung der vorherigen. „Buddha-Weg“ bedeutet hier was ich im dritten Ab-

schnitt meines Kommentars schon erwähnt habe: „Das Buddha-Dharma nur

um des Buddha-Dharma willen zu üben, ist der Weg.“ Da wir alle ohne Aus-

nahme die Wirklichkeit des Lebens leben, bringen wir den Lebensantrieb als

die Wirklichkeit hervor, egal ob wir so darüber denken oder nicht und ob wir

es glauben oder nicht. Das ist der Buddha-Weg.

Den Buddha-Weg ergründen, heißt sich selbst ergründen

Das Selbst, über das Dogen Zenji hier redet, ist nicht das Ego im Sinne von

Egoismus. Es ist das Selbst als jinissai-jiko (Alles-durchdringendes Selbst), wel-

ches die Wirklichkeit des Lebens vor der Trennung in Dualität wie Selbst/An-

dere oder Subjekt/Objekt ist.

Zuvor sagte Dogen Zenji: „Sich den Erscheinungen zuzuwenden um

Übung-Erleuchtung zu realisieren, ist Täuschung.“ Obwohl das Selbst ur-

sprünglich das alles-durchdringende Selbst lebt, produziert mein Gehirn alles

Mögliche an nicht-durchdringenden Gedanken. Es steigen Gedanken auf wie:

„ Ich will Geld!“, „Ich will Sex!“, „Ich will eine bessere Position!“ und so wei-

ter. Wenn wir von solcherlei Gedanken, die unser Hirn ausscheidet, hingeris-

sen sind, ist das sicherlich Täuschung. Doch obwohl solche Gedanken

Täuschung sind, ist die Tatsache, daß sie aufsteigen nichts anderes, als die

Funktion der Wirklichkeit des Lebens, welche Himmel und Erde verbindet.

„Den Buddha-Weg ergründen, heißt sich selbst ergründen“ bedeutet, daß wir

das Selbst ergründen sollten, welches Himmel und Erde umfasst.

Konkret bedeutet dies, daß wir alles als ein Inhalt unseres „Selbst“ akzep-

tieren sollten. Wir sollen allem als ein Teil von uns begegnen. „Das Selbst er-

gründen“ heißt zu solch einem Selbst zu erwachen. Es besuchen mich zum

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Beispiel viele Menschen oder sie schreiben mir Briefe. Viele von ihnen schrei-

ben oder reden über ihre Probleme oder Sorgen und bitten mich um Rat. Ich

habe damit nie ein Problem. Sobald ich über solche Probleme befragt werde,

werden sie meine eigenen. Auf eine solche Art begegne ich Menschen und

Problemen. Solange ich eine solche Haltung habe, sind dies meine Probleme

und sie bereichern mein Leben. Wenn ich die Probleme anderer zurückweise

und sage: „Das geht mich nichts an“, wird mein Leben immer armseliger. Da-

her ist es im Buddha-Weg absolut unerlässlich, allem ausnahmslos als Teil

meines Lebens zu begegnen. Das ist es, was Dogen Zenji mit der Aussage:

„Den Buddha-Weg ergründen heißt sich selbst ergründen“ meint.

Sich selbst ergründen, heißt sich selbst vergessen.

Ein Beispiel, wie man sich selbst vergisst, ist die Haltung einer Mutter ge-

genüber ihrem Kind. Eine Mutter vergisst sich selbst für das Wohl ihres Kin-

des, ist es nicht so? Junge Frauen schauen schön aus. Sie sind eigentlich

anmutig und schön. Doch sobald sie Babys werden sie stark und selbst dann

nicht verzagt, wenn man sie mit einem Hammer auf den Kopf schlägt. Väter

sind mit ihren Kindern nicht so innig wie Mütter. Ich glaube, daß Mütter sich

selbst vergessen, um ihre Kinder zu beschützen und schliessen das Kind in das

ein, was sie als ihr „Selbst“ bezeichnen. Das ist kein Gedanke, das ist Lebense-

nergie. Wenn Mütter sich zum Wohle ihrer Kinder selbst vergessen, kann ihre

Haltung auch eine Ausdehnung ihres Ich ausdrücken. Wenn wir uns aber im

Sinne des Buddha-Weges selbst vergessen, dann vergessen wir uns deshalb,

weil alles Inhalt des „Selbst“ ist, und was auch immer uns begegnet, ist ein

Teil von uns. Dies ist keine Ausdehnung von Selbstsucht. An einem alles-

durchdringenden Selbst zu arbeiten ist kein Gedanke. Daher ist es im Bud-

dhismus ein Fehler zu sagen, daß wir eine Ahnung von einem alles-durchdrin-

genden Selbst (jinissai-jiko) haben. Es kann nicht der Buddha-Weg sein,

solange wir das Wort „alles-durchringendes Selbst“ als Gedanke betrachten.

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Ohne darüber nachzudenken, daß sie Mütter sind, vergessen Mütter sich

selbst als Mütter. Es ist kein Gedanke mehr, vielmehr sind sie Mütter in der

Wirklichkeit. Shakyamuni Buddha sagt dasselbe im Kapitel „Eine Parabel“ des

Lotussutra: „Nun ist diese Dreifache Welt meine Wohnstätte. Alle lebenden

Wesen innerhalb dieser Welt sind meine Kinder.“ Dabei redet der Buddha

nicht über seine „Gedanken“. Es ist vielmehr ein Erwachen zum Selbst als die

Wirklichkeit des Lebens, welches eine gegenseitige Durchdringung aller We-

sen bedeutet.

Ich möchte nochmals das Beispiel des Autofahrens benutzen. Fahren wird

nicht durch Denken gemacht. Es ist komisch und gefährlich, wenn wir fahren

und darüber nachdenken, was wir als nächstes tun sollten. Wenn wir fahren

wir die Landschaft, die sich ständig ändert zu einem Inhalt von uns. Wir ver-

gessen uns und benutzen mit unseren Händen und Füssen verschiedene Ge-

rätschaften als Antwort auf die sich ändernde Landschaft. Unser

Lebensantrieb ist ebenso. Das bedeutet: „das Selbst zu vergessen, um von al-

len Erscheinungen bestätigt zu werden.“ Wie beim Autofahren agieren wir als

eins mit der Landschaft, die sich immer ändert.

Daher ist es ein Fehler, das Selbst und alle Wesen als zwei voneinander ge-

trennte Einheiten zu betrachten. Es ist nicht korrekt im modernen Japanisch

banpo als mono (Ding) oder sonzai (Existenz) zu übersetzen. Im Buddha-

Dharma sind das Selbst und die Erscheinungen (banpo) nicht Zwei. Sonst

könnten wir Buddha-Dharma nicht sehen. Das Selbst lebt durch die Erfahrung

aller Wesen. Alle Wesen existieren als Leben, als Erfahrungen des Selbst. Ge-

nau deshalb sind beide, das Selbst und alle Wesen, die lebendige Wirklichkeit

des Lebens. Dogen Zenji drückt es so aus: „Der Ein-Geist ist alle Wesen. Alle

Wesen sind der Ein-Geist“ (Shobogenzo Sokushin-Zebutsu; Der Geist selbst ist

Buddha).

Alle Wesen sind der Geist des Selbst und der Geist des Selbst ist alle We-

sen. Die Wirklichkeit des Lebens besteht darin, daß der Geist des Selbst und

alle Wesen nicht Zwei sind. Im Gegensatz dazu sind im westlichen Denken

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Subjekt und Objekt von Anfang an getrennt. Wenn Subjekt und Objekt mitei-

nander interagieren, entsteht Bewusstsein. Wenn wir so denken, verlieren

Alle Wesen ihr Leben und auch unsere Art zu Denken wird leblos. Selbst

wenn wir dann versuchen Subjekt und Objekt wieder zusammen zu bekom-

men, ist es nicht möglich, wieder Leben in sie zu bringen.

Nehmen wir zum Beispiel den menschlichen Körper. In der westlichen

Anatomie zergliedern wir den Körper in verschiedene Teile wir Hände, Beine,

Rumpf und Kopf und studieren dann jeden einzelnen Part. Wenn wir all das

Wissen zusammensetzen, kann es kein menschlicher Körper herstellen. Viele

junge Doktoren denken heutzutage, daß es genug ist, technisches Wissen in

verschiedenen Spezialgebieten anzusammeln. Das ist gefährlich.

Obwohl ich oft Ärzte kritisieren, lesen viele von ihnen meine Bücher. Das

ist eigentlich komisch. Ich denke es kommt daher, daß viele Ärzte versuchen

die Wirklichkeit des Lebens zu erkennen. Doktoren sind Wissenschaftler und

doch gibt es viele unter ihnen, die unvermutet auf das Leben treffen, wenn

sie wirkliche menschliche Körper behandeln. Für diese unter ihnen macht

das, was ich sage, Sinn. Der kürzlich verstorbene Doktor Ifuku sagte oft: „Me-

dizinische Wissenschaft ist für das Überleben nicht genug. Es sollte eine Wis-

senschaft des Lebens sein.“ Natürlich ist das Wissen durch Sektion und von

spezialisierten Studien wichtig, doch ist es in der Wissenschaft des Lebens

nicht genug, Wissen aufgrund von Trennung und Analyse anzuhäufen. Ich

wünsche mir, daß Ärzte das Leben selbst als eine Wissenschaft des Lebens er-

kennen würden, statt daß sie nur Fakten von Spezialgebieten sammeln.

Das ist dasselbe wie mit dem Fahren. Ich möchte nicht in einem Auto mit-

fahren, daß von einer Person gesteuert wird, die sich von der sich ändernden

Landschaft abtrennt und das Auto lediglich mit dem denkenden Geist lenkt.

Das ist sehr gefährlich. Ein solcher Mensch kann ein Auto nicht mit Lebendig-

keit fahren. Wenn wir über Buddha-Dharma und den Buddha-Weg reden, re-

den wir über das gegenseitige Durchdringen des Lebens wie es eigentlich ist.

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Von allen Erscheinungen bestätigt zu werden, heißt den Körper und

Geist von sich und den Körper und Geist von anderen fallenzulassen.

Im Falle des Fahrens können wir kein Auto mit Lebendigkeit fahren, so-

lange wir denken, „Ich“ fahre ein Auto. Nur wenn wir selbst und andere fallen

lassen, uns davon lösen, können wir ein Auto frei steuern. Es gibt einen alten

Spruch, der besagt: „Es gibt keine Person im Sattel und kein Pferd unter dem

Sattel.“ Das können wir auf das Auto folgendermaßen anwenden: „Es gibt

keinen Fahrer auf dem Fahrersitz und kein Auto unter dem Fahrersitz.“ Mit

unserem Fahren in der Wirklichkeit des Lebens im Buddha-Weg ist es das-

selbe.

Es gibt eine Spur der Verwirklichung, die nicht gefasst werden kann.

Endlos drücken wir diese unfassbare Spur der Verwirklichung aus.

Wir können nicht sagen, daß es keine Erleuchtung gibt, aber wir können

auch nicht sagen: „Ich habe Erleuchtung erlangt.“ Die Spur der Verwirkli-

chung kann nichtgefasst werden. Wir müssen uns von der Spur der Erleuch-

tung befreien. Der Buddha-Weg bedeutet eigentlich, unser Leben so zu

leben, daß es die Verwirklichung ausdrückt, deren Spur unfassbar ist.

Das ist das Ende der Übersicht über den Genjokoan. Die folgenden Ab-

schnitte befassen sich detailliert mit bestimmten Punkten des Buddha-We-

ges.

Nur bei Grün den Weg der Erleuchtung zu suchen, kann nicht das Buddha-

Dharma sein.

7

Wenn ein Mensch beginnt das Dharma zu suchen, verirrt er sich jenseits

der Grenzen des Dharmas. Wenn das Dharma dem Selbst korrekt übermittelt

wurde, ist der Mensch sofort ein ursprünglicher Mensch. Wenn ein Mensch in

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einem Boot fährt und das Ufer betrachtet, nimmt er fälschlicher Weise wahr,

dass sich das Ufer bewegt. Wenn er das Boot betrachtet, merkt er, dass es

das Boot ist, welches sich bewegt. Ebenso denken wir fälschlicher Weise, dass

die Eigennatur des Geistes ewig ist, wenn wir den Körper und Geist in einer

verwirrten Weise wahrnehmen und alles mit einem unterscheidenden Geist

erfassen. Wenn wir aufs Innigste üben und immer wieder an diesen Ort zu-

rückkehren, ist es klar, dass die Erscheinungen kein [festes] Selbst besitzen.

Wenn wir das Buddha-Dharma suchen, ist dies nicht die Übung des Bud-

dha-Dharma, ausser wir leben schon im Buddha-Dharma. Wenn ich zum Bei-

spiel kein Geld habe, aber einer wohltätigen Arbeit nachgehen will, ist es

nicht wohltätig, wenn ich dafür eine alte Frau betrüge, die Geld hat. Meine

Intention wohltätig zu handeln berechtigt mich nicht, einer alten Frau ihr

Geld zu stehlen.

So ist es auch, wenn ich das Buddha-Dharma suche, weil ich dadurch ein

großartiger Mensch werden will, daß ich Erleuchtung erlange. Dann ist meine

Übung durch Gier motiviert. Den Weg auf diese Art zu suchen ist nicht im Ein-

klang mit dem Buddha-Dharma. Wenn wir beginnen den Buddha-Weg zu

üben, starten wir in vielen Fällen mit einem gierigen Geist. Daher verirren wir

uns weit jenseits der Grenzen des Dharma.

In der Zeit meiner Ordination als Zen-Priester und als ich das Leben des

Zazen begann, lies ich mich vollständig durch das Leben und die Übung des

Zazen erweichen. Ich hatte die einfache Entschlossenheit, daß Zazen unter

der Führung von Sawaki Roshi zu üben genug sein würde. Doch egal wie sehr

wir Zazen üben, wir ändern uns nicht sehr stark. Das wurde mir nach zwei o-

der drei Jahren klar. Ich wurde unsicher, ob diese Übung genug wäre und be-

gann zu denken, daß ich die sogenannte perfekte Erleuchtung erlangen sollte.

Doch sobald ich mich daran machte, Erleuchtung ausserhalb meiner selbst als

Ziel erreichen zu wollen, suchte ich nach dem Weg mit Gier. Während ich so

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nach dem Weg suchte, rannte ich im Kreis rum. Konsequenter Weise litt ich

für viele Jahre.

Die Übung des Buddha-Weges ist ganz und gar nicht einfach. Es bezieht

sich auf die Gesamtheit unseres Lebens, wie die Probleme und die Agonie un-

serer Jugend, dem mittleren Alter und den letzten Tagen, wenn wir dem Tod

ins Gesicht blicken. Wir können niemals sagen, daß wir jemals vollständig frei

sein werden von Problemen. Sobald wir denken, daß wir okay sind, wird uns

früher oder später etwas aus der Bahn werfen. Dies kommt daher, daß wir

uns schon weit jenseits der Grenzen des Dharma verirrt haben.

Wenn das Dharma dem Selbst korrekt übermittelt wurde, ist der

Mensch sofort ein ursprünglicher Mensch.

Hier ist das Wichtigste das Buddha-Dharma. Ich habe immer das Buddha-

Dharma im Fokus und dessen Kriterium ist: „Das Buddha-Dharma sollte

dadurch geübt werden, das man die Ansicht von Selbst und Anderen aufgibt.“

(Shobogenzo Bendowa).

Buddha-Dharma ist vor der Trennung in Selbst und Andere, Subjekt und

Objekt, vom Selbst, welches sieht und dem Objekt, welches gesehen wird, o-

der dem Selbst und der Welt. Dies ist mit solchen Ausdrücken gemeint wie:

„Geist und Dharma sind eine Wirklichkeit“ oder: „Ein Geist ist alle Dharmas,

alle Dharmas sind ein Geist.“ Das selbst erfährt alle Dharmas und alle Dhar-

mas existieren dadurch, daß sie durch den Geist erfahren werden.

Im Shobogenzo Shoji (Leben-und-Tod), sagt Dogen Zenji: „Leben-und-Tod

ist das ‚Leben des Buddha‘ (hotoke no on-inochi). Am Ende ist Leben vor der

Trennung des Lebens in Leben und Tod und gleichzeitig beinhaltet es Leben

und Tod. Mein Ausdruck: „Die Wirklichkeit des Lebens“, bezieht sich auf die-

ses: „Leben des Buddha“. Ausnahmslos lebt alles und jeder von uns das Le-

ben genau hier und genau jetzt.

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Wir atmen immer. Ich weiß nicht, wie oft wir zwischen Geburt und Tod at-

men. Ich hatte für mehr als fünfzig Jahre Schwindsucht. Auf meinem Rönt-

genbild sehen die Teile schwarz aus, die ein Emphysem haben und jene, die

Tuberkulose haben, sind weiße Flecken. Meine rechte Lunge ist ein ziemli-

ches Gemisch von schwarz und weiß. Das ist echt ein Ding. Ich bin nicht stolz

darauf, aber ich komm nicht umhin zu bewundern, daß ich seit meiner Ge-

burt atme. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie oft ich in einer Minute atme,

aber ich atme seit mehr als siebzig Jahren! Sogar wenn ich schlafe, atme ich!

Das kann definitiv nicht von diesem „Ich“ geleistet werden. Trotzdem atme

„Ich“. Die Kraft, die mich atmen lässt, ist dieses „Leben des Buddha“.

Im Christentum wir dieses „Leben des Buddha“ die Kraft Gottes genannt.

Wenn wir den Ausdruck des Kanmuryojuko (Die Meditation über den Buddha

des ewigen Lebens Sutra, eines der drei wichtigsten Sutras im Reinen Land

Buddhismus), sind wir im Licht von Amitaba Tathagata, der alle lebenden We-

sen ohne Ausnahme umarmt. Wenn du diesen Vortrag liest, magst du den-

ken: „Das glaube ich“ oder „Das glaube ich nicht“. Wir wissen, daß alle diese

Gedanken in unserem Gehirn aufsteigen eigentlich das „Leben des Buddhas“

ist, das Himmel und Erde durchdringt. Sie steigen nicht auf, weil „Ich“ will,

daß sie aufsteigen. Irgendwie erscheinen sie von diesem „Leben des Bud-

dha“, welches die Wirklichkeit des Lebens ist (Ein Geist ist alle Dharmas, alle

Dharmas sind ein Geist).

Ausnahmslos leben wir alle komplett durchdringendes Leben. Trotzdem

ist der Inhalt unserer Gedanken überhaupt nicht universell, sondern sehr in-

dividuell und egozentrisch. Ist das nicht interessant? Wir denken oft: „wie

kann ich einen guten Deal machen, ohne daß es jemand merkt? Das univer-

selle, allesdurchdringende Leben bringt sehr nicht-universelle, nicht-durch-

dringende Gedanken hervor.

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Selbst jetzt, wenn ich das Buddha-Dharma suche, suche „Ich“ das Buddha-

Dharma, „Ich“ möchte Erleuchtung erlangen und „Ich“ möchte ein großarti-

ger Mensch werden. So sind wir weit jenseits der Grenzen des Buddha-

Dharma.

Wir sind von Anfang an im Buddha-Dharma eingetaucht und können das

Dharma nicht außerhalb unserer selbst suchen. Wir leben augenblicklich das

„Leben des Buddha“. Wenn diese Wirklichkeit dem Selbst korrekt übermittelt

wurde, ist dieser Mensch sofort ein ursprünglicher Mensch.

Im Zeitalter der Wissenschaften, meinen wir, wir würden alle Dinge objek-

tiv betrachten, und doch bleibt das Problem mit dem Selbst, welches ein Sub-

jekt ist, das nicht aufhört zu sein.

Wenn ein Mensch in einem Boot fährt und das Ufer betrachtet, nimmt

er fälschlicher Weise wahr, dass sich das Ufer bewegt. Wenn er das Boot

betrachtet, merkt er, dass es das Boot ist, welches sich bewegt. Ebenso

denken wir fälschlicher Weise, dass die Eigennatur des Geistes ewig ist,

wenn wir den Körper und Geist in einer verwirrten Weise wahrnehmen und

alles mit einem unterscheidenden Geist erfassen. Wenn wir aufs Innigste

üben und immer wieder an diesen Ort zurückkehren, ist es klar, dass die Er-

scheinungen kein [festes] Selbst besitzen.

Wenn wir auf einem Boot sind, erscheint es vom Standpunkt des Men-

schen so, als ob sich das Ufer bewegt. Doch wenn wir zum wahren Selbst zu-

rückkehren, erkennen wir, daß das Boot sich bewegt. Es ist ein Fehler uns

selbst als den Maßstab zu benutzen. Heutzutage werden die Boote immer

grösser. Es ist ein Luxusschiff, welches sich das Zeitalter der Wissenschaft

nennt. Wir können nicht erkennen, daß wir uns bewegen. Das ist eine Halluzi-

nation.

Im Luxusschiff genannt Wissenschaft der Technik glauben wir, daß wir die

Dinge objektiv erkennen und behandeln. Obwohl objektive Beobachtung

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wichtig ist, können wir das Subjektive nicht verleugnen. Wir sind menschliche

Wesen, die hier leben. Wenn wir uns selbst nicht miteinbeziehen, erkennen

wir die Dinge lediglich auf einer objektiven Ebene und beginnen dann zu den-

ken, wir seien objektive Wesen. Wir werden zu der Illusion gelangen, daß wir

–wie Gott- ewige und perfekte Wesen sind, die die Dinge komplett objektiv

beobachten. Ich glaube, daß es heutzutage einige Wissenschaftler gibt, die so

denken.

Wenn zum Beispiel ein Astronom über die Weite von mehreren Millionen

Lichtjahren oder die Bedingungen des Universums vor ein paar hundert Jah-

ren redet, spricht er über eine solch lange Zeitperiode, daß er vielleicht ver-

gisst, daß er nur achtzig oder neunzig Jahre lebt. Wenn er jetzt schon vierzig

oder fünfzig Jahre alt ist, kann er nur noch dreißig oder vierzig Jahre leben.

Ich vermute, ein solcher Astronom glaubt, er lebt für immer.

Es scheint auch so, als ob Ärzte sich in einer höheren Position als ihre Pati-

enten wähnen. Sie gewöhnen sich daran, mit den Krankheiten ihrer Patienten

objektiv umzugehen. Ich kenne einen Arzt, der aufgrund seiner Symptome

annahm, daß er Krebs hat. Als der Krebs letztlich von einem anderen Arzt be-

stätigt wurde, wusste er nicht, was er tun soll. Er behandelte den Krebs ande-

rer Menschen objektiv, aber mit seinem eigenen konnte er nicht objektiv

umgehen. Er war verängstigt und aufgebracht. Er sagte: „Ich hatte nie erwar-

tet, daß ich Krebs bekommen könnte.“

Ein anderes Beispiel sind Lehrer. Natürlich sind nicht alle Lehrer gleich.

Doch im Zeitalter der technischen Wissenschaften gibt es Lehrer, die sorglos

denken, sie könnten mit ihren Schülern objektiv, so wie Wissenschaftler mit

ihren Daten umgehen. Sie behandeln sie nicht wie menschliche Wesen, die

mit ihrem Lehrer verbunden sind und es brauchen, durch ihn genährt zu wer-

den. Ich finde, Lehrer sollten ihre Schüler nicht kaltherzig behandeln und in

Gruppen einteilen, die lediglich aufgrund ihrer Noten basieren. Das Resultat

davon ist, daß viele Schüler zurückbleiben und ihre Schule nicht abschließen

können.

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Ich habe davon gehört, daß in einer bestimmten Präfektur die höchste

Rate an Jugendlichen Verbrechen von solchen begangen wird, deren Eltern

Schullehrer sind. Wenn das wahr ist, benutzen Lehrer heutzutage Techniken

des Klassenzimmers, um mit ihren Kindern umzugehen. Viele Grundschul-

und Mittelschullehrer heiraten sich gegenseitig und arbeiten beide. Viele ih-

rer Kinder fühlen sich einsam, weil sie nach der Schule alleine zu Hause sind.

Die Einsamkeit wird dadurch behandelt, daß die Kinder viel Taschengeld be-

kommen. Unglücklicherweise überprüfen die Kinder ihre Wünsche nicht und

benehmen sich schlecht. Daher verhaftet die Polizei viele Kinder von Lehrern.

Diese Beispiele geschehen als Ergebnis: „...wenn wir den Körper und Geist

in einer verwirrten Weise wahrnehmen und alles mit einem unterscheiden-

den Geist erfassen, [dann] denken wir fälschlicher Weise, dass die Eigennatur

des Geistes ewig ist.“ Wir glauben, die Natur unseres Geistes ist ewig und be-

handeln die Dinge, als ob sie außerhalb von uns wären. Wenn wir aufs In-

nigste üben und zum Hier zurückkehren, ist es klar, daß die Erscheinungen

kein festes Selbst besitzen. Wenn wir zur Wirklichkeit unseres Lebens zurück-

kehren, wird klar, daß Dinge nicht als abgetrennte Einheiten außerhalb von

uns existieren.

Im zweiten Abschnitt sagt Dogen, wenn: „alle Erscheinungen ohne festes

Selbst sind, gibt es keine..., keine..., keine...“ Im Gegensatz zu unserem ge-

wöhnlichen Denken, existieren die Erscheinungen außerhalb von uns nicht in

einer fixierten Weise. Das kommt daher, daß der Geist, welcher annimmt,

daß die Erscheinungen außerhalb von uns sind, der Geist ist, der sich bewegt

und ändert.

8

Brennholz wird zu Asche. Asche kann nicht wieder Brennholz werden.

Trotzdem sollten wir die Asche nicht als Nachher und das Brennholz nicht als

Vorher betrachten. Wir sollten wissen, dass Brennholz im Dharma-Zustand

des Brennholzes verweilt, mit seinem eigenen Vorher und Nachher. Obwohl es

Vorher und Nachher gibt, sind Vergangenheit und Zukunft abgetrennt. Asche

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bleibt im Zustand der Asche, mit ihrem eigenen Vorher und Nachher. So wie

Brennholz nie wieder Brennholz wird, nachdem es zu Asche verbrannt ist, so

gibt es keine Rückkehr zum Leben, nachdem ein Mensch stirbt. Wie dem auch

sei, es ist eine ungebrochene Tradition im Buddha-Dharma nicht zu sagen,

dass das Leben zum Tod wird. Daher wird es Nicht-Erscheinen genannt. In

Buddhas Drehen des Dharma-Rades ist es begründet, nicht zu sagen, dass der

Tod zum Leben wird. Daher nennen wir ihn Nicht-Dahinscheiden. Leben ist ein

Zustand in der Zeit und Tod ist ein Zustand in der Zeit. Es ist wie mit Winter

und Frühling. Wir denken nicht, dass der Winter zum Frühling, und wir sagen

nicht, dass der Frühling zum Sommer wird.

Oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als ob die jeweiligen Paragraphen

nichts miteinander zu tun hätten. Jeder einzelne Abschnitt scheint ohne logi-

schen Zusammenhang in diese oder jene Richtung zu gehen. Das scheint so

ähnlich wie mit typischen Zen-Dialogen. Daher denken viele Zen-Meister, daß

es nicht angebracht ist, Zen-Texte als Ganzes zu lesen und dem roten Faden

zu folgen, der durch die Abschnitte geht. Weder die Kommentare vor der

Meiji Ära (1868-1912) noch jene die seither verlegt wurden bemühen sich zu

begreifen, was Dogen Zenji als Ganzes ausdrückt. Sie interpretieren nur

Worte und Sätze und geben unzusammenhängende Kommentare zu jeweili-

gen Abschnitten. Darüber hinaus untersuchen sie die Bedeutung wichtiger

Worte wie Buddha-Dharma und Buddha-Weg nicht. Natürlicherweise sind die

Leser verwirrt, wenn sie solche Kommentare lesen. Doch für die Leute, die

die Kommentare schrieben, ist es eine authentische Art, Zen Texte zu verste-

hen.

Dieser Haltung stimme ich nicht zu. Da Dogen Zenji diese Arbeit schrieb

und sie mit Genjokoan betitelte, glaube ich, daß er über Genjokoan als Gan-

zes schrieb, nicht nur als eine Sammlung kurzer Paragraphen wie Aphorismen

über verstreute, verschiedene Themen. Daher versuche ich dem verbinden-

den Faden zu folgen und die Bedeutung von Genjokoan als Ganzes zu verste-

hen. Doch obwohl ich den Genjokoan mit solch einer Intention lese, scheint

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der Abschnitt, der mit: „Brennholz wird zu Asche. Asche kann nicht wieder zu

Brennholz werden“ beginnt, in einer abrupten Art eingefügt. Warum bringt

Dogen Zenji Analogie von Brennholz und Asche? Es ist geschrieben wie ein

Gewehrschuss ohne Vorwarnung mitten in der Nacht. Doch da Dogen Zenji es

in dieser Reihenfolge geschrieben hat, versuche ich die Bedeutung dieser

Analogie zu fassen. Wenn wir zwischen den Zeilen lesen, können wir den tie-

fen Sinn dessen verstehen, was Dogen Zenji mit diesem Abschnitt versucht

aufzuzeigen.

Viele Jahre habe ich versucht, seinen Standpunkt zu verstehen. Nachdem

ich den Genjokoan wiederholt gelesen habe, verstehe ich ihn folgenderma-

ßen: Im siebten Abschnitt sagt Dogen Zenji: „Wenn ein Mensch beginnt das

Dharma zu suchen, verirrt er sich jenseits der Grenzen des Dharmas. Wenn

das Dharma dem Selbst korrekt übermittelt wurde, ist der Mensch sofort ein

ursprünglicher Mensch.“

Was er damit sagen will, ist daß das Buddha-Dharma nicht etwas ist, was

wir erreichen können und doch ist der Mensch sofort ein ursprünglicher

Mensch, wenn das Dharma dem Selbst übertragen wurde.

Am Anfang des neunten Abschnitts sagt Dogen Zenji: „Wenn ein Mensch

Verwirklichung erlangt, ist es wie die Spiegelung des Mondes im Wasser.“ Im

neunten Abschnitt hat der Mensch also schon Erleuchtung erlangt. Wenn das

so ist, sollte der achte Abschnitt davon handeln, Erleuchtung zu erlangen. Mit

dieser Erwartung beginnen wir mit klopfendem Herzen den Abschnitt zu le-

sen. Endlich können wir aufhören, mit Einleitungen unsere Zeit zu verschwen-

den und kommen zum Herz des Textes.

Brennholz wird zu Asche. Asche kann nicht wieder Brennholz wer-

den. Trotzdem sollten wir die Asche nicht als Nachher und das Brenn-

holz nicht als Vorher betrachten.

Brennholz wird zu Asche. Auf den ersten Blick ist das eine Selbstver-

ständlichkeit. Dennoch hat unser rationaler Geist von allem ein Konzept,

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„Brennholz“ als Brennholz und "Asche" als Asche. Gleichzeitig verlinken

wir diese beiden Konzepte und denken an Transformation, wie „Brenn-

holz“ „wird“ „Asche“. Die Fähigkeit, zwei oder mehr Ansichten miteinan-

der zu verbinden, nennt sich Auffassungsgabe. Weiter verlinkt die

Auffassungsgabe kausale Beziehungen, wie zum Beispiel: „Da ich Feuer ge-

macht habe, brennt das Holz und Brennholz wird zu Asche.“ Unser

menschlicher Geist denkt über zwei oder mehr Dinge in Beziehung zuei-

nander.

Wir sollten wissen, dass Brennholz im Dharma-Zustand des Brenn-

holzes verweilt, mit seinem eigenen Vorher und Nachher. Obwohl es

Vorher und Nachher gibt, sind Vergangenheit und Zukunft abgetrennt.

Asche bleibt im Zustand der Asche, mit ihrem eigenen Vorher und Nach-

her.

Dogen Zenji redet hier über das Brennholz, das zu Asche wird. Wenn

wir die Begriffe durch Täuschung und Erleuchtung ersetzen, geht es da-

rum, wie Täuschung zur Erleuchtung wird. Wir wollen wissen, wie man aus

der Täuschung Erleuchtung macht. Aber hier sagt Dogen Zenji, daß es eine

solche Transformation nicht gibt.

Was bedeutet das? An diesem Punkt müssen wir unsere Aufmerksam-

keit auf „Dharma-Zustand (hoi)“ richten, wie in: „Brennholz verweilt im

Dharma-Zustand des Brennholzes“ und: „Asche verweilt im Dharma-Zu-

stand der Asche.“ „Dharma-Zustand“ bedeutet der [Buddha-]Weg wie

Dharmas vor ihrer Trennung in Subjekt und Objekt oder Selbst und Andere

unabhängig sind, das ist die Art und Weise, wie die Dinge sind. Diese Wirk-

lichkeit des Lebens ist jenseits von Subjekt/Objekt, Selbst/Anderen. Brenn-

holz ist nicht eine Vorstufe von Asche, noch ist Asche ein Kontinuum von

Brennholz. Brennholz ist einfach Brennholz und Asche ist einfach Asche.

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Trotzdem können wir nicht verleugnen, daß es ein Vorher und Nachher

gibt. Bevor Brennholz zu Brennholz wird, wird ein Baumgefällt und zu

Brennholz verarbeitet. Wenn wir es später in einen Kamin stecken, wird es

zu Asche. Das ist danach. Doch wenn wir Vorher und Nachher, Vergangen-

heit und Zukunft miteinbeziehen, ist Brennholz im Dharma-Zustand des

Brennholzes im gegenwärtigen Augenblick einfach Brennholz. „Obwohl es

Vorher und Nachher gibt, sind Vergangenheit und Zukunft abgetrennt.“ Im

Dharma-Zustand des Brennholzes steht Brennholz nicht in Beziehung zur

Asche. Es ist Brennholz als die Wirklichkeit des Lebens vor Asche. In die-

sem Sinne ist Brennholz nur Brennholz.

Asche hat ein „Vorher“, welches dadurch entstand, daß Holz brannte

und ein „Nachher“, das wieder zur Erde wird. Solche Verbindungen wie

„Vorher“ und „Nachher einbeziehend, ist Brennholz „nur“ Brennholz. Im

Dharma-Zustand der Asche, steht Asche nicht in Beziehung zu Brennholz.

Es ist die Wirklichkeit des Lebens vor der Beziehung zu Brennholz. Daher

ist es ebenso wahr, daß Asche zwar ein „Vorher“ und „Nachher“ besitzt,

aber als eigenes Wesen von Vorher und Nachher abgetrennt ist. Wir kön-

nen nicht sagen, daß Brennholz zu Asche wird.

Wenn wir mit dem menschlichen, rationalen Geist sagen, daß Brenn-

holz zu Asche wird, stellen wir uns beide vor und beziehen „Vorher“+ und

„Nachher“ zueinander, um eine kausale Kette herzustellen. Das kommt

daher, daß wir Holz anbrennen und es zu Asche wird. Die Wirklichkeit des

Lebens, in der Brennholz nur Brennholz ist und Asche nur Asche, ist vor

den Gedanken, die in unserem Gehirn erscheinen.

Ich habe noch nie Zyankali gesehen, also weiss ich nicht, was es für

eine Farbe hat. Aber stellt euch vor, In diesem Wasserglas wäre Zyankali.

Wenn ihr dieses Glas mit Zyankali vor mich stellt, denke ich darüber nach,

Suizid zu begehen, wenn ich es trinke. Ich denke über das „Vorher“ nach,

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in dem ich einen solch blöden Fehler gemacht habe, daß ich das nun trin-

ken muss. Und ich denke an das „Nachher“, daß wenn ich das in einem

Zug trinke, bin ich nachher tot.

Die Wirklichkeit des Lebens ist in diesem Fall so, daß der blöde Fehler

abgetrennt und als blöder Fehler abgeschlossen ist. Zyankali ist Zyankali.

Das ist alles. Sterben ist Sterben. Alles ist voneinander abgetrennt. Das

Problem ist nur, daß Zyankali eine chemische Substanz mit einer starken

Wirkung ist, welche Menschen umbringt, die es trinken. Wir aber denken,

daß wir Zyankali trinken müssen, weil wir einen Fehler begangen haben

und nachdem ich es getrunken habe, bin ich tot. Mit solch einer kausalen

Abfolge stecken wir uns selbst in eine Zwangsjacke. Das kommt daher,

daß wir alles in einen zeitlichen Ablauf pressen und uns auf Grund unseres

Denkens in diesen hinein werfen.

Doch in der Wirklichkeit des Lebens sind „Vorher“ und „Nachher“ ab-

getrennt. Ein solcher Fehler ist ein solcher Fehler. Zyankali ist Zyankali.

Das ist alles. Jedes Einzelne ist abgetrennt. Daher ist es eigentlich so, daß

in jedem Augenblick ein Neustart möglich ist.

Während ich mit Sawaki Roshi übte, machte ich oft vor ihm dumme

Fehler. Sawaki Roshi übersah nicht den kleinsten Fehler und schrie mich

oft mit lauter Stimme an. Da ich keine Wahl hatte, höre ich nur still zu.

Während ich schweigend zuhörte, bis Sawaki Roshi nichts mehr zu sagen

hatte, wurde auch er still. Dann dachte ich: „Das war’s.“ „Das war’s“ ist

eine Rettung. Wenn ich einen Fehler mache, gibt es keine Flucht von der

Tatsache. Da ich einen Fehler gemacht habe, falle ich in eine Hölle und

werde darin fleißig arbeiten müssen. Doch wenn ich mit der Arbeit in der

Hölle fertig bin, kann ich einfach denken: „Das war’s.“

In diesem Sinne ist die Tatsache: „Vergangenheit und Zukunft sind ab-

getrennt“ eine perfekte Rettung für uns. Obwohl ich die ganze Zeit Fehler

mache, sind sie eigentlich schon vorbei, wenn ich sage: „Oh nein, ich habe

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einen Fehler gemacht.“ Ich kann von der Erfahrung früherer Fehler lernen,

neu starten und es als Weisheit nutzen, um etwas besser zu machen.

Neu anzufangen bedeutet den Bodhi-Geist zu erwecken. Danach erwe-

cke ich den Bodhi-Geist wieder und immer wieder, Millionen Male. Zu Le-

ben bedeutet letztlich kontinuierlich danach zu streben, in jedem

Augenblich neu anzufangen. Da wir zum Leben jeden Moment einen

Atemzug machen müssen, ist der gegenwärtige Atemzug lediglich der ge-

genwärtige Atemzug. Im nächsten Moment müssen wir einen neuen, fri-

schen Atemzug zu uns nehmen.

Ich hatte das Glück mit Referent Doyu Ozawa Bekanntschaft zu ma-

chen, als er mich in Ogaki besuchte. Referent Ozawa wurde Kriegsgefan-

gener am Ende des Zweiten Weltkrieges. Als er in einem Frachtzug nach

Sibirien transportiert wurde, bekamen seine beiden Beine Frostbeulen,

weil er Sommerkleidung trug. Er wurde nach Japan zurückgeschickt, weil

er nicht laufen konnte. Im Krankenhaus sagte man ihm, daß man beide

Beine bis zu den Knien amputieren müsste. Als es Zeit für die Operation

war, sagte er lediglich zu seinem Armeearzt: „ Bitte schneiden sie beide

Beine gleich.“ Ich kann seine Worte verstehen. Nachdem seine Beine am-

putiert waren, musste er Prothesen tragen. Da um zu Gehen sein gesam-

tes Gewicht auf den Prothesen lagerte, musste er wirklich sehr geduldig

sein, bis die Wunden da abgeheilt waren, wo sie mit der Prothese in Be-

rührung kommen. Er musste üben, mit den künstlichen Beinen zu gehen.

Er empfand extreme Schmerzen und Agonie. Doch behielt er immer ein

warmes Lächeln und ging lediglich an einem Stock. Er benutze niemals

zwei Stöcke gleichzeitig.

Der entscheidende Punkt für ihn war, daß er sich dafür entschied zu

denken: „Heute, in diesem Augenblick, bin ich geboren.“ Man könnte auch

denken: „Ich wurde mit zwei Beinen geboren, dann wurde ich einberufen

und musste in den Krieg ziehen. Da wir den Krieg verloren haben, wurde

ich als Gefangener nach Sibirien geschickt. Auf dem Weg dahin erlitten

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meine Beine Frostbeulen und beide mussten amputiert werden. „ Wenn

wir in dieser Sequenz von Ereignissen denken, ist es sogar zu schmerzhaft,

um zu weinen. Wir sind ewig verärgert und fühlen uns miserabel. Doch

Referent Ozawa entschied sich dafür zu denken, daß er heute geboren

wurde, in diesem Augenblick, ohne Beine. Das war der Wendepunkt für

ihm, um mit einer breiten und heiteren Haltung zu leben. Dies ist keine

idealisierte Geschichte, sondern seine eigentliche Lebenserfahrung. Refe-

rent Ozawas Aussage: „heute, in diesem Augenblick, bin ich geboren“, be-

sitz grenzenlose Bedeutung.

Jeder von uns kann ausnahmslos jederzeit in solch eine Misere gera-

ten. Wir wollen versuchen immer vollständig bereit zu sein, die Bedingun-

gen zu akzeptieren. Grundsätzlich ist es so, daß wenn unsere Eltern sich

für eine Abtreibung entschieden hätten, bevor wir geboren wurden, hät-

ten wir nichts dagegen tun können. Kein Elternteil fragt nach der Erlaubnis

des Babys für eine Abtreibung. Es ist eine komplett einseitige Entschei-

dung. Wir können uns noch nicht mal beschweren.

Das sollten wir über den Ursprung unseres Lebens wissen. Doch da wir

letztlich geboren wurden und unser eigenes Leben ausleben, müssen wir

so leben, daß wir diesen Bodhi-Geist millionenfach neu erwecken: „Ich bin

heute geboren, in diesem Augenblick.“ Das ist die Wirklichkeit des Lebens.

Obwohl es „Vorher“ und „Nachher“ gibt, sind Vergangenheit und Zukunft

abgetrennt.

Wir leben und sterben in der Kraft der Wirklichkeit des Lebens vor ei-

ner Trennung zwischen Leben und Tod.

So wie Brennholz nie wieder Brennholz wird, nachdem es zu Asche

verbrannt ist, so gibt es keine Rückkehr zum Leben, nachdem ein

Mensch gestorben ist. Wie dem auch sei, es ist eine ungebrochene Tra-

dition im Buddha-Dharma nicht zu sagen, dass das Leben zum Tod

wird. Daher wird es Nicht-Erscheinen genannt.

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Neulich erhielt ich einen Brief von Referent Toru Imagawa. Er ist ein Rei-

nes Land- Priester in Komatsu-Shi in der Ishikawa Präfektur. Letztes Jahr

wurde Referent Imagawa mitgeteilt, daß er Krebs hat. Während er für Be-

handlungen im Krankenhaus lag, dachte er intensiv über Leben und Tod nach,

worauf ihm etwas in den Sinn kam. Der letzte Strich des chinesischen Schrift-

zeichens für Leben und der erste Strich des chinesischen Schriftzeichen für

Tod sind der Selbe, damit wir ein neues Schriftzeichen erschaffen können.

Wenn wir nun ein solches Schriftzeichen haben, wie sollen wir es lesen?

Da er ein Priester in der Reinen-Land Schule ist, fragte er viele andere Reine-

Land Priester. Letztlich schrieb er auch an mich einen Brief, wie wir es lesen

sollten. Er erklärte, daß er an der Schwelle zwischen Leben und Tod stehe

und daher der eine Strich im Zentrum für ihn sehr bedeutend wäre. Er las das

Schriftzeichen als „Hier/Jetzt“.

Als ich den Brief von Referent Imagawa las, dachte ich, daß seine Aussage

das Thema meiner nächsten Lektion zum Genjokoan deckt und so fragte ich

ihn um Erlaubnis, seine Gedanken in Bezug auf das Schriftzeichen zu benut-

zen.

Ich antwortete ihm auch in Bezug auf das Schriftzeichen. Das Zeichen be-

zieht sich auf die Angelegenheit von Leben/Tod vor der Trennung in Leben

und Tod als zwei unterschiedliche Dinge. Dabei hat sich das Leben noch nicht

als Leben und der Tod hat sich noch nicht als Tod geformt. Daher würde ich

das Schriftzeichen folgendermassen lesen: „Das formlose Leben vor jeglicher

Trennung zwischen Leben und Tod.“ Meine Art das Schriftzeichen zu lesen

und Referent Imagawas „Hier/Jetzt“ sind genau das, was hier ich als Thema

des Genjokoan darlegen möchte.

Kehren wir nun zum Text zurück. Im Fall von Brennholz als die Wirklichkeit

des Lebens ist Brennholz nur Brennholz. Es ist kein Brennholz in Bezug auf

Asche oder als eine Vorstufe von Asche. Auf die gleiche Art ist unser Leben

als Wirklichkeit des Lebens nur Leben. Es ist weder Leben als eine Vorstufe

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zum Tod, noch ein Leben in Bezug auf oder als Gegensatz zum Tod. Daher

sagt Dogen Zenji: „So wie Brennholz nie wieder Brennholz wird, nachdem es

zu Asche verbrannt ist, so gibt es keine Rückkehr zum Leben, nachdem ein

Mensch stirbt.“

Gäbe es eine körperliche Instanz genannt „Leben“, die nun stirbt, dann

wäre es möglich, daß „Leben“ wieder zu „Leben“ wird, nachdem es gestorben

ist. Das aber ist nicht der Fall. Das Leben ist einfach lebendig jenseits jeglicher

Dualität. Was können wir also als die Wirklichkeit des Lebens bezeichnen?

Die einzig mögliche Benennung ist: „Das formlose Leben vor jeglicher Tren-

nung zwischen Leben und Tod“ oder: „Nicht-Leben“. Dogen Zenji drückt es so

aus: „Wie dem auch sei, es ist eine ungebrochene Tradition im Buddha-

Dharma nicht zu sagen, dass das Leben zum Tod wird. Daher wird es Nicht-

Erscheinen genannt.“

In Buddhas Drehen des Dharma-Rades ist es begründet, nicht zu sa-

gen, dass der Tod zum Leben wird. Daher nennen wir ihn Nicht-Dahin-

scheiden.

So wie in der Wirklichkeit des Lebens Asche nur Asche ist, ist Tod nur

Tod. Es ist nicht das nächste Stadium nach dem Leben, sondern das form-

lose Leben vor jeglicher Trennung zwischen Leben und Tod. Daher ist es

Nicht-Dahinscheiden. Ausnahmslos, ob wir so darüber denken oder nicht,

ob wir es glauben oder nicht, ob wir es akzeptieren oder zurückweisen,

wir alle leben und sterben dieses formlose Leben.

Im Buddha-Dharma geht es um die Wirklichkeit des Lebens. Die Wirk-

lichkeit des Lebens wird im Herz-Sutra folgendermaßen beschrieben:

„nicht- erscheinend, nicht- dahinscheiden, nicht-beschmutzt, nicht-rein,

nicht-zunehmend, nicht-abnehmend“. Es ist nicht-kommend und nicht-ge-

hend. Doch wenn wir es mit dem unterscheidenden Blick eines karmisch

individuellen Wesens betrachten, sehen wir Kommen und Gehen. Aber

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selbst dieser unterscheidende Blick ist durch die Wirklichkeit des Lebens

animiert. Daher kommen wir zu der Schlussfolgerung: „das Kommen und

Gehen des Nicht-Kommens und Nicht-Gehens.“

Erscheinen/Dahinscheiden, Kommen/Gehen sind im Nicht-Erscheinen

und Nicht-Dahinscheiden, im Nicht-Kommen und Nicht-Gehen beinhaltet.

Deshalb wird der Buddha Tathagata (so-kommend, so-gehend) bezeich-

net.

Nagarjunas Kommentar zum Mahaprajnaparamita-Sutra, das Daich-

idoron, sagt daher: „Leben und Tod sind lediglich Namen. Sie haben keine

Substanz. Im gewöhnlichen Dharma existieren Leben und Tod wirklich,

aber in der wahren Wirklichkeit des Dharma gibt es kein Leben und keinen

Tod.“ Im Kapitel des Lotus-Sutra, genannt: „Die Lebensspanne des Tatha-

gata“, heißt es: „Der Tathagata weiss und sieht die Zeichen der Dreifachen

Welt als das was sie wirklich sind: [für den Tathagata] gibt es weder Ge-

burt noch Tod, weder Weggehen noch Herkommen, weder Leben noch

Sterben, weder Wirklichkeit noch Unwirklichkeit, weder Dieses noch An-

deres. Anders als [die Art, wie] die Dreifache Welt die Dreifache Welt

sieht, erkennt der Tathagata solche Dinge als das, was sie sind.“ Dies ist

die grundlegende Philosophie über Leben und Tod im Buddhismus.

Dies ist die Wirklichkeit des Lebens. Ob wir leben oder Tod sind, wir

selbst sind einfach dieses formlose „Leben des Buddha“. Wir sind immer

neu und doch gewöhnlich. Die Wirklichkeit des Lebens ist nicht Spezielles,

einfach gerade jetzt, gerade hier. Das drückt Referent Imagawa mit sei-

nem „gerade jetzt, gerade hier“ aus.

Leben ist ein Zustand in der Zeit und Tod ist ein Zustand in der Zeit.

Es ist wie mit Winter und Frühling. Wir denken nicht, dass der Winter

zum Frühling, und wir sagen nicht, dass der Frühling zum Sommer wird.

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Leben ist nur Leben. Es ist lediglich ein formloser Ort eines Augenblicks.

Tod ist nur Tod. Es ist lediglich ein formloser Ort eines Augenblicks. In japan

sagen wir nicht, daß der Winter zum Frühling und der Frühling zum Sommer

wird. Winter ist einfach Winter, jenseits jeglicher Dualität. Frühling ist nur

Frühling, jenseits jeglicher Dualität.

Obwohl wir sagen, daß ein Mensch Erleuchtung erlangt, gibt es einen sol-

chen Übergang nicht, in dem Verblendung zur Erleuchtung wird. Das ist der

wesentliche Punkt dieses Abschnitts. Verblendung ist aus sich selbst heraus

formlos. Erleuchtung ist formloses Leben vor jeglicher Trennung zwischen

Verblendung und Erleuchtung. Wir alle leben und sterben solch ein formloses

Leben. Wir sind verblendet und erleuchtet innerhalb dieses formlosen Le-

bens. Dogen Zenji spricht über diesen Ansatz im nächsten Abschnitt.

9

Wenn ein Mensch Verwirklichung erlangt, ist es wie die Spiegelung des

Mondes im Wasser. Der Mond wird niemals nass, das Wasser nie beunruhigt.

Obwohl der Mond ein großes und weites Licht ist, spiegelt er sich in einem

Wassertropfen. Der gesamte Mond, sogar der gesamte Himmel, spiegeln sich

in einem Tautropfen am Grashalm. Verwirklichung zerstört den Mensch nicht,

so wie der Mond kein Loch ins Wasser bohrt. Der Mensch behindert die Ver-

wirklichung nicht, so wie der Tautropfen nicht den Mond am Himmel behin-

dert. Die Tiefe ist dasselbe wie die Höhe. Um die Wichtigkeit der Länge und

Kürze der Zeit zu erforschen, sollten wir abwägen, ob das Wasser groß oder

klein ist und die Größe des Mondes am Himmel verstehen.

Gewöhnlich denken wir, wir sind verblendete Wesen, die den Wunsch he-

gen, dadurch Buddha zu werden, daß wir gewisse Methoden anwenden, um

Erleuchtung zu erlangen. Wie ich schon in Bezug auf den achten Abschnitt

sagte, gehen wir davon aus, daß es sowas wie einen Übergang von Verblen-

dung zu Erleuchtung gibt. Dogen Zenji schreibt jedoch, daß es solch einen

Übergang nicht gibt, sondern daß wir alle, ob wir nun verblendet sind oder

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nicht, die Wirklichkeit des Lebens vor jeglicher Trennung in Täuschung und

Erleuchtung oder Leben und Tod ausleben.

Gemäß der Zen-Tradition sagte Shakyamuni Buddha als er Erleuchtung er-

langte: „Ich, die große Erde und alle fühlenden Wesen erlangten gleichzeitig

den Weg. Berge, Flüsse, Gras und Bäume wurden alle Buddhas.“ Im Lotus-

Sutra gibt es den Ausdruck: „Alle zehn Richtungen sind innerhalb des Buddha-

Landes.“ Das Kanmuryoju-Kyo (Das Sutra der Erkenntnis des ewigen Lebens,

eines der drei Haupt-Sutren des Reinen-Land Buddhismus) erklärt: „Das Licht

des Tathagata des ewigen Lebens (Amitaba) umarmt alle Wesen, ohne ein

einziges zurückzuweisen.“ Schon durch Shakyamuni Buddha wurden wir er-

leuchtet und sind von Anfang an in der Hand von Amitaba Buddha, der aus-

nahmslos alle Wesen rettet. Es kommt nicht darauf an, ob wir das verstehen

oder nicht. Ob wir das wissen oder nicht, ob wir sagen, wir glauben an A-

mitaba oder nicht, es ist wahr. Das ist kein Problem. Das Licht von Amitaba

umarmt alle Wesen ob wir daran glauben oder nicht.

Die Wirklichkeit des Lebens, oder das „Leben des Buddha“ sind so geartet.

Doch jeder von uns denkt und misst ab und sagt: „Ich glaube es nicht“. Sagt

keine solch vorlauten Dinge! Die Kraft, die uns denken lässt, daß unser Geist

groß ist und uns solche vorlauten Dinge sagen lässt, entspringt aus der Kraft

von Amitaba oder dem „Leben des Buddha“. Wir müssen das ganz klar ver-

stehen, egal ob wir so denken oder nicht, es glauben oder nicht, verstehen o-

der nicht, es ehren oder nicht, es akzeptieren oder zurückweisen, in allen

Bedingungen leben wir diese formlose Wirklichkeit vor ihrer Trennung in Ge-

gensätze.

Da Leben/Tod vor der Trennung in Leben und Tod und Verblendung und

Erleuchtung formlos sind, können wir sagen, sie sind ein leerer Kreis. Eigent-

lich leben wir diesen leeren Kreis und dieser wird sterben. Dieser leere Kreis

ist verblendet oder erleuchtet. Ohne Ausnahme spiegeln alle zahllosen Dinge

diesen leeren Kreis. Es ist wie der Mond, der sich im Wasser spiegelt.

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Daher ist es nicht richtig zu bestimmen, daß „Ich“ ein verblendeter

Mensch bin. Solch ein Urteil ist nur deshalb möglich, weil hier die Kraft der

formlosen Wirklichkeit wirkt. Egal was wir denken, dieser gegenwärtige Au-

genblick ist der Zeitpunkt, in dem das Dharma dem Selbst korrekt übermittelt

wurde und der Zeitpunkt in dem der Mensch Erleuchtung erlangt. Das ist,

was ich im Lotus-Sutra als „kuon-jitsujo (die ewige Manifestation der Wirk-

lichkeit)“ bezeichne. Seit dem anfangslosen Anfang leben wir den Zeitpunkt,

in dem „ein Mensch Erleuchtung erlangt“. Es ist keine Frage dessen, ob wir

unsere persönliche Kraft aufbringen, um ernsthaft üben um Erleuchtung zu

erlangen, stattdessen leben wir vollständig die Wirklichkeit des Lebens, ob

wir so darüber denken oder nicht, ob wir es glauben oder nicht und egal ob

wir das akzeptieren oder zurückweisen. Wir spiegeln den formlosen Mond,

der formlose Mond verweilt in uns.

Obwohl der formlose Mond sich in uns spiegelt, wird weder der Mond

nass, noch das Wasser zerstört. Seit die Menschen auf dem Mond waren,

denken sie, der Mond ist lediglich eine Zweigstelle der Erde. Wir müssen aber

diesen Teil des Genjokoan mit dem Empfinden unserer Vorfahren lesen, die

den Mond nonosama nannten und ihn anbeteten. Der Mond ist ein Symbol

des Absoluten, das über die unterscheidenden Gedanken der Menschen hin-

ausgeht. Es ist ein weites und großes Licht.

Das absolut weite Licht der Wirklichkeit, wie das Mondlicht, ist das Licht

Amitabas. Es scheint weit entfernt zu sein, aber eigentlich spiegelt es sich im-

mer in uns. Doch obwohl es in uns gespiegelt wird, wird Amitaba dadurch

nicht unrein. Obwohl sich Amitaba in uns spiegelt, werden wir dadurch nicht

anders. „Ich“ bin „Ich“ und Amitaba ist Amitaba. Deshalb:

Obwohl der Mond ein großes und weites Licht ist, spiegelt er sich in ei-

nem Wassertropfen. Der gesamte Mond, sogar der gesamte Himmel, spie-

geln sich in einem Tautropfen am Grashalm.

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Das Mondlicht spiegelt sich im Tautropfen am Blatt eines Baumes und

im Wasser eines Bergbaches. Während ich rede und ihr zuhört, denkt ihr

vielleicht, was ich sage ist wahr oder ihr denkt, es ist Unsinn. Ihr könnt

auch verschiedene Gedanken darüber haben. Die Kraft des allesdurchdrin-

genden, formlosen Lebens wirkt in Form solcher Gedanken.

Im Frühling blühen aus Veilchenblüten Veilchen. Pusteblumen blühen

zu Löwenzahn. Wenn Veilchen blühen, blüht das gesamte Universum in

der Art der Veilchen. Wenn Löwenzahn blüht, blüht das ganze Universum

in der Art des Löwenzahns.

Verwirklichung zerstört den Mensch nicht, so wie der Mond kein

Loch ins Wasser bohrt.

Obwohl wir von der Kraft des allesdurchdringenden formlosen Lebens

belebt werden, ist dies nicht ein Ding, das man besitzt. Es macht kein Loch

der Erleuchtung in uns. Erleuchtung vernichtet uns als Individuum nicht.

Der Mensch behindert die Verwirklichung nicht, so wie der Tautropfen

nicht den Mond am Himmel behindert. Obwohl wir total verblendete Men-

schen sind, gibt es keinen Grund dafür, daß wir nicht erleuchtet sein können.

Der himmlische Mond spiegelt sich selbst in einem verschmutzen Wasserbe-

cken.

Die Wirklichkeit des Lebens kann nicht für alle Menschen verallgemei-

nert werden. Es kommt darauf an, wie eine bestimmte Person lebt.

Die Tiefe ist dasselbe wie die Höhe. Um die Wichtigkeit der Länge

und Kürze der Zeit zu erforschen, sollten wir abwägen, ob das Wasser

groß oder klein ist und die Größe des Mondes am Himmel verstehen.

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Dogen Zenjis Schriften sind wunderschön und anspruchsvoll. Ohne Er-

klärung sagt er, daß die Tiefe das Selbe ist wie die Höhe. Dogen Zenji hat bis-

her das allgemeine Prinzip des Buddha-Dharma erklärt, aber von jetzt an

redet er über eine bestimmte Person, die die Wirklichkeit des Lebens lebt.

Ausnahmslos lebt jeder von uns die Wirklichkeit des Lebens. Darüber

müssen wir uns keine Sorgen machen. Ob wir so denken oder nicht, ob wir es

glauben oder nicht, ob wir es üben oder nicht, jeder und alles lebt innerhalb

dieser Kraft Amitaba Buddhas, die alles umarmt und niemanden zurückweist.

Das stimmt wirklich. Doch wenn wir nur das Prinzip verstehen, ist das wie die

irrige Ansicht Senikas, die Dogen Zenji im Shobogenzo Bendowa (Belehrung

den Weg von ganzem Herzen zu üben) kritisiert.

Wir sollten nicht das karmische Selbst und das ursprüngliche Selbst

miteinander vermischen, so wie Senika es tat. Unser karmisches, individuelles

Selbst ist nicht unser ursprüngliches Selbst. Im karmischen Selbst unterschei-

det der menschliche Geist. Diesen Geist nutzend, denken wir über viele Dinge

nach. Dieser unterscheidende Geist ist von der ursprünglichen Wirklichkeit

des Lebens belebt, welche auch universell ist. Trotzdem sind viele Gedanken,

die innerhalb dieses Geistes aufsteigen, nicht universell. Daher lebt das kar-

mische Selbst, welches immer auf der Basis von unterscheidenden Gedanken

handelt, oftmals einen nicht-universellen Lebensweg.

Als ursprüngliches Selbst lebt jeder und jede von uns fraglos das uni-

verselle Leben. Wir sollten jedoch klar erkennen, daß wir lediglich ein karmi-

sches Selbst sind, solange wir aufgrund von nicht-universellen Gedanken

handeln.

Wichtig für uns ist, wie wir den Fächer schwingen und wie wir den

grenzenlosen und unendlichen Wind des Lebens verwirklichen. Wie können

wir das universelle Leben hier und jetzt verwirklichen? Referent Imagama

drückte genau dies mit „Hier/Jetzt“ aus. Egal unter welchen Bedingungen, im-

mer leben wir dieses „Leben des Buddha“. Es ist aber gleichzeitig entschei-

dend, daß wir erkennen, daß diese Wirklichkeit das „Leben des Buddha“ ist.

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Unser Problem ist, wie wir dieses „Leben des Buddha“ hier und jetzt verwirk-

lichen sollen. Dogen Zenji drückt es dadurch aus , daß das Wasser seine ei-

gene Tiefe und der Mond seine eigene Höhe hat.

Es geht dabei nicht um Erfolg oder VErsagen in Bezug auf ein Mass von

Höhe und Tiefe. Wir können nicht sagen: „Du warst erfolgreich, weil du eine

bestimmte Höhe erlangt hast.“ Oder: „Du hast versagt, weil du so oberfläch-

lich bist.“ Wie ich schon öfters sagte, wir können weder die Höhe des Dharma

messen und selbst mit einem Computer nicht die Tiefe einer Person erfassen.

Egal unter welchen Umständen, wir leben das „Leben des Buddha“. Egal

unter welchen Bedingungen, wir leben als erfolgreiche Buddha. Und ebenso

müssen wir unter allen Umständen mit unserem eigenen Körper und Geist

verwirklichen, dass wir das „Leben des Buddha“ ausleben. Darin liegt die un-

endliche Tiefgründigkeit der Tiefe und Höhe. Das ist es was ich meinte, als ich

den Genjokoan mit: „die gewöhnliche Tiefgründigkeit des gegenwärtigen Au-

genblicks, der zum gegenwärtigen Augenblick wird“ betitelte. Ab diesem Ab-

schnitt beginnt Dogen Zenji über eine bestimmte Person zu reden, die das

universelle „Leben des Buddha“ auslebt. Er sagt hier einfach, daß die Tiefe

dasselbe ist, wie die Höhe.

Um die Wichtigkeit der Länge und Kürze der Zeit zu erforschen, sollten

wir abwägen, ob das Wasser groß oder klein ist und die Größe des Mondes

am Himmel verstehen.

Weder das Wasser noch der Mond existieren als eine fixe Einheit. Das ist

eine Angelegenheit Länge und Kürze von Zeit. In der Übung im Augenblick zu

sein, ist die Größe des Wassers oder die Tiefgründigkeit einer Person unter-

sucht und die Wirklichkeit des Lebens wird durch den unendlichen Mond ver-

standen.

Wir können Erfolg und Versagen nicht durch die Tiefe einer Person

messen. Die Höhe und Tiefe des Dharma ist maßlos. Wir können nicht beur-

teilen, ob eine Person erleuchtet oder verblendet ist, ob sie oder er gewinnt

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oder verliert. Buddha-Dharma ist wirklich tiefgründig. Da es unendlich tief-

gründig ist, wird es strahlendes Licht genannt.

Obwohl Religion dazu benutzt werden kann, Menschen zu unterschei-

den, spirituelles Licht kann zwischen Individuen nicht analysiert oder vergli-

chen werden. Es ist ganzheitliches Strahlen. Ich denke an dieses Strahlen des

Lichts wenn ich in der Abenddämmerung spazieren gehe. Der Abendhimmel

des nahen Frühlings in Kyoto im Februar unterscheidet sich vom Abendhim-

mel im Herbst und im Winter, obwohl es das Licht des Westens bei Sonnen-

untergang bleibt. Der östliche Teil des Himmels ist dann schon absolut

dunkel. Doch nach Risshu [3. Februar], ist nicht nur der westliche Teil, son-

dern auch der östliche Himmel beim Sonnenuntergang erleuchtet – der ganze

Himmel ist gleichsam erleuchtet. Das ist die Besonderheit der Dämmerung

am Anfang des Frühlings. Wenn der kalte Wind in dieser Jahreszeit aufhört zu

wehen, spüren wir die Wärme des nahenden Frühlings. Obwohl wir die Ein-

heit des Lichtes nicht messen können, spüren wir in diesem Strahlen des gan-

zen Himmel einen Unterschied zwischen Frühling, Herbst und Winter.

Mit dem Licht Amitabhas verhält es sich ebenso. Das religiöse Licht ist

ein unfassbares, ganzheitliches Strahlen. Innerhalb dieses Strahlens gibt es in-

dividuelle Unterschiede, die das universelle Strahlen reflektieren. Es liegt

Länge und Kürze, Weite und Enge im Gespür für jeden Mensch und in allen

Umständen. Das ist die Tiefgründigkeit des „Leben des Buddha“.

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Wenn das Dharma den Körper und Geist noch nicht vollständig durch-

drungen hat, denkt man, man wäre schon vollständig davon erfüllt. Wenn das

Dharma den Körper und Geist vollständig durchdrungen hat, denkt man, dass

immer noch etwas fehlt. Wenn wir zum Beispiel mit einem Boot auf den

Ozean hinaussegelt, bis kein Land mehr in Sicht ist und wir den Horizont in

alle Richtungen betrachten, sieht er schlicht wie ein Kreis aus. Keine andere

Form erscheint. Trotzdem ist dieser große Ozean weder rund noch eckig. Er

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besitzt unerschöpfliche Merkmale. Für einen Fisch sieht er aus wie ein Palast,

für ein himmlisches Wesen wie eine Edelsteinkette. Für uns, soweit das Auge

reicht, sieht er aus wie ein Kreis. Alle Zahllosen Erscheinungen sind so. Inner-

halb dieser staubigen Welt und darüber hinaus, gibt es unzählbare Ansichten

und Eigenschaften. Wir sehen und begreifen nur so viel, wie das Auge unseres

Lernens und Übens zu sehen vermag. Wenn wir der Wirklichkeit der Zahllosen

Erscheinungen hinterherlauschen, müssen wir wissen, dass unerschöpfliche Ei-

genschaften im Ozean und den Bergen existieren, und dass es viele andere

Welten in den vier Himmelsrichtungen gibt. Dies gilt nicht nur für die äußere

Welt, sondern ebenso ist es wahr gerade hier unter unseren Füssen und in je-

dem einzelnen Tropfen Wasser.

Wir haben einen vergänglichen Körper und Geist. Heutzutage glauben wir

modernen Japaner nicht mehr daran, daß unser Körper und Geist vergänglich

ist. Wir denken, wir verstehen das ewige „Leben des Buddha“, aber das tun

wir nicht. Das ist wie in der Jugend, wo wir nicht viel Ahnung davon haben

was in der Welt vor sich geht, wir aber denken, daß wir alles wissen. Wir nen-

nen solche Teenager „vorlaute Kinder“. Im zwanzigsten Jahrhundert sind alle

Menschen wie „vorlaute Kinder“ in einer Phase der Pubertät. Japaner sind

vorlaut, wenn sie behaupten, daß sie keiner Religion angehören. Viele von

ihnen verbringen ihr ganzes Leben, ohne sich um ihr spirituelles Wachstum zu

kümmern. Das ist ein Problem. Diese pubertäre Phase dauert nicht ewig.

Wenn vorlaute Kinder irgendwann erwachsen werden, merken sie, daß sie

dumme Kinder waren. Doch die Japaner von heute sind zu bedauern, weil sie

ihr ganzes Leben vergeuden, ohne das „Leben des Buddha“ zu kennen. Sie

wachsen spirituell nicht heran. Spätere Menschen werden denken, daß die

Japaner des zwanzigsten Jahrhunderts dumm waren. Viele gegenwärtige

Menschen werden sterben, ohne es zu wissen. Das ist wirklich erbärmlich.

Egal wie hochentwickelt wir in Bezug auf Wissenschaft und Technik sind,

es ist wichtig zu wissen, daß wir in einer bedauernswerten Situation sind,

wenn wir den Geist der Verehrung und des Gebets verlieren. Da wir das

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ewige „Leben des Buddha“ leben, egal ob wir es glauben und akzeptieren o-

der nicht, entspricht es unserer Natur, daß wir das „Leben des Buddha“ wert-

schätzen sollten.

Wenn das Dharma den Körper und Geist vollständig durchdrungen hat,

denkt man, dass immer noch etwas fehlt.

Wenn uns das universelle „Leben des Buddha“ erfüllt, können wir sehen,

wie klein, dumm und ignorant wir sind. Das ist große Weisheit.

Als Student las ich, daß im alten Griechenland jemand das Orakel von Del-

phi fragte, wer die weiseste Person Athens sei. Das Orakle von Delphi sagte,

Sokrates wäre der Weiseste. Sokrates war überrascht, als er es hörte und

dachte, daß es nicht sein kann, aber gleichzeitig konnte sich das Orakel von

Delphi nicht irren. Er schlussfolgerte, daß es so sein muss, weil er weiß, wie

ignorant er ist. Andere wussten nicht, wie ignorant sie sind, weshalb er der

Weiseste war. Zu wissen, daß wir ignorant sind, ist die Grundlage für Weis-

heit.

Wie dem auch sein, heutzutage weiß niemand mehr, wie ignorant sie sind.

So machte japanische Bildung die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg

dumm. Die Schulen betonten die Demokratie und fragten Schüler, die nichts

wissen konnten, nach ihrer Meinung. Da die Kinder das nicht wissen konnten,

sollten die Lehrer sie unterrichten. Doch die Lehrer ließen die Schüler ihre

Meinung sagen und dachten, das wäre Demokratie. Daraus erwuchsen vor-

laute und unausgegorene Leute.

Solch vorlaute, unausgegorene Kinder wachsen nur physisch und sie gebä-

ren dann sie nächste Generation, deren spiritueller Standard tiefer und tiefer

fällt. Menschen werden immer kindischer. Dummheit vertieft sich und

wächst ins Unermessliche. Selbst in dieser Dummheit können wir erkennen,

daß die Tiefe dasselbe ist wie die Höhe.

Das unermessliche und grenzenlose „Leben des Buddha“ kann von unse-

rem endlichen Geist nicht erfasst werden. Selbst ein Grundschulkind kapiert

das.

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Als ich mit meiner Übung haderte, sagte Sawaki Roshi: „Das Buddha-

Dharma ist unermesslich und grenzenlos, es kann nicht etwas sein, was dei-

nen Wunsch nach Befriedigung erfüllt.“ Durch diese Aussage wurde ich wirk-

lich wie umgedreht. Es war keine spezielle Erleuchtungserfahrung. Wenn

Verstehen so einfach ist wie die Mathematik in der Grundschule, dann kön-

nen wir auch verstehen, daß das unermessliche und grenzenlose Buddha-

Dharma nichts ist, was unseren persönlichen Wunsch nach Befriedigung er-

füllt. Daher fühlen wir uns natürlich unbefriedigt.

Wenn wir zum Beispiel mit einem Boot auf den Ozean hinaussegelt, bis

kein Land mehr in Sicht ist und wir den Horizont in alle Richtungen be-

trachten, sieht er schlicht wie ein Kreis aus. Keine andere Form erscheint.

Dogen Zenji fuhr in einem Boot nach China. In einem kleinen Boot wie ein

Blatt nach China zu segeln muss furchterregend gewesen sein. Als sie dann

auf hoher See waren, konnte er nur noch den Horizont erkennen. Es waren

eigentlich schon Inseln und Hafen auf der anderen Seite des Meeres, aber

man konnte sie nicht sehen. So weit er sehen konnte, war keine andere Form

in Sicht.

Trotzdem ist dieser große Ozean weder rund noch eckig. Er besitzt un-

erschöpfliche Merkmale.

Da er unerschöpfliche Merkmale besitzt, ist der Ozean unermesslich.

Für einen Fisch sieht er aus wie ein Palast, für ein himmlisches Wesen

wie eine Edelsteinkette. Für uns, soweit das Auge reicht, sieht er aus wie

ein Kreis. Alle Zahllosen Erscheinungen sind so.

„Die vier Ansichten des Wassers“ wird in der buddhistischen Tradition seit

der Antike verwendet. Wenn der Fisch Wasser sieht, denkt er es ist ein Haus

oder ein Palast. Himmlische Wesen betrachten es als ein Edelstein. Menschen

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sehen es als Wasser und Hungrige Geister als Feuer. Das sind die „Vier An-

sichten des Wassers“. Egal als was wir sehen, wir sehen es auf unsere eigene

Art. Wie dem auch sein, die Zahllosen Dharmas (Dinge) beinhalten beides,

das was wir sehen und das was wir nicht sehen. Die Zahllosen Dharmas sind

nicht nur das, was wir erkennen können.

Innerhalb dieser staubigen Welt und darüber hinaus, gibt es unzählbare

Ansichten und Eigenschaften. Wir sehen und begreifen nur so viel, wie das

Auge unseres Lernens und Übens zu sehen vermag.

Die „staubige Welt“ bezieht sich auf die gewöhnliche Gesellschaft, wäh-

rend sich „darüber hinaus“ auf das Buddha-Dharma bezieht. Es gibt viele

Dinge im weltlichen Dasein und in der Welt des Dharma. Eine Person mit ei-

nem endlichen Selbst, in der sich weites, grenzenloses Licht reflektiert, sieht

und versteht lediglich das, das ihr in diesem Augenblick begegnet.

Wenn wir der Wirklichkeit der Zahllosen Erscheinungen hinterherlau-

schen, müssen wir wissen, dass unerschöpfliche Eigenschaften im Ozean

und den Bergen existieren, und dass es viele andere Welten in den vier

Himmelsrichtungen gibt.

Im „Leben des Buddha“ gibt es zahllose Eigenschaften, die jenseits der

Grenze dessen liegen, was wir wahrnehmen können. Es gibt viele Welten in

den vier Himmelsrichtungen.

Dies gilt nicht nur für die äußere Welt, sondern ebenso ist es wahr ge-

rade hier unter unseren Füssen und in jedem einzelnen Tropfen Wasser.

Das stimmt nicht nur für jene Dinge, die wir ausserhalb von uns wahrneh-

men können. Mit unserem Körper und Geist hier verhält es sich ebenso. Alles

Mögliche passiert in unserem Körper – Kreislauf, Atmung und Denken – was

durch die Wirklichkeit des Lebens belebt wird, das weite, grenzenlose und al-

lesdurchdringende „Leben des Buddha“.

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Als nächstes spricht Dogen Zenji im Detail über genau diese Person, die

dieses weite und grenzenlose „Leben des Buddha“ hier und jetzt lebt.

Wenn wir ein Auto fahren, sind wir in der Führungsposition. In unserer Le-

bensführung ist das noch viel mehr der Fall.

M O M EN T A N ES EN DE