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 Inhaltsverzeichnis      Uta  Buttkewitz  

Editorial:  Der  Schmerz  als  kommunikative  Konstruktion  zwischen  Schein  und  Sein                    1      Helmut  Lethen  

 Erzählungen  eines  Antitherapeutischen  Realismus  als  Provokation  der  Kulturwissenschaften                  7      

         

IMPRESSUM    wissenschaft   in   progress   ist   eine   Zeitschrift   für   aktuelle   Gedanken   und   Forschungsfragen  aus   den   Bereichen   Kommunikations-­‐   und   Medienwissenschaft,   Linguistik,   Literatur-­‐   und  Kulturwissenschaft  sowie  Didaktik,  Bildung  und  E-­‐Learning.    ISSN:  1866-­‐8186  (Druckausgabe)  und  1866-­‐8194  (Online-­‐Ausgabe)    Erscheinungsweise:  ca.  2  bis  3  mal  jährlich.  Herausgeber:  Dr.  Uta  Buttkewitz  /  Mario  Donick,  M.A.  /  Wiebke  Schwelgengräber,  M.A.  Postanschrift:  wissenschaft  in  progress  c/o  Mario  Donick,  Paulstr.  16,  D-­‐18055  Rostock.  E-­‐Mail:  [email protected]    Zitierweise:  Sie  möchten  in  einem  Text  auf  Beiträge  in  wissenschaft  in  progress  verweisen?  Dann   nutzen   Sie   bitte   die   Druckversion,   die   so   auch   in   verschiedenen   Bibliotheken   im  deutschsprachigen   Raum   verfügbar   ist.   Deren   auch   längerfristige   Auffindbarkeit   kann   da-­‐durch   gewährleistet   werden,   während   sich   z.B.   die   Adresse   der   Online-­‐Ausgabe  mitunter  ändern   könnte.   Nutzen   Sie   diejenige   Zitierweise   für   Zeitschriftenaufsätze,   die   in   Ihrem  Fachbereich  üblich  ist.      Die  Printausgabe   kann  unter  oben   angegebener  Anschrift   kostenlos   angefordert  werden  (solange  der  Vorrat  reicht;  max.  2  Exemplare  pro  Bestellung).    Die   Online-­‐Ausgabe   und   unser   Weblog   finden   Sie   unter   http://wissenschaft-­‐in-­‐progress.de  .  

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EditorialDer Schmerz als kommunikative Konstruktion zwi-schen Sein und Schein

Ausgehend von Walter Benjamins Aussage „Wenn man be-denkt, dass Schmerz sich nicht erzählen lässt“ analysiert der Li-teraturwissenschaftler Helmut Lethen anhand von zwei Erzäh-lungen aus dem Ende des 19. Jahrhunderts das Phänomen des Schmerzes aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Lethen ge-lingt eine faszinierende und erhellende Studie über die mehr-dimensionale Bedeutung des Schmerzes. Ihn interessiert das Problem, inwiefern sich der Schmerz nach seinem Erscheinen sofort wieder auflöst bzw. dieser verschwindet, oder ob seine unbestrittene reale Existenz nicht doch nachweisbare Spuren hinterlässt, die auch sprachlich manifestierbar sind. Dabei spielt auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Medialität des Schmerzes eine Rolle. Der vorliegende Text verlangt nach meh-reren Anschlussmöglichkeiten. Ich möchte in meinen einfüh-renden Bemerkungen zum einen die kommunikationswissen-schaftliche Sichtweise auf den Text beschreiben und zum ande-ren eine engere medientheoretische Betrachtungsweise vor-nehmen.

Wie Lethen in seinen Ausführungen andeutet, sind es neben Medizinern vor allem Medientheoretiker und Kommunikati-onswissenschaftler, die die „Sprachresistenz“ des Schmerzes anzweifeln. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht pro-voziert der Text geradezu die Frage, warum denn ausgerechnet das Phänomen des Schmerzes sich durch die Eigenschaft der „Sprachresistenz“ auszeichnen sollte. Wie sieht es dagegen mit anderen Gefühlen wie Liebe, tiefer Trauer oder euphorischen

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Glücksmomenten aus? Sind diese im Gegensatz zum Schmerz einfacher bzw. authentischer sprachlich zu kommunizieren? Daran schließen sich die anzustellenden Überlegungen an, ob der Schmerz sich von den anderen genannten menschlichen Regungen in einem wesentlichen Punkt unterscheidet. Die of-fensichtliche Antwort darauf scheint die zu sein, dass der Schmerz vor allem physischer Natur ist und vom „Psychischen abgespalten“ ist. Auf das Phänomen des psychisch bzw. see-lisch bedingten Schmerzes, der sich ebenfalls häufig als physi-scher Schmerz bemerkbar machen kann, geht Lethen in seinem Text nicht explizit ein, deshalb soll die Problematik an dieser Stelle auch ausgeblendet werden.

Aus kommunikationstheoretischer Perspektive kann ein menschlicher Gedanke nicht über eine Kodierung vermittelt werden, die dann durch den Empfänger vollständig dekodiert wird. Sondern die sprachliche Bedeutung wandelt sich je nach Situation, Kontext und individuellem Erfahrungshorizont des Nachrichtenempfängers. Sprache und Kommunikation wären demnach als eine Konstruktionsmaschine zu begreifen, die die menschlichen Gedanken, das Wissen sowie Gefühlsäußerungen nur vermittelt wiedergeben kann und damit per se als in-authentisch gelten müssen. Jedoch spricht Helmut Lethen in seinem Text nicht von sprachlicher, sondern von kultureller Konstruktion. Das heißt, unabhängig von der sprachlichen Vermittlung „stammen alle Äußerungsformen des Schmerzes aus einem alten Archiv rhetorischer Formeln“. Außerdem „lege der Körper im Schmerz den ,Makel der Medialität‘ ab“. Der Un-terschied des Schmerzes im Vergleich zu Gefühlen wie Liebe, Trauer und Glück könnte darin zu suchen sein, dass beim phy-sischen Schmerz das Bewusstsein komplett ausgeschaltet ist und nur noch der Körper reagiert.

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Es stellt sich hierbei jedoch die Frage, welche Form des

Schmerzes als kulturelle Konstruktion zu bezeichnen ist. Der

unmittelbare, affektive und ,authentische‘ Schmerz an sich wird

sicher nicht gemeint sein, sondern nur seine literarische oder

allgemein sprachliche Übersetzung. Jedoch zitiert Lethen mit

David B. Morris und David le Breton zwei Wissenschaftler, die

davon ausgehen, dass der Schmerz tatsächlich nicht als eine

rein physiologische Reaktion zu verstehen ist, sondern durch

das Raster sozialer und kultureller Symbole bestimmt wird.

Im folgenden Zitat aus Thomas Manns Roman Zauberberg

wird der Zusammenhang zwischen Krankheit sowie den ge-

sellschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen und Um-

ständen, innerhalb derer der Leidende eingebettet lebt, sehr

transparent:

„Dem einzelnen Menschen mögen mancherlei persönliche Ziele, Zwecke, Hoffnungen, Aussichten vor Augen schweben, aus denen er den Impuls zu hoher Anstrengung und Tätigkeit schöpft; wenn das Unpersönliche um ihn her, die Zeit selbst der Hoffnungen und Aussichten bei aller äußeren Regsamkeit im Grunde entbehrt, wenn sie sich ihm als hoffnungslos, aussichts-los und ratlos heimlich zu erkennen gibt und der bewußt oder unbewußt gestellten, aber doch irgendwie gestellten Frage nach einem letzten, mehr als persönlichen, unbedingten Sinn aller Anstrengung und Tätigkeit ein hohles Schweigen entgegen-setzt, so wird gerade in Fällen redlicheren Menschentums eine gewisse lähmende Wirkung solches Sachverhalts fast unaus-bleiblich sein, die sich auf dem Wege über das Seelisch-Sittliche

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geradezu auf das physische und organische Teil des Individu-ums erstrecken mag.“1

Auch wenn es in diesem Abschnitt nicht um den extremen körperlichen Schmerz geht, so wird doch deutlich, dass Krank-heit und Schmerz, die sich gegenseitig bedingen, nicht als refe-renzlos betrachtet werden können, sondern sich lediglich, je nach Ausprägung, die Form ihrer medialen Darstellung ändert. „Krankheit kann als Verlust der Balance von Anorganik und Organik, von Leib und Seele, von Individuum und Welt, von Arbeit und Genuss, von Tätigkeit und Traum verstanden werden.“2, heißt es bei Dietrich Engelhardt und Hans Wißkir-chen.

Wahrnehmung, Ausdruck, Bewertung, Verhalten und Behandlung sind die fünf entscheidenden Ebenen des Schmerzes in seiner Subjek-tivität und Objektivität. Wie die Krankheit besitzt der Schmerz eine körperliche, seelische, soziale und geistige Dimension. Auch der Schmerz wird – wie die Krankheit – festgestellt (Seinsurteil) und zu-gleich bewertet (Werturteil); er hat ebenfalls seine Voraussetzung in der Trennung von Leib und Seele, in der Differenz von organischer und anorganischer Natur, in der Entstehung der Materie aus dem Nichts.3

So wie der Hochstapler Felix Krull in Thomas Manns gleich-namigem Roman mit seinen Tagträumen und inneren Wün-schen nach Krankheit und Schmerz giert, die ihm zu mehr

4

1 Mann, Thomas: Gesammelte Werke in Dreizehn Bänden. Bd. III und VII. Frankfurt a. M.: Fischer, 1990, S. 50.

2 Engelhardt, Dietrich von; Wißkirchen, Hans (Hrsg.): „Der Zauberberg“ - die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Stuttgart, 2003. S. 4.

3 Ebd.

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Aufmerksamkeit durch seine Umwelt verhelfen würden, quasi also die Krankheit und den Schmerz aus dem Nichts ans Tages-licht führt, so ist der Schmerz bei den Helden in den Erzählun-gen, die uns Lethen vorstellt, ebenfalls durch Ausdrucksleere gekennzeichnet. Am Ende bleiben Laut- und Wortlosigkeit üb-rig, sobald sie über den Schmerz reden möchten. Der Schmerz erwächst scheinbar aus dem Nichts und kulminiert im Nichts. Krankheit und Kunst sind schöpferische Tätigkeiten, die aus dem Nichts entstehen. So wie die Wahrheit durch Phantasie und Kreativität nur über das Medium Kunst vermittelt werden kann, so kann auch die Wahrheit des Schmerzes nur über die Medien Schrift, Kunst und Sprache kommuniziert werden. He-gel sagt dazu folgendes:

Aber gerade diese ganze Sphäre der empirischen inneren und äuße-

ren Welt ist nicht die Welt wahrhafter Wirklichkeit, sondern vielmehr

in strengerem Sinne als die Kunst ein bloßer Schein und eine härtere

Täuschung zu nennen. Erst jenseits der Unmittelbarkeit des Empfin-

dens und der äußerlichen Gegenstände ist die echte Wirklichkeit zu

finden. Denn wahrhaft wirklich ist nur das Anundfürsichseiende, das

Substantielle der Natur und des Geistes [...] In der gewöhnlichen äu-

ßeren und inneren Welt erscheint die Wesenheit wohl auch, jedoch in

der Gestalt eines Chaos von Zufälligkeiten, verkümmert durch die

Unmittelbarkeit des Sinnlichen und durch die Willkür in Zuständen,

Begebenheiten, Charakteren usf.4

Die Schwierigkeit bei der Beschreibung des Schmerzes bes-teht darin, dass er aufgrund der schwierigen kommunikativen Übersetzung für den Anderen kaum nachvollziehbar ist. Das ist

5

4 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I (postum 1835; aus Nachschriften hrsg.). Hrsg. von Rüdiger Bubner. Stuttgart, Reclam, 1971, S. 47.

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der Grund, warum nach sprachlichen Lösungen gesucht wer-den muss, das kulturelle Archiv geplündert und die Welt der symbolischen Konstruktionen herangezogen wird. Der Schmerz lässt sich von den Betroffenen in der Regel nur als Temperatur schildern, da er durch hohe Komplexität gekennzeichnet ist und ihm diffuse Ursachen zu Grunde liegen. Medientheoretisch übersetzt bedeutet das, dass der Schmerz immer eines Medi-ums bedarf, um ihn zu konkretisieren und ,wahr‘ werden zu lassen. Die Frage, ob er dadurch seine Authentizität oder Un-mittelbarkeit verliert, stellt sich meines Erachtens nicht, da es unmöglich ist, den Schmerz während seines Auftretens zu spei-chern.

Deshalb ist es für Figuren wie den Verstellungskünstler Felix Krull auch ein Leichtes, körperliche Beschwerden und einen e-pileptischen Anfall zu simulieren. Er greift einfach in das Ar-chiv der stereotypen Ausdrucksformeln, die der Kommunikati-on von Schmerzen zur Verfügung stehen, und Sanitätsrat Dü-sing und der Generalstabsarzt lassen sich bereitwillig betrügen.

Literatur

Mann, Thomas: Gesammelte Werke in Dreizehn Bänden. Bd. III und VII. Frankfurt a. M.: Fischer, 1990.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I

(postum 1835; aus Nachschriften hrsg.). Hrsg. von Rüdiger Bubner. Stutt-gart, Reclam, 1971.

Engelhardt, Dietrich von/Wißkirchen, Hans (Hrsg.): „Der Zauberberg“ – die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Stuttgart, 2003.

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„Der Schmerz trägt keine Bedeutung“ (Paul Valéry)Erzählungen eines Antitherapeutischen Realismus als Provokation der Kulturwissenschaften

In einem Nachtrag zu seinem Buch Einbahnstraße aus dem Jahre 1928 schreibt Walter Benjamin:

„Wäre nicht jede Krankheit heilbar, die sich auf einem genü-gend breiten, tiefen Strome des Erzählens verflössen ließe? Es fällt darauf ein noch helleres Licht, wenn man bedenkt, daß Schmerz sich nicht erzählen läßt, gewissermaßen als Damm die Lebenssäfte absperrt, die als Nebenflüsse in den großen epi-schen Strom des Daseins – des erzählbaren Lebens – münden wollen.“1

„Wenn man bedenkt, daß Schmerz sich nicht erzählen läßt“ – diese Beobachtung von Benjamin trifft gegenwärtig ins Zen-trum einer heißen Debatte in den Kulturwissenschaften. Ich be-trachte sie als einen Einwurf gegen den mainstream, der die deutschen Kulturwissenschaften im letzten Jahrzehnt be-herrschte und die man in der Parole „Auch Schmerz ist eine kulturelle Konstruktion!“ zusammenfassen könnte. Um den Schmerz gibt es nämlich einen aufschlussreichen Richtungs-kampf, an dem Mediziner, Neurowissenschaftler, kognitive Psychologen, Soziologen, Literaturwissenschaftler und Philo-sophen beteiligt sind. Seine extremen Pole könnte man folgen-dermaßen bestimmen:

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1 Walter Benjamin: Erzählen und Heilung. Aus der Nachtragsliste der Einbahnstraße. Kri-tische Gesamtausgabe Bd. 8, S. 208.

Schmerz ist unerzählbar

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1. Schmerz durchschlägt alle Zeichensysteme. Er ist von keiner kulturellen Grammatik geprägt. Schmerz ist ein Indiz des vor-diskursiven Körpers. Im Schmerz legt der Körper den „Makel der Medialität“ ab.

2. Die Gegenreaktion ist ebenso entschieden: Alle Äuße-rungsformen des Schmerzes stammen aus einem alten Ar-chiv rhetorischer Formeln. Dass Schmerz als Durchgriff auf die Unmittelbarkeit des Körpers erscheint, ist nur ein medialer Effekt. Auch im Namen des Schmerzes gibt es nur Ausschnitte aus einer Bibliothek zu sehen.

Es ist deutlich, dass hier offenbar über zwei verschiedene

Phänomene geurteilt wird. Einmal über das physiologisch be-

dingte Empfinden, ein andermal über Performanzformen des

Schmerzes. Insofern könnte man beide Positionen nebeneinan-

der bestehen lassen – wenn klar wäre, wie sich Kommunikati-

onsformen des Schmerzes und das Ereignis in der Erfahrungs-

welt des Betroffenen zueinander verhalten. Das wirft die weite-

re Frage auf, ob Kulturwissenschaften überhaupt etwas über

den Schmerz jenseits seiner Äußerungsformen sagen können.

Ich finde nämlich, es gibt Dinge in der Welt, über die die Kul-

turwissenschaften ruhig auch mal schweigen könnten, weil sie

nicht kompetent sind.

I. Die Kulturwissenschaftliche Wende

1991 erscheint das Buch Culture of Pain von David B. Morris2,

ehemals Professor für Englische Literatur an der Universität

von Iowa, 2003 Schmerz des Straßburger Soziologen David Le

Breton.3 Das 4. Kapitel in Le Bretons Buch trägt den provozie-

8

2 Ich zitiere hier nach der deutschen Übersetzung: David B. Morris, Geschichte des Schmerzes. Frankfurt am Main 1996.

3 David Le Breton, Schmerz. Zürich und Berlin 2003.

Schmerz als

Konstruktion

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renden Titel „Die soziale Konstruktion des Schmerzes“. Beide Bücher werfen die Frage auf: Kann ein physiologisches Ereignis sozial konstruiert sein? Die Antwort der beiden Kulturwissen-schaftler besteht aus Begründungen, die ich vereinfacht wieder gebe:

• Schmerz kann nicht als rein physiologische Reaktion definiert werden. Was ein Individuum empfindet, ist kein direkter „Bewusstseinsabdruck“ der Verletzung. Schmerz verhält sich nicht proportional zur Schwere einer Verletzung. Die menschliche Physiologie funkti-oniert niemals im luftleeren Raum des Biologischen. Sie ist vielmehr vom Raster sozialer und kultureller Symbole gezeichnet.4

• Jede Gesellschaft hat den Schmerz in ihr Weltbild in-tegriert und ihm einen Sinn zugesprochen, der ihm seine unmittelbare Nacktheit nimmt. Die kollektive Bedeutung, die dem Schmerz zugesprochen und die ritualisierten Bekundungen, durch die er sich den an-deren mitteilt, sind zugleich symbolische Abwehrme-chanismen, auf die der Mensch zurückgreifen kann, um sein Leiden unter Kontrolle zu bekommen.5

Beide Wissenschaftler haben ihre Standpunkte mit zahlrei-chen Fallgeschichten unterbaut.

Ich möchte Sie auf eine kurze Reise durch die Literatur des Schmerzes mitnehmen, die ich Ende des 19. Jahrhunderts be-ginnen lasse, weil es mir um eine Überprüfung der wichtigen These von Elaine Scarry geht, Schmerz sei ein „Sprachresisten-ter Gegenstand“. Es geht mir um eine Satz, den Paul Valéry schon Ende des 19. Jahrhundert in seine Cahiers schrieb: „Der

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4 Ebd.

5 Morris, a.a.O. S. 121.

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Schmerz trägt keine Bedeutung“. Das ist ein Satz, der den Schmerzdiskurs mehrerer Jahrhunderte umstürzt. Er bezeichnet den vorläufigen Endpunkt eines Reduktionsprozesses. Im Lau-fe des 19. Jahrhunderts haben empirische Wissenschaften den Schmerz allmählich aus dem Rahmen christlicher Sinngebung herausgelöst. Erst jetzt kann der Schmerz auf ein physiologi-sches Moment reduziert werden, auf einen „elektrischen Im-puls“, der durch die Nerven schießt. Jetzt kursieren die ersten Erzählungen, in denen der Schmerz nur eines bedeutet, näm-lich: Nichts.6

II. Zwei bekannte Geschichten.

Huysman Gegen den Strich (1884)

Man stelle sich einen Mann vor, dessen Arbeit hauptsächlich darin besteht, sich mit all seinen Sinnen von seiner Umwelt zu unterscheiden, um sich in der künstlichen Existenz des „Ästhe-ten“ zu sonnen. Das könnte gut gehen, wenn er nicht „am gan-zen Leibe schmerzempfindlich“ wäre. Der Mann in solch para-doxer Verfassung ist der Held in Huysmans Roman „Gegen den Strich“. Das Buch erscheint 1884 und wird sofort als „Bibel der Dekadence“ begrüßt oder verrissen.

Nach wüst urbanen Jahren hat der Held sich von der Welt abgewandt, fern von Paris ein „nachbarloses Gemäuer“ gekauft und für seinen exzentrischen Geschmack eingerichtet. In sei-nem Domizil hat er, wie es heißt, weder den „Blitzschlag der Liebe“, noch den „Blitzschlag der Religion“ zu fürchten.7 Er geht auf Nummer sicher.

10

6 David B. Morris, Geschichte des Schmerzes. Frankfurt am Main 1996, S. 390.

7 Joris-Karl Huysmans. Gegen den Strich. München 2003, S. 194.

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Vor dem Blitzschlag des Schmerzes kann er, wie sich bald he-rausstellt, allerdings auch hier nicht sicher sein. An der Über-empfindlichkeit des Mannes kann kein Zweifel sein, wenn wir erfahren, dass er von frühester Jugend auf „von unerklärli-chem Widerwillen, einer Art Schauder gemartert“ worden war, „der ihm eisig über den Rücken rieselte und ihm die Zähne aufeinanderschlug, wenn er sah, wie ein Hausmädchen nasse Wäsche auswrang“.8

Schon früher litt der Held sporadisch an Schmerzanwand-lungen, die er jedoch durch Opiumextrakte, Flucht oder Abtau-chen in die Anonymität der Masse auffangen konnte. Im übri-gen tröstet er sich mit der Erkenntnis, dass „Schmerz ein Er-gebnis der Erziehung“ sei. Ordinäres Jammern sind entschie-den unter seinem Niveau.9 Zur Dämpfung schmerzlicher „Sen-sationen der Nerven“ erfindet er merkwürdige Simulations-spiele z.B. des übertriebenen Zitterns, um dem Schmerz sozu-sagen motorisch Auslauf zu geben.

Im Grunde sucht er Heilung in der Bibliothek. Die Mittel seiner Diätetik findet er in seinen Bücherregalen. Wie sollten Baudelaire und Mallarmé kein erlösender Balsam für Seele und Köper sein, empfindet er die Schriften der beiden doch als „Fleischextrakt der Literatur“. Freilich: „Diese Mittel wirkten leider nicht mehr, seitdem seine Leiden echt waren“.10

Während uns die Beschreibungen seiner Genüsse in die künstlichen Paradiese der Dekadenz der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts versetzen, könnten die Charakterisierungen sei-ner somatischen Empfindungen aus einem Formblatt für

11

8 Ebd., S. 105.

9 Ebd., S. 92.

10 Ebd., S. 204.

Schmerz als Ergebnis der Erziehung

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Schmerzdiagnosen stammen, mit dem die Ärzte heute noch dem Schmerz auf die Spur kommen wollen: der Schmerz durch-

bohrt seine Schläfen11, treibt Holzkeile in seinen Nacken12 oder schneidet sein Gesicht entzwei13 . Zuweilen wirft er aber selbst den Ästheten unter sein Niveau, wenn er anlässlich einer Ex-traktion beim Zahnarzt beginnt, „wie ein Tier zu blöken, das man mordet“.14 Alles weist auf einen unterschwelligen Mecha-nismus hin, der unter den Feinheiten des kulturellen Gewebes, mit dem der Held sich umhüllt, lagert. Dieser Mechanismus ist nicht geheimnisvoll. Er lässt sich, wie der Roman zeigt, mühe-los in die Sprache der Mediziner übersetzen. Tatsächlich trifft unser Held jetzt auf wackere Vertreter der damaligen Schulme-dizin: dem erstens gelingt es, die Magenneurose des Sensiblen mittels eines Dampfkochtopfes, der echtes Rindfleischextrakt her-stellt, vorläufig zu kurieren. Da für ihn an Austausch mit der Mitwelt nicht zu denken ist, kommt diese Therapie ihm sogar entgegen. Eine Gesprächstherapie wäre naturgemäß das Letzte, was der Liebhaber der Distanz sich wünscht. Er hat Glück: Der rettende Arzt ist erfreulich wortkarg, will keine Geschichten hö-ren, betrachtet stattdessen aufmerksam seinen Urin, „in dem gewisse weiße Schlieren ihm eine der wichtigsten Ursachen für die Neurose anzeigten. Er schrieb ein Rezept auf und ging wortlos, eine baldige Rückkehr ankündigend“.15 Das tut dem Helden gut. Welches Entsetzen hätte ihn gepackt, wenn er schon einem Arzt der Ära Freuds begegnet wäre, der ihn als sprechenden Patienten behandelt hätte. Nein, der Ästhet hat

12

11 Ebd., S: 144.

12 Ebd., S. 135.

13 Ebd., S. 105.

14 Ebd., S. 66.

15 Ebd., S. 246.

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Glück; das Peptonklistier, das ihm verschrieben wird, begeistert ihn über alle Maßen: weil es ein technischer Apparat zur künstli-

chen Ernährung ist. Der Heilerfolg ist beträchtlich. Sein Magen „entschließt sich“ prompt zu funktionieren. Soweit so gut. Seine Heilung wird allerdings ernsthaft gefährdet, als ihm in Über-einstimmung „mit der Meinung aller Neurosenspezialisten“ empfohlen wird, da die geistige Seite der Krankheit „nicht in den chemischen Machtbereich der Medikamente falle“, wieder „in das Gemeinschaftsleben einzutauchen“. Er, der Mallarmé und Verlaine versteht, soll zurück in die niedere Mitwelt, in der geweihtes Öl mit Geflügelfett verdorben und die Hostien aus Kartoffelmehl hergestellt werden. Bei dieser Vorstellung schüt-telt ihn der Ekel, der Nähesinn par Exzellenz.

In Huysmans Roman des Jahres 1884 werden wir zu Zeugen eines Kurzschlusses des nervösen Lebensstils mit Praktiken der Physiologen. Da versucht einer, seine Existenz im Reich der Künstlichkeit einzurichten und stürzt ohne subtile Vermittlun-gen ins Reich der Physiologen. Der Schmerz wirkt in dieser Er-zählung wie ein Kippschalter, mit dem die toxische Illuminati-on des fin de siècle jederzeit aufs Neonlicht des medizinischen Befundes umgeschaltet werden kann. Die zweite Schmerzge-schichte ist von

Paul Valéry Monsieur Teste (1893)

Kaum zehn Jahre nach Huysmans Roman erkennt ein ande-rer Schriftsteller einen anderen Umgang mit dem Schmerz. Paul Valéry lässt sich auf den rationalen Nervendiskurs der Ärzte ein und gibt ihm eine stoische Wende. Er wünscht sich für das Nervensystem eine besondere Schaltung, die es „mit Sicherun-gen“ versieht, „die bei zu heftiger Erregung, und wenn der Wil-le es wünscht, die Verbindungen zwischen den Zentren und

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den Auslösern der Emotionen unterbrechen und die Störung auf die Nulleitung umlenken“.16

Diese Lösung entwirft Paul Valéry 1893 für seine Versuchs-person Edmont Teste.17 Im Vergleich mit dem kostbaren Desig-ne des Interieurs des Helden in Huysmans Roman wohnt Teste ärmlich. Wir finden ihn in einem kleinen, notdürftig möblierten Appartement. „In dem grünlichen, nach Minze riechenden Zimmer war rings um die Kerze bloß das trostlose abstrakte Mobiliar – Bett, Uhr, Spiegelschrank, zwei Armstühle -, als sei-en es Vernunftwesen“, kurz: eine „frostige Kammer“, rein und distinkt, ein kartesianisches Logis.

Monsieur Teste geht davon aus, dass die „Intensität der Ge-fühle“ sich nicht zum Austausch zwischen den Menschen eig-net. Spontane Äußerungen von Leidenschaften adeln den Men-schen nicht. Sie machen ihn nur durchschnittlich. Profilieren kann man sich nur den Scharfsinn des grauen Intellekts.18

Teste ist ein Typ, der die Mitwelt mit einem „Trennungs-blick“ betrachtet, der „extreme Kälte“ ausstrahlt und auch in schlimmer Lage nicht klagt, sondern stattdessen die „Knöpfe an der Jacke des Henkers“ zählt.19

Erlaubt sich solch ein Mustertyp der reflexiven „Kälte“ Schwächen? Von Zeit zu Zeit gestattet er sich Liebe, die, wie Madame Teste berichtet, für ihn darin bestehe, „miteinander tierisch-töricht sein zu können mit jeder Freiheit zu Dummheit und Bestialität“.20

14

16 Paul Valéry, Cahiers/Hefte. Frankfurt am Main 1992, S. 116.

17 Paul Valéry, Monsieur Teste. Frankfurt am Main 1992.

18 Paul Valéry, Cahiers/Hefte Bd. 6, S. 364.

19 Ebd., S. 351.

20 Ebd., S. 338.

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Teste liegt vor allem daran, dass die Souveränität seines rati-onalen Denkens durch Nichts zu Fall zu bringen ist. Man ahnt, das böse Ende naht. Am Abend nach einem Theaterbesuch schweigt Monsieur Teste plötzlich: „Er litt Schmerzen“. Nun dürfen wir Monsieur Teste beim Zubettgehn beobachten: „Er zog sich in aller Ruhe aus. Sein hagerer Körper badete sich in Betttüchern und war wie tot. Dann dreht er sich und tauchte tiefer in das zu kurze Bett“. Teste hebt erst einmal zu einem Monolog über seine Körperwahrnehmung als Kind an, klam-mert sich an die Behauptung, sich auch physisch „in- und aus-wendig zu kennen“, erklärt seine Liebe zum vertrauten Leinen-tuch, das ihn umschmiege „wie Sand“, wenn er sich tot stelle. Bis – „Ah“. Seine Rede stockt, als ob er plötzlich einen „Materi-alfehler“ in dem ihn umhüllenden Laken spüre. Valéry markiert die Unterbrechungen im Text mit drei Punkten … Es sei „Nichts Besonderes“ meint der Held, höchstens ein Zufall, der nicht länger als eine Zehntelsekunde dauere, nichts Nachhaltiges al-so.

Die Wiederholungen der Auslassungspunkte, die Einbrüche des pochenden Schmerzes markieren, geben dem Text einen gewissen Taktschlag. … Mehr nicht. Es herrscht Ausdruckleere – Schlaf wird ersehnt.

Die Unterbrechungen des Textes öffnen kein Fenster zu exis-tentiellen Abgründen oder verdunkelten Geschichten der Psy-che. Weder Psychoanalytiker noch andere Schmerztherapeuten können frohlocken. „Wenn der Schmerz plötzlich einbricht, er-hellt er keine Vergangenheit: er illuminiert nur die gegenwärti-gen Körperzonen. Er ruft lokalen Widerstand hervor“ und re-duziert „das Bewusstsein auf eine kurze Gegenwart, auf einen

15

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zusammengeschnurrten, seines künftigen Horizonts beraubten Augenblick“.21

Die beiden letzten Sätze habe ich zitiert. Es sind Schlussfol-gerungen von Jean Starobinski. Er zog damit 1984 die Quintes-senz des Abends mit Monsieur Teste und er schloss sich Valérys Erkenntnis an: „Die Intensität des Schmerzes“ lasse sich „um-gekehrt an der Freiheit bemessen, die sie einem lässt“, ihn aus-zudrücken. Er ermahnt uns, mit Valéry die Grenzen der Psy-choanalyse zu akzeptieren. Und er zitiert Freud, der, nachdem ihm ein Furunkel aufgeschnitten worden war, an Fließ ge-schrieben habe, das Empfindungsmaterial dieses Schmerzes könne erzählend nicht bewältigt werden: „es tut zu weh“.

Der Schmerz findet in dieser Geschichte keinen Ausdruck – außer den drei Auslassungspunkten, die auf eine Wirklichkeit jenseits der Zeichenwelt zeigen. Er durchkreuzt sprachlos den Anspruch seines Helden, „Herr seiner Gedanken zu sein“. Ext-remer physischer Schmerz wird – so die Logik des Textes – als lokales Körperereignis vom Psychischen abgespalten. Im Ge-gensatz zur Neurose bildet dieser physische Schmerz beim bes-ten Willen zur Sinngebung keine erzählerische Ausgestaltung. Solch ein Schmerz hat, Valéry zufolge, „keine Bedeutung“.

„Der Schmerz trägt keine Bedeutung“. Der lapidare Satz be-zeichnet den historischen Endpunkt einer Entwicklung, in der der Schmerz aus seinen traditionellen kulturellen Codierungen gelöst wurde. Schmerz erscheint zum ersten Mal als ein „sprach-resistenter Gegenstand“.22 Die Möglichkeit, einen solchen Satz zu formulieren, setzt gewaltige Abräumarbeiten voraus. Physiolo-

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21 Jean Starobinski, Kleine Geschichte des Körpergefühls. Konstanz 1987, S. 111.

22 Morris, a.a.O., S. 13.

Schmerz ist

bedeutungslos

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gen und Anatomen haben im 19. Jahrhundert scheinbar end-gültig die christliche Semantik aus dem kulturellen Körper entfernt.23 Valérys Satz „Der Schmerz trägt keine Bedeutung“ befindet sich in der Nachbarschaft von Nietzsches Diktum „Gott ist tot“. Mit diesen Sätzen legt sich die Kälte des Weltalls auf unsere Knochen. Valéry spricht einen unerträglichen Ge-danken aus oder vielmehr einen Gedanken, der seine Unerträg-lichkeit zum Indiz der Wahrheit macht.

Jetzt bleibt vom Schmerz nichts als ein stumpfer Widerstand, den das Bewusstsein, wie Valéry schreibt, einer „lokalen Dispo-sition des Körpers entgegensetzt“.24

An dem hier skizzierten, spärlich beleuchteten Nullpunkt der Sinngebung in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhun-derts werden die Weichen für eine kulturelle Schmerzbearbei-tung gestellt, die im 20. Jahrhundert dominieren wird: Die Um-deutung des Schmerzes als Medium des Kontakts mit dem „Urgrund des Seins“ im I. Weltkrieg;

III. Schmerz und Krieg

Als der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch und der Pädagoge Hans Wenke 1937 die Schrift „Wesen und Bedeutung des Schmerzes“ herausgeben, können sie auf eine Zeit uner-messlichen Kriegsleidens zurücksehen. Die Weimarer Republik war ein Zeitraum gewesen, in dem man mit zwei gegenläufigen Strebungen fertig werden musste: Der Krieg hatte der Sinnge-bung des Schmerzes mächtigen Auftrieb gegeben, die Nieder-lage hatte die Menschen der unerträglichen Gewissheit ausge-liefert, dass alles Leid umsonst gewesen war. In den Wissen-

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23 Ebd.

24 Starobinski, a.a.O., S. 98.

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schaften der Republik kursierten zwar sehr unterschiedliche Konzeptionen des Schmerzes, die Republikgegner waren sich allerdings einig, dass der „Liberalismus“ gegen den Schmerz nicht mehr aufzubieten habe als die Narkose.

Seltsamerweise wird der Krieg in Sauerbruchs und Wenkes Kapitel „Ärztliche Erfahrungen über den Schmerz“ nur in Zu-sammenhang mit einem erstaunlichen Phänomen der Herab-setzung des Schmerzes erwähnt, das die Chirurgen früher „Wundstupor“ nannten:

Wer als Arzt im Felde unsere braven Kameraden zu betreuen hatte,

der weiß aus hundertfältiger Beobachtung, dass viele unter der Last

und den Strapazen des Dienstes oder der zermürbenden Wirkung von

andauernder Spannung und Gefahr, von Erschütterung und Schreck,

sich selbst verloren. Dann reichte ihr Denken nicht einmal mehr für

die primitiven vegetativen Lebensfunktionen aus. In einer solchen

Verfassung war kein Raum mehr für die Schmerzempfindung, so dass

notwendige Eingriffe ohne künstliche Betäubung möglich waren.25

Dass der „Seelische Wundstupor“ nicht nur ein Zeichen der Erschöpfung sondern auch eine Begleiterscheinung des Hel-denmuts sein konnte, erläutert Sauberbruch am Beispiel eines Leutnants. Dieser war so erregt von der Lebensgefahr eines nächtlichen Sturmtrupps, dass er die Amputation seines Arms, die ohne Betäubung durchgeführt wurde, kaum bemerkt habe.

Dass der Chirurg sich in Erinnerung an die Materialschlach-ten ausgerechnet auf diese Form herabgesetzter Schmerzemp-findung konzentriert, mag symptomatisch für die zwei Jahr-zehnte nach dem Krieg gewesen sein, die vom Willen gekenn-

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25 Ferdinand Sauerbruch, Hans Wenke, Wesen und Bedeutung des Schmerzes. Berlin 1936.

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zeichnet waren, sich gegen den Schmerz zu immunisieren. Die Faszination des Phänomens „Wundstupor“ verknüpfen die Au-toren einerseits mit dem „altpreußischen Ideal soldatischer Er-ziehung“, andererseits mit Nietzsches These vom Schmerz als„arterhaltendem Wert“. Vor allem aber scheinen sie im Bann von Ernst Jüngers Schrift „Über den Schmerz“ zu stehen, die drei Jahre zuvor erschienen war. Der Schmerz erscheine bei Jünger als der „eigentliche Urgrund des Lebens“.26 „Disziplin“ bezeichne Jünger als „die Form, durch die der Mensch die Be-rührung mit dem Schmerz“ und damit seinen Kontakt mit dem Elementarreich des Lebens aufrecht erhalte.27

Ernst Jünger hatte die Wahrnehmung des Schmerzes von je-der Empathie reinigen wollen. Er hatte empfohlen, die Frontli-nie des Schmerzes aufzusuchen, um an ihr die Haltung der A-pathie und die Kälte des Blicks zu stählen. Man mag Jüngers Essay als ein Symptom für soldatische Apathie abschätzig beur-teilen. Mich interessiert eher seine hellsichtige Diagnose, die er dem Liberalismus der Weimarer Republik stellt. Der Liberalis-mus ist für ihn eine Gesellschaftsform, die den Schmerz aus den Binnenräumen der Gesellschaft an die Ränder vertreibt, wo in Kliniken, Gefängnissen und Kasernen Spezialisten des Schmer-zes ihre Arbeit verrichten, während die Massenmedien Bilder des Schmerzes in den Innenraum der Gesellschaft einspeisen, wo sie wie Drogen inhaliert werden. Die Arbeit des stoischen Be-wusstseins ist dabei kaum mehr erforderlich. Die Abspaltung des Schmerzes ist der Flucht technischer Bilder in populären Zeitschriften und Magazinen überantwortet. Ataraxia stellt sich im massenmedialen Raum automatisch her. Die neuen Medien sind Empathieentsorgungsgeräte.

19

26 Ebd., S. 110.

27 Ebd.

Schmerz als „Urgrund des Lebens“

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Als Martin Heidegger während des Zweiten Weltkriegs Jün-gers Traktat liest, notiert er auf einem Handzettel: „Eine Ab-handlung Über den Schmerz, die gar nie und nirgends vom Schmerz handelt“.28 Zwar beschreibe Jünger den Schmerz als Element des Willens zur Macht, er schwinge sich aber als homo militaris auf eine Kommandohöhe („J. redet überall in der Sprache d. Wehrmachtberichtes“29), von der aus er über den Schmerz als einen Gegenstand verfügen zu können glaube. Im Text finde sich keine Öffnung für das Wesen des Schmerzes, sondern vielmehr eine Haltung oder ein Ethos, das den Schmerz zum Probierstein des Heroismus mache. Könne man dieser Art Heroismus, fragt Heidegger, nicht auch triviale Namen geben, z.B. die der Ab-stumpfung, Unwissenheit und Gleichgültigkeit?30 Jünger wisse sich dem Schmerz nie ausgeliefert, wie man dem Willen zur Macht ausgeliefert sei. Er entleere ihn vielmehr, um die soldatische Haltung zum Schmerz zum kulturellen Wert zu machen: „Des-halb kommt zum Schluß der Ladenhüter aller verendenden Me-taphysik: die Sinn-gebung“.31 Heidegger entdeckt, dass Jünger im Diskurs neusachlicher Sentimentalität bleibt, insofern seine Rede von der nötigen Härte und Kälte sich provokativ gegen die Welt bürgerlicher Empfindsamkeit absetzt, also die Bindung an sie nie verliert. So überrascht es uns nicht, dass Heidegger die Sinnsuche des Schmerz-Traktats als Form einer Narkose be-zeichnet, die der konservativen Kulturkritik bis heute als Kenn-zeichen des flachen Liberalismus gilt. „J. handelt nur von einer nicht verstandenen metaphys. Narkose. Die Bewegung gegen

20

28 Heidegger, Martin: Gesamtausgabe: Hinweise und Aufzeichnungen, Teil 4, Hrsg. von Peter Trawny, 1999, S. 436.

29 Ebd., S. 446.

30 Ebd., S. 452.

31 Ebd., S. 437.

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den Schmerz ist die Bewegung zur Besinnungslosigkeit inner-halb der unbedingten Sinnlosigkeit“.32 Für Heidegger ist das sichtbare Anzeichen der Besinnungslosigkeit, auf die bei Jünger alles hinausläuft: die Rüstung.

IV. Schmerz als sprachresistenter Gegenstand

Am Abend des Herrn Teste im Jahre 1893 hatte der Schmerz seinen literarischen Auftritt als sprachresistenter Gegenstand im relativ harmlosen Milieu des Gedankenexperiments und medi-zinisch in den Grenzen der Neuralgie. Im 20. Jahrhundert über-schreiten die Arten der Schmerzzufügung alle historisch be-kannten Formen. Wer aber gegenwärtig den Schmerz als sprach-

resistenten Gegenstand bezeichnet, setzt sich den Angriffen von Kulturwissenschaftlern aus. Kommunikationswissenschaftler, analytische Philosophen, Mediziner und Medientheoretiker wehren den Gedanken eines sprachresistenten Gegenstands eben-so entschieden ab wie Schmerztherapeuten, die in ihren Klini-ken die Bedeutung der Sprache zu schätzen gelernt haben. Eins steht offenbar fest. Als außersprachliches Ereignis kann Schmerz kein Gegenstand der Kulturwissenschaften sein, so-lange sich diese auf Diskurse des Schmerzes konzentrieren. Wenn Schmerz mitgeteilt wird, unterliegt die Mitteilung kultu-rellen Codes. Färben diese aber nicht auch auf den Schmerz selbst ab?

1985 erschien das Buch von Elaine Scarry Body in Pain.33 In den Archiven von Amnesty International fand sie eine Daten-bank des Schmerzes: Protokolle des Geheimdienstes, Memoiren

21

32 Ebd., S. 458.

33 Elaine Scarry, Body in Pain. The Making and Unmaking of the World. New York / Ox-ford 1985.

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der Folter, ärztliche Diagnosen. Nach der Auswertung kommt sie zur der Überzeugung, dass extremer Schmerz durch Nicht-

kommunizierbarkeit gekennzeichnet ist. Er bietet nicht nur der Sprache Widerstand, sondern zerstört sie. Der Schmerz ist nicht

von oder nach etwas: Schmerz ist nur er selbst. Schmerz sei defini-tiv nicht im Medium symbolischer Konstruktionen „in die Welt“ zu holen; denn er bedeute Weltverlust.

Scarry beschreibt diesen Umstand in einer einfachen Skizze:

Wenn man spreche, greife das Ich über die Grenzen des Kör-pers hinaus und besetze einen Raum, der größer sei als der Körper.34 Extremer physischer Schmerz zerstöre das Vermögen zur symbolischen Erweiterung des Leibraums des Individu-ums. Er reduziere es auf die reine Gegenwart des Körpers. Mit dem Verlust der Fähigkeit zur Objektivation im ausgedehnten Personalraum falle der Betroffene aus der Sphäre des intersub-jektiven Austauschs hinaus. Seines symbolischen Raumbil-dungsvermögens beraubt, öffne sich der Schmerzerfüllte der Macht. Für deren Agenten sei die gesamte Gefühlswelt des Op-fers dann eine „externalisierte Landkarte“, die sie nach den Re-geln ihrer Kunst bearbeiten.

Elaine Scarry steht, wie gesagt, mit dieser Einstellung im Reich der deutschen Kulturwissenschaften auf verlorenem Pos-ten Die Kritik ist auch nicht von der Hand zu weisen: Immer – so heißt es – speichert ein Individuum die verspürten Empfin-dungen nicht einfach ab, „sondern transformiert sie in seine ei-genen Kategorien, die es mit anderen Mitgliedern seiner Be-zugsgruppe teilt, die zugleich aber seine persönliche Note tragen“.35 Und Jakob Tanner betont in seiner Rezension: „Im-

22

34 Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Frankfurt am Main 2009 (Taschenbuchausgabe), S. 52.

35 Le Breton, S. 133.

Schmerz

zerstört

Sprache

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mer und nicht nur in Zuständen extremen Schmerzes – besteht eine Kluft zwischen dem Schweigen des realen Körpers und dem Sprechen über den symbolisch konstruierten Körper. Durch nichts ist sie zu überbrücken. Aber die Individuen eigneten sich im Austausch miteinander die von ihnen mit anderen geteilte Le-benswelt an, in der sie eigene Körpererfahrungen für andere verständlich machen“.36

Wie wäre es sonst zu verstehen, dass sich Elaine Scarry mit Hilfe eines Archivs von Texten ein Bild vom Weltverlust der Opfer machen könnte. Im Augenblick seiner Schilderung ist der Schmerz sprachlich konstruiert. Die Konstruktionen werden in Texten gespeichert, in Archiven behütet. Nachträglich können die Textspeicher von uns beliebig animiert werden. Die Sprach-formen, in denen Schmerz kommuniziert wird, sind relativ ste-reotyp. Das bedeutet nun aber keineswegs, dass der Schmerz selbst zum Stoff kultureller Archive geworden ist. Es gibt zwar ein erstaunlich stereotypes Arsenal sprachlicher Wendungen des Schmerzes; sie zeigen aber auf eine Wirklichkeit von Emp-findungen, deren schiere Präsenz nachträglich in Stereotypen aufgehoben wird, weil den Individuen zuvor die Ausdrucksfä-higkeit genommen wurde.

V. Bibliothek oder Physiologie

Ich möchte zum Schluss die Zuspitzung des Richtungs-kampfs um die Evidenz des Schmerzes an zwei Dokumenten erläutern.

Heiko Christians hat 1999 eine Arbeit vorgelegt, in der er mit großer Gelehrsamkeit das Archiv der europäischen Literatur

23

36 Jakob Tanner, Körpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen. In: Historische Anthropologie, H. 2, 1994.

Schmerz ist

kein Stoff

für Archive

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auf die Topik der Rede vom Schmerz hin untersucht. Er über-

prüft, mit welchen Verfahren der Effekt der Evidenz des

Schmerzes im Lauf der Zeit erzeugt wird und entdeckt eine er-

staunlich konstante Topik der Rede, mit ihrem unheimlich be-

grenzten rhetorischen Repertoire. Die Archive sind angefüllt

mit Texten, in denen der Schmerz „blitzartig“ das Netz der Re-

de zerreißt, um einen Durchblick auf unterschwellig Reales zu

gewähren.

Der Schmerz ist im Augenblick seiner Schilderung eine Konstruk-tion, ist immer nur als Text kommunikabel. Noch der extreme, kaum durch ein „Flackern“ oder eine „Entspannung“ unterbrochene Schmerz, den nach übereinstimmenden Berichten ein Knochenbruch verursacht, sperrt den Betroffenen dadurch ein. Da solcherart geplag-te, als mit „aufgerissenen“ Augen oder als „schrill quäkendes Schlachtferkel“ beschriebene Opfer befindet sich […] mitten im Meer von Fiktionen. […] Wenn sich ein Mensch vor Schmerzen „Wie ein Tier“ am Boden windet, und damit die ihn im Reich der Lebewesen erst konstituierenden Unterschiede des aufrechten Gangs und der ar-tikulierten Rede selbst nicht mehr machen kann, klappern die Text-webstühle um so lauter.

Der Ausdruck „schrill quäkendes Schlachtferkel“ ist Jean

Amérys Erinnerungen an die Tortur, der er im Juli 1943 bei der

Gestapo in Brüssel ausgeliefert war, entnommen. Amérys Essay

aus dem Jahre 1964 entspricht der von Elaine Scarry zwei Jahr-

zehnte später theoretisch erläuterten Sprachsituation: der ext-

reme Schmerz, so berichtet Améry, zerstört das Vermögen zur

symbolischen Ausweitung des Körperraums. Nach dem Verlust

des „Weltvertrauens“ liegt die Gefühlswelt des Gequälten auch

in seinem Fall wie eine „externalisierte Landkarte“ für jeden

24

Schmerz zerreißt das

Netz der Rede

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Zugriff offen. Améry erinnert sich, am Kulminationspunkt der Qual „wie ein schrill quäkendes Schlachtferkel“ geschrien zu haben. Kein Zweifel: die Arbeit der sprachlichen Rekonstrukti-on zwingt Améry, aus dem Archiv der Ausdrucksformeln die Tierbildkarte zu ziehen.

Was sollte daran verdächtig sein? In der Tortur haben wir es mit dem totalen Entzug der Mitwelt zu tun. Die Tierbildkarte wird in der Rekonstruktion der Erinnerung gezogen. Sie zeigt auf ein Ereignis, das subhuman und sprachresistent war und bleibt. „Der Schmerz war, der er war“, sagt Améry. (S. 63). Al-lerdings arbeiten seine Reflexionen mit einem Kunstgriff, der Erkenntnisse über die Medialität des Ausdrucks einbezieht. Na-türlich orientiert sich der Mensch, Améry zufolge, in einer Welt

der Formeln. Er führt über zwanzig Hinweise und Anspielungen auf Kommunikationsmuster des Schmerzes an, von der etymo-logischen Herleitung des Wortes „Tortur“, Protokollen von Ge-folterten, die er in der Neuen Weltbühne in den 30er Jahren vor seiner Inhaftierung las, Graham Greenes Kommentaren zu Fo-tografien von Folterungen in Vietnam, kriminologischen Ab-handlungen über die Folter in Algerien, Hannah Arendts „Eich-mann in Jerusalem“ bis zu physiologischen Abhandlungen ei-nes Professors für Chirurgie am Collège de France. Diese Vor-stellungsmuster umgeben ihn, sie gehören zur vertrauten Text-umwelt, die sich anbietet, um den aktuellen Vorgang der Peini-gung zu erfassen und ihn im Rückblick zu rekonstruieren. Im extremen Schmerz jedoch wird diese Zeichenwelt durchschla-gen. Um diesem Weltverlust im Schmerz Evidenz zu verschaf-fen, inszeniert Améry den Ausfall der im Archiv gelagerten Formeln:

25

Weltverlust im Schmerz

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Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen be-schreiben zu wollen. War es „wie glühendes Eisen in meinen Schul-tern“, und war dieses „wie ein mit in den Hinterkopf gestoßener stumpfer Holzpfahl?“ – ein Vergleichbild würde nur für das andere stehen, und am Ende wären wir reihum genasführt im hoffnungslosen Karussell der Gleichnisrede. Der Schmerz war, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen

Aber er sagt eben sehr viel dazu, vergegenwärtigt das Ereig-nis, indem er die Kette fehlschlagender Formeln zitiert, die ver-sagenden Register der Sprache vorführt, um das Ereignis als ein Widerfahrnis jenseits des Archivs vorzustellen. Das Ereignis des Schmerzes ist eine Falltür in der Bibliothek. Im imaginierten Sturz fand Améry die Tierbildkarte in einer der Karteien der gespeicherten Affektkataloge. Die braucht er, um – mitten im Archiv – auf das nicht archivierbare Erlebnis zu zeigen.

Für dieses Schmerzerleben trifft zu, was schon Valéry carte-sianisch begriff: Es illuminiert nur Körperzonen, reduziert das Bewusstsein, erhellt keine Vergangenheit, raubt den Horizont und dampft den Menschen auf die reine Gegenwart des Kör-pers ein. Améry denkt dies radikal zu Ende. Obwohl er auf Heidegger, Bataille und Sartre anspielt, versagt er sich jede exis-tenzialistische Aufladung des Ereignisses. Es eignet sich einfach nicht dazu, sich als ein Beispiel für das Gewahrwerden des „ei-gentlichen Seins“ des Menschen in einer existenzialistischen Er-zählung aufzulösen. Wenn Max Scheler konstatiert „Ein Dasein ohne Schmerz verführt zu metaphysischem Leichtsinn“, so zeigt die Geschichte, dass ein Dasein, das den Schmerz als Grenzsituation begrüßt, zum Existenzialismus verführt – einer besonderen Spielart metaphysischen Leichtsinns.

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Phänomenologischer Schluss

Warum nicht länger in der frostigen Kammer des Monsieur Teste verweilen? Denn aus dem „Nichts“ an Bedeutung trat der Schmerz immerhin als „motorisches Phänomen“ zutage, was sich schon den Vokabeln „Bohrens“, „Schneidens“ und „Trei-bens“, die Huysman im Einklang mit den Physiologen des 19. Jahrhunderts zur Beschreibung verwandte, ablesen ließ. Schmerz war hier nichts als ein psychisch getönter Bewegungs-impuls, der gegen einen Widerstand vordringt, da der Ausweg versperrt ist.37 Ein „motorisches Phänomen“, dessen Sinnlosig-keit in Redewendungen wie „die Wände hochgehen“ nicht symbolisch aufgeladen, sondern nur mimetisch wiederholt wird. In ihrem motorischen Gebaren gleichen sich Monsieur Teste und Huysman’s Held. Auch Monsieur Teste „erwartet“, wie es heißt, den Schrei, in den er sich hineinlegen könnte, um „aus der Haut zu fahren“. Der Schmerz führt in beiden Fällen nicht zu symbolischem Ausdruck, sondern zu Bewegungen, in denen sich das Selbst in völliger Gegenwart verliert.38 Das scheint als Erklärungsmodell nicht viel zu sein. Vielleicht er-klärt es aber, warum sich dem Zeitalter extremen Schmerzes im 20. Jahrhundert die Signaturen des „Weltverlusts“ und der „Verlassenheit“ als Erkennungsmerkmale aufprägen konnten. Und warum das „Trauma“ zum Inbegriff eines Schmerzes ge-worden ist, der nicht aus der Haut fahren lässt und durch keine symbolische Praxis aufgehoben werden kann.

27

37 Vgl. Herrmann Schmitz, Die Aufhebung der Gegenwart. Bonn 2005, S. 153ff.

38 Ebd.

Schmerz als

Bewegung

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Literatur

Benjamin, Walter: Erzählen und Heilung. Aus der Nachtragsliste der Einbahnstraße. Kritische Gesamtausgabe Bd. 8. Hrsg. von Detlev Schött-ker unter Mitarbeit von Steffen Haug. Frankfurt am Main 2009.

Le Breton, David: Schmerz. Zürich und Berlin 2003.

Heidegger, Martin: Gesamtausgabe: Hinweise und Aufzeichnungen, Teil 4, Hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt am Main 1999.

Huysmans, Joris-Karl: Gegen den Strich. München 2003.

Morris, David B.: Geschichte des Schmerzes. Frankfurt am Main 1996.

Scarry, Elaine: Body in Pain. The Making and Unmaking of the World. New York und Oxford 1985. [Deutsch: Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Frankfurt am Main 2009].

Schmitz, Herrmann: Die Aufhebung der Gegenwart. Bonn 2005.

Starobinski, Jean: Kleine Geschichte des Körpergefühls. Konstanz 1987.

Sauerbruch, Ferdinand/Wenke, Hans: Wesen und Bedeutung des Schmerzes. Berlin 1936.

Tanner, Jakob: Körpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen. In: Historische Anthropologie, H. 2, 1994. S. 489–502.

Valéry, Paul: Cahiers/Hefte. Frankfurt am Main 1992.

Valéry, Paul: Monsieur Teste. Frankfurt am Main 1992.

28

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