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1 Über die Geschichte der Anatomie Definition: aus dem Griechischen: aná = auf, tomé = Schnitt. Die Anatomie in Antike und Mittelalter Die menschliche Anatomie hatte in den alten Hochkulturen und in der klassischen Antike keine grosse Bedeutung. Die Medizin im alten Griechenland wurde durch die Vier-Säfte-Lehre von Hippokrates geprägt. In der Vier-Säfte-Lehre, auch Humoralpathologie genannt, entstehen Krankheiten durch Störungen in der Ausgewogenheit von Blut, Schleim, schwarzer und gelber Galle. (Hippokrates lebte 460-375 v. Chr.) Die Mumifizierungen und Einbalsamierungen im alten Ägypten wurden durch Mumienmacher ohne wissenschaftlich-anatomische Ambitionen durchgeführt. D.h. die Leichen wurden nur durch kleine Eröffnungen von den Bauch- sowie Brusteingeweiden und vom Gehirn befreit, um die Körperhöhlen von innen austrocknen und ausfüllen zu können. Die ersten Sektionen des menschlichen Körpers – und damit die wirklichen Anfänge der Anatomie als wissenschaftliche Disziplin – sind im 3. Jahrhundert vor Christus, in Alexandria, der damals griechischen Hauptstadt Ägyptens, nachweisbar. Herophilos von Chalkedon und Erasistratos von Keos erforschten die Anatomie systematisch mittels Leichenöffnung, zeitweise gar mittels Sektionen an lebenden, verurteilten Verbrechern. Anatomische Beschreibungen des Gehirns und des 4. Ventrikels stammen aus dieser Zeit. Dieser Zeitabschnitt dauerte jedoch nur ein paar Jahrzehnte. Zu gross war nach wie vor die Hemmschwelle vor dem Tabubruch der Leichenöffnung. Und zu stark waren die Widerstände anderer wissenschaftlicher Richtungen, wie vor allem der Empiriker-Schule. Claudius Galenus Ein bedeutender Schritt in der Geschichte der Anatomie erfolgte erst wieder im zweiten nachchristlichen Jahrhundert durch Claudius Galenus. Galen wurde 129 n. Chr. im damals griechischen Pergamon, dem heute in der Türkei liegenden Bergama, geboren. Nach Studien in Philosophie und Medizin praktizierte er im antiken Rom, wo er als Leibarzt des Kaisers Marc Aurel in hohem Ansehen stand und öffentliche anatomische Demonstrationen abhielt. Im so genannten „Corpus Galenicum „ verfasste er ein Werk, indem er das medizinische Wissen seiner Zeit zusammenfasste und systematisierte. Damit beeinflusste und bestimmte er das medizinische Denken und die Heilkunde von der Spätantike bis in die frühe Neuzeit, also für weit mehr als ein Jahrtausend.

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Über die Geschichte der Anatomie Definition: aus dem Griechischen: aná = auf, tomé = Schnitt. Die Anatomie in Antike und Mittelalter Die menschliche Anatomie hatte in den alten Hochkulturen und in der klassischen Antike keine grosse Bedeutung. Die Medizin im alten Griechenland wurde durch die Vier-Säfte-Lehre von Hippokrates geprägt. In der Vier-Säfte-Lehre, auch Humoralpathologie genannt, entstehen Krankheiten durch Störungen in der Ausgewogenheit von Blut, Schleim, schwarzer und gelber Galle. (Hippokrates lebte 460-375 v. Chr.) Die Mumifizierungen und Einbalsamierungen im alten Ägypten wurden durch Mumienmacher ohne wissenschaftlich-anatomische Ambitionen durchgeführt. D.h. die Leichen wurden nur durch kleine Eröffnungen von den Bauch- sowie Brusteingeweiden und vom Gehirn befreit, um die Körperhöhlen von innen austrocknen und ausfüllen zu können. Die ersten Sektionen des menschlichen Körpers – und damit die wirklichen Anfänge der Anatomie als wissenschaftliche Disziplin – sind im 3. Jahrhundert vor Christus, in Alexandria, der damals griechischen Hauptstadt Ägyptens, nachweisbar. Herophilos von Chalkedon und Erasistratos von Keos erforschten die Anatomie systematisch mittels Leichenöffnung, zeitweise gar mittels Sektionen an lebenden, verurteilten Verbrechern. Anatomische Beschreibungen des Gehirns und des 4. Ventrikels stammen aus dieser Zeit. Dieser Zeitabschnitt dauerte jedoch nur ein paar Jahrzehnte. Zu gross war nach wie vor die Hemmschwelle vor dem Tabubruch der Leichenöffnung. Und zu stark waren die Widerstände anderer wissenschaftlicher Richtungen, wie vor allem der Empiriker-Schule.

Claudius Galenus Ein bedeutender Schritt in der Geschichte der Anatomie erfolgte erst wieder im zweiten nachchristlichen Jahrhundert durch Claudius Galenus. Galen wurde 129 n. Chr. im damals griechischen Pergamon, dem heute in der Türkei liegenden Bergama, geboren. Nach Studien in Philosophie und Medizin praktizierte er im antiken Rom, wo er als Leibarzt des Kaisers Marc Aurel in hohem Ansehen stand und öffentliche anatomische Demonstrationen abhielt. Im so genannten „Corpus Galenicum „ verfasste er ein Werk, indem er das medizinische Wissen seiner Zeit zusammenfasste und systematisierte. Damit beeinflusste und bestimmte er das medizinische Denken und die Heilkunde von der Spätantike bis in die frühe Neuzeit, also für weit mehr als ein Jahrtausend.

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Wie kam Galen nun zu seinen Forschungsergebnissen, in einer Zeit, wo die Sektion menschlicher Leichen aus religiösen Gründen nicht statthaft war? Die Anatomie der Knochen studierte er anhand von Skeletten und Knochen aus zerstörten Grabstätten. Für die Kenntnis oberflächlicher anatomischer Strukturen konnte er auf Erfahrungen als Gladiatorenarzt zurückgreifen. Daneben sezierte er Hunde, Rinder, Bären und andere Tiere, sogar einen Elefanten, vor allem aber Schweine und Affen, weil letztere dem Menschen in ihrer Anatomie am ähnlichsten schienen. Galen übertrug die gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen – das heisst, seine Anatomie ist in weiten Teilen eine Tieranatomie. Galens Werke bildeten das Standardwerk für anatomische Vorlesungen. Was ihn aber zum geschichtlichen Phänomen macht, ist die Tatsache, dass es ihm gelang, den medizinischen Fortschritt für Jahrhunderte zu blockieren. Wohl darf ihm als Verdienst angerechnet werden, das medizinische Wissen seiner Zeit systematisch zusammengestellt und in über 400 Schriften dargestellt zu haben, selbst war er jedoch kein schöpferischer Forscher. Er wusste sich zu verkaufen. Sein gesamtes Werk ist voller Selbstlob und Polemik gegen andere Ärzte, und bis auf Hippokrates liess er niemanden neben sich gelten. Unglaubliche dreizehnhundert Jahre machte die Anatomie, wie überhaupt die gesamte Medizin, keine nennenswerten Fortschritte. Man gab sich mit dem Kopieren alter Schriften, hauptsächlich jener Galens, zufrieden. Der Verfall des römischen Reiches im 5. Jahrhundert brachte auch einen Niedergang im wissenschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Bereich mit sich. Das Zentrum der abendländischen Gelehrsamkeit verlagerte sich nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Die Araber begannen dort anzuknüpfen, wo die Kultur der Römer aufgehört hatte. Erst ab dem 11. Jahrhundert fanden die antiken Schriften wieder verstärkt Eingang in die abendländische Kultur, wo in Salerno die erste europäische ärztliche Ausbildungs- und Forschungsstätte des Mittelalters entstand. Hier wurden eine Vielzahl der arabischen, bzw. der durch die arabische Medizin überlieferten antiken Quellen ins Lateinische übersetzt. (…und das Kreuzbein wurde zum Os sacrum). Der anatomische Unterricht wurde mittels Tiersektionen, v.a. am Schwein, und anhand von Schautafeln durchgeführt. Zu einem Durchbruch in der mittelalterlichen Anatomiegeschichte kam es aber erst im 13. Jahrhundert in Bologna als mit dem Anatomen Mondino di Liuzzi, die Humansektion allmählich in den Universitäten eingeführt wurde. Er stellte die Sektion in den Mittelpunkt der anatomischen Erkenntnis. Er verfasste mit seiner 1326 vollendeten „Anathomia Mundini“ eine Schrift, die bis ins frühe 16. Jahrhundert das anatomische Lehrbuch schlechthin darstellte und das Dank der Erfindung des Buchdrucks im Jahre 1455 auch weit verbreitet werden konnte. Wirklich neu in ihren Inhalten war die „Anatiomia Mundini„ jedoch nicht. Mondino hat seine Sektionsergebnisse den überlieferten anatomischen Vorstellungen untergeordnet, und dadurch die antike Autorität v.a. von Galen nie wirklich in Frage gestellt. Abgesehen von der kurzen Phase in der alexandrinischen Medizin, im 3. vorchristlichen Jahrhundert, stellte die Sektion des menschlichen Leichnams einen grossen Tabubruch dar, eine grobe Verletzung der Unantastbarkeit des menschlichen Körpers. Ein generelles Sektionsverbot durch die Kirche hat es jedoch nicht gegeben. Zwar wird in der Geschichtsschreibung oftmals die von Papst Bonifaz VIII. im Jahre 1299 erlassene Bulle dahingehend interpretiert. Bonifaz verbot die Zerstückelung und Abkochung von Leichnamen

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und damit das gebräuchliche Verfahren, die Leichen von hochgestellten Persönlichkeiten, die fern ihrer Begräbnisstätte verstorben waren, durch entsprechende Präparationstechniken – das heisst die Zerstückelung, Ausweidung und Abkochung – transportfähig zu machen, um die Gebeine an jenem anderen Ort bestatten zu können. Seitens der Kirche ausdrücklich erlaubt wurde Sektionen allerdings erst durch Papst Sixtus IV. im Jahre 1482.

Wie eine solche Lehrsektion ablief sehen wir in ABB.1: An der Lehrkanzel trägt der Anatomieprofessor die Inhalte der Anatomia Mundini vor, während der Dissektor die eigentliche Sektion durchführt und der Demonstrator den anwesenden Zuschauern die anatomischen Strukturen aufzeigt. Der Ablauf der Leichenöffnung erfolgte in vier Schritten, d.h. nach dem Bauchraum wurden zuerst die Brust und dann der Kopf mit seinem Inhalt seziert, den Abschluss bildeten die Wirbelsäule und die Extremitäten. ABB. 3, 4, 6.

Manche anatomische Erkenntnisse behielten ihre Gültigkeit über Generationen von Forschern. Wurden nicht hinterfragt, einfach auch, weil das Erklärungsmodell so einleuchtend war. So verhielt es sich mit dem siebenkammerigen Uterus. ABB.5. Das Siebenkammermodell, dessen Wurzeln wohl in der byzantinischen Medizin zu suchen sind, wurde zunächst andeutungsweise in der salernitanischen Schule des 12. Jahrhunderts erwähnt, wo es aber weiterentwickelt wurde und von wo es Eingang in die anatomische und gynäkologische Literatur des 13. bis 15. Jahrhunderts fand. Das Modell verbindet und integriert eine Vielzahl antiker Vorstellungen und Theorien wie beispielsweise die mystisch-symbolhafte Bedeutung der Zahl Sieben, die so genannte „Rechts-Links-Theorie“ (d.h. die Bestimmung des Geschlechts durch die Seitigkeit) und die

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„Wärmetheorie“, die etwa auch in der Humoralpathologie zu finden ist, und wonach in vorliegendem Zusammenhang der Wärmegrad für die geschlechtliche Ausbildung von Bedeutung gewesen ist. Auch Themenkomplexen wie Intersexualität und Mehrlingsschwangerschaften hält dieses Modell stand.

Wie wir uns dieses Gebärmutter-Modell vorzustellen haben, wird wie folgt beschrieben: Der Uterus wird nach der Siebenkammerlehre in sieben Kammern aufgeteilt; drei liegen auf der rechten, drei auf der linken Seite, eine befindet sich genau in der Mitte am Scheitel der Gebärmutter. Die rechten Zellen sind heiss, die linken Zellen kalt; in der dazwischen liegenden Scheitelzelle halten sich Wärme und Kälte die Waage. Beginnen wir mit der Zelle rechts aussen: sie ist am wärmsten, und ein Keimling, der in ihr heranreift, entwickelt sich zum Mann und repräsentiert das männliche Geschlecht in höchster Vollendung. Die zweite Zelle liegt weniger weit rechts, besitzt entsprechend weniger Hitze; Kinder, die in ihr heranwachsen, werden ebenfalls Männer, zeigen den männlichen Geschlechtshabitus aber weniger ausgeprägt.

Die dritte Gebärmutterkammer ist bloss lauwarm und kann den Keimen, die in ihr heranwachsen, das männliche Geschlecht nur noch schwach aufprägen: die Föten, die aus ihr hervorgehen, entwickeln sich zu weibischen Männern. Die Scheitelzelle ist ausgewogen temperiert, d.h. sie ist sowohl warm als auch kalt; Früchte, die aus ihr stammen, sind dementsprechend sowohl Mann wie auch Weib und werden zu echten Hermaphroditen. Die fünfte Zelle ist bereits kühl, besitzt aber noch soviel Wärme, dass sie Menschen ausprägt, die zwar Frauen sind, aber deutlich männliche Wesensart zeigen, so dass sie als Mannweiber anzusprechen sind. Auch die sechste Gebärmutterkammer weist noch etwas Wärme auf und verleiht den aus ihr geborenen Mädchen einen leicht männlichen Einschlag. Voll ausgeprägte Frauen, die den weiblichen Geschlechtstyp in ganzer Reinheit zeigen, kommen aus der siebten Kammer, die ganz links aussen in der Gebärmutter liegt und den niedrigsten Wärmegrad aufweist.

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Die Anatomie des Leonardo da Vinci Leonardo da Vinci wurde 1452 in der Nähe von Florenz geboren, als unehelicher Sohn des Notars Ser Piero da Vinci und eines Bauernmädchens namens Caterina. Er ist Maler, Bildhauer, Architekt, Naturforscher und Ingenieur. Ein Universalgenie von visionärer Kraft. Er nutzte das Instrument der Malerei und Zeichnung zur Umsetzung seiner Beobachtungen, Konstruktionen und Studien und wurde so zum Wegbereiter der technischen und wissenschaftlichen Demonstrationszeichnung. Als Leonardo bemerkte, dass seine eigenen Beobachtungen am menschlichen Körper mit den Lehrbüchern keineswegs immer übereinstimmten, beschloss er selbst ein Lehrbuch zu schreiben. Dieses Vorhaben realisierte er jedoch nie. Er sezierte selbst, oft heimlich in der Nacht, und fertigte danach Zeichnungen an, deren wissenschaftliche Exaktheit noch heute medizinischen Ansprüchen standhält. Er spürte sein Leben lang den

geheimen unentdeckten Prinzipien der Lebendigkeit des menschlichen Leibes nach. Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Religion durchdrangen für Leonardo einander in einer Anthropologie, die nach dem Menschen fragt und die diese Frage nicht mehr ohne den sezierenden Blick unter die aufgeschnittene Haut zu beantworten weiss. Die mittelalterliche medizinische Literatur hatte eine topographische Darstellung weder in der Beschreibung noch in der Illustration gekannt. Ihr Abbildungsbestand war mit einem Skelett, mit Einzeldarstellungen einiger innerer Organe, mit dem Adermann und allenfalls einer menschlichen Figur erschöpft, in deren eröffneter Bauchhöhle entweder die Eingeweide oder einige Muskeln, summarisch gezeichnet, zu sehen waren. Leonardo aber war von Anfang an um die Verdeutlichung grösserer Zusammenhänge bemüht, die er in möglichst vielen topographischen Details jedes wichtigen Körperabschnittes genau erkennbar machen wollte. Die topographische Darstellung war ihm eines der Hauptanliegen bei der Ausführung seines anatomischen Traktats. Er ist ihr Begründer. Er erfand darstellerische Methoden, um Innenteile des Körpers in ihrer topographischen Beziehung zur Körperoberfläche augenfällig zu machen. ABB. 13. Wesentlich ist auch, dass Leonardo sich bei seinen Studien neben der Sektion – er hat etwa dreissig Leichenöffnungen vorgenommen – auch des Experiments bediente und nicht nur auf die Anatomie beschränkte, sondern darüber hinaus auch physiologische Abläufe erforschte. Er kombinierte und analogisierte anatomische Teile von Mensch und Tier, sah den Körper unter geometrischen und mechanisch-physikalischen Gesetzmässigkeiten und transferierte seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf Anatomie und Physiologie des Menschen, wodurch er den Zusammenhang zwischen dem Mikrokosmos des Körpers und dem Makrokosmos herstellte.

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Leonardo formulierte 1510 selbst, dass die Darstellung und Beschreibung der Anatomie nur mit Hilfe der Abbildung denkbar sei: „Schlage dir den Gedanken aus dem Kopf, die Gestalt des Menschen in allen Ansichten ihrer Gliederung mit Worten wiedergeben zu können; denn je eingehender du sie beschreibst, desto mehr wirst du den Geist des Lesers verwirren und desto mehr wirst du ihm die Erkenntnis gerade dessen entziehen, was du beschrieben hast. Deshalb ist es notwendig, sowohl zu zeichnen als zu beschreiben.“ Zu den frühesten anatomischen Zeichnungen Leonardos gehören die Darstellungen des Schädels, in verschiedenen Schnittebenen und aus unterschiedlicher Perspektive. (1489) Eindrucksvoll sind dabei seine Zeichnungen der Nasennebenhöhlen: Es handelst sich hier um die ersten Darstellungen des bis dahin unbekannten Sinus maxillaris, also der Kieferhöhle, die – so Leonardo – „den Lebenssaft enthält, der die Wurzel der Zähne ernährt“. Schädelstudien gehörten zu jener Zeit kaum zur Anatomie. Zur gleichen Zeit hatte er jedoch auch den Auftrag, ein Modell für die Mailänder Domkuppel anzufertigen, und so sägte er den Schädel vielleicht auch deshalb auf, weil er (zu Recht) eine besonders vorzügliche Leichtbauweise des Knochens zu entdecken hoffte. ABB. 7, 8, 9.

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Eine weitere wichtige Thematik war die Auseinandersetzung mit den Geschlechtsorganen und dem werdenden Leben. Von grossem Interesse ist dabei eine Darstellung des Zeugungsaktes aus dem Zeitraum von etwa 1492 bis 1494. Die Zeichnung zeigt ein Paar beim Geschlechtsakt im Sagittalschnitt. ABB. 14. Das Blatt gehört in Leonardos erste Schaffensperiode, in der er noch stark antiken Vorbildern und Traditionen folgte: So ist die Gebärmutter noch in Anlehnung an den siebenkammerigen Uterus durch kammerartige Ausbuchtungen untergliedert, die die Samenportionen aufnehmen können. Es besteht ferner eine direkte Verbindung von der Gebärmutter zu Brust – ein antikes Modell des Milchgangs; der Samen kommt nicht nur aus dem Hoden, sondern zum Teil auch aus dem Rückenmark. So kann von eigenständigem anatomischem Erkenntnisgewinn, zumindest in diesem Kontext, keine Rede sein. Erkenntnisse über die bis dahin weitgehend verborgenen Geheimnisse des entstehenden menschlichen Lebens zeigt der Fetus im eröffneten Uterus. ABB. 18.

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In seinen Abbildungen der Wirbelsäule sind sowohl die Krümmungen als auch die Anzahl der Wirbel erstmals richtig wiedergegeben. ABB 21. Auf der Suche nach Erkenntnissen über die Stimmbildung hat er den Aufbau und auch die Funktion von Kehlkopf, Luftröhre und Zungenbein eingehend untersucht und dargestellt. ABB. 24.

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Bei der Beschäftigung mit Leonardo da Vinci und dessen anatomischem Werk ergibt sich abschliessend fast zwangsläufig die Frage nach der Bewertung seiner Erkenntnisse, seiner Wirkung und Bedeutung für die Anatomiegeschichte; es drängt sich der Gedanke auf, ob nicht statt Andreas Vesal vielmehr Leonardo da Vinci der eigentliche Neuerer dieses Faches gewesen ist. Leider hat er all seine wegweisenden Erkenntnisse und Einsichten nicht veröffentlicht, obwohl vom Projekt eines Anatomiebuches die Rede war. Ob es daran gelegen hat, dass er mit den damaligen technischen Mitteln zur Reproduktion seiner Zeichnungen nicht zufrieden war (er wollte dafür eigens eine Druckmaschine konstruieren), ob ihn seine mangelnde Schulbildung daran hinderte, dass er in der sprachlichen Formulierung nicht über das Stadium seiner Notizen hinauskam, oder ob ihn seine unermüdliche Schaffenskraft und Unrast, die ihn immer wieder zu neuen Anfängen führte, halt auch so vieles unvollendet liess. Leonardos Skizzenbücher mit den dazugehörigen anatomisch-physiologischen Erläuterungen waren seinen Zeitgenossen wohl nicht unbekannt geblieben, sie wurden aber nur einem kleinen Kreis überhaupt zugänglich. Nach Leonardos Tod, 1519, ging sein Nachlass in Form von Einzelblättern und Skizzen durch etliche Hände in verschiedene Länder, bis ein Grossteil davon in Besitz des britischen Königshauses gelangte. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie als Faksimile in der breiten Öffentlichkeit bekannt. In den Jahren danach gab es einige namhafte Anatomen, viele davon in Norditalien, die zaghaft eine Erneuerung der Anatomie anstrebten, neue anatomische Strukturen beschrieben, es jedoch kaum wagten, die seit mehr als einem Jahrtausend anerkannte Lehre Galens zu kritisieren. Anders als die heutige, hinter verschlossenen Türen stattfindende medizinische Obduktion, war die Anatomie im 16. Jahrhundert ein öffentliches Spektakel: Um den Sektionstisch drängten sich Studenten ebenso wie Kaufleute, wohlhabende Handwerker und Damen der Gesellschaft; der Besuch des anatomischen Theaters kostete Eintritt, und die Nähe zur Manege und zur Bühne wurde gesucht. Das Aufschneiden und Zerlegen des menschlichen Körpers, das sich über mehrere Tage erstreckte, geriet zu einem Schaustück mit sensationellem Charakter: Zwischen Ekel, Lust und wilden Phantasien bewegten sich die Emotionen der Zuschauer. Diese Lust am Grausamen und am Grauen, am Extremen und am Exzessiven kam zusammen mit dem legitimen Interesse und der Hoffnung, durch den Blick in den Leichnam letztlich zu erfahren, was den Menschen ausmacht, was das Geheimnis des Menschseins ist, und auch, wie das eigene Innere denn beschaffen ist. Folgende Abbildungen stammen aus dieser Zeit, d.h. ca. aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, also Jahrzehnte nach da Vincis Zeichnungen. ABB. 42, 43 und 49.

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Andreas Vesalius, der Reformator der Anatomie Die Erneuerung der Anatomie beginnt mit einem Paukenschlag. So will es jedenfalls die Legende. Wir schreiben das Jahr 1535. An der Pariser Universität ist eine Sektion im Gange. Wie immer noch üblich zerlegt der Assistent, der ein Chirurg oder Barbier sein konnte, die Leiche. Der Lehrer ist der berühmte Mediziner Jacobus Sylvius. (Der, der dem Aquaeductus Sylvii seinen Namen gab). Sylvius liest von der Kanzel herab die entsprechenden Erläuterungen dazu aus dem vor mehr als 1000 Jahren verfassten Werk von Galen. Da erhebt sich ein 19jähriger Student und weist seinen Lehrer auf die Irrtümer hin, darauf, dass das Vorgetragene nicht mit dem Gesehenen übereinstimme. Es ist Andreas Vesal, der es wagt, die bisher unangezweifelte Autorität Galens zu untergraben. Sylvius als überzeugter Anhänger der Anatomie von Galen, war eher bereit die abweichenden Sektionsergebnisse als anatomische Anomalien zu erklären, oder er behauptete sogar, seit Galens Lehren habe eine Veränderung und Degeneration im menschlichen Körper stattgefunden.

Andreas Vesal oder Vesalius wurde 1514 in Brüssel als Sohn eines kaiserlichen Leibapothekers geboren. Anders als Leonardo da Vinci genoss der junge Vesal eine gute Ausbildung, sodass er im Alter von 23 Jahren schon eine Professur an der namhaften Universität von Padua erhielt. Die folgenden Jahre standen ganz im Zeichen der Anatomie: Vesal reformierte den anatomischen Unterricht in Padua, indem er nicht mehr von der Lehrkanzel herab vorlas, sondern selbst sezierte und dabei seine Befunde erläuterte. Ab dem Jahr 1539 war auch das Problem der Beschaffung von Leichen geregelt, denn das Kriminalgericht überliess ihm die Leichnahme der hingerichteten Verbrecher.

Wenige Jahre später legt Vesal, er ist gerade 29 Jahre alt, das erste, systematische ausschliesslich am menschlichen Leichnam erarbeitete anatomische Lehrbuch der Neuzeit vor: „De humani corporis fabrica libri septem“, also die „Sieben Bücher vom Bau des menschlichen Körpers“ erscheint 1543 in Basel. ABB 67. Anzumerken ist, dass sowohl bei den Muskelmännern wie bei den Skelettfiguren die Posen nicht nur aufgrund des künstlerischen Ausdrucks eingenommen werden, sondern auch und vor allem der anatomischen Darstellung zugute kommen.

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Es gelang Vesal, durch eine konsequente und systematische Präparation des menschlichen Körpers eine Vielzahl der hartnäckig über mehr als ein Jahrtausend hinweg tradierten „Irrtümer“ Galens, die dieser aus Tiersektionen gewonnen und auf den Mensche übertragen hatte, zu entdecken, und sie zu korrigieren oder zu widerlegen. So zum Beispiel, dass der Unterkiefer nicht zweigeteilt ist, das Brustbein aus einem und nicht aus sieben Teilen besteht, dass der Uterus weder siebenkammerig noch zweigeteilt ist. Und auch, dass es das immer wieder beschriebene geheimnisvolle rete mirabile, das Wundernetz an der Schädelbasis, gar nicht gibt. Wesentlich beteiligt am Erfolg des Werkes von Vesal sind die Illustratoren, die Vesals Anatomie plastisch anschaulich umsetzten. Sicher ist, dass die Künstler aus dem Atelier von Tizian stammten. Ob einige dieser Muskelmänner gar von Tizian selbst gezeichnet wurden, ist umstritten. Unumstritten ist hingegen ihre künstlerische Ausdruckskraft. Vor dem Hintergrund einer toskanischen Landschaft erhebt sich eine enthäutete Figur, deren Muskeln blossliegen. Anders als in den Werken der medizinischen Anatomie bis dahin üblich, wird der Körper nicht als Leichnam, auf dem Seziertisch liegend dargestellt, sondern aufrecht und aus eigener Kraft stehend. Nicht toter Körper, Fragment ist dieser anatomische Mensch, sondern lebendiger Leib. Er schaut in die Welt, in der er lebt und auf die er einwirkt. Der von Vesalius beschriebene, in seine Einzelteile zerlegte Körper ist im Moment des Beschreibens, des Zerlegens zugleich auch ganzer Mensch. Während der Körper zu zerfliessen scheint, weil die Muskelstränge herabhängen, blickt das Gesicht der Figur zum Himmel.

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Vesals Werk fasste das bis dahin erforschte und gesammelte Wissen über den Aufbau des menschlichen Körpers in eindrucksvoller Weise auf mehr als siebenhundert grossformatigen Seiten zusammen. Im Jahre nach dem Erscheinen seines epochalen Werkes kehrte Vesalius der Wissenschaft den Rücken. Was den erst 30jährigen dazu bewogen hatte, ist unklar. Er wurde Leibarzt Kaiser Karls des V.

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1564 brach Vesalius zu einer Fahrt nach Jerusalem auf, von der er nicht zurückkehrte. Pilger berichteten, dass Vesalius auf der Rückreise aus dem Heiligen Land in einer griechischen Stadt dem Katarrh erlegen sei. Doch bald verbreiteten sich zahllose weitläufige Erzählungen über Vesalius´ Ende. So soll er nach einer Sektion eines Scheintoten wegen Mord und Gotteslästerung verklagt worden sein. D.h. bei der Sektion stellte sich heraus, dass bei der vermeintlichen Leiche das Herz noch schlug. Die Inquisition verhängte das Todesurteil, und der Kaiser habe das mit viel Mühe dahingehend abändern können, dass Vesalius zur Sühne seines Frevels eine Reise nach Jerusalem und auf den Berg Sinai unternahm. Mit Andreas Vesal und seinem grandiosen Hauptwerk „De humani corporis fabrica libri septem“ des Jahres 1543 war ein Wendepunkt der Anatomiegeschichte erreicht, eine Abkehr von der Übermacht antiker Autoritäten, hin zum Erkenntnisgewinn durch eigene Anschauung und Forschung. Seine bedeutenden anatomischen Erkenntnisse bildeten zudem einen wichtigen Grundstein für die Pathologie und die Physiologie. Die Erforschung des menschlichen Körpers ging auch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und im 17. Jahrhundert weiter, nun unter wesentlich günstigeren Bedingungen und an verschiedenen Universitäten gleichzeitig. Hier ein paar Namen: Der Italiener Bartolomeo Eustachi (1510-1574) entdeckte und beschrieb eine Vielzahl anatomischer Strukturen, wobei insbesondere seine Schriften über die Niere mit seiner Erstbeschreibung der Nebenniere, die Zähne, das Venensystem und das Gehörorgan hervorzuheben sind. So heisst die Ohrtrompete denn auch Eustach´sche Röhre. Guido Guidi, auch bekannt als Vidus Vidius (1508-1569) erforschte besonders die Anatomie der Schädelknochen. Nach ihm benannt sind der Canalis Vidianus (also der Canalis pterygoideus) mit dem Nervus Vidianus (N. canalis pterygoidei, der zuführende Ast zum Ganglion pterygopalatinum). Der schweizerische Anatom und Botaniker Caspar Bauhin (1560-1624) gab der Bauhin´schen Klappe an der Einmündung vom Dünndarm zum Dickdarm seinen Namen. Die Bartholinschen Drüsen der weiblichen Scheide wurden nach dem Dänen Caspar Bartholin junior (1655-1738) benannt. Der Engländer Thomas Willis gilt mit seinem 1664 erschienenen Werk „Cerebri anatome“ als Begründer der Neuroanatomie. Der Circulus arteriosus cerebri ist auch unter der Bezeichnung Circulus Willisii bekannt. Mit der Erfindung des Mikroskops um die Mitte des 17. Jahrhunderts begannen sich auch in der Anatomie noch weitere Geheimnisse zu lüften. So wurden die roten Blutkörperchen entdeckt, die allerdings zuerst noch für Fettbläschen gehalten wurden. Die Querstreifung der Muskulatur konnte beschrieben werden. Und im Zahnbelag wurden fünf verschiedene Bakterien dargestellt.

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Heute stehen wir am Anfang des dritten Jahrtausends. Wir kennen nahezu jedes Detail des menschlichen Körpers, sind mit Hilfe von Mikroskop und Elektronenmikroskop in das Innere des Menschen eingedrungen, haben die Zellen und ihre Feinstrukturen erforscht. Selbst der Code unserer Gene konnte geknackt werden. Und dennoch lässt uns unser Körper immer wieder aufs Neue staunen. In diesem Sinne möchte ich meine Arbeit mit einem Rasterelektronenmikroskop-Bild von den liquorbildenden Zellen im Plexus chorioideus abschliessen:

Regula Gehrig, Heinrichstrasse 97, 8005 Zürich, Tel. 044 271 12 20, [email protected] Physiotherapie-Praxis, Mittelbergsteig 7B, 8044 Zürich, Tel. 044 261 30 38

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Quellen- und Literaturverzeichnis: - Beier Rosmarie und Roth Martin, Der gläserne Mensch – eine Sensation, 1990 - Chorlton Windsor, Kunstwerk Körper, 2005 - Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 1931 - Hyrtl Joseph, Lehrbuch der Anatomie des Menschen, 1873 - Hyrtl Joseph, Onomatologia Anatomica, Geschichte und Kritik der anatomischen Sprache der Gegenwart, 1880 - Martin, R. Prof. Dr., über Skelettkult und verwandte Vorstellungen, Separat- Abdruck aus den Mitteilungen der Geographisch-Ethnographischen Gesellschaft in Zürich, 1920. - Vollmuth Ralf, Das anatomische Zeitalter, 2004 - Will Rolf, Zähne, Menschen und Kulturen, 2001 - WWW. Wikipedia, die freie Enzyklopädie: Anatomie, Medizingeschichte