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Oldenburger Universitätsreden Nr. 11 Wilhelm Strube Über die Entwicklung der Naturwissenschaft und den Kampf hervorragender Forscher für den Sieg der Vernunft Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg 1988

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Oldenburger Universitätsreden

Nr. 11

Wilhelm Strube

Über die Entwicklungder Naturwissenschaft und den Kampfhervorragender Forscher für den Sieg

der Vernunft

Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg1988

VORWORT

An der Universität Oldenburg werden im Rahmen vielfältigerInitiativen einzelner Fachbereiche und wissenschaftlicherEinrichtungen Vortragsveranstaltungen zu aktuellen Fragenund Problemen der Wissenschaftsbereiche durchgeführt. ZurMitwirkung eingeladen werden häufig anerkannte Fachleuteund Gelehrte des In- und Auslands.

Viele der Vorträge und Reden würden eine Aufnahme in die-ser Reihe verdienen. Um den von den Herausgebern unterBerücksichtigung der inneruniversitären Vorgaben gestecktenRahmen nicht zu sprengen, muß immer wieder ausgewähltwerden. Aus mehreren Vorträqen, die von Wissenschaftlernaus der Deutschen Demokratischen Republik an derUniversität Oldenburg gehalten wurden, haben wir den desLeipziger Chemikers und Historikers Strube ausgewählt. Wil-helm Strube sprach im Rahmen des Chemischen Kolloqui-ums, das im Zusammenhang mit den letztjährigen Ossietzky-Tagen durchgeführt wurde.

Oldenburg, Dezember 1987

Friedrich W. Busch

WILHELM STRUBE

Über die Entwicklung der Naturwissenschaftund den Kampf hervorragender Forscher

für den Sieg der Vernunft

Nach dem Tode meines alten Lehrers und Freundes WalterEisen fand ich in seiner Schublade ein Blatt mit den Worten"Men learn from history, that men never learn anything fromhistory."

Trotz dieser Skepsis hoffte er, daß die Beschäftigung mit derGeschichte vernünftiges Denken und Handeln fördert. Ob-gleich genügend Beispiele dagegen sprechen.

Der Begriff Geschichte weckt gewöhnlich Gedanken an politi-sche und militärische Ereignisse, als hätten allein die Tatender Politiker und Militärs die menschliche Gesellschaft voran-gebracht.

In seinen Apokryphen schrieb Johann Gottfried Seume 1808dazu: "Die geheime Geschichte der sogenannten Großen istleider meistens ein Gewebe von Niederträchtigkeiten undSchandtaten."(J. G. Seume 1892, S. 27)

Fünfzig Jahre später erklärte Justus von Liebig: "Nicht an dieTaten mächtiger Fürsten oder berühmter Feldherren, sondernan die unsterblichen Namen Columbus, Copernicus, Kepler,Galilei, Newton knüpft die Geschichte den Fortschritt in denNaturwissenschaften und den Zustand der Geistesbildung inder gegenwärtigen Zeit." (J. v. Liebig, 1985, S. 43)

Die Geschichtswissenschaft hat diese Worte bis heute nur aus-nahmsweise beachtet, wahrscheinlich eine Nachwirkung

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der jahrhundertelangen Vorherrschaft der Geisteswissenschaf-ten.

Dabei verstand sich der Mensch bereits in den Mythen als einGebilde der Natur, das sich durch seinen Geist von anderenLebewesen unterschied. Seine Ethik gab ihm wohl den Auf-trag, sich die Natur untertan zu machen, aber nicht, sie zuzerstören. Nicht ohne Grund galten Gewässer und Bäume alsheilig.

Griechische Philosophen befaßten sich eingehend mit demVerhältnis Mensch - Natur, die Vorsokratiker ebenso wiePlaton. Hippokrates, von dessen Kenntnissen die Medizinerzweitausend Jahre lang zehrten und dem sie den Eid ver-danken, hatte, wie Empedokles, der den Philosophen undChemikern die Vierelementenlehre vermachte, die Erschei-nungen der Natur, die Wirkung zahlreicher Substanzen unddie Tätigkeit der Gewerbetreibenden studiert.

Auch Aristoteles, der die ionische Naturphilosophie undPlatons Ideenlehre aufgriff, sowie Leukipp und Demokrit, dieBegründer des Atomismus, beschäftigten sich mit Natur-vorgängen.

Besonders auf dem Gebiet der Astronomie erzielten die Ge-lehrten des Altertums große Erfolge. Claudius Ptolemäusvollendete das Werk Hipparchs und machte die scheinbareBewegung der Planeten erklärbar und berechenbar.

Auch unter römischen und später unter arabischen Gelehrtenblieb das Interesse für die Natur lebendig, wie die "Naturalishistoria" Plinius des Älteren oder "De rerum natura" vonLukrez oder die Werke der Ärzte und Philosophen Ibn Ruschdund Ibn Sina zeigen.

In der Frühzeit des Christentums spielte die Beschäftigung mitNaturvorgängen eine geringe Rolle. Das änderte sich im 13.Jahrhundert, als christliche Gelehrte mit den Werken derAraber und über diese mit denen der Antike bekannt wurden,

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als Gelehrte aus Byzanz ins Abendland flohen und ihr über-liefertes Wissen einbrachten. Albertus Magnus und Thomasvon Aquin hatten den Mut, die Anschauungen des HeidenAristoteles mit der christlichen Ideologie zu vereinen. Damitwurden Lehren von hochangesehenen Kirchenvätern wieLucius Lactantius hinfällig, der die Kugelgestalt der Erdegeleugnet hatte.

Nachfolgende Gelehrte wie Nicolaus von Kues, Oresme oderRoger Bacon bemühten sich um eine Intensivierung derNaturstudien, doch galten diese nach wie vor als zweitrangiggegenüber der Geisteswissenschaft, teilweise sogar als su-spekt.

Eine der Ursachen lag in der Tradition und in der Struktur derGesellschaft, die eine Geisteshaltung begünstigte, die diepraktische Tätigkeit als eine niedere ansah und sie den unte-ren Bevölkerungsschichten überließ. Ihren krassesten Aus-druck hatte sie in Aristoteles' Bezeichnung der Sklaven alssprechende Werkzeuge gefunden.

Der Chemiehistoriker Ernst von Meyer erklärte im Jahre 1914die "Abneigung der alten Völker gegen Experimente" und ihre"starke Hinneigung zur Spekulation" zur Ursache der "ärgstenIrrtümer" der Naturwissenschaften. (E. v. Meyer, 1914, S. 5)

William Whevel war bereits 1810 zu der Einsicht gelangt, daßdie griechischen Wissenschaftler nicht Mangel an "Ideen undTatsachen" hatten, wohl aber an Ideen, "die eine bestimmteBeziehung zu den reellen äußeren Erscheinungen in der Naturhaben." (W. Whevel, 1840, S. 75)

Erst in der Renaissance wurde die Verbindung von Theorieund Praxis hergestellt. Der Domherr Copernicus und derkaiserliche Mathematiker Kepler veränderten das Weltbild,der Professor Galilei begründete die Mechanik, der Büch-senmeister Tartaglia die Ballistik, der Arzt Agricola dieBergwerkskunde. Paracelsus, Libavius oder Lazarus Ercker

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sammelten und systematisierten chemische Erfahrungen undKenntnisse.

Die Experimentierkunst wurde wissenschaftlichen Kriterienunterworfen und zur Experimentierpraxis entwickelt.

Das fruchtbare Wechselspiel von Theorie - Experiment -Produktion begann. Die exakten Wissenschaften bildeten sichheraus. Neue Theorien wurden den herrschenden ge-genübergestellt, Theorien, die man mathematisch oder expe-rimentell belegte.

Trotz dieser Leistungen aber begann die Verselbständigungeinzelner naturwissenschaftlicher Disziplinen erst im 18.Jahrhundert. Am Beispiel der Chemie tritt dieser Prozeßdeutlich hervor.

Bis 1750 erschienen fast alle chemischen Publikationen inlateinischer Sprache, dann zunehmend in den Nationalspra-chen, um ein großes Publikum zu erreichen und mit demchemischen Wissen vertraut zu machen.

Ende des 18. Jahrhunderts experimentierten die Chemikernoch in Apotheken wie Scheele, in privaten Laboratorien wieTrommsdorf oder Priestley, in Werkstätten der Scheide-künstler im Berg- und Hüttenwesen sowie in den Laboratorienvon Fürsten und Königen, aber sie verlangten jetzt verstärktdie Einrichtung von Laboratorien an den Universitäten underklärten die Chemie anderen Wissenschaften als ebenbürtig.

Gegenüber der Alchemie, die jetzt als Begriff für Goldma-cherei diente, grenzte man sich ab. Immerhin war bis zurMitte des 18. Jahrhunderts die Mehrzahl der chemischenPublikationen noch dem Thema der Transmutation gewidmet.Friedrich II. unterhielt zu diesem Zweck ein großes La-boratorium in Berlin und gab allein der Alchemistin Pfuel10.000 Taler für Experimente.

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Immer mehr Chemiker wandten sich gegen die Alchemie,obgleich die Transmutation theoretisch möglich erschien. Sielehnten diese Praxis aus ökonomischen Gründen ab, wie Stahloder Juncker. Wiegleb führte sie 1777 durch historisch-ökonomische Analysen ad absurdum und erklärte sie fürunmöglich, weil sie den Naturgesetzen widerspräche.

Die Entwicklung der Warenproduktion für einen mehr oderweniger freien Markt trug mit zum Umdenken bei. Die Re-volutionierung der Chemie durch Lavoisier vollendete diesenProzeß.

Trotzdem galt die Chemie noch immer als ein Handwerk, imgünstigsten Fall als eine Hilfswissenschaft - Dienerin derGewerbe und Pharmazie. Erst gegen Ende des vergangenenJahrhunderts war der Beruf des Naturwissenschaftlers ebensoanerkannt wie der des Theologen oder Philologen.

Die Erfolge der Naturwissenschaft waren nicht mehr zuübersehen: Mißernten wurden gebannt, Seuchen verhindert,Energieprobleme gelöst, das Verkehrswesen revolutioniert. Esentstand der Glaube an die Machbarkeit all dessen, was dasHerz begehrte.

Der Erste Weltkrieg schockierte zwar, es dämmerte die Er-kenntnis, daß die Mittel, die den Wirkungsgrad der Arbeitsteigerten, auch den der Zerstörung erhöhten, doch das An-sehen der Naturwissenschaft und Technik blieb ungebrochen.Selbst der Einsatz von Vernichtungswaffen gegen dieZivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg erschütterte denGlauben an den Fortschritt nicht.

Allerdings mehrten sich die Stimmen, die die Naturwissen-schaft für die neuen Gebrechen der Zeit verantwortlichmachten. Einige erklärten ihre Entwicklung sogar für eineFehlentwicklung, die der Menschheit Unglück gebracht habe.

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Kommen wir in eine Zeit, in der der Glaube an die allesmöglich machende Kraft der Naturwissenschaft umschlägt ineine Verteufelung dieser Wissenschaft?

Naturwissenschaftler haben Kräfte freigesetzt, die auch zurVernichtung der Umwelt und des menschlichen Lebensmißbraucht werden, ohne daß ein Ende dieses Prozesses ab-zusehen ist. Eine weitere Eskalation liegt durchaus im Bereichdes Möglichen. Diese Situation steht im Widerspruch zumKampf zahlreicher Naturwissenschaftler, die unterkomplizierten Bedingungen um Erkenntnis und deren sinn-volle Anwendung bemüht waren.

Vor 500 Jahren wagte es der Domherr Nicolaus Copernicus,das in allen Teilen gefestigte astronomische System desClaudius Ptolemäus in Frage zu stellen, das 1 500 Jahre langvon den größten Autoritäten gelehrt und von den Theologengeheiligt worden war.

Wir können uns heute kaum noch vorstellen, welch ein Mutdazu gehörte; Copernicus fürchtete mit Recht, ausgezischt zuwerden. Martin Luther nannte ihn einen Narren, Melanchthonmeinte, Menschen mit derartig gefährlichen Ansichtenmüßten in Ketten gelegt werden.

Immerhin propagierte der Lutheraner Rheticus das helio-zentrische System, und der Lutheraner Osiander, Hauptpastorin Nürnberg, besorgte den Druck, schrieb aber vorsichtshalberein Vorwort, in dem er es als Hypothese bezeichnete.

Für Luther und die Päpstlichen war die höchste Autorität dieBibel, in der Josua die Sonne stillstehen ließ, währendCopernicus die Auffassung vertrat, die Heilige Schrift wärefür Fragen der Astronomie nicht zuständig. Er widmete seinWerk zwar seinem höchsten Dienstherrn, dem Papst, und batihn, es vor dem Biß der Verleumder zu schützen. Er vertrautees ihm an, lieferte es ihm aber nicht aus. Er hatte genügendBeispiele vor Augen, wie Machthaber mit denen umgingen,

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die ihnen unbequem wurden wie Ockham, Hus oderSavonarola.

Die Herrschenden, unterstützt vom "Gelehrtenhaufen", wieihn Kepler später nannte, brachten das heliozentrischeWeltbild derartig in Verruf, daß es fast vergessen wurde. ZweiGenerationen später wurde es lediglich von einigen Lehrernnoch als Kuriosität oder als interessante Hypothese erwähnt.

So wurde Johannes Kepler damit bekannt. Zwei Dinge be-geisterten ihn: die größere Einfachheit des heliozentrischenSystems und die Kühnheit des Gedankens. Er trat in Dispu-tationen für Copernicus ein und für das, was heute Ökumenegenannt wird, worauf ihn der Senat der Tübinger Universitätrelegiert. Damit wurde er aus seiner kirchlichen Laufbahngeworfen. Doch, wie so oft, bewirkten Zwangsmaßnahmendas Gegenteil.

Kepler suchte und fand, nachdem er Tycho Brahes Beob-achtungsdaten erhalten hatte, die das copernicanische Welt-bild bestätigenden Gesetze.

Allerdings mußte er zwei Dogmen überwinden, zwei für ab-solut richtig gehaltenen Lehren: das Dogma der gleichmäßi-gen Geschwindigkeit der Planeten und das Dogma derkreisförmigen Bewegung.

Die Aufgabe der Dogmen kam einer Gotteslästerung gleich.

Kepler aber ließ sich nicht beirren, die Theorie muß denBeobachtungen genügen, war seine Forderung. Acht MinutenDifferenz signalisierten ihm, daß die Theorie nicht stimmte.Copernicus hatte sich noch mit zehn Minuten Differenzzufrieden gegeben.

Auch Galilei konnte sich mit Keplers Astronomie nicht be-freunden. Er trat zwar für das copernicanische Weltbild ein,doch, wie Kepler schrieb, am falschen Ort und mit denfalschen Argumenten. Darin lag die Tragik von Galileis

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letztem Lebensabschnitt: Er hatte die Beweise in der Hand -Kepler hatte ihm seine Bücher geschickt - aber Galilei begriffsie nicht.

Galileis Gegner waren keine Ignoranten. Inwieweit Galileizum Widerruf gezwungen war oder ob er selbst seine Eitelkeitüberwandt, läßt sich kaum sagen. Jedenfalls ehrt ihn seinWiderruf, denn als Naturwissenschaftler, der er war, mußte ereinsehen, daß seine Argumente falsch bzw. nicht zwingendwaren, so daß die Astronomen der Kirche ihn auch ohneAndrohung der Folter zum Widerruf hätten veranlassenkönnen.

Dennoch gehört Galilei zu den großen Naturwissenschaftlern,der trotz seines Irrtums die neue Denkweise durchzusetzenhalf, indem er die Schwächen der bisherigen bloßlegte, vorallem aber auch durch die konsequente Anwendung der neuenMethode auf die Mechanik.

Fragt man nach den objektiven Stimuli, dann lassen sich füralle drei Wissenschaftler ähnliche anführen. Der JulianischeKalender, der auf dem ptolemäischen System beruhte,stimmte nicht mehr mit dem Umlauf der Sonne überein. Daßdieses auch nach dem geozentrischen System zu korrigierenwar, bewies der von Papst Gregor eingeführte Kalender. Dochviele - Seefahrer und Astrologen - waren durch-aus angenaueren Sternbeobachtungen interessiert, besser gesagt aneiner Theorie, die eine genaue Berechnung der Sternörterermöglichte. Peurbach und Regiomontan hatten die Wi-dersprüche der ptolemäischen Astronomie bemerkt, aber dasProblem noch auf der Basis des geozentrischen Weltbildes zulösen versucht.

Die gesellschaftliche Situation war den sogenannten Ketzernim 16. Jahrhundert günstig. Zum reichen Bürgertum in ita-lienischen oder deutschen Städten gehörten Techniker, In-strumentenbauer, Buchdrucker, freie Handwerker. Sie warenweltmännisch aufgeschlossen. Humanisten erweiterten die

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Kenntnisse antiken Schrifttums; man übte Kritik an denMißständen des Klerus. Der neue Geist der Naturwissenschaftführte zu neuen Verhaltensweisen der Persönlichkeiten. Sieblieben überzeugte Christen, aber sie unterwarfen sich nichtmehr der klerikalen Disziplin in Sachen Natur, für die nichtirgend eine Autorität, sondern die eigene Prüfung galt.

Copernicus hatte italienische, deutsche und polnische Ver-hältnisse kennengelernt und an mehreren Universitäten -Krakau, Bologna, Ferrara und Padua - studiert. In den Bio-graphien wird seine Gelehrsamkeit hervorgehoben, die mitseiner langen Studienzeit begründet wird. Er war aber keinbraver Student, sondern er kehrte im Jubeljahr 1500 ohneExamen nach Heilsberg zurück, weil er sich statt mit demkanonischen Recht mit Astronomie befaßt hatte. Unter den 16Domherren gab es nur zwei, die nicht promoviert waren; ihrAnsehen war entsprechend. Nur mit dem Versprechen,zusätzlich noch Medizin zu studieren, ließen ihn seine Kolle-gen erneut nach Italien gehen, wo er das Examen nachholte.

Interessant ist auch, daß Copernicus von 1500 bis 1509 keineSternbeobachtungen in seinem Werk aufführte. Wahr-scheinlich hatte er in Rom seine Hypothese vertreten undmassive Vorwürfe einstecken müssen Er wußte jetzt, was ihmgeschehen konnte, und blieb vorsichtig. Der verlockendenEinladung zu einer Konferenz der Astronomen Europas nachRom folgte er ebensowenig wie der Einladung eines Kardinalszu einem Vortrag über seine Astronomie. Er verzögerte denDruck seines Werkes, gab das Manuskript erst kurz vorseinem Tode zum Druck frei, ermuntert von Freunden unddem sachkundigen Rheticus, der, ein Anhänger Luthers, denneuen wissenschaftlichen Geist höher achtete als ideologischeVorurteile.

Keplers Mut dagegen grenzte an Wagemut. Verfolgungen,Entbehrungen, Heimatlosigkeit hinderten ihn nicht, seineGedanken und Gedankenspiele zu publizieren. Er verstand

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sich als Priester der Natur, berufen, Gottes geheimen Weltbauzu ergründen. Er forderte Galilei auf, mutig für Copernicuseinzutreten, dieses, falls in Italien nicht möglich, imdeutschen Reich zu tun, in dem die Freiheit des Christen-menschen garantiert sei.

Kepler war fast vogelfrei: Seine Glaubensbrüder verstießenihn; die Jesuiten und der Kaiser, die ihn umwarben, ließen ihnfallen, als er sich der Vereinnahmung widersetzte. Keplerwollte nicht konvertieren, er sah die Scheuklappen, die dieKonfessionen trugen.

Er wandte sich gegen die Verfolgung Andersgläubiger, erverurteilte den Krieg, ermahnte öffentlich den Kaiser, seinePolitik zu ändern, da er auf kriegerische Weise den Friedennie erringen könnte. Das konnte er sich immerhin erlauben,ohne deswegen verfemt oder in den Kerker geworfen zuwerden.

Galilei war fast so vorsichtig wie Copernicus. Nur im ver-trauten Kreise spottete er über diejenigen, die das coperni-canische Weltbild verurteilten. An der Universität las erAstronomie nach Ptolemäus. Auf Keplers Ermunterungenreagierte er äußerst zurückhaltend: Er wolle über dieEngstirnigen, die am Buchstaben klebten wie die Fliegen amLeim, lachen.

Aber er wurde kühn, als er nach der Erfingung des Fernrohresdie Jupitermonde, die Sonnenflecken und die Phasen derVenus entdeckt hatte. In seinem Enthusiasmus überschätzte erdie Bedeutung seiner Entdeckungen, die mit dem ptole-mäischen oder braheschen Weltbild ebensogut erklärt werdenkonnten wie mit dem copernicanischen.

Diese drei Astronomen unterscheiden sich von den 3 000damals in Europa wirkenden dadurch, daß sie das Problemnicht nur erkannten, sondern es auf neue Art zu lösen ver-suchten. Sie traten einer übermächtigen Tradition entgegen im

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Vertrauen darauf, daß die Wahrheit in den Dingen selbst liegt.Gott habe sich den Menschen nicht nur in der Bibel offenbart,sondern im gleichen Maße in der Natur. Er habe demMenschen den Verstand gegeben, nach und nach seine Werkezu erkennen und zu lobpreisen. Diese neue Denkweise führteauch auf anderen Gebieten zu Umwälzungen.

In der Chemie, die eng mit vielen Gewerben verbunden war,bahnte sich im 13. Jahrhundert ein neues Zeitalter mit derEntdeckung des Schießpulvers, des Alkohols sowie der Mi-neralsäuren an, mit denen die chemischen Operationen imBergbau, in der Metallurgie, in der Medizin beträchtlich er-weitert wurden.

Die mit der gewerblichen Arbeit verbundene Probierkunstwurde zur Experimentierkunst entwickelt mit dem Ziel, dieUrsachen der Naturerscheinungen zu ergründen. Damit wurdedem Denken eine neue Dimension erschlossen, der Praxis dieTheorie an die Seite gestellt.

In der Experimentierkunst regierte die wissenschaftlicheMethode. Man stellte Fragen an die Natur und zwang siedurch gezielte Experimente, Antworten zu geben, aus deneneine Anschauung, ein Modell, eine Theorie von den Natur-vorgängen und Stoffumwandlungen gewonnen werden konnte.

Zu den großen Chemikern dieser Umbruchzeit gehörtenAndreas Libavius, Lazarus Ercker, V. Biringuccio, Paracel-sus, Robert Boyle, John Majow, Angelus Sala, Daniel Sen-nert, Joachim Jungius. Sie haben die chemischen Kenntnissezusammengefaßt, erweitert, Theorien kritisiert, neue aufge-stellt, u. a. die Atomtheorie aufgegriffen.

Ihre Arbeitsweise war gekennzeichnet durch zwei Kriterien:Ausgangspunkt aller Überlegungen sollten die Beobachtungensein, die Praxis galt als Kriterium der Wahrheit.

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Diese Chemiker hatten gegenüber der herrschenden Schola-stik einen schweren Stand. Sennert mußte sich gegen denVorwurf der Ketzerei ebenso verteidigen wie Jungius, dessenantiaristotelische Ansichten auf einer Art schwarzen Listezusammengestellt wurden. Den Anhängern der Atomistikwurde 1625 in einem Urteil in Paris körperliche Züchtigungund Todesstrafe angedroht.

Robert Boyle, führendes Mitglied der Royal Society, der inseinem Buch "The Sceptical Chemist" besonders die herr-schenden Elementbegriffe in Frage stellte und generell Kritikan der Methode der Peripatetiker übte, wurde vorgeworfen,die aristotelische Philosophie zu diskreditieren und damit dieUniversitäten und die staatliche Religion zu gefährden.

Rudolf Glauber, Johannes Kunckel und Johann Joachim Be-cher betonten die Nützlichkeit der Chemie für die Gewerbe.Sie wollte die Chemiker, die noch immer nach dem Stein derWeisen, dem Großen Elixier suchten, auf praktische Aufga-ben orientieren. Bechers theoretische Ambitionen führten ihnzu der Theorie der brennbaren Erde, der terra pinguis, mit derer der Phlogistontheorie vorarbeitete.

Das Engagement von Boyle, Glauber und Becher kulminiertein den Arbeiten von Georg Ernst Stahl, der sowohl die neueDenkweise, den theoretischen Ansatz Bechers als auch dieOrientierung auf die Praxis zu einer umfassenden Lehreausbaute, die die Chemie des 18. Jahrunderts bestimmte undden Umschwung zur modernen Chemie vorbereitete.

Stahl fühlte sich dem Pietismus verbunden, einer religiösenErneuerungsbewegung, die zum Handeln drängte, sich kri-tisch mit der Überlieferung auseinandersetzte, aufklären unddie Lebensumstände verbessern wollte.

Die Aufklärung, in der Historiographie oft nur als literarischeund philosophische Bewegung beachtet, wurde von Stahl undseinen Schülern umso wirkungsvoller vorangetrieben, als sie

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nicht nur auf die Ideologie, sondern zugleich auf dieÖkonomie einwirkten. Ihr Kampf richtete sich gegen die alsGoldmacherei bezeichnete Alchemie, von der man sichentschieden distanzierte, da sie unökonomisch war; damitkonnten sich Fürsten, nicht aber Gewerbetreibende beschäf-tigen. Chemie sollte von nun an die vernünftige, auf Na-turerkenntnis und deren praktische Verwertbarkeit gerichteteTätigkeit sein.

Die Chemiker erklärten den Handwerkern, Fabrikanten undLandwirten, welchen Nutzen sie erzielen konnten, wenn siedie Erkenntnisse der Chemie in ihrer Praxis anwendeten.Gleichzeitig wandten sie sich gegen Aberglauben und sub-stanzlose Spekulation und forderten eine exakte Beweisfüh-rung. Sie bereiteten den Boden für die Verselbständigung derChemie gegen Ende des 18. Jahrhunderts und ihre In-stitutionalisierung.

Immerhin war ihr Einsatz nicht problemlos, kämpften siedoch gegen eine Wand von Vorurteilen unter feudalabsoluti-stischen Verhältnissen, waren den Despoten und ihrenNutznießern, Mißverhältnissen und Intrigen ausgesetzt. Stahlwar Leibarzt des Preußenkönigs Wilhelm I., des Sol-datenkönigs, der seine Minister prügelte, seine Gelehrten inder Tabaksrunde dem Spott preisgab. Justi wurde von dessenSohn, Friedrich II. als Opfer einer Intrige ins Gefängnisgesteckt, die erst nach Justis Tod von Erxleben aufgedecktwerden konnte. Priestley wurde sein Haus über dem Kopfangezündet, weil er für die Französische Revolution eintrat.

So finden wir die Chemiker des 18. Jahrhunderts ganz aufSeiten des - wie wir heute sagen würden - Fortschritts im Sinnvon Freiheit, Humanität, Frieden. Da sie ab 1750 ihre Werkefast überall in der Nationalsprache veröffentlichten, setzteeine schnelle Übersetzertätigkeit ein, die von Petersburg bisMadrid, von England bis Italien ganz Europa umspannte.

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Lavoisier krönte den Entwicklungsprozeß der Chemie Endedes 18. Jahrhunderts mit der Schaffung des antiphlogistischenSystems.

Er war zunächst selbst Phlogistiker. Dem Nur-Chemiker warer durch seine physikalischen Kenntnisse voraus. Für ihn warbei den chemischen Umsetzungen die quantitative Seite ent-scheidend. Der Umstand, daß bei der Oxydation kein Ge-wichtsverlust, sondern das Gegenteil eintrat, ließ ihm keineRuhe. Einige seiner Vorgänger, wie Lomonosov, ja, auchStahl selbst, hatten diese Beobachtung ebenfalls gemacht,aber erst Lavoisier zog die entscheidenden Schlüsse.

Das Experimentieren mit Gasen war durch Hales und Blackgerade erst entwickelt worden. Die Entdeckung des Sauer-stoffs, von Scheele Feuerluft, von Priestley depholgisierteLuft genannt, führte Lavoisier auf den richtigen Weg. Als esCavendish gelang, aus Wasserstoff und Sauerstoff Wasserherzustellen, war Lavoisiers Theorie gesichert.

Lavoisier, ein geschickter Experimentator, verdankte dieEntdeckungen für seine Theorie den Obengenannten. DerVorwurf, er habe nur die Früchte anderer geerntet, ist jedochunberechtigt; denn die vorurteilsfreie Prüfung der Un-tersuchungsbefunde und die theoretische Durchdringungwaren sein Werk.

Lavoisier wurde unter der Diktatur der Jacobiner hingerichtet.Die Anklagepunkte waren fadenscheinig, aber Diktaturenfragen nicht nach Recht und Unrecht, ihr oberstes Gesetz istdie Willkür, gleich, ob sie religiös oder weltanschaulichverbrämt wird. Ihnen geht es um die Erhaltung der Macht undder damit verbundenen Privilegien.

Lavoisiers Zunftgenossen sind nicht für ihn eingetreten,wahrscheinlich aus Angst, dadurch selbst in die Schußlinie zugeraten. Der Mann, der die moderne Chemie begründete, starbunter der Guillotine. Auf seinen Wunsch, ein wichtiges

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Experiment zu Ende führen zu dürfen, wurde ihm geant-wortet: "Die Republik braucht keine Gelehrten". Aus seinemletzten Brief aus dem Gefängnis geht hervor, daß er seinenFeinden überlegen blieb.

Die deutschen Chemiker wie Girtanner, Hermbstädt, Weigel,Lampadius sorgten für das Bekanntwerden der La-voisier'schen Befunde und theoretischen Schlußfolgerungen.Zögernd, aber doch relativ bald, übernahmen sie wie ihreKollegen in den anderen europäischen Ländern das neue Sy-stem. Aber während in Frankreich und in Schweden dieChemie schnell voranschritt, stagnierte sie in den deutschenLändern. Erst Justus Liebig, dessen Leben und Wirken zu denexemplarischen zählt, erzielte einen neuen Aufschwung, derDeutschland bis zum ersten Weltkrieg auf vielen Gebieten derChemie in Führung brachte.

Liebig machte keine so epochalen Entdeckungen wie Scheele,Priestley oder Cavendish; er begründete auch keine Theoriewie Lavoisier oder Dalton oder Berzelius, dennoch förderte erdie Chemie wie kein anderer. In einer Zeit, in der die Chemieals Hilfswissenschaft der Medizin und Pharmazie oder auchals Kuriosität angesehen wurde, als man über einen, der alsBerufswunsch Chemiker angab, in wildes Gelächterausbrauch, weil man so einen Beruf nicht kannte, in einersolchen Zeit begann Liebig den Regierenden, Gebildeten,Bürgern und Bauern klarzumachen, was die Chemie bzw. dieNaturwissenschaften sind, daß Kultur und Zivilisation ohnesie nicht entwickelt werden können.

Als Liebig seine Laufbahn begann, war die industrielle Re-volution in Frankreich und England in vollem Gange. Aberauch in einigen deutschen Ländern wie Sachsen oder demRuhrgebiet machte sie Fortschritte. Während seiner Studien inParis war Liebig der Rückstand der deutschen Wirtschaft undNaturwissenschaft gegenüber der französischen deutlichgeworden. In der Chemie erblickte er im besonderen Maße

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die Wissenschaft, die alle Bereiche des Lebens voranbringenkonnte.

Daraus zog er die entsprechenden Schlußfolgerungen. Erorganisierte den chemischen Unterricht so, daß eine größereAnzahl von Studenten systematisch gleichzeitig in die Praxisund in die Theorie eingeführt und zum selbständigen Arbeitenbefähigt werden konnte. Von den gebildeten Kreisen und denRegierungen verlangte er eine der Bedeutung der Chemieangemessene Förderung. Er setzte die Chemie zur Lösungindustrieller, landwirtschaftlicher, medizinischer undphilosophischer Probleme ein.

Liebig, der als Schüler gescheitert war, wurde ein einzigarti-ger Lehrer und mutiger Wissenschaftler, der sich nichtscheute, Versäumnisse mächtiger Regierungen anzuprangern.Da er gleichzeitig die Fähigkeit besaß, klar und einfach zuschreiben, Spezifisches mit Allgemeinem zu verbinden,gelang es ihm bald, begeisterte Schüler auszubilden und vieleMenschen für die Chemie zu gewinnen. Er konnte nicht ver-ordnen, sondern nur überzeugen, aber er hatte die besserenArgumente und die bessere Praxis.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich dieStellung der Chemie in der Gesellschaft gefestigt. Erfolgrei-che Chemiker entwickelten Geschäftssinn, wurden Unter-nehmer wie Solvay oder beteiligten sich an Unternehmen,ließen sich Erkenntnisse und Entdeckungen bezahlen. DasMilitär entdeckte die Potenzen der Chemie ebenso wie In-dustrielle, Kaufleute, Politiker. Fünfzig Jahre, nachdem manüber Liebigs Berufswunsch gelacht hatte, war der Chemikerein begehrter und hochbezahlter Beruf geworden. Man bautekostspielige chemische Institute in der sicheren Erwartung,daß aus ihnen neben qualifizierten Chemikern wirtschaftlichverwertbare Verfahren hervorgehen würden. Damit wurde dieChemie ein mächtiger Faktor in der Gesell

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schaft, und die Chemiker wurden in eine Verantwortung ge-rissen, deren Konsequenzen sie nicht überblicken konnten.

Ein extremes Beispiel dafür ist das Leben und Wirken AlfredNobels, des Erfinders der Initialzündung, des Dynamits unddes rauchlosen Pulvers, Chemiker, Industrieller und Fi-nanzmann in einer Person. Er wollte den industriellen Fort-schritt und war besessen von der Idee, Dinge, die überholtwaren, zu verbessern, seine Erfindungen sollten friedlichenZwecken dienen. Aber seine Fabriken in den verschiedenstenLändern belieferten auch gegeneinander kriegführendeStaaten.

Nobel erkannte die Problematik seiner Situation und machtesich Gedanken, wie der von ihm gehaßte Krieg ein für allemalaus der Welt geschafft werden könnte. Er hatte wenigVertrauen in die menschliche Natur, er hielt auch nicht vielvon Friedenskongressen. Eher als diese würden seine Waf-fenfabriken dem Krieg den Garaus machen. Niemand würdeso unverfroren sein, eine Waffe anzuwenden, die mit einemSchuß ein Regiment töten könnte. Noch besser wären Waffen,die nicht nur den Soldaten an der Front, sondern auch dieZivilbevölkerung vernichten würden. Wenn das Da-moklesschwert über jedermanns Haupt schwebte, dann würdedas Wunder geschehen und jede kriegerische Handlunginnerhalb kürzester Zeit aufhören. Er dachte dabei noch nichtan Atomwaffen, sondern an biologische.

Jack London erzäht eine Geschichte aus einer Goldgrä-beransiedlung, in der Duelle die Bevölkerung dezimierten.Alle Verbote und Ermahnungen nützten nichts, bis der Erlaßdurchgesetzt wurde: "Der Überlebende wird gehenkt."

Nobel aber setzte nicht auf die Androhung der Vernichtungallein, er glaubte auch, daß jede neue Entdeckung das men-schliche Hirn verändere und die neue Generation zur Auf-nahme neuer Ideen befähige. Mit dem Licht würde sich derWohlstand verbreiten und mit diesem der größte Teil der Übel

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verschwinden, die er als "Erbteil finsterer Zeiten" be-zeichnete.

In Hinsicht auf die Vernichtung scheint sich Nobels Wunschseit einigen Jahrzehnten erfüllt zu haben. Nur hat er wederden ersten noch den zweiten Weltkrieg erlebt. Und das heu-tige Potential der Vernichtung hat er sich nicht vorstellenkönnen. Hinzu kommen die Gefährdungen aus der Anwen-dung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse für friedlicheZwecke.

Im ersten Weltkrieg wurden Naturwissenschaftler beiderSeiten in den Strudel des Chauvinismus hineingerissen. Daswar umso tragischer, als viele vordem gute persönliche, jafreundschaftliche Beziehungen unterhalten hatten und sich alsGelehrtennation verstanden. Jetzt lieferten sie ihren Re-gierungen und Generälen bessere Waffen für den Sieg undbeschuldigten sich gegenseitig der Barbarei. Am krassestenerscheint das Beispiel Fritz Habers, der zusammen mit CarlBosch dem deutschen Generalstab nach dem gescheitertenBlitzkrieg gegen Frankreich die Möglichkeit verschaffte, nochdrei Jahre lang Soldaten in den Tod zu schicken. Ja, der demzögernden Generalstab die chemische Kampfführung empfahlmit der Begründung, diese Art zu töten wäre humaner als diemit Pulver und Blei.

Fünfzig Jahre zuvor, während des Krieges 1870/71, hatte Ju-stus von Liebig seine Kollegen in Paris unterstützt. Er fordertedie deutsche Regierung auf, sich um Versöhnung mit dem tiefverwundeten französischen Volk zu bemühen und einengerechten Frieden zu schließen.

Wie anders hätten sich damals schon die deutsch-französi-schen Beziehungen entwickelt, hätte die Vernunft über denSiegestaumel triumphiert.

Was für eine Änderung des Bewußtseins! Nachdem die natur-wissenschaftliche Forschung seit Generationen um ihre

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Freiheit und um die Förderung der Zivilisation gekämpfthatte, geriet sie in eine Liason mit den Mächten zur Zerstö-rung der Zivilisation. Auch die Erfahrungen des ErstenWeltkriegs führten nicht zu einer besseren Einsicht. In derStudie über "Naturwissenschaft und Technik und nationalso-zialistische Ideologie" kommt der Herausgeber Mertens zudem Ergebnis: "Das Herrschaftssystem des NS-Staates be-ruhte auch auf dem guten Funktionieren der Wissenschaftlerund Ingenieure, auf ihren Leistungen, auf der kurzsichtigen,apolitischen Technokratie." (H. Mertens, S. 7)

An warnenden Stimmen gegen den Mißbrauch der Naturwis-senschaft hat es in diesem Jahrhundert nicht gefehlt. Inseinem Nobelvortrag sagte Pierre Curie:

"Man kann auch annehmen, daß das Radium in verbrecheri-schen Händen sehr gefährlich werden könnte, und hier stelltsich die Frage, ob es für die Menschheit vorteilhaft ist, dieGeheimnisse der Natur zu kennen, ob sie reif genug ist, sichdiese Geheimnisse nutzbar zu machen, oder ob diese Er-kenntnis ihr nicht schädlich sind. Nobels Entdeckungen sindein charakteristisches Beispiel dafür: Die mächtigen Explo-sivkörper haben den Menschen erlaubt, großartige Arbeitendurchzuführen. Doch sind sie auch ein furchtbares Instrumentder Zerstörung in den Händen der großen Verbrecher, die dieVölker in den Krieg hetzten.

Ich bin wie Nobel der Ansicht, daß die Menschheit mehrGutes als Böses aus den neuen Entwicklungen gewinnenkann." (E. Curie, 1968, S. 311).

Offensichtlich entwickelte sich hier ein Defizit, das zumHolocaust führen kann. Denn neben der ABC-Bedrohungkommt das ökologische Dilemma, das von vielen Menschennicht in seiner todbringenden Konsequenz verstanden wird.Sonst würden sie mit ihrer Umwelt anders umgehen und nichteiner speziellen politischen Gruppierung das Feld überlassen.

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Nicht wenige machen heute die Naturwissenschaft dafür ver-antwortlich, daß die Luft verpestet, das Wasser verseucht,Raubbau an den Bodenschätzen getrieben wird. Auf dieseGefahren haben bedeutende Naturwissenschaftler, wie SvanteArrhenius oder Wilhelm Ostwald, bereits vor 60 Jahrenhingewiesen.

Im Jahre 1955 verfaßten 51 Nobelpreisträger folgende Er-klärung: "Mit Freuden haben wir unser Leben in den Dienstder Wissenschaft gestellt. Sie ist, so glauben wir, ein Weg zueinem glücklicheren Leben der Menschen. Wir sehen mitEntsetzen, daß eben diese Wissenschaft der Menschheit Mittelin die Hand gibt, sich selbst zu zerstören." (J. Hemleben,1978, S. 269)

Seitdem haben viele Naturwissenschaftler zum Umdenkenaufgerufen. Aber von einem durchschlagenden Erfolg kannnoch nicht gesprochen werden.

Manche meinen, daß nicht sie, sondern nur die Philosophenoder Politiker dazu in der Lage wären.

Dazu möchte ich Seume zitieren. "Man irrt sich oft jämmer-lich, wenn man den Ministern in ihren öffentlichen Ver-handlungen vernünftige Konsequenz unterlegt. Die Folgezeigt bald, daß es Schwachheit war, was wir für ordentlichenPlan zu halten geneigt waren. Die Schwachheit wird dannFeigheit, die Feigheit Schurkerei, die Schurkerei Elend, dasElend Verderben." (J. G. Seume, 1983, Bd. III, S. 242)

Positiv ausgedrückt, auch die bestmögliche Regierung, unddas wird immer eine frei gewählte, also demokratische sein,bedarf der Unterstützung. Wer aber könnte sie wirkungsvollerunterstützen als diejenigen, die über die Sachkenntnisseverfügen? Und wer könnte besser die Verantwortungwahrnehmen?

Möglicherweise wird der Ruf: "Zurück zur Natur!" lauterwerden. Aber wer möchte, bei aller Vorliebe für sogenannte

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Idylle früherer Jahrhunderte, heute wirklich ohne Elektrizitätzurechtkommen oder in ständiger Angst vor Epidemienleben? Es hieße, den Kopf vernebeln, wollte man nur dieGebrechen seiner Zeit bejammern. "Alle sauren Moralisten",schrieb Seume, "hielten ihr Zeitalter für das schändlichste,und sie haben alle recht, denn die gegenwärtige Schande istimmer die größte."

Der Exkurs in die Geschichte der Naturwissenschaft solltezeigen, welche Bedeutung neue Impulse für die Orientierungder Menschen haben, aber auch, wie schwer und kompliziertsie durchzusetzen sind.

Wie lange brauchte die Astronomie, um ein der Wirklichkeitentsprechendes Weltbild zu schaffen? Wie lange benötigtendie Chemiker zur Klärung des Elementbegriffs und im Vereinmit den Physikern zur Erhellung der atomaren Struktur derMaterie?

Wie schwer tut sich die Welt heute noch mit der Anerkennungund Verwirklichung der Menschenrechte, ja, selbst mit derRealisierung solcher elementaren wie der Freiheit, derGleichberechtigung oder der Selbstbestimmung?

Neue Erkenntnisse setzten sich nicht von allein durch. Immermußten einige voranschreiten, Mißdeutungen undSchlimmeres in Kauf nehmen, um etwas Besseres zu bewir-ken, was gemeinhin mit Fortschritt bezeichnet wird. Wobeiman bedenken sollte, daß nicht jeder Fortschritt unbedingt einSchritt nach vorn sein muß.

Ist es angesichts solcher Erfahrungen unbegründet, zu hoffen,daß die Menschen trotz aller Komplikationen mit denheutigen Problemen fertig werden?

Linus Pauling sagte dazu: "Ich bin überzeugt, daß das Stu-dium der Naturwissenschaften, das Erlernen der wissen-schaftlichen Methodik durch weite Kreise letzten Endes der

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Menschheit bei der Lösung der großen gesellschaftlichen undpolitischen Probleme helfen wird." (L. Pauling, 1962, S. 14)

Damit sind besonders Naturwissenschaftler aufgerufen, dafürzu sorgen, daß die Gewässer und die Luft wieder sauberwerden und die Bedrohung durch die Vernichtungswaffengebannt wird.

Diese Aufgabe ist von lebenswichtiger Bedeutung und vonhohem ethischem Rang; sie erfordert wirklichen Idealismus.

Der Exkurs in die Geschichte zeigt ebenfalls, daß die Ein-stellung der Menschen zur Natur, ihr Umgang mit der Natur,sich wandelte. Nun ist wieder eine Situation erreicht, in dereine Wandlung erfolgen muß, die in ihrer Bedeutung dercopernicanischen Revolution gleichkommt.

In seinem Buch "Das haben wir nicht gewollt" zitiert Johan-nes Hemleben Max Born: "Wir stehen vor einem Scheide-wege, wie ihn die Menschheit auf ihrer Wanderung nochniemals angetroffen hat... Es kommt darauf an, daß dieseunsere Generation es fertigbringt, umzudenken. Wenn sie esnicht kann, so sind die Tage der zivilisierten Menschheit ge-zählt." (J. Hemleben, 1978, S. 19)

Der "Club of Rome" proklamierte 1972: "Wir müssen neueDenkgewohnheiten entwickeln, die zu einer grundsätzlichenÄnderung menschlichen Verhaltens führen." (J. Hemleben,1978, S. 20)

Alle Mahnungen, Diskussionen und Verhandlungen überÖkologie und Rüstungsbau offenbaren aber noch immerRatlosigkeit und bleiben ohne durchgreifende Ergebnisse.

Liegt es vielleicht daran, daß die Zahl der "Rufer in der Wü-ste" noch zu klein ist?

Wer anders als die Naturwissenschaftler aber könnte dieGeister, die sie riefen, bändigen und eine Neuorientierung derGesellschaft bewirken!

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Noch nie war die Zahl der Naturwissenschaftler so groß wieheute, noch nie war ihr Einfluß, waren ihre Möglichkeitenstärker. Sollte daraus nicht die Kraft erwachsen, wie einstCopernicus oder Kepler, Lavoisier oder Liebig ein neuesBewußtsein zu erzeugen!

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Autor

WILHELM STRUBE

Dr. habil., Leipzig/DDR, freischaffender Wissenschaftler undSchriftsteller.

Studium der Geschichte, Ökonomie und Philosophie 1947 -1952 in Leipzig, u. a. bei Block und Markoff; wissenschaftli-cher Assistent von 1953 - 1969 in Rostock und Berlin. 1961Promotion über 'Die Geschichte der Naturwissenschaften';1969 Habilitation an der Akademie der Wissenschaften inBerlin über 'Geschichte der Chemie - die Geschichte in derChemie'; bis 1975 Privatdozent an der Akademie der Wissen-schaften in Berlin; ab 1975 freischaffender Wissenschaftlerund Schriftsteller.

Arbeitsgebiete: Geschichte der Chemie; Forscherpersönlich-keiten in der Chemie; zur Geschichte wissenschaftlicherRevolutionen in den Naturwissenschaften.

Veröffentlichungen u.a.: Die Chemie und ihre Geschichte;Der historische Weg der Chemie, 2 Bände; zahlreiche Aufsät-ze in wissenschaftlichen Zeitschriften; historische Romane.Jugendbücher und Kriminalromane unter Pseudonym.